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Full text of "Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 42.1916-17"

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Vom stello. Generalkommando XIII. ( K. W) :Afmeekorps ` T 
sur Ausfuhr ins neutrale Ausland freigegeben. 


ARCHIV 
SOZIALWISSENSCHAFI 
SOZIALPOLITIK 


IN VERBINDUNG MIT 
WERNER SOMBART UND MAX WEBER 


HERAUSGEGEBEN VON 


EDGAR JAFFE 


REDAKTIONS-SEKRETÄR: EMIL LEDERER, HEIDELBERG 


42. BAND. ı. HEFT 





TÜBINGEN 
VERLAG VON J. C. B. MOHR (PAUL SIEBECK) 
1916. 


(Ausgegeben in Tübingen am 4. Auyust 1916). 


` 





= Band 42 erscheint neben Band 43. == 


BrTEL teui Band XLII 
Bu INHALT DES ERSTEN HEFTES. 
ABHANDLUNGEN. Bi 
Das Grundprinzip der Verteilungstheore. Von Prof. Jos. 
SCHUMPETER, Graz . 220 en 1 
Die romantische Geldtheorie. I. Von Dr. MELCHIOR PALYI, Mühl- 
Beim oe ca a er ee A . 89 


Gibt es ein Gesetz des Ausgleichs der Grenzerträge? Von Dr. 

ED. KELLENBERGER, Zürich . . . 2 2 22 202020..109 
Belgische Arbeiterwohnungen. Von C. K. ZIMMERMANN, Cöln 142 
Die Genossenschaftsbewegung in Rußland. Von Dr. L. PUMPI- 

ANSKY, St. Petersburg . . . 2... ne 
Hinauf mit den Bankraten! Eine Entsegnung. Von Dr. WALTER 
FEDERN, Wien. 0: ce er ee ee 202 


169 


LITERATUR. 

Die Politik der Vereinigten Staaten in bezug auf industriclle und 
Verkehrsmittelmonopole. Von Prof. EUGEN von PHILIPPO- 
NICH: WIEN: s u a De ne aip a oa e a G a 

Grundriß der Sozialökonomik. Von Prof. ADOLF WEBER, Breslau 230 

Soziologische Pathologie. Von Dr. OSKAR BLUM, Zürich. . . 237 


LITERATUR-ANZEIGER. 
(Einzelverzeichnis der besprochenen Bücher auf S. 3 des Umschlags.) 256 


SOZIALPOLITISCHE CHRONIK. 
—p Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915, die Entwicklung 
des Arbeitsmarktes während des weiteren Kriegsverlaufs, die 
Gestaltung der Geld- und Reallöhne; die sozialpolitische 
Lage, das Verhalten der Gewerkschaften zu den Problemen 
des Krieges i m u 2 ee ee nr. 285 


Das zweite Heft des 42. Bandes (der gleichlaufend mit dem 43. Band er- 
scheint) wird u. a. folgende Aufsätze enthalten: I. Abhandlungen. 1. Werner So m- 
bart: Die Beschaflung der Arbeitskräfte im Zeitalter des Frühkapitalismus. 2. Max 
Weber: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. (4. Artikel.) Hinduismus und 
Buddhismus (Schluß: Die Intellektuellen und die Volksreligion in Asien). 3. Dr. Char- 
lotte Leubuscher, Meiningen: Die Nationalisierung des Kapitals. 4. Dr. M. Pa- 
lyi: Die romantische Geldtheorie. (Schluß) 5. Dr. L. v. Mises, Wien: Vom Ziel 
der Handelspelitik, 6. Ernst Meyer, München: Deutschlands Wirtschaftspolitik 
nach dem Kriege. Eine Vorarbeit. — II. Literatur. 1. Gcheimrat v. Graf- 
mann, München: Die Bedeutung Antwerpens für Deutschland. 2. Dr. G. Stol- 
per, Wien: Neue bhandelspolitische Literatur. — IIM. Literatur-Anzeiger. — 
IV. Sozialpolitische Chronik. Die Gewerkschaftsbewegrung 1915/16 in Oester- 
yeich, die sozialpolitische Lage und das Verhalten der Gewerkschaften zu den 
Problemen des Krieges. 





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ARCHIV 
SOZIALWISSEN SCHAFT 


SOZIALPOLITIK 


IN VERBINDUNG MIT 
WERNER SOMBART UND MAX WEBER 


HERAUSGEGEBEN VON 


EDGAR JAFFE 


REDAKTIONS-SEKRETÄR: EMIL LEDERER, HEIDELBERG 


42. BAND. 





TÜBINGEN 
VERLAG VON J. C. B. MOHR (PAUL ne 
1916/1917. 


| A. g. XIIL | 


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vo} 


Alle Rechte vorbehalten. 


Druck von H, Laupp jr in Tübingen. 


INHALT DES ZWEIUNDVIERZIGSTEN BANDES. 


ABHANDLUNGEN. 


Federn, Walther, Hinauf mit den Bankraten! 
Eine Entgegnung . . .. 2:22 2 nee. 
von Gierke, Otto, Die Zukunft des Taritvertrags- 
TECHTS 2 2a m a ee a a A ee a 
Gothein, Marie Luise, Die Gartenkunst moder- 
ner Gemeinden und ihre soziale Bedeutung Sr 
von Graßmann, Josef, Antwerpens Bedeutung 
für Deutschland . . . 2.22 2 2 2 2 nn re. 
Kellenberger, Eduard, Gibt es ein Gesetz des 
Aus zleichs der Grenzerträge ? Kritisches und Positives 
sur Preistheorie . . . . 2 2 2 2 Er 2 ren. 
Kulemann, W., Der Schutz des Koalitionsrechts . 
Leubuscher, Charlotte, Die Nationalisierung 
des Kapitals . . 2.2. 22: 2 Co 2 rn. 
von Mises, Ludwig, Vom Ziel der Handelspolitik 
Palyi, Melchior, Die romantische Geldtheoıie . 
— —, Die romantische Geldtheorie (Schluß). . . . . . 
Pumpiansky, L., Die Genossenschaftsbewegung in 
Rußland ; . „4% 9 2. SE. 2.0.2 a a a i 
Rosenthal, Siegfried, Der Binnenschiffsverkehr 
ANEWETDENS x; 14. 2 30... 48. Sun a u re ee 
Salz, Arthur, Auswanderung und Schiffahrt mit be- 
sonderer Berücksichtigung der österreichischen Ver- 
bältnisse. II. Teil... . 2... 22 2 2 2 200 
Schumpeter, Joseph, Das Grundprinzip der 
Verteilungstheorie . . . ». 2 2 2000000. 
Sombart, Werner, Aus der Frühzeit der modernen 
Gesellschaftsformen . . . . 2. 22 2 2 2000... 
Weber, Max, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. 
Hinduismus und Buddhismus. (Fortsetzung) . . . . 
— —, Die Wirtschaftsetbik der Weltreligionen. Hinduvis- 
mus und Buddhisums. (Schluß) . . . ....... 
Zimmermann, C.K., Belgische Arbeiterwohnungen 


IH 


Seite 


202 
815 
885 
931 
IIQ 
906 
505 
561 


89 
535 


169 
936 


842 

I 
462 
345 
687 


142 


BL men e a a1 5 


IV Inhalt. 


LITERATUR. = 

Blum, Oskar, Soziologische Pathologie . 237 

Ehrlich, Eugen, Replix . 609 

J: astrow, J., Das Studium der Verwaltungswissenschaft 
nach dem Krieg . 3 doang ae, ae Se 2058 

Kelsen, Hans, Schlußwort . Far 611 

Peter, Gustav, Zur Kritik der Sozialpathologie . . Q5I 

von Philippovich, Eugen, Die Politik der 
Vereinigten Staaten in bezug auf individuelle und 
Verkehrsmittelmonopole . . TEE TEE 213 

Scheler, Max, 1789 und 1914. N 3 586 

Schwann, Mathieu, Das Buch von Köln... 969 

Vorländer, Karl, »Sozialdemokratische« Philo- 
SOPHIO- p: 2.5 ch A. 3 vera se ee ae OA 

Weber, Adolf, Grundriß der Sozialökonomik . . 230 

Wicksell, Knut, Replik.......... 606 

— —, Berichtigung De ee er 975 

SOZIALPOLITISCHE CHRONIK. 

—p Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16; die s 
Entwicklung des Arbeitsmarktes während des weiteren 
Kriegsverlaufs; die Gestaltung der Geld- und Real- 
löhne; die sozialpolitische Lage; das Verhalten der 
Gewerkschaften zu den Problemen des Krieges. . 285 

—p Die Gewerkschaftsbewegung 1915/16 in Oesterreich; 
die sozialpolitische Lage und das Verhalten der Gewerk- 
schaften zu den Problemen des Krieges 667 

—p Die Unternehmerorganisationen . 1013 

LITERATUR-ANZEIGER ..... nenn... 256, 612, 976 


EINZEL-VERZEICHNIS 


der in den kritischen Literatur-Uebersichten und im Literatur-Anzeiger besprochenen 


Werke mit Angabe des Namens des Referenten, 


Seite 


Balkan und naher Orient (R. Boos, Der Gesamtarbeitsver- 
Leonhard) . . 995 trag nach Schweizerischem 
Barnett, The Operation of Recht (O. v. Gierke) . 
the Initiative, Referendum, Bosse, Norwegens Volkswirt- 
and Recall in Oregon {Richard schaft (Rudolf Leonhard) 
a ns 1008 | Denkschrift über die russische 


Baum, Die Wohltahrtspflege 
(P. M ombert) . . 997 
Baumgarten, Politik und 


Moral (F. Niebergall) . . 976 kredit und seine in 
Bernays, Untersuchungen (Max Sokal) . 

über den Zusammenhang von zu Kriegsinvaliden-Gesell- 

Frauenfabrikarbeit und Ge- schaften (Gerta Stücklen) 

burtenhäufigkeit in Deutsch- Eberstadt, Die Kreditnot 


land (P. Mombert) . . . 988 des städtischen Grundbesitzes 


Agrarreform 1909—1913 (—ọ) 
Deumer, Der private Kriegs- 


Seite 


815 
621 


991 


271 


277 


Inhalt. 
Seite 

und die Reiorm des Realkre- Mannes alsQuelle desFriedens 

dits (H, Lindemann) . . 660 (P. Mombert) ..... 

v Eheberg, Finanzwissen- Hepner, Josef Dietzgens 
schait (Altmann) . . 278 Philosophische Lehren (Karl 

— —, Die Kriegsfinanzen (S. P. Vorläinder) . E R 
Altmann) . >> 020.2...995 | Hildebrandt, Die schwe- 
Ehrenberg, Die Familie in dische Volkshochschule (Ch. 
ihrer Bedeutung für das Volks- Leubuscher) . Va N 
leben (P. Mombert) 990 | — —, Arbeiterbildungsfragen im 
Eltzbacher, Totes und le- neuen Deutschland (Ch. Leu- 
bendes Völkerrecht (Richard buscher) ae 
Thoma} .. ... . . . 1004 | Jacobj, Weitere Beiträge zur 
Ergebnisse der Kriegsinvaliden- Verwertung der Flechten (Ru- 
fürsorge im Kgl. orthopäd. dolf Leonhard) rer 
Reserve-Lazarett Nürnberg Internationale, Die und der Welt- 
(Gerla Stüchlen } 220.643 krieg. Materialien gesammelt 
Ewald, Soziale Medizin (L. von Carl Grünberg. I. Abt. 

Teleky) » 2 2 2 aa a 280 SIEDELTE 
Ferenczi, Die Wiederein- Junge, Das Problem der 
stellung der Kriegsinvaliden Europäisierung orientalischer 
ins bürgerliche Erwerbsleben Wirtschaft (Herman Kra- 
in Deutschland, Oesterreich nold) FBF a 
und Ungarn (Gerta Stücklen) 642 Jünger, Kriegsgesetze (—o) 
Festschrift für Lujo Brentano Kiefl, Die Theorien des moder- 
‚um 70. Geburtstag /—ọ) 613 nen Sozialismus über den Ur- 

Fischer,A‚Gesundheitspolitik sprung des Christentums 
und Gesundheitsgesetzgebung (Troeltsch) A e a 
nn 0 > > - 998 | Kirchhoff, Der Bismark- 
ischer, R., Beiträge zu einer sche Reichseisenbahngedanke 
Statistik der deutschen Leh- (R. Leonhard) . . . . . 
TPR S Mombert) . . 266 | Knauth, The Policy of the 
häfen Th wo Welt- United States towards Indu- 
Frank « M. Cords) . 644 strial Monopoly (Eugen v. 
Rn on Seekriegsrecht Philippovich) . 2. . 
Etan kel r Ea aan 1003 | Kovac S, Die Morbidität und 
mit bes ` Mortalitāt der Arbeiter in 
eschränkter Haftung Ungarn (L. Teleky) : 
F ae Werlheimer) . . . 665 Kraus, Die Kriegsinvaliden 

ullerton, The truth about Ir 

the German nation (H und der Staat (Gerta Stücklen) 
Onchen) SEEN Krüger, Government and 
Gildackmidt a * + . . 1008 Politics of the German Em- 
Mandate, ie deutsche pire (Richard Thoma E 
Mombert) egung (P. Kuckhoff, Höhere Schul- 
e 262 bildung und Wirtschaftsleben 


Goldstein, Monopole und 
Go Knopolsteuern (Ernst Meyer) 639 
eın, Die Stadt Köln 
i N 51915 (MathieuSchwann) 970 

ssmann, Oesterreichs 
Handelspolitik (Karl Pri- 
u I E 
urad ze, Statistik des 
Kleinkindalters (P. Mombert) 
Nashagen, England und 
Japan seit Schimonoseki(Her- 
i mann Oncken) , . 
ell, Die Arbeit des freien 


627 


283 


(P. Mombert) ..... 
Larass, Untersuchungen zum 
Geburtenrückgang in der Pro- 
vinz Posen (P. Mombert) 
Leiter, Die Leinen-, Hanf- und 
Juteindustrie Oesterreich-Un- 
garns (R. Leonhard) . . . 
Leon, System der direkten 
Steuern in Rumänien (E. H. 
Vogel) ©. 2 2 2 20. 
v. der Leyen, Die Eisen- 
bahnpolitik des Fürsten von 
Bismarck (Keck) u 


Seite 


612 


941 


996 


996 


634 


620 


654 
IOII 


614 


994 


213 


281 


268 


282 


662 


629 


VI Inhalt. 
Seite Seite 
Mitteilungen des k. k. Ministeri- seine Weltstellung und seine 
ums des Innern über Fürsorge Bedeutung für das deutsche 
für else (Gerta Wirtschaftsleben (J. v. Grass- 
Stücklen) 268 mann) re: 
Moll, Die Logik "des Geldes Schulman, Zur türkischen 
( Melchior Palyi) g81 Agrartrage. Palästina und die 
Most, Zur Wirtschafts- und Fellachenwirtschaft (Charlotte 
Sozialstatistik der höheren Leubuscher) . . . . . . 634 
Beamten in ESR P.Mom- Seiffert, Ratgeber für die 
bert) . » . ae . 033 Hinterbliebenen der Kriegs- 
Müller-Lyer, Soziologie teilnehmer (Gerta Stücklen) . 280 
der Leiden (Oskar Blum) 242 | Seitz, Schweiz. Anleihepoli- 
—- —, Soziologie der Leiden tik in Bund, Kantonen und 
(Gustav Peter) . . 651 Gemeinden (E. H. Vogel) 659 
Naumann, Wie wir uns im Sieghart, Zolltrennung und 
Kriege verändern (F. Nieber- Zolleinheit (K. Pribram) . 625 
gall) . ©. >. >. >. 9I | Sinzheimer, Ein Arbeits- 
Neisser, Die Geschlechts- tarifgesetz. Die Idee der so- 
krankheiten und ihre Be- zialen Selbstbestimmung im 
kämpfung (Henr. Fürth) . 998 Recht (O. v. Gierke) . 815 
Das neue Deutschland. 23. Kriegs- Solovjeff, Die Rechtferti- 
nummer. Krieg und Volks- gung des Guten (Georg v. Lu- 
vermehrung. (P. Mombert) . 263 kacs) > a... . . 978 
Paull, Die neue Familie (P. Systematische Uebersicht der 
Mombert) . < s s oa 203 Wirtschaftsgesetzgebung 
Piorkowski, Beiträge zur Oesterreichs seit Kriegsbe- 
psychologischen Methodologie ginn (—0) ... . . .IOII 
der wirtschaftlichen Berufs- >- ; Tangorra, Trattato di Sci- 
eignung (Hans Gruhle) . 619 enza della Finanza (Altmann) 279 
Plenge, 1789und 1914 (Max Terhalle, Die Kreditnot am 
Scheler) 586 städtischen Grundstücksmarkt 
Publikationen des statistischen (H. Lindemann ) . 661 
Amtes von Budapest. Nr. 43. Thimme, Vom inneren Frie- 
Die Resultate der Volkszäh- den des deutschen Volkes (F. 
lung vom Jahre 1906 (P. Niebergall) a: . 1009 
Mombert) z 633 | Triepel, Die Zukunft des vol. 
Ri p ley, Railway Problems, kerrechts (Richard Thoma). 1004 
eine Sammlung von Aufsätzen v.Tyszka, Der Konsument in 
vom Herausgeber und 15 an- der Kriegswirtschaft (P.Mom- 
dern Autoren (Eugen Phi- bert) . 992 
lippovich) . . 213 | Vaerting, Wie ersetzt Deutsch- 
Rörig, Binz, Die tierischen land am schnellsten die 
ne und ihre Veredlung Kriegsverluste durch gesun- 
(—e) ©. > . . 638 den Nachwuchsè (P. Mom- 
Roscitbai “ Volkserneue- bert) . Go B ae a ee ar. 030 
rung und Krieg ( P. Mombert) 264 | Veblen, Imperial Germany 
Scheffel, Die Verkehrsge- and the Industrial Revolution 
schichte der Alpen ( SER (Charlotte Leubuscher ) 258 
Leonhard) . . 653 | Weygandt, Soziale Lage 
Schleiermachers Werke ` (Aus- und Gesundheit des Geistes 
wahl von Braun und apen und der Nerven (L. Teleky) 282 
(Othmar Spann) 617 ; Wider die Kinderscheu ( P. Mom- 
Schmid, Eine deutsche Zone bert) . . 265 
tralstelle zur Pflege der Ver- Wiedenfel d, 1 Sibirien in 
waltungswissenschaft und Ver- Kultur und Wirtschaft (Her- 
waltungspraxis (J. Jastrow) 958 man Kranold) 653 


Schumacher, Antwerpen, 


— — , Antwerpen im Weltverkehr 


Inhalt, VII 


Seite 


Seite 
und Welthandel (J. v. Grass- Arbeiterschutzgesetzgebung 
mann) . . 93I (L. Teleky) . . 267 

— —, Ein Jahrbondert: heini: Wundt, Die Nationen und 
scher Montan-Industrie ( Ma- ihre Philosophie d Othmar 
thieu Schwann) . . . . 985 Spann) . 256 
w — —, Die Gesellschaft. 2 Bände 
inkelmann, Käte, Ge- (R. Leonhard) . . 981 
sundheitliche Schädigungen Zitelmann, Die Möglichkeit 
der Frau (L. Teleky). . . 266 eines Weltrechts 4 Richard 
Wittmayer, Oesterreichische Thoma) . 1007 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 
Von 


JOSEPH SCHUMPETER. 


Inhalt: I. Vorbemerkung S. 1—3, II. Oekonomie und Soziologie 
der Verteilung S. 3—32, III. Grundlagen der Lohntheorie S. 32—51, 
IV. Das »soziale Grenzprodukts S. 51—55, V. Kritische Auseinanderse- 
tzungen S. 55—62, VI. Eigentümlichkeiten des Arbeitsmarkts S. 63—68, VII. 
Der Lohnsatz bei ein- und bei beiderseitigem Monopol S. 68—73, VIII. 
Die Frage der »künstlichen Erhöhung« des Lohnes S. 73. 


I. 


Es ist ziemlich lange her seit der letzten größern Kontroverse 
über Fragen der theoretischen Oekonomie. Ueberhaupt waren be- 
deutendere Diskussionen dieser Art in Deutschland immer selten und 
auch die gelegentlichen Streitigkeiten darüber — Rezensionen ein- 
geschlossen — nehmen einen ganz verschwindend kleinen Raum ein, 
so daß die theoretische Arbeit, soweit es sie gibt, überwiegend wie 
hinter einem Vorhang, sozusagen mit Ausschluß des — auch wissen- 
schaftlichen — Publikums vor sich geht. Trotzdem herrscht in weiten 
Kreisen das Gefühl, daß über theoretische Fragen viel mehr als gut 
und nützlich diskutiert worden sei. Der Kenner der Sozialpsycho- 
logie des wissenschaftlichen Lebens wird sich über diesen Wider- 
spruch nicht wundern, vielmehr in jenem Gefühl gerade die Folge 
der Seltenheit und Unpopularität — die ja gewiß begreiflich ist — 
solcher Erörterungen sehen. Deshalb muß das erste Wort einer jeden 
noch so bescheidenen theoretischen Erörterung — und die vorliegende 
ist sehr bescheiden — stets ein Wort der Rechtfertigung, der Ein- 
führung, ja der Entschuldigung sein, zumal dann, wenn dem Autor, 
wie das mein Fall ist, daran liegt, den Verdacht abzuwehren, er über- 
schätze die ökonomische Theorie oder deren gegenwärtige Leistungen, 
und die Tatsache zu betonen, daß er selbst nur mit Widerstreben 
und unter dem Druck eines Gefühls der Notwendigkeit an der Dis- 
kussion theoretischer Tagesfragen teilnimmt. 

Sei also kurz gesagt: Es nützt nichts die Augen davor zu schließen, 
daß die Lösung einer großen Anzahl sozialwissenschaftlicher Pro- 

Archiv für Sosialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 1. I 


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E ter Tate" ' Joseph Schumpeter, 


bleme unter andern, meist viel wichtigern Mitteln auch des analytischen 
Werkzeugs der ökonomischen Theorie bedarf!). Daß die Antworten, 
die wir auf eine Reihe von Fragen zu geben haben, so oft hinter den 
billigsten Anforderungen zurückbleiben, liegt vielleicht nicht in erster 
Linie, aber sicher zum Teil daran, daß weitaus die meisten Fachge- 
nossen dieses Werkzeug gar nicht beherrschen, fast niemand etwas 
zu einer Vervollkommnung tut, vielmehr jeder seine Probleme in »Tat- 
sachen« oder praktischen Interessen erstickt oder sie soziologisch 
verfärbt. Und doch ist es klar, daß — um ein Beispiel zu wählen — 
die gewaltige Arbeit der Webbs, soweit sie nicht rein historisch ist, 
in ihren Resultaten zu einem sehr großen Teil auf uneingestandenen 
analytischen Erwägungen beruht und daß dieser Teil infolge der Man- 
gelhaftigkeit dieser Erwägungen — seinerseits zum Teil — schlecht- 
hin wertlos ist. Alte Probleme, über deren ewiges Einerlei es Mode 
ist zu lächeln, wie z. B. das Zinsproblem, bleiben auf diese Art ewig 
ungelöst, obgleich ihre Lösung zum Verständnis der ökonomischen 
Struktur z. B. der kapitalistischen Gesellschaft durchaus unentbehr- 
lich ist. Was man darüber gelegentlich hören kann, ist nicht mehr 
und nicht weniger als ein Skandal. Da bleibt denn nichts übrig, als 
die Dinge eben durchzudiskutieren. 

Das ist eine alte Geschichte. Aber wichtiger für unseren Zweck 
ist die momentane Situation — überall, aber besonders in Deutsch- 
land. Vor einiger Zeit, da sah es so aus — und von Theoretikern 
wurde das immer betont, — wie wenn sich die ökonomische Theorie 
nach außen in das richtige Verhältnis zu den Schwesterdisziplinen 
und koordinierten Methoden setzen, nach innen aber nach und nach 
zu einem einheitlichen Standpunkt in die Grundfragen durchringen 
wollte, was ja die Voraussetzung für weiteres Vordringen zu den erst 
wirklich relevanten Einzelfragen wäre. Es sah so aus, wie wenn es im 
Gewirre der prinzipiellen Gegensätze zu dämmern beginne und nach 
und nach die Umrisse des Geländes um uns her erkennbar würden, 
die sich allen von uns, woher wir auch kommen und wohin wir auch 
wollen mögen, ungefähr in den gleichen großen Zügen darstellten. 
Nun war das sicher keine bloße Selbsttäuschung. Ich glaube sogar, 
daß die Entwicklungsrichtung damit ganz richtig erkannt war. Aber 
momentan sieht es gar nicht so aus, vielmehr scheint ein Nebel sich auf 
unsern Weg gesenkt zu haben, in dem sich unsre Schar zu verirren 
droht: In manchen Kreisen in England hat Hobson mehr Erfolg als 
Marshall, in Amerika hier und da Veblen mehr als Clark, in Italien 
gelegentlich Jannacone oder Loria mehr als Pareto usw. — und viele 
Hoffnungen auf Einigkeit und Fortschritt, die man vor zehn Jahren 
haben konnte, haben sich nicht erfüllt. 

In Deutschland insbesondere ist die Situation ganz eigentümlich. 
Die große Mehrheit der deutschen Sozialökonomen steht zwar nicht 
in ihren prinzipiellen Aeußerungen, wohl aber in der Sache, der Theorie 

1) Mag wer will den Wert der Theorie leugnen — der »Praktiker« jeden- 


falls darf es nicht. Denn er treibt immer Theorie und seine Anschauungen 
sind meist nichts andres als Theorien von vor 200 Jahren. 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 3 


ganz so ablehnend gegenüber als vor zwanzig Jahren. Ja es äußern 
sich gerade erst jetzt die Wirkungen der Alleinherrschaft der »prin- 
zipiell Ablehnenden«, insofern als es zu deren Zeit ‘doch noch eine 
größere Anzahl von Leuten gab, die aus der vorhergehenden Periode 
stammend, sich einen Vorrat theoretischer Kenntnisse und theoreti- 
scher Interessen — meistklassischer oder Rodbertus’scher oder ähnlicher 
Färbung — bewahrt hatten, während heute erst die völlige Unter- 
brechung theoretischer »Ausbildung«e — die später durch nichts mehr 
zu ersetzen ist, mag man sich auch »prinzipiell« zu einer gewissen 
Theoriefreundlichkeit durchringen — in voller Schärfe hervortritt. 
Unter dem doppelten Schutz des Fehlens einer fachmäßigen Kritik 
und des Vorhandenseins dieser prinzipiellen, wenn auch völlig pla- 
tonischen, Theoriefreundlichkeit entwickelt sich nun auf dem freige- 
lassenen Felde eine theoretische Literatur, die sicher manche zweifel- 
lose Talentprobe, aber ebensosicher die bedauerlichsten Fehlgriffe 
enthält. Alles ist in dieser Literatur möglich. Die elementarsten Fehler, 
Fehler, die eben nichts anders sind als Fehler und von keinem »Stand- 
punkt« aus gehalten werden können, kommen massenhaft vor und 
bleiben unbemerkt und ungerügt. Die ältesten, zum Teil vorwissen- 
schaftlichen Anschauungen können gefahrlos aufgetischt werden. 
Mißverständnisse, wie sie beim ersten Studium einer Theorie leicht 
vorkommen, haben sich zu ernst genommenen, stets wiederholten, 
für entscheidend gehaltenen »Einwendungen« kristallisiert. In aller 
Ruhe wird das hingenommen. Die Unsicherheit des Urteils ist sogar 
so groß, daß Manche so vorsichtig sind — wenn ich das sagen darf 
ohne zu verletzen, was mir umso ferner liegt, als diesen Mängeln ja 
soviele ausgezeichnete Leistungen auf andern Gebieten gegenüber- 
stehen und selbst den ärgsten Sündern auf diesem meist optima 
fides und oft Begabung zuzubilligen ist — sozusagen jeder theoreti- 
schen Arbeit gegenüber ein verständnisvolles Gesicht zu machen, 
den Autor darob bis zu einem gewissen Grade zu bewundern, ohne sich 
aber mit der Arbeit jemals näher befassen zu wollen oder — weil theo- 
retisches Arbeiten gelernt sein will — auch nur zu können. Wird 
überhaupt etwas diskutiert, so ist es eine Methodenfrage, eine sozio- 
logische Seite der Sache, ein praktisches Resultat, ein allgemeiner 
Standpunkt — nie aber das, worauf es auf diesem Problemgebiet 
ankommt. ~- 

Diese Verhältnisse, deren Kenntnis die notwendige Voraus- 
setzung für das Verständnis des gegenwärtigen Standes der ökonomi- 
schen Theorie ist, erschweren auch eine Diskussion sehr. Denn not- 
wendig muß dabei manche Trivialität immer wiederholt werden, 
während auf der andern Seite alle tiefer eingehenden Argumente 
dem Leser gegenüber, dem diese Wege ungewohnt sind, wenig ent- 
scheidend sein können. | 


II. 


Die Knoten im Faden des theoretischen Gedankengangs, an 


denen sich theoretisch gestimmte Geister am leichtesten verfangen, 
j* 


4 Joseph Schumpeter, 


liegen natürlich in der Verteilungslehre. Da ist es nun bei einer ganzen 
Gruppe von Autoren aller Länder fast zum Schlagwort geworden 
zu sagen, daß die Grenznutzentheorie — ich gebrauche diesen Namen 
für die Lehre der meisten theoretischen Fachmänner der Gegenwart, 
obgleich er nur für eine engere Gruppe üblich geworden ist, weil er 
den Kern dieser Lehre immerhin sachlich richtig ausdrückt, — die 
Grundlagen der Wert- und Preisbildung zutreffend erfasse ?2) und 
man der WeltderGenußgüter gegenüber damitauch im wesentlichen das 
Auslangen finde, daß sie aber am Verteilungsproblem versage. Und von 
der Erörterung dieses Standpunkts aus, der als Anknüpfungspunkt 
den großen Vorteil bietet, daß er die Diskussion von einer Menge von 
methodischen und sachlichen Vorfragen befreit, weil er Verständnis 
und Anerkennung sowohl des Wesens der ökonomischen Theorie 
überhaupt wie der Grundlagen der Grenznutzentheorie im besondern 
voraussetzt, wollen wir uns die Frage stellen, ob jenes Erklärungs- 
prinzip, das die Grenznutzentheorie zu bieten hat, für das am sozialen 
Prozeß der Verteilung oder Einkommensbildung zulangt, was durch 
eine reinökonomische Theorie daran überhaupt erklärt werden kann, 
und dabei dieses Prinzip am Lohnproblem exemplifizieren. 

Manche Autoren stützen jenen Standpunkt bloß durch eine Be- 
hauptung; bei andern ist er nur skizzenhaft angedeutet; bei noch 
andern ergibt er sich implicite aus ihren Ausführungen; bei vielen 
endlich fließt er mit andern Elementen, z. B. einer im Grunde anti- 
theoretischen Stimmung oder vorwiegendem Interesse an konkreten 
Spezialfragen zusammen. Am reinsten aber tritt er uns in einer neuen 
Arbeit Tugan-Baranowskys?) entgegen, an die wir uns vornehmlich 
halten wollen, soweit wir zu polemisieren haben. Der Name und die 
Leistungen des Autors, der Umstand, daß er an einem Punkt hält, 
der heute Vielen naheliegt und daß unsre Diskussion mit ihm daher 
durch bevölkerte Landstriche führen kann, und der weitere Umstand, 
daß er genug allen Theoretikern Gemeinsames festhält, daß die Dis- 
kussion fruchtbar sein kann, rechtfertigen diese Wahl. Er spricht 
ferner zwar auch wieder von einer besondern »Methode«, die er auf 
das Verteilungsproblem anwende, während er für die Welt der Genuß- 
güter die Grenznutzentheorie akzeptiert. Aber seine These, daß über 
die Verteilung nicht Wert- und Preisgesetze, sondern soziale Macht- 
verhältnisse entscheiden, involviert keine besondre Methode im logi- 
schen Sinn. Indem er seine Ausführungen auf die Frage der Möglich- 
keit von Erhöhungen der Löhne durch gesetzliche Maßregeln oder 
organisiertes Vorgehen der Arbeiter zuspitzt, welche die herrschende 
Theorie leugne und die seine beweise, bietet er einen willkommenen prak- 
tischen Mittelpunkt für die Diskussion, und wir wollen dasselbe tun $). 


3) Manche freilich meinen, daß die Grenznutzentheorie nur die Wert- und 
Preisbildung solcher Güter zutreffend schildere, die in gegebenen, durch Pro- 
duktion nicht vermehrbaren Mengen vorhanden seien. Aber diesen Standpunkt 
wollen wir undiskutiert lassen. | 

= 3) Soziale Theorie der Verteilung, Berlin 1913. 
“) Ein Punkt seiner Ausführungen liegt außerhalb wissenschaftlicher Dis- 


.———-—- -.- 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 5 


Sei zunächst die entscheidende Auffassungsweise formuliert, 
wie sie uns sowohl die Grenznutzen- und Grenzproduktivitätstheorie ®) 
in ihrer ursprünglichen Form wie die auf ihr beruhende, sie vervoll- 
kommnende und verallgemeinernde xat’ &&oxnv sogenannte Gleich- 
gewichtstheorie (Pareto) bietet, —wobeiwir, obgleich in noch weiterer, 
nur die Grundform des Wirtschaftens erfassender Abstraktion die 
prinzipiell gleiche Auffassungsweise für alle denkbaren sozialen Organi- 
sationsformen gilt, uns auf das engere Problem der durch Privat- 
eigentum usw. charakterisierten »Verkehrswirtschaft«e beschränken 
und deren Terminologie und Spezialprobleme vor allem im Auge 
haben wollen. 

Das reinökonomische Erkenntnisobjekt, das wir für unsere Zwecke 
aus dem Realobjekt des sozialen Wirtschaftsprozesses zimmern, 
ist nun zunächst streng einheitlich ®): Was wir da betrachten, ist ein 
und nur ein Vorgang, dessen jeweils unterscheidbare Elemente in 
einem unlöslichen Zusammenhang und einer prinzipiell unlöslichen, 
höchstens im einzelnen Fall in erster Annäherung gelegentlich zu 
vernachlässigenden Wechselwirkung stehen, einander gegenseitig 
und zwar eindeutig bestimmen ?), und deren Ineinanderwirken auf 
Grund nur eines Prinzips beschreibbar ist. Diese Elemente sind je- 
weils irgendwelche Gütermengen oder individualpsychische 8) Wert- 


kussion und soll nur hier erwähnt werden: sein (negatives) moralisches Wert- 
urteil über das Zinseinkommen. Von meinem Standpunkt kann ich die Aeußerung 
dieser Reaktion des moralischen Bewußtseins einer hervorragenden Persönlich- 
keit auf die Tatsache des Kapitalzinses nur mit Achtung und Sympathie zur 
Kenntnis nehmen, ohne mich als berechtigt zu erachten sie zu diskutieren. Inter- 
essant ist die bei Nationalökonomen auch sonst nicht seltene Ansicht des Autors, 
daß sein moralisches Urteil aus seiner Erklärung des Zinseinkommens logisch 
folge, was offenbar nur unter der Voraussetzung der allgemeinen Verbindlichkeit 
gewisser ethischer Obersätze gilt. Für Tugan-Baranowsky involviert der Aus- 
druck »Ausbeutung« also schon ipso facto moralische Mißbilligung. 

5) »Grenzproduktivitätstheoriee wäre dem Wortsinn nach nichts andres 
als ein Name für die Grenznutzentheorie in ihrer Anwendung auf das Vertei- 
Iungsproblem und in diesem Sinn soll das Wort hier gebraucht werden. Doch 
wird es in einem engern Sinn auch speziell für die Verteilungstheorie der Clark- 
schule gebraucht, die eine Spielart der Grenzproduktivitätstheorie im erstern 
Sinn ist, aber in Bezug auf die Lohntheorie durchaus mit der der sOesterreichers« 
und des Marshallkreises zusammenfällt. 

*) Dieser Standpunkt muß als Resultat eines langen Entwicklungsprozesses 
beurteilt werden. Es ist begreiflich, wenn das Maß von Abstraktion, das er in- 
volviert, dem Laien wie dem untheoretisch gestimmten Fachgenossen unsym- 
pathisch ist. 

?) Ueber den Sinn und die Bedeutung dieser Tatsache vgl. das Werk, in dem 
se am klarsten hervortritt und wo alle die altgewohnten Einzelprobleme der 
Oekonomie in einer sie alle umfassenden allgemeinen Thecrie aufgelöst sind, das 
Manuel von Pareto, oder auch mein »Wesen und Hauptinhalt der theoretischen 
Nationalökonomiee, | 

$) Diese individualpsychischen Wertgrößen sind natürlich »sozial bedingte, 
0 daß sie an sich niemals als sletzte Gründes« — wohl aber als Indices — des Ver- 
baltens der Individuen betrachtet werden können. 


6 Joseph Schumpeter, 


größen, wobei es im allgemeinen nur Frage der Zweckmäßigkeit ist, 
ob wir terminologisch auf die einen oder andern das Hauptgewicht 
legen °) — ob wir unsre Elementensysteme als Systeme von Güter- 
quanten oder als Systeme von individualpsychischen Wertgrößen 
definieren: Denn in beiden Fällen tun wir ja doch im Wesen ganz 
das Gleiche. Trotz dieser Einheitlichkeit löst diese Theorie eine un- 
endliche Anzahl verschiedenartigster Probleme. Aber es ist jeweils 
der Frager, dessen konkretes Interesse das Spezialproblem konsti- 
tuiert, während der Theoretiker, um zu antworten, immer dasselbe 
tut, immer die im letzten Grunde gleichen Gedankengänge — die auch 
für alle andern reinökonomischen Probleme gelten würden — durch- 
führt, nur jedesmal in anderm Gewand 1°). Trotz dieser Einheitlich- 
keit ferner läßt sich diese Theorie durch Einführung besonderer Tat- 
sachen — spezieller Bedingungen — unendlich variieren, und gerade 
diese Einführung besonderer Tatsachen ist die Art, wie man ihre mei- 
sten Resultate von »praktischem« Interesse gewinnt. 

Wie alle Gütermengen oder Wertungen, die es in einem gegebenen 
Zeitpunkt in einer Volkswirtschaft oder in den Gehirnen der Wirt- 
schaftssubjekte gibt, gleichsam aufeinander eingestellt, aneinander 
angepaßt sind oder ein System bilden, das man nach Belieben — je 
nach dem Gesichtspunkt, den man ins Auge faßt — mit einem me- 
chanischen, einem organisierten oder einem organischen !) System 
vergleichen kann, so passen auch die zeitlich aufeinanderfolgenden 
Zustände der Welt der Güter oder Wertungen zu- und aufeinander, 
und jeder ist durch den ihm vorhergehenden bestimmt wie er seiner- 
seits den folgenden bestimmt — soweit nicht der Theorie fremde Mo- 


») Man hat daraus einen großen prinzipiellen Gegensatz gemacht und ihm 
alle möglichen Bedeutungen beilegen wollen — einer der Punkte, mit dem sich 
bei uns Kräfte vergnügen, die dann der ernsten theoretischen Arbeit fehlen. 

10) Strenggenommen gilt das nur für die — allerdings vielfach auch außer- 
halb ihres Gebiets anwendbaren — Methoden der wirtschaftlichen Statik. Um 
jedoch unsre Ausführungen nicht unnötig zu komplizieren, wollen wir darauf 
weiter kein Gewicht legen. Doch komme ich dadurch darstellerisch in eine 
Schwierigkeit. M. A. nach ist nämlich der Kapitalzins, abgesehen von natürlich 
stets vorkommenden Konsumtivdarlehn, eine Folge der wirtschaftlichen Ent- 
wicklung, so daß er in einer sich gleichbleibenden, lediglich den Kreislauf der 
Wirtschaftsperioden unverändert wiederholenden Volkswirtschaft verschwinden 
würde (vgl. meine Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung). Da es mir aber 
nicht möglich ist, im Rahmen dieser Abhandlung meine Ansicht zu begründen, 
und da ich ferner gern vom Standpunkt möglichst vieler Theoretiker sprechen 
möchte, so bleibt mir nichts andres übrig als in diesem Punkte ihre Ansicht zu 
akzeptieren und von Kapital und Zins im üblichen Sinn zu sprechen, also im 
Sinn eines Gütervorrats und eines sich irgendwie an dessen Rolle in der Volks- 
wirtschaft knüpfenden Reinertrags. 

a1) Es ist mir oft aufgefallen, daß wenn man sich über die Bedenken hinweg- 
setzen will, denen solche Vergleiche stets ausgesetzt sind — und diese Vergleiche 
sin d bedenklich, seien sie auch noch so harmlos gemeint, weil sich die Art von 
Kritik, die wir haben, immer an solche Nebendinge klammert —, es besser ist, 
die chemische Analogie der organisierten Substanz als die biologische des Or- 
ganismus zu gebrauchen. 


ers 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 7 


mente hereinwirken —, und zwar wird diese Bestimmtheit durch das- 
selbe Erklärungsprinzip gegeben, das auch die Wechselwirkungen der 
Elemente in jedem Augenblick beherrscht. Wir erfassen diesen ohne 
angebbare zeitliche Grenzen hinfließenden Strom des Wirtschaf- 
tens, indem wir ein Stück davon herausgreifen, irgendeine sich ent- 
weder an die Dauer eines technischen Produktionsprozesses òder eine 
rein formale Rechnungsperiode oder an die Lebensdauer einer Unter- 
nehmung oder sonst eine längere oder kürzere, zum Auswirken der 
gerade betrachteten Momente ausreichende »Wirtschaftsperiode«, 
die wir in geeigneter Weise schematisieren 12). In jeder solchen Wirt- 
schaftsperiode wird produziert und konsumiert und ein Kreislauf 
wirtschaftlichen Lebens vollendet. Mit einer seit Quesnay üblich 
gewordenen Auffassung kann man alles, was in.einer Wirtschafts- 
periode geschieht, deuten als die Produktion und »Verteilung« eines 
»Sozialproduktse. Damit darf man natürlich nicht die Vorstellung 
eines bewußtplanmäßigen Zusammenwirkens der Wirtschaftssubjekte 
verbinden. Vielmehrhaben psychische Realität nur individuelle Wirt- 
schaftspläne und auch diese, weil ein sehr großer, vielleicht der größte 
Teil allen Wirtschaftens trieb- oder doch gewohnheitsmäßig !?) vor 
sich geht, nur zum Teile. Dennoch ergibt sich durch das Ineinander- 
spielen aller individuellen Nachfragen und Angebote ein Ganzes, dessen 
Grundriß dem Beschauer durchaus den Eindruck des Planvollen 
macht, sozialer Wirtschaftsplan genannt werden und als das Pendant 
eines bewußten sozialen Wirtschaftsplan, wie ihn der »Produktions- 
minister« im sozialistischen Staate entwerfen würde, betrachtet wer- 
den kann. Damit darf man ferner auch nicht die Vorstellung eines Güter- 
vorrats verbinden. Es handelt sich vielmehr um ein arbiträr heraus- 
geschnittenes Stück eines stetig fließenden, stetig sich erneuernden 
Güterstroms — der übrigens auch ebensogut als Strom von Wer- 
tungen oder Bedürfnisbefriedigungen definiert werden könnte 14). 

Das Sozialprodukt besteht jeweils, wie schon die letztere Be- 
merkung andeutet, aus den materiellen und immateriellen Genuß- 
gütern, die in einer Wirtschaftsperiode konsumiert werden. Soweit 


) Ein durchgeführtes Beispiel einer solchen Schematisierung findet man 
im 1. Kapitel meiner »Theorie der wirtschaftlichen Entwicklungs. 

8) Dieser Umstand hat denn auch zu einer »Einwendungs gegen die Grund- 
lagen der Theorie geführt, der imputiert wurde, sie setze voraus, daß der Mensch 
in einem Maß bewußte Motive habe und rationell aufgrund derselben handle, 
wie es der Wirklichkeit nicht entspreche (so selbst Graham Wallas, Human 
Nature in Politics). Allein erstens ist Fehlen bewußter Motive und Fehlen von 
Mctiven überhaupt nicht dasselbe und zweitens kommt es überhaupt nicht auf 
die Geistesverfassung und individuelle Psychologie der Individuen an, sondern 
nur darauf, daß der Druck der Notwendigkeit oder sonstetwasihr Verhalten 
so formt, daß esim Großen und Ganzen und für unsre Zwecke 
& interpretiert werden kann, wie wenn jene Voraussetzungen zuträfen. 

4) Es ist wesentlich klar festzuhalten, daß die Wirtschaft ein Prozeß 
ist und daß wir von »Zuständen«, z. B. vom Gleichgewichtszustand nur in dem 
Sinne sprechen, in dem man eben vom Gleichgewichtszustand eines Prozesses 
sprechen kann. 


pen 


nn 


8 "Joseph Schumpeter, 


die in einer Wirtschaftsperiode produzierten Güter — seien es Kon- 
sum- oder Produktionsgüter — an die folgende weitergegeben werden, 
wurde bei stationärer Wirtschaft die gleiche, bei nicht stationärer 
eine annähernd gleiche Menge von der vorhergehenden übernommen. 
Soweit Produktionsgüter erzeugt werden, die noch in der gleichen 
Wirtschaftsperiode zu Genußgütern ausreifen — andernfalls gehören 
erzeugte Produktionsmittel in die eben erwähnte Kategorie von 
sweitergegebenen«e Gütern — dürfen sie nicht noch neben diesen ange- 
schlagen werden. So erklärt sich das Paradoxon, daß das ganze So- 
zialprodukt bloß aus Genußgütern besteht und der Konsumtions- 
fonds einer Wirtschaftsperiode normalerweise (abgesehen von aus- 
wärtigen Darlehen usw.) das Gesamtresultat aller nationaler Pro- 
duktionskräfte darstellt, obgleich doch daneben immer auch noch 
andre Produkte dieser Produktivkräfte vorhanden sind !5). Der Fall 
eine Wirtschaftsperiode überdauernder Genußgüter braucht wohl 
nicht besonders erörtert zu werden. 

Wie dieses Sozialprodukt, dieser Konsumtionsfonds, diese na- 
tionale Dividende (Marshall) das Reinergebnis aller der verschiedenen 
Arten und Qualitäten von persönlichen Leistungen, Naturstoffen 
und -kräften und produzierten Produktionsmitteln oder, weil sich 
die dritte Kategorie in die beiden ersten ökonomisch »auflösen€ läßt, 
in letzter Linie das Reinergebnis aller »Arbeit« und allen »Bodensę 
ist, so ist das Sozialprodukt auch die Quelle aller im Wirtschaftsge- 
biet entstehender Erträge und wird durch dieselben erschöpft 16). 

Das ist klar genug. Die nächstliegende Auffassung ist nun die, 
beide Seiten des Prozesses, die Produktion und die Verteilung, zu 
trennen und als besondere Phänomene und Probleme zu konstituieren, 
die erstre mehr unter denEinfluß technisch-ökonomischer, die letztre 


—— 





35) Liegt also nicht ein Mißverständnis vor, wenn Tugan-Baranowsky (p. 76) 
meint, daß die meisten Theoretiker die einfache Tatsache ignoriert hätten, daß 
nur sein Teil des gesellschaftlichen Produkts das gesellschaftliche Einkommen« 
bilde, der Rest aber der Wiederherstellung der verbrauchten Produktionsmittel- 
vorräte diene? Höchst befremdend ist aber die Anwendung, die er von diesem 
Gesichtspunkt macht. Er will nämlich mit seiner Hilfe nachweisen, daß bei 
steigender sozialer Produktivität infolge technischen Fortschritts nicht nur, 
was gewiß richtig ist, die Realeinkommen aller wirtschaftlichen Klassen, sondern 
auch deren Quoten am Sozialprodukt zugleich steigen können — auf Kosten 
des Teils, der zur Wiederherstellung der Produktionsmittel nötig ist! Denn es 
sei dann weniger Arbeit dazu erforderlich, folglich bleibe mehr für das »gesell- 
schaftliche Einkommen« und alle die nach dem Arbeitswertmaßstab gemessenen 
Quoten des letztern seien vermehrt. Allein ist es nicht klar, daß man ebensogut 
umgekehrt sagen könnte, der Arbeitswert des »gesellschaftlichen Einkommens 
sinke, weil nun weniger direkte und indirekte Arbeitsaufwendung zu seiner Er- 
zeugung nötig ist; ferner, daß die vermehrte Produktivität im allgemeinen nur 
durch Vermehrung der sachlichen Produktionsmittel hindurch auf die Größe 
des Genußgüterfonds wirkt, sodaß sich das Verhältnis beider nicht zu ändern 
braucht? Wenn das der »Kern der Wahrheits in der Grenzproduktivitätstheorie 
wäre und nur so nachgewiesen werden könnte, daß die Höhe der Einkommens- 
zweige etwas mit der »Produktivitäte zu tun hat, so stünde es wohl schlimm um sie. 

16) Wiederum: strenggenommen nur in einer stationären Wirtschaft. 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 9 


mehr unter den soziologisch-historischer Momente zu stellen, für 
beide besondere »Gesetze« zu formulieren und erst hinterher oder ge- 
legentlich die unabweisbarsten Zusammenhänge zwischen beiden 
einzuführen. Dabei beginnt man mit der Produktion — weil ja erst 
etwas vorhanden sein muß, ehe man es »verteilene kann, — um dann 
das Sozialprodukt für die Verteilung als ein Datum zu betrachten. 
Dem entspricht ja auch die alte Stoffeinteilung, die die reine Theorie 
wesentlich nach diesen beiden Titeln gliedert — denn die »Zirkulation« 
ist dann nichts andres als ein Mechanismus, der Produktion und Ver- 
teilung verbindet, und das Kapitel über »Konsumtion« ja meist eine 
Art Rumpelkammer für verschiedene Dinge. Dem entspricht auch 
ganz besonders die Stellung jener Autoren, die im Umkreis des Ver- 
tellungsproblems die ssozialen Machtverhältnisse« die entscheidende 
Rolle spielen lassen 17). 

Diese Auffassung ist nach jeder Richtung mangelhaft. Es liegt 
auf der Hand, daß die »Verteilung« darüber entscheidet, was und wie 
produziert wird, denn von ihr hängt ja das Einkommen, mithin die 
Nachfragefähigkeit der Wirtschaftssubjekte ab. Es liegt aber ebenso 
auf der Hand, daß die Produktionsverhältnisse ihrerseits die »Ver- 
tellung« bestimmen, denn sie entscheiden darüber, mit welchen An- 
sprüchen der Einzelne an das Sozialprodukt herantreten kann !®). 
Endlich, daß die Produktion ebensosehr unter dem Einfluß sozialer 
Reglung steht wie die Verteilung und die Verteilung ebensosehr unter 
dem Einfluß technischer Naturgesetzlichkeiten und ökonomischer 
Notwendigkeiten wie die Produktion. Das spezifisch technische 
Moment an sich und das spezifisch soziologische Moment an sich sind 
übrigens, obgleich beide natürlich das ganze Wirtschaftsleben be- 
herrschen, dem ökonomischen Moment an sich gleich fremd, und nur 
das Konfundieren des erstern mit dm ökonomischen Wesen 
der Produktion und das Konfundieren des letztern mit dem öko- 
— i 

1, Schon John St. Mill macht eine derartige Bemerkung in seinen preliminary“: 
remarks, nämlich daß sunlike the laws of production those of distribution are. 





partly of human institutione. Er aber bricht ihr dadurch die Spitze ab, daß er —; : 


die Sachlage ganz richtig charakterisierend — hinzufüg:: »But though govern-, 
ments or nations have the power of deciding what institutions shall exist, they 
Cannot arbitrarily determine, how those institutions shall work« (p.21 ed.Ashley). | 

1) Natürlich nur in der Verkehrswirtschaft. Eine kommunistische Wirt- 
schaft ist eine geschlossenes Wirtschaft, d. h. sie bildet eine einzige Wirtschafts- 
einheit und ist ein Wirtschaftssubjekt. Sie kennt dieses Verteilungs- 
problem überhaupt nicht, sondern der Gesamtertrag der Produktion ist für sie 
wirklich ein Einkommen — und nicht wie das Volkseinkommen, von dem man 
auch in der Verkehrswirtschaft spricht, lediglich eine Fiktion, eine Begriffs- 
konstruktion, die im Grunde widerspruchsvoll wäre, wenn nicht dabei das 
Wort »Einkommen« nur in einem übertragenen Sinn verwendet würde — so daß 
ihr Verteilungsprozeß wirklich ein unterscheidbarer Vorgang und zwar 
an unter den Begriff der Einkommensverwendung zu subsumierender wäre. 
Das, was in einer streng kommunistischen Volkswirtschaft eventuell Individual- 
ankommen hieße, wäre wiederum hier kein wahres »Einkommen« im vollen 
‚Sinn dieses Begriffs. 





IO | Joseph Schumpeter, 


nomischen Wesen der Verteilung — worin also ein doppelter 
Fehler liegt — erschwert die Einsicht in das auf völlig gleichem Niveau 
vor sich gehende Ineinandergreifen aller Elemente des Wirtschafts- 
prozesses, verrammelt den Ausblick auf die Grundidee der Verkehrs- 
wirtschaft und der verkehrswirtschaftlichen Einkommensbildung 
und erklärt jenes Suchen nach speziellen Erklärungsgründen für jede 
einzelne Erscheinung, z. B. jeden Einkommenszweig, das zu dem 
Flickwerk der ältern Theorie führte, und dem dabei das einigende 
Band zwischen den Einzelerscheinungen entging. 

Demgegenüber ist es ein wesentlicher Fortschritt gewesen, zu 
erkennen, daß der Vorgang der Erfüllung der produktiven Rolle — 
im ökonomischen Sinn — eines jeden Elements von Produktiv- 
kraft uno actu den Ertrag realisiert, der in der Verkehrswirtschaft die 
Grundlage der Einkommensbildung seines Herrn wird. Produktion 
und Verteilung sind nicht zwei unterscheidbare reale Vorgänge, die 
etwa nur aufeinander wirken würden, sondern zwei Aspekteeines ein- 
heitlichen Prozesses und Schritt für Schritt miteinander identisch 2). 
Jeder produktive Vorgang ıst gleichzeitig ein Verteilungsvorgang, jeder 
Verteilungsakt ein Glied in der Kette des Produktionsprozesses. 
Man kann sie prinzipiell nicht unabhängig voneinander erfassen, — 
was man gesondert erfassen kann, gehört der Technik oder der Sozio- 
logie an — und nichts an ihnen ist ohne das Ganze des Wirtschafts- 
prozesses verständlich. Natürlich kann — und mu 8 man gelegent- 
lich — ein Element herausgreifen und die übrigen als konstant be- 
trachten. Man kann, um die Sache irgendwo anzupacken 2°) — erst 
einen Genußgütermarkt konstruieren, auf dem Konsumenten mit 
bestimmten gegebenen Einkommen auftreten und den Unternehmern 
ihre Genußgüter abkaufen — aber zu diesem »Markt« gehört dann 
als notwendige Ergänzung ein andrer, auf dem eben diese Konsu- 
menten ihre »produktiven Leistungen« eben diesen Unternehmern 

19) Aber besteht denn kein Gegensatz zwischen Arbeitleisten und Lohner- 
halten ? Immer noch denkt man beim Worte »Produktion« zu sehr an den tech- 
nischen Vorgang. Aber über diesen haben wir ja nicbts zu sagen, und für 
uns besteht die Produktion nur im Kombinieren von Produktionsmitteln — das 
allerdings aufgrund zum Teil technischer Daten erfolgt. In diesem Sinn kann 
man in der Tat sagen, daß wir mit dem Leisten der Arbeit nichts zu tun 
haben und daß sich das speziell ökonomische Interesse an den zur Durchführung 
des Wirtschaftsplans nötigen — und ihn ausmacbenden — kommerziellen Ope- 
rationen erschöpft. Dann verschwindet jener Gegensatz und es bleibt ein Kauf- 
akt übrig, der gleichzeitig dem produktiven Zweck und dem Verteilungsvor- 
gang dient. 

20) Didaktisch wäre es zweckmäßig, erst eine allgemeine Skizze vom Mecha- 
nismus oder Organismus des Gleichgewichissystems zu geben und damit den fikti- 
ven Charakter aller scharfen Scheidungen besser hervorzuheben, während sie sich 
sonst dem Leser oder Hörer unvermeidlich als rcal einprägen und die fundamentale 
und fruchtbare Vorstellung des Wirtschaftslebens als eines ausbalancierten, 
siontinuierlichen Prozesses; in dem alle Stadien immer gleichzeitig vorhanden 
sind, zurücktreten lassen. Verfehlte Anschauungen über die Bedeutung des 
Zeitablaufs in der Wirtschaft, die Notwendigkeit dem Arbeiter sGenußgüter 


zuschießens vor usw. sind aus einer Vernachlässigung dieser Momente entstanden. 
® 


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E ar En i 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie, II 


um eben diese Geldsummen, die nun in den Händen der letztern sind, 
anbieten, so daß das volle Verständnis der Vorgänge auf einem 
dieser fiktiven Märkte stets auch Beachtung der Vorgänge auf dem 
andern erfordert. Man kann und muß ferner für besondere Zwecke, 
vor allem bei der Beantwortung konkreter Fragen einzelne Elemente 
herausgreifen, z. B. irgendwelche bestimmte Genußgüter, und alle 
andern als sgegeben« betrachten, aber auch da liegt eine vereinfachende 
Fiktion vor. - 

An sich ist also der Kern der Theorie nur ein System von Be- 
ziehungen zwischen völlig farblosen Gütermengen oder Wertgrößen 
als solchen, innerhalb dessen es keine prinzipiellen Unterschiede und 
auch kein besonderes unterscheidbares Verteilungsproblem gibt, und 
das nur entweder aus didaktischen oder sonstigen praktischen Grün- 
den jeweils bruchstückweise dargelegt oder in den Dienst eines spe- 
zellen Fragenkomplexes gestellt wird, wobei aber der spezifisch 
theoretische Gedankengang sich jedesmal, wenn auch jedesmal in 
anderm Kleide, wiederholt: Die neuere Arbeit an der Oekonomie hat 
eben, wie gesagt, aus der alten Serie von wirtschaftlichen Fragen- 
komplexen einen ihnen allen gemeinsamen Grundstoff destilliert, 
der das xat' èġoyyv »Reinwirtschaftliche«e an ihnen ist, während 
alles andre, wie man ja auch leicht einsieht, technologischen, sozio- 
logischen usw. Charakter trägt. Ich sage: »wie man leicht einsieht« — 
in der Tat, wäre es wirklich schwer einzusehen, daß z. B. das Phäno- 
men der Lohnarbeit vor allem andern — in seinen Ursachen, seinen 
Wirkungen, seiner Kulturbedeutung, seinem »Sinn« — uns sozio- 
logische Probleme stellt und in seiner Fülle etwas sehr andres ist als 
das Phänomen des Arbeitswerts, daß aber dieses letztre nur eine Er- 
scheinungsform eines viel allgemeinern Phänomens ist, das eine ein- 
heitliche Theorie erfordert ? z 

Hoffentlich meint der Leser nicht, daß ich die Sozialökonomie 
auf die Diskussion jenes ökonomischen Grundstoffs beschränken 
wolle. Im Gegenteil, dessen Diskussion ist zwar nötig, aber sie gibt 
uns unmittelbar fast nur einen Einblick in das Wesen der reinökono- 
mischen Zusammenhänge, im Uebrigen wird sie gerade erst in ihren 
Anwendungen auf ihr vom Außerökonomischen her gestellte Proble- 
me fruchtbar: Erst wenn ihre allgemeinen Daten konkretisiert werden 
durch die spezielleren Bedingungen z. B. der Lohnbildung, erst wenn 
der Mechanismus ihres Gedankengangs sich in irgendwelches tech- 
nisches oder soziologisches Tatsachenmaterial gleichsam verfangen 
kann, ergeben sich ihre meisten Resultate: Nur für den Zweck der 
bessern Ausarbeitung eines methodisch autonomen Moments ist jene 
Scheidung nötig — für die einzelne Untersuchung kann man dann 
dieses Moment nach Bedürfnis und Gefallen mit andern kombinieren. 
Diese Feststellung ist wichtig, weil immer wieder Theoretiker und 
Gegner der Theorie diese Sachlage verkennen, erstere mit der Erklä- 
rung, daß z. B. die Einkommenszweige »Werterscheinungen« seien, das 
Grundproblem des Verteilungsprozesses überhaupt für erledigt 
halten, letztere wiederum in eben dieser Auffassung einen prinzipiellen 


12 | Joseph Schumpeter, 


Fehler sehen, und weil es ferner vorkommt, daß man aus dem Fehlen 
der in die Theorie eben erst einzusetzenden konkreteren Daten Ein- 
wendungen gegen die Theorie als solche macht. 

Ich bin mir trotzdem völlig bewußt, wie gefährlich es ist, auf un- 
serm Gebiet, wo das spezifisch analytische Interesse um seiner selbst 
willen so gar keinen Boden bei den Fachgenossen hat, dergleichen 
zu sagen, Dinge zu sagen, die selbst von den meisten Autoren, für 
deren Anschauungen ich hier eintreten will, mißbilligt werden wüsden 
und denen die alte abgeschmackte Phrase von: der »theoretischen 
Spielereie stets siegreich zu begegnen pflegt. Allein, daß solche »re- 
finementss auch rein praktische Bedeutung haben, geht daraus hervor, 
daß Unklarheiten über diesen Punkt die fruchtbarste Quelle von 
Mißverständnissen und Kontroversen gerade auf dem Gebiet der Ver- 
teilungstheorie sind. Und weil sich diese Mißverständnisse und Kontro- 
versen durch Anwendung der nötigen logischen Rigorosität m.E. 
aus der Welt schaffen lassen, so habe ich das Gesagte so vorgebracht 
wie ich es tat — mag es immer pedantisch aussehen —, und möchte 
es nun anwenden auf die Frage der sozialen Machtverhältnisse als 
Bestimmungsgrund der Einkommensbildung, wie sie vornehmlich 
bei Tugan-Baranowsky behandelt ist, und überhaupt auf die Frage- 
gruppe, die mit den Ausdrücken »ökonomische« und »historischrecht- 
liche« Kategorie und vielen ähnlichen charakterisiert werden kann. 

Die meisten Autoren, die der hier vertretenen Auffassung durch 
die Tat zustimmen, würden den Ausgangspunkt der Grenzproduk- 
tivitätstheorie dahin ausdrücken, daß die Einkommen im allgemeinen 
und die Löhne im besondern Wert- und Preisphänomene »seien«. 
Aber es könnte nie schwer halten, ihre Zustimmung zu zwei Zuge- 
ständnissen zu gewinnen, die ihre Auffassung auch erkenntnistheo- 
retisch mit der hier vertretenen im wesentlichen vereinten. Sie alle 
würden erstens zugeben, daß ihre Theorie nur das Wesen und das 
Gesetz der Höhe der Einkommenszweige erkläre, aber weder die 
konkrete Höhe derselben, die ja stets von eventuell »empirisch-rea- 
listisch« zu untersuchenden Daten, noch die Besonderheiten in der 
Bildung der jeweils unterscheidbaren einzelnen Arten z. B. von Lohn, 
die ja stets von eventuell durch besondre »empirisch-realistische« 
Untersuchungen festzustellenden und in die Theorie bei »praktischen 
Anwendungen« einzusetzenden weitern Tatsachen abhängen. Das 
schiene ihnen allen sogar selbstverständlich, und sie würden daher 
alle dem Satze zustimmen, den z. B. K. Diehl neuerdings im Ton einer 
Einwendung vorgebracht hat, nämlich »daßB Lohntheorien ohne 
realistisch-empirische Grundlage, nur aufgebaut auf den logischen 
Schlußfolgerungen aus gewissen »allgemein-menschlichen« Nutzer- 
wägungen heraus, nicht zum Ziele führen können« ?!), wenn dieses 
Ziel die Erklärung nicht des Wesens der Sache sondern der konkreten 
Gestaltung der Sache ist — am meisten der Autor, den Diehl hier zu 
bekämpfen sucht. Zweitens würden sie alle ohne weiteres zugeben, 


3) Zur Kritik der Kapitalzinstheorie Böhm-Bawerks, Conrads Jahrb. 
Bd. 105: p., 606. 








Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 13 


daß ihre Theorie offenbar nicht alle »Seiten« und Beziehungen der 
Verteilungsvorgänge erkläre, daß z. B. die Entstehung des Systems 
der Lohnarbeit oder dessen kulturelle Folgen und Voraussetzungen, 
das Maß, in dem es sich auswirken kann oder an ethische, rechtliche 
usw. Schranken stößt, die Art, wie es organisatorisch aufrechterhalten 
wird, und vieles Andrenicht in deren Rahmen falle. Von da ist es nicht 
mehr weit nach der Auffassung, daß für die ökonomische Theorie — 
oder jenes Kapitel einer weitergefaßten ökonomischen Theorie, das 
diese Autoren gerade behandeln —, die Einkommen im allgemeinen 
unter dem Gesichtspunkt von Wert- und Preiserschei- 
nungen betrachtet werden. 

Jener Ausgangspunkt ist ‚keine Eigentümlichkeit der Grenz- 
produktivitätstheorie. Eigentümlich ist ihr nur, daß sie durch eine 
besondre Analyse in den Stand gesetzt wurde, dasWesen und das Ge- 
setz jener Werte und Preise aus der produktiven Rolle der einzelnen 
Produktionsmittel, aus deren Preisen die Einkommen zusammenge- 
setzt sind, zu erklären und aus dem Gesetz des Grenznutzens abzu- 
leiten. Die Tatsache, die jenen Ausgangspunkt bildet, ist sachlich nie 
geleugnet worden und kann nie geleugnet werden, auch von jenen 
nicht, die den Weg für verfehlt halten, den die Grenznutzentheorie 
von ihm aus einschlug. Tugan-Baranowsky z. B., für den das letztre 
zutrifft, erkennt nicht bloß die ja offenbare Tatsache an, daß sich 
die Einkommensbildung in der äußern Form der Preisbildung voll- 
ziehe, sondern er räumt sogar der »Produktivität« 22) in sehr vielen 
Punkten einen Einfluß auf die Einkommensbildung ein, und tatsäch- 
lich wird das Bestehen irgend eines Zusammenhangs zwischen 
beiden implizite auch von Autoren angenommen, die alles tun, um 
ihn zu zerreißen und jedenfalls kein Gewicht auf ihn legen, wie z. B. die 
Vertreter der primitivsten Art von Lohnfondstheorie 22). Was über- 
haupt bestritten werden kann ist nur, daß in der Tatsache, daß die 
Einkommen Preise »produktiver Leistungen« seien, der entscheidende 
Gesichtspunkt liege. Es ist nun vor allem festzustellen, daß ur- 
sprünglich der einzige Grund dafür, daß man diesen Gesichtspunkt 
nicht energisch anfaßte, ein Nichtkönnen, nicht etwa ein Nichtwollen 


32) Allerdings ist sein Begriff der Produktivität ein nicht durchaus ein- 
wandfreies Instrument. Daß er, der vom Arbeitswertprinzip soweit abgerückt 
ist, den Begriff lediglich auf die Arbeit beschränkt, ist zwar nur durch Gefühls- 
momente zu erklären und insofern ein störendes Moment, aber noch kein Unglück. 
Daß er aber den präzisen Sinn, den das Wort innerhalb der Grenznutzentheorie 
bat, nicht fest erfaßt hat und in erster Linie immer an »physische« Produktivi- 
tät denkt, gleichwohl aber diesen Produktivitätsbegriff bei der Diskussion 
unterschiedlos an Stelle des andern und neben dem andern gebraucht, ist ein 
ernsterer Mangel. 

3) Bei den primitivsten Formen der Lohnfondstheorie ist der Zusammen- 
hang durch Vermittlung des Sparens hergestellt, weshalb Longe und Thornton 
(auch v. Hermann) Unrecht hatten, wenn sie in der Tatsache, daß der Lohn in 
letzter Linie aus dem Konsumenteneinkommen fließe, eine fleischgewordene 
Widerlegung der Lohnfondstheorie erblickten — und Mill darin Unrecht hatte, 
daß er das einfach zugestand. 


14 Joseph Schumpeter, 


war. Vom allgemeinen Standpunkt der Klassiker war an sich kein 
prinzipieller Grund vorhanden, warum man sich diesen naheliegenden 
Gedanken entgehen lassen sollte, der ja von Say und schon vor ihm 
geäußert worden war. Aber man wußte nichts damit anzufangen. 
Ebenso wie es ganz falsch ist zu sagen, daß die Klassiker das Moment 
des Gebrauchswerts in seiner Bedeutung vollständig erkannt und nur 
als selbstverständlich nicht hervorgehoben hätten, so ist es falsch zu 
sagen die Tatsache, daß die Einkommen Preise produktiver Leistungen 
seien, könne nie jemand entgangen sein und man habe sie nur als 
wertlose Selbstverständlichkeit beiseite geschoben. Denn wie aus 
dem Argument, das in den Wertdiskussionen der »klassischen Schule« 
immer wiederkehrt — nämlich daß der Gebrauchswert für densTausch- 
wert« nicht entscheidend sein könne, weil Dinge von sehr großem 
Gebrauchswert oft keinen oder geringen Tauschwert haben — 
hervorgeht, daß sie einfach nicht wußten, wie die Sache anzupacken 
war, so ergibt sich aus der Tatsache, daß dem Produktivitätsgedanken 
ein ganz ähnliches Argument entgegenzustehen schien — nämlich 
daß zur Produktion alle Produktionsfaktoren nötig seien und es daher 
kein unterscheidbares Produkt des einzelnen Produktionsfaktors 
geben könne, — daß sie den Weg, den die Grenznutzentheorie öffnete, 
eben nicht sahen. Erst die Grenznutzentheorie hat ihn überhaupt 
gangbar gemacht und die in jene beiden Argumente gehüllten Hinder- 
nisse — die im letzten Grund in eines zusammenfallen — überwunden. 
Nun diese Hindernisse überwunden sind, hieße es die ganze Situation 
mißverstehen, wenn man die klassischen Auffassungsweisen als gleich- 
berechtigte Konkurrenten der Grenzproduktivitätstheorie betrachten 
wollte, die von ihren Autoren etwa in freier Wahl zwischen mehrern 
offenstehenden Möglichkeiten der letztern vorgezogen worden und 
ihrer theoretischen Natur nach ungefähr ebensogut wären. Wenn 
man heute den Produktivitätsgedanken in der besondern Form, in der 
er die Einkommensbildung auf die Preistheorie und durch sie auf das 
Grenznutzengesetz basiert, ablehnen will, so genügt nicht einfach ein 
ses geht nicht«, sondern man muß besondre Gründe gegen die Struktur 
der Theorie vorbringen oder nachweisen, daß andre Momente als die 
von ihr erfaßten das Wesen und das Gesetz der Einkommenszweige 
erklären. Das wichtigste unter diesen andern Momenten sind 
die »sozialen Machtverhältnisse«®®). 
Nun ist es ja von vornherein schon klar, daß dieses Wort, mit 
entsprechendem Inhalt gefüllt 2), uns nicht nur über die »Vertei- 
24) Die Rolle dieses Moments hat, vom Standpunkt der Theorie aus, v. Böhm- 
Bawerk in seiner letzten Arbeit, der Abhandlung »Macht oder ökonomisches 
Gesetz ?« Zeitschr. f. Volksw., Sozialp. u. Verw. Bd. XXIII einer gründlichen 
Analyse unterzogen, auf die hier ein- für allemal hingewiesen sei. Auch er spitzt 
seine Ausführungen auf das Problem der skünstlichen«e Lobnerhöhungen zu, 
so daß völliger Parallelismus zwischen seiner, Tugan-Baranowskys und der vor- 
liegenden Arbeit besteht, wenngleich die beiden erstern in entgegengesetztem 
Sinn argumentieren. 
35) Allerdings müßte esauch mit entsprechendem Inhalt gefüllt werden, eine 
Forderung, die von den Autoren, diedamitoperieren, allerdings nie erfüllt wurde. 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 15 


lunge sondern überhaupt über alle wirtschaftlichen Phänomene sehr 
viel mehr und sehr viel Tieferes zu sagen hat als der Hinweis auf den 
Wert- und Preismechanismus, der in einem Kreis abläuft, dessen enge 
Peripherie fast alle die großen Tatsachen des Völkerschicksals aus- 
schließt. Die sozialen Machtverhältnisse — wiederum: im besten und 
reichsten Sinn dieses vielmißhandelten Schlagworts — sind der Farb- 
stoff, mit dem das Panorama der Geschichte gemalt ist. Und wollte 
man einmal die wichtigsten Züge dieses Panoramas und sonst nichts 
hinwerfen, so daß sie sich einstampfen in die Seele des Beschauers, 
wie das der Künstler tun kann, dann wäre es am Ende mit »Macht« 
und »Sexualegoismus« überhaupt getan. Auch jede Wissenschaft ver- 
sucht so etwas in ihren Anfängen. Die Erkenntnis der Vielheit der 
Erkenntnisobjekte ist im Grund eine sehr bittere Pille und nicht gern 
und nicht gleich schluckt man sie. Denn das Erkenntnisobjekt ist 
bleich und schemenhaft und es ist schöner im vollen Leben zu wühlen. 
Ist es aber einmal so weit, daß die Erkenntnisobjekte sich scheiden, 
dann nützt uns nichts mehr gegen die Notwendigkeit ein jedes für 
sich vorzunehmen, wenn es mit unserer Erkenntnis überhaupt weiter 
gehen soll. Für unsern Fall heißt das: Noch die Klassiker mochten, 
trotz all der ihnen vorgeworfenen Abstraktheit, mit ihrer Theorie 
zugleich ein Bild von sozialen Klassen und ihren Kämpfen, vom 
Ringen ihrer Zeit erhaschen wollen, — wir können das im Rahmen 
der Theorie nicht mehr oder doch nur auf Kosten unserer Leistungen. 
Wir müssen uns im Besondern klar sein, was vom Verteilungsproblem 
wir jeweils behandeln und von einer Theorie darüber verlangen wollen. 
Das ist allen klar, daß wir keine praktischen Rezepte erwarten 
dürfen, das sollte den meisten klar sein, daß eine generelle Theorie 
nicht zugleich eine Geschichte oder auch nur ein konkretes Situations- 
bild aus sich gebären kann. Dazu aber wollen sich die wenigsten 
verstehen, daß wir auch keine Sozialpsychologie, vor allem, daß wir 
keine Soziologie der »Verteilung«e uno actu mit deren Oekonomie 
erhalten können. Uno actu natürlich nur: Denn natürlich brauchen 
wir und haben wir Theorien der Sozialpsychologie wie der Soziologie: 
Wir brauchen und haben z. B. verschiedene Theorien sozialer Klas- 
senbildung, Theorien über das Wesen und die treibenden Kräfte so- 
zialer Organisationsformen, und deren eventuelle Ergebnisse schließen 
sich ebenso natürlich — als Daten — dem »ökonomischen« Problem- 
kreis an — dem Problemkreis, den man von jeher vorzugsweise so 
nennt, obgleich das ökonomische Moment auch weite Gebiete be- 
herrscht, die außerhalb von ihm liegen —, der eben darin besteht, 
zu zeigen, wie innerhalb bestimmter oder aller Organisationsformen 
der Prozeß des täglichen wirtschaftlichen Lebens und seine spe- 
ziellen Erscheinungen zu erklären sind. Nur das wollen die ökono- 
mischen Theoretiker als solche und niemand kann ein Vorwurf daraus 
gemacht werden, daß er, wenn er ein Problem behandelt, nicht 
zugleich ein andres löst, sobald das eine kompliziert genug ist, um 
besondre Behandlung nötig zu machen. Selbstverständlichkeiten — 


16 Joseph Schumpeter, 


gewiß, aber. Selbstverständlichkeiten, deren stets wiederholte Verken- 
nung immer wieder zu Konfusionen führt. 

Das ist das eine. Aber ein andres ist die Frage, ob der ökonomische 
Problemkreis $egenüber der Soziologie, im besondern das Vertei- 
lungsproblem gegenüber den Machtverhältnissen überhaupt aus- 
reichende Autonomie hat, um für sich behandelt zu werden, m. a. W., 
ob die sozialen Machtverhältnisse nicht etwa unmittelbar — und die 
»Wert- und Preisgesetze« außer Kraft setzend — die »Verteilung des 
Produktionsertrags« bestimmen. Erst wenn wir diese Frage negativ 
beantworten, stellen wir uns in einen Gegensatz zu der verbreiteten 
Meinung, als deren Vertreter wir Tugan-Baranowsky gewählt haben. 
Die Frage ist, wie schon erwähnt, keine methodologische, sondern 
es handelt sich einfach um die Richtigkeit oder Falschheit einer be- 
stimmten materiellen Behauptung. Das hebe ich hervor, weil — das 
trifft gewiß für Tugan-Baranowsky selbst nicht zu — dadurch, daß 
man eine Frage für eine methodologische erklärt, jene Ablehnung 
a limine des Arguments des Gegners erleichtert wird, die in der Dis- 
kussion ökonomischer Fragen so leicht vom Problem ab und ins Ufer- 
lose führt. 

Erstens also: Wenn die ÖOrganisationsformen der Volkswirt- 
schaft nicht mit den Mitteln der »ökonomischen« Theorie zu erklären 
sind, sondern nur »soziologisch«, d.h. durch Tatsachen, die man zu- 
sammenfassend immerhin »soziale Machtverhältnisse« nennen kann 
und bei denen gewiß das ökonomische Moment eine Rolle spielt, aber 
eine ganz andre als jene, die die Theorie mit ihrem Wert- und Preis- 
mechanismus beschreibt — wenn weiter jeder dieser Organisations- 
formen eine besondre Gestaltung der Wirtschaft entspricht — was 
bleibt da für eine Theorie, die darauf »keine Rücksicht nimmt«? Die 
Antwort ist einfach: Sie nimmt ja Rücksicht darauf und nimmt die 
für sie wesentlichen Charakteristika einer jeden Organisations- 
form unter ihre Voraussetzungen auf, um den Ablauf des Wirtschafts- 
prozesses in jeder derselben zu untersuchen. Die Besonderheit 
ihrer Aufgabe, gegenüber der Aufgabe der Erklärung des Zustande- 
kommens der ÖOrganisationsformen und ihrer Charakteristika usw., 
beruht auf der Tatsache, daß dieser Ablauf des Wirtschaftsprozesses 
durch die Erklärung des Zustandekommens und der Charakteristika 
der Organisationsformen nicht selbst schon ohne weiters erklärt, es 
vielmehr erst noch ein besondres Problem ist zu zeigen, wie sich 
innerhalb jeder Organisationsform das Wirtschaftsleben gestaltet. 
M.a.W. jede Organisationsform hat ihre wirtschaftlichen Konse- 
quenzen, aber keine entscheidet schon von selbst und souverän über 
diese Konsequenzen, die vielmehr auch von andern Ursachengruppen 
abhängen: Milieu, Technik usw. Zu diesen andern Ursachengruppen 
‚gehören nun auch gewisse Grundtatsachen des Bedarfslebens und des 
‘ wirtschaftlichen Verhaltens und diese gerade untersucht die »ökono- 

ií mische Theories. Es wäre geradeso vernünftig sich damit zu begnügen, 
: daß z.B. das Klima die Wirtschaft bestimme, als daß die »Macht- 
verhältnisse« es tun. Beides ist im gleichen Sinn richtig und beides 


Das Grundptinzip der Verteilungstheorie. 17 


ist im gleichen Sinn unzulänglich: Die Machtverhältnisse »diktiereng«, 
aber von vielen andern Momenten als den Machtverhältnissen hängt 
es ab, wie diese Diktate wirken. Für die Untersuchung jeder der 
unterscheidbaren Ursachenkomplexe sind die übrigen »Daten«e und 
für jeden gibt es eine besondre methodisch autonome Theorie.- 
Wenn nun die ökonomische Theorie den Wirtschaftsablauf in den 
verschiedenen Typen von Organisationsformen untersucht, so ergibt 
sich eben tatsächlich, daß gewiße Grundgesetze in allen gelten. Welche 
das sind und was ihre Tragweite ist, läßt sich nicht allgemein, sondern 
nur vom Standpunkt der ganzen Anlage eines jeden theoretischen 
Systems und den besondern Inhalt eines jeden theoretischen Satzes 
sagen. Dabei muß jedoch beachtet werden, daß die Verschieden- 
heiten der ökonomischen Terminologie, der Rechtsformen usw., die 
den verschiedenen Organisationsformen eigen sind, nicht schon für 
sich auch die Notwendigkeit verschiedener Erklärungen des ökono- 
mischen Phänomens mit’sich bringen, das sie umhüllen: Die Dinge 
können von außen sehr verschieden aussehen, ihrem ökonomischen 
Wesen nach aber deshalb doch »immer dasselbe« sein, d. h. sie können 
sich in letzter Analyse auf dieselben Erklärungsprinzipien zurück- 
führen lassen. Im besondern ist die Einkommensbildung im Preis- 
kampf sicher ein Phänomen, das sich nur in der Verkehrswirtschaft 
findet. Aber damit ist die Frage, ob ihre Kategorien, Lohn, Rente, 
Zins usw. »ökonomische« oder »historisch-rechtliche« seien, nur in 
einem ganz oberflächlichen Sinn zugunsten der letztern Alternative 
entschieden, nämlich in dem Sinn, daß sie nur in der Verkehrswirt-. 
schaft als Kategorien des Privatrechts existieren und nur in dieser 
das Privatrecht den privaten Bezug von Rente, Lohn, Zins usw. zu- 
gunsten gerade der Personen schützt, die in dieser Form der Rechts- 
ordnung die Herrschaft über die betreffenden Produktionsmittel 
haben. Für die tiefere Frage nach dem Wesen dieser Einkommens- 
zweige ist damit noch gar nichts gewonnen und es kann sich noch 
sehr gut zeigen, daß dessen Erklärung aus einem Prinzip fließt, das — 
wenn auch mit andern konkreten Konsequenzen und in anderm Kleid — 
auch für andre Organisationsformen gilt. Darin liegt, wie schon 
v. Böhm-Bawerk in dem zitierten Artikel hervorgehoben hat, Sinn 
und Berechtigung der von Clark sog. funktionellen im Gegensatz 
zur personellen Verteilung und der Unterscheidung zwischen dem 
Wesen des Ertrags eines Produktionsfaktors und dem Bezug dieses 
Ertrags durch bestimmte Personen. Deshalb spricht die Theorie auch 
stets von »produktiven Leistungen« der Produktionsfaktoren 
und nicht etwa von produktiven Leistungen der Besitzer dieser Fak- 
toren. Hätte A. Smith diese Unterscheidung erfaßt, so hätte er nie 
sagen können, daß dort, wo der Arbeiter keinen Herren habe, von 
dem er abhängig sei, und Grund und Boden nicht vom Arbeiter ver- 
schiedenen Personen unterworfen sei, aller Ertrag Arbeitseinkommen 
werde, und so hätte er erkannt, daß es einen Sinn gibt, in dem es 
selbst in der Wirtschaft eines Robinsons »Verteilung« des Gesamt- 
rtrags auf verschiedene »Einkommenszweige« geben könne — näm- 
Archiv für Sozialwissenschait und Sozialpolitik. 42. 1. 2 


18 Joseph Schumpeter, 


lich in dem Sinn, daß es auch in dieser eine Wertbildung der Pro- 
duktionsmittel gibt, die im letzten Grunde derjenigen analog ist, auf 
der die Einkommensbildung der Verkehrswirtschaft beruht. Und 
hätte Tugan-Baranowsky diese ja mit jeder soziologischen oder 
politischen Auffassung vereinbare Unterscheidung akzeptiert, so 
würde auch seine Analyse wesentlich gewonnen haben. 

‚Ein Beispiel für diesen Sachverhalt ist die Grundrente. Die 
yreine« oder »ökonomische« Grundrente beruht sicher auf keiner per- 
sönlichen Leistung des Grundherrn, weder auf einer Arbeits- noch 
einer etwa anders gearteten Leistung. Erklärt man sie im Sinn der 
Grenzproduktivitätstheorie als bestimmt durch das »Grenzprodukt« 
des Bodens, so hat man nicht das geringste für den Nachweis einer 
»Produktivität« der Grundbesitzer geleistet. Nichts ist klarer als daß 
sie in einem kommunistischen Gemeinwesen keiner bestimmten Per- 
sonengruppe zufallen würde. Und doch hat es guten Sinn, sie ihrem 
ökonomischen Wesen nach als reinökonomische Kategorie zu rekla- 
mieren. Denn auch in einem kommunistischen Gemeinwesen wäre 
der ihr entsprechende Ertrag vorhanden, und mag man immer von 
einem andern Standpunkt sagen, daß es die Arbeit sei, die ihn »schaffe«, 
so müßte die Leitung eines solchen Gemeinwesens sich doch darüber 
klar sein, daß von der Verfügung über das einzelne Bodenele- 
ment eben jenes Ertragselement abhängig sei, das in der Ver- 
kehrswirtschaft die Grundrente des erstern bilden würde und von der 
Verfügung über den ganzen Boden eben der ganze soziale Produktions- 
ertrag — daß also für die Zwecke des wirtschaftlichen Verhaltens 
für ihn dasselbe gelten würde wie für den Produktionsfaktor Arbeit, 
mit dem der Produktionsfaktor Boden auf gleicher Linie stehen würde: 
Denn offenbar hätte es gar keinen Sinn, die produktive Grenzbedeu- 
tung des Bodens und damit die Tatsache zu ignorieren, daß er ein 
wirtschaftliches und kein freies Gut ist. Diese Ertragselemente 
fallen in der modernen Gesellschaftsordnung den Grundbesitzern zu, 
in der sozialistischen würden sie der Allgemeinheit zufallen — aber das 
ökonomische Wesen der Sache wäre in beiden Fällen offenbar dasselbe. 

Es ist nun interessant, daß Tugan-Baranowsky das bis zu einem 
gewissen Grund anerkennt, wenn auch nur vom Standpunkt der von 
ihm vertretenen Ricardianischen Grundrententheorie aus °$). Er 


20) Insofern er diese annimmt, gerät er mit sich selbst in Widerspruch, wenn 
er die Grundrente dann wieder (p. 24/25) als Folge des G ro ßgrundbesitzes be- 
zeichnet und das Einkommen des Bauern einheitlich als Arbeitseinkommen 
auffaßt. Das ist eine der Folgen der schon monierten Vernachlässigung des 
Unterschieds zwischen funktioneller und personeller Verteilung. Doch kommen 
wir noch darauf zurück. Wenn Tugan-Baranowsky ferner (p. 26/27) sagt, die 
Unterschiede der natürlichen Produktionsbedingungen führen zu Unterschieden 
in derArbeitsproduktivität und diese zu Unterschieden der Einkommen, ist es 
da nicht klar, daß es keinen Zweck hat, die Ueberschüsse, die auf günstigere Pro- 
duktionsbedingungen zurückzuführen sind, als Arbeitseinkommen zu bezeichnen ? 
Wirft man nicht ein brauchbares Instrument der Analyse weg, wenn man es tut, 
und schafft man sich nicht künstlich Probleme, die bei einer ungezwungencn 
Auffassung gar nicht entstünden ? 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie, 19 


erklärt die Grundrente aus den Unterschieden der natürlichen Bedin- 
gungen in der landwirtschaftlichen Produktion und sagt ausdrücklich, 
daß ihre Höhe in keinem direkten Zusammenhang zu sozialen Macht- 
verhältnissen stehe, von diesen vielmehr nur indirekt durch Veränderung 
der Bedingungen der landwirtschaftlichen Produktion beeinflußt 
werden könne. Das ist ganz der Standpunkt aller übrigen Theoretiker. 
Und ich konstatiere die Gemeinsamkeit des Bodens, auf dem wir hier 
stehen, mit um so größerem; Vergnügen, als von vornherein ge- 
rade für den Fall der Grundrente, deren Bezug doch Folge einer zum 
Teil so zweifellos auf »Machtverhältnissen« beruhenden Eigentums- 
position ist, das Gegenteil zu erwarten war. Wenn die Grund- 
rente nur indirekt und nur in anderm als dem reinökonomischen 
Sinn ein Geschöpf der Machtverhältnisse ist, wenn Tugan-Baranowsky 
im Gegensatz zu einer langen Reihe von Autoren verwandter Tendenz 
die Rolle so treffend charakterisiert, die die Machtverhältnisse bei 
ihr spielen, namentlich so klar erkennt, daß der einfache Hinweis 
auf den »Machtfaktor« dabei gar nichts leistet und die ökonomische 
Erklärung nur aus ökonomischen Momenten fließen kann — muß sich 
bei den andern Einkommensarten nicht a fortiori dasselbe Resultat 
gewinnen lassen ? In der Tat läßt sich ja der Gedankengang Ricardos 
Wort für Wort — das ist ja seine große Schwäche, soweit er eine Spe- 
zialerklärung der Grundrente sein will— auf die übrigen Produktions- 
faktoren ebenso gut anwenden wie auf Grund und Boden, für dessen 
speziellen Fall Ricardo eben nur erkannte, was allgemein gilt. Und die 
Argumentation Tugan-Baranowskys von der nur indirekten Einwir- 
kung der Machtverhältnisse ist ebenso richtig für jene wie für diesen, 
mag er sich auch auf den Fall des letztern beschränken, in dem Tat- 
sachen »der äußern Natur« besonders gebieterisch hervortreten: Aber 
die Tatsachen der äußern Naturerklären für sich allein nie ein Preis- 
phänomen, abgesehen davon, daß die produktionstechnische Not- 
wendigkeit sich nicht bloß in der landwirtschaftlichen Produktion 
fühlbar macht 2°). Und die Argumente, die Tugan-Baranowsky 
gegen die reinökonomische Erklärung von Lohn und Zins anführt, 
würde genau so gut, ja noch besser. auf reinökonomische Erklä- 
rung der Grundrente passen, wenn sie gegen die erstere Erfolg hätten. 

Das Beispiel des Kapitalzinses ist besonders geeignet, einige 
Punkte, auf die es besonders ankommt, hervorzuheben. Zunächst 
sehen wir, daß die Frage, ob es sich bei ihm um eine ökonomische oder 
historisch-rechtliche Kategorie, um ein Geschöpf »ökonomischer 
Notwendigkeit« 22) oder »sozialen Machtdiktats« handle, aufgefaßt 


”) In der Bodenrente komme, meint Tugan-Baranowsky, die Abhängigkeit 
der menschlichen Wirtschaft von der äußern Natur zum Ausdruck (p. 26). Ist 
diese Abhängigkeit etwa eliminiert in der Industrie? Und handelt es sich nicht 
sowohl bei der Grundrente wie bei Lohn und Zins überhaupt nicht um Abhängig- 
keit von der Natur als solche, sondern eben einfach um die innere Logik des 
Wirtschaftens ? 

=) Man unterscheide zwei verschiedene Bedeutungen der Worte sökonomi- 
sche Notwendigkeite: Erstens kann es bedeuten, daß ein bestimmtes Phänomen 

2° 


20 .. Joseph Schumpeter, 


in ihrem üblichen Sinn, verschieden zu beantworten ist, je nach der 
Zinstheorie, die man sich zu eigen macht. Sicher ist nur, daß der 
Zins — wie die Grundrente — als besondre an private Kapitalbesitzer 
ausgezahlte oder ihnen im Wirtschaftsprozeß sonst zufallende Ein- 
kommensart nur in der Verkehrswirtschaft existieren würde 2%) und 
daß, wenn man nur auf solchen privaten Zinsbezug das Wort »Zins« 
anwenden will, er eine historisch-rechtliche Kategorie ist: Da das 
ja von niemand in Abrede gestellt worden ist — wohl zu unterscheiden 
davon wäre die Behauptung, daß sein Fortfallen gewisse »schädliche« 
Konsequenzen haben würde — so kann der Theoretiker, der vom 
»Zins im Sozialistenstaat« ‚spricht, natürlich nur meinen, daß das, 
was in der Verkehrswirtschait zum Zinseinkommen des Kapitalisten 
wird, auch im Sozialistenstaat als unterscheidbare Ertragsquote 
vorhanden wäre. Folgt man der sog. Produktivitätstheorie 3°) des 
Zinses oder der Abstinenztheorie oder der Agiotheorie, so ist das 
richtig: Es wäre ein Wertüberschuß der produzierten Produktions- 
mittel und eventuell der Genußgüter über den Wert der darin ent- 
haltenen Arbeitsleistungen auch im Sozialistenstaat vorhanden und - 
diesem Wertüberschuß — dem Umstand, daß die Produktionsleiter des 
Sozialistenstaats die produzierten Produktionsmittel entsprechend 
höher anschlagen — läge die Erkenntnis zugrunde, daß mehr als 

em bloßen Arbeitsaufwand entspräche vom Besitz dieser Güter ab- 
hängig sei, was für das Verhalten und die Buchführung der sozia- 
listischen. Gesellschaft sehr relevant wäre und gleichsam zur Kon- 
stituierung eines besondern — freilich auch den »Arbeitern«, aber nicht 
als Arbeitern — zufallenden Einkommenselements der Gesellschaft 
führen würde, wenngleich dasselbe nicht notwendig dem einzelnen 
Genossen gegenüber als solches hervorzutreten brauchte. Dann wäre 
der Zins eine ökonomische Kategorie, die als wesentlich dieselbe in 
allen Organisationsformen zu erkennen nicht nur für unser Begreifen 
der Welt des Wirtschaftens, sondern auch praktisch wichtig wäre. 
Akzeptiert man ‚hingegen meine Zinstheorie 31), so liegt die Sache 
anders: Zwar wäre der Ertrag, der im kapitalistischen Wirtschafts- 
prozeß Zins wird, noch immer auch im sozialistischen vorhanden und 
er bedürfte der Erklärung — denn mit der Erklärung, daß er da ist, 
weil er eben produziert wurde, ist nichts geleistet ®) — aber er fände 


von ökonomischen Ursachen notwendig hervorgebracht werden müsse. Zweitens, 
daß ein Phänomen für das ökonomische Leben oder Wohlergehen einer sozialen 
Gruppe notwendig sei. Wir meinen die erste Bedeutung. | 
29) Nach gegenwärtig herrschender Auffassung. Bekanntlich lassen aber 
viele sozialistische Systeme den privaten Zinsbezug bestehen, besonders die 
der ältern französischen Sozialisten. 
= 30) Unter Produktivitätstheorie des Zinses ist hier das verstanden, was 
v. Böhm-Bawerk so nannte, nicht etwa bloß die Anwendung des Grenzproduk- 
tivitätsgedankens auf den Zins — die auch bei v. Böhm-Bawerk selbst vorliegt. 
31) Vgl. meine Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung V. Kap. 
22) Im Anschluß an die ältere Theorie erscheint das Vorhandensein eines 
Ertrags Tugan-Baranowsky überhaupt nie als Problem. Daß jeder Reinertrag 


Das Grundprinzip des Verteilungstheorie. 21 


diese Erklärung in jenem größern: Wertganzen, das in der kapitalisti» 
schen Wirtschaft zum Unternehmergewinn ®) wird und von dem 
er im kommunistischen. Gemeinwesen wohl noch immer ein Element - 
aber kein unterscheidbares Element wäre: Nach meiner 
Auffassung fiele er im Sozialistenstaat also als Kategorie einfach 
weg und dessen Leiter hätten auch keinen praktischen Anlaß, sich 
seiner als eines besondern Etwas bewußt zu werden. Danach wäre 
der Zins also eine historisch-rechtliche Kategorie. 

Das wäre er auch nach der Ausbeutungstheorie Marx”, wenn zich 
wiederum in anderm Sinn: Das, was in der kapitalistischen Wirt- 
schaft Kapitalgewinn wird, tauchte in der sozialistischen ununter- 
scheidbar im Arbeitsprodukt unter; aus dem es. das Privateigentum 
an Produktionsmitteln herausgepreßt hat. Aber ’gerade Marx hat 
uns hier eine wichtige Lehre zu erteilen. Gewiß gehört er zu jenen, 
bei denen das Moment der Macht wahrlich genügend betont ist. Ihm 
kann man sicher nicht vorwerfen, daß er es unterschätze oder aus- 
schalte. Aber hält er es für genügend, aus sich selbst den Zins 
zu erklären ? Nein, und alle die Versuche, mit dem bloßen Hinweis 
auf »Macht«e auf ökonomischem Gebiet irgendetwas anzufangen, 
besonders aber den Mehrwert zu erklären, alle Versuche also, durch 
die sozialen Machtverhältnisse unmittelbar den Kapitalprofit 
entstehen zu lassen, hat er klar als unzulänglich erkannt und damit 
in diesem Gedankenkreis einen Fortschritt vollzogen, der nun leider 
von vielen und u. a. auch von Tugan-Baranowsky und Diehl aufgegeben 
wurde. Aus dem Tauschwertmechanismus ergibt sich bei ihm der 
Mehrwert, also aus dem rein ökonomischen Gedankengang, und dem 
Machtmoment ist bei ihm schon ganz derselbe prinzipielle Platz an- 
gewiesen, wie im System der Grenzproduktivitätstheorie, der Platz 
einer Voraussetzung, deren Inhalt gewiß ein Ausgangspunkt, aber 
kein Element des vielmehr methodisch völlig andersgearteten ökono- 
mischen Raisonnements und deren Diskussion eine Sache für sich 
ist. Wie immer das Privateigentum an Produktionsmitteln zustande 
gekommen sein mag, wie immer sich die Machtgebote erklären, die 
es schützen — die Mehrwertstheorie bleibt immer dieselbe und keine 
soziologischen — »Macht«- oder andern — Momente ändern etwas 
an ihrem theoretischen Sinn, der ganz unabhängig davon 
diskutiert werden kann. Liest man seine schneidige Verurteilung 
aller ältern Ausbeutungstheorien, auf die nun viele einfach zurück- 
greifen, so sieht man wiederum — wie gelegentlich auch anderswo — 
wieviel weiter er war als unsre Zeit. 

Daraus ergibt sich denn ohne weiteres das Resultat, auf das ich 
hinauswill: In ihrer üblichen Bedeutung hat die allgemeine Frage 
sökonomische oder historisch-rechtliche Kategorie ?« überhaupt 
keinen Sinn. Alle Einkommenszweige, überhaupt alle die Dinge, mit 


nur eine werttheoretisch zu begreifende Erscheinung ist, entgeht ihm völlig und 
darin wurzelt dieHauptdifferenz zwischen ihm und derGrenzproduktivitätstheorie. 

33) Dabei ist jedoch »Unternehmergewinn« in dem besondern Sinn zu ver- 
steben, der dem Wort in meiner zit. Arbeit gegeben ist. 


2 Joseph Schumpeter, 


enen es die Theorie zu tun hat, sind zugleich sökonomisch« und 
»historisch-rechtlich«, zugleich ökonomischer Gesetzmäßigkeit und 
sozialen Machtverhältnissen unterworfen. Aber nicht so, daß etwa 
beide nebeneinander stünden und man mit beider koordinierter Hilfe 
zum ökonomischen Resultat gelangte, sondern so, daß beide verschiedene 
Problemreihen behandeln und ihre Resultate für einander Daten 
sind, während innerhalb der einzelnen Problemreihe methodische 
Autonomie herrscht und man die spezifischen Probleme keiner durch 
Appell an die andre lösen — sondern durch einen solchen Appell 
höchstens die Diskussion trüben und den Mangel einer Lösung ver- 
decken kann. 

Soweit also das Moment der sozialen Macht zusammenfällt mit 
dem Moment der sozialen Wirtschaftsorganisationen, könnten wir 
die Kontroverse füglich für erledigt halten und in jeweils verschie- 
denem Sinn beide scheinbar einander entgegenstehenden Behaup- 
tungen: »Das Wirtschaftsleben ist das Geschöpf sozialer Machtver- 
hältnisse« und »das Wirtschaftsleben ist das Geschöpf ökonomischer 
Notwendigkeiten« ruhig als berechtigt und miteinander kompatibel 
anerkennen. Damit wäre bis zu einem gewissen Grade auch z.B. 
dem Standpunkt Stammlers Rechnung getragen, jedenfalls aber 
sowohl dem Standpunkt der Soziologie wie der Oekonomie. Kontro- 
vers könnten soweit überhaupt keine Prinzipien- oder Methoden- 
fragen, sondern nur Detailfragen bleiben, nämlich jeweils die Frage, 
ob etwas, das in der kapitalistischen Wirtschaft als kapitalistische 
Kategorie erscheint, auch in einer kommunistischsn unterscheidbar 
hervortreten würde. Und wie wir sahen, wären die Antworten immer 
vom konkreten Inhalt der Erklärung dieses kapitalistischen »Etwas« 
abhängig, über den nur mit den Mitteln und innerhalb der Theorie 
zu entscheiden wäre. 

Aber für die meisten Autoren, die innerhalb des ökono- 
mischen Problemkreises von Machtverhältnissen sprechen, erschöpft 
sich deren Einfluß nicht in der Gestaltung der Organisationsform, 
insbesondre nicht für Diehl und für Tugan-Baranowsky. Für sie 
tritt das Machtmoment auch aus seiner »Datenrolle« heraus, um 
direkt und nicht bloß durch Formung von Voraussetzungen die 
Resultate des Wirtschaftsprozesses, im besondern des Tausch- 
kampfes und noch spezieller der Einkommensbildung zu beeinflussen. 
Im letztgenannten Punkt würde es nicht bloß die Herrschaftsver- 
hältnisse an Produktionsmitteln — besser vielleicht: die Art der Ver- 
fügung über die sozialen Produktionsmittel — im Prinzip regeln und 
bestimmte rechtliche Gefäße für den Strom des sozialen Produktions- 
ertrags schaffen, deren sich das ökonomische Leben jeweils bedienen 
würde, sondern es würde auch unmittelbar, nicht hinter 
sondern neben den »Wert- und Preisgesetzen« und eventuell an Stelle 
derselben die Resultate der »Verteilung«, besonders die relative Höhe 
der Einkommenszweige bestimmen. Es ist schwer, ein Schlagwort, 
an das so oft appelliert wird und das zu einer vagen, alle Strenge des 
ökonomischen Gedankens zerstörenden Phrase zu werden droht, 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 23 


ganz befriedigend zu formulieren. Aber das Gesagte muß seinen 
Sinn im Wesen ausdrücken, wenn es einen präzisen Sinn überhaupt 
haben und ein Gegensatz zur herrschenden Theorie vorhanden sein soll. 
Nun ist es ja ganz klar, daß das Moment sozialer Macht in dieser 
Weise direkt in die Resultate des Wirtschaftens eingreifen kann, ab- 
gesehen davon, daß schon die individuellen Wertschätzungen »sozial 
bedingt« und in einer Weise sozialen Einflüssen, die man schließlich 
auch unter den »Machtbegriff« bringen könnte, unterworfen sind, 
daß man sie gewiß nicht einfach als »letzte Gründe« auffassen kann. 
Beispiele für solches direktes Einwirken sind Steuerauflagen mit dem 
Zweck, den Steuerertrag zu Alterspensionen für Arbeiter zu verwenden, 
gesetzliche Preis-, z.B. Lohnfestsetzungen usw. Die sozialen und 
politischen Machtverhältnisse üben ferner einen Druck auf das Ver- 
halten des einzelnen auch dort aus, wo kein rechtliches Gebot vor- 
liegt, hindern z. B. einen Monopolisten oft den für ihn vorteilhaftesten 
Preis festzusetzen. Sehr wichtig ist da die Tatsache sozialen Prestiges: 
Wenn etwa ein Dienstmädchen vom Lande seiner »Herrschaft« mit 
einem solchen Gefühl der Subordination entgegentritt, daß es kaum 
etwas zu äußern und z. B. den Dienstvertrag nicht zu kündigen wagt, 
so ıst es klar, daß das die Lohnfestsetzung dem »freien Spiel der wirt- 
schaftlichen Kräftes entziehen muß. Alle solchen — natürlich prak- 
tisch oft überaus wichtigen — Fälle sind von der Oekonomie, wenn- 
gleich nicht jeder Oekonom jede theoretische Untersuchung mit 
solchen Selbstverständlichkeiten belastete, immer als Tatsachen 
anerkannt worden. Die Rolle der Theorie beschränkt sich dann auf 
Untersuchung des ökonomischen Sinns der durch die Machtverhält- 
nisse geregelten, aber in ihrem Wesen deshalb noch nicht erklärten 
Vorgänge und der Konsequenzen solcher Machtdiktate, die theoretische 
Lohnhöhe aber hat dann nur dieselbe Bedeutung wie das Gravitations- 
gesetz für einen Stein, der auf einem Tisch liegt. Im Namen aller 
guten Geister der Wissenschaft kann man es ablehnen, auf Argu- 
mentationen einzugehen, die aus diesem Sachverhalt »Einwendungen« 
machen. | 
Das also wäre nicht sehr ernst zu nehmen. Es müßte sich das 
Machtmoment noch in andrer Weise äußern, wenn es zu einem Ele- 
ment des theoretischen Gedankengangs werden sollte, dessen »Aus- 
schaltung« ein »Fehler« ist. Und das tut es nicht. Die Geschichte 
der Versuche, eine solche direkte Einwirkung nachzuweisen, ist eine 
Geschichte bedauerlicher Mißgriffe. Mit Befremden und Bedauern 
muß man es z.B. konstatieren, daß selbst ein Fachgenosse von so 
vorwiegend theoretischer Interessenrichtung wie Karl Diehl (z. B.: 
l. c. p. 605) meint, die Grenzproduktivitätstheorie des Lohns durch 
den Hinweis widerlegen zu können, »daß z. B. die Löhne für genau 
dieselbe Arbeitsleistung verschieden hoch sind, je nachdem es sich 
um organisierte und nicht organisierte Arbeiter handelt«, und daß er 
fortfährt: »Was liegt hier vor? Beide Arbeitsleistungen sind — rein 
ökonomisch betrachtet — genau gleich, die Löhne aber doch verschie- 
den wegen der Verschiedenheit der sozialen Machtverhältnisse.« 


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24 Joseph Schumpeter, 


Das also soll eine Widerlegung der Theorie sein, daß ein Gut, wenn 
sein Angebot monopolisiert wird, einen höhern Preis erzielt als wenn 
es in freier Konkurrenz angeboten wird ? Die Monopol- oder mono- 
polähnliche Preisbildung soll der Theorie unerfaßbar sein, deren best- 
ausgeärbeitetes Kapitel die Monopollehre ist ? Und bei monopolistischer 
Preisbildung soll die Grenzproduktivität keine Rolle spielen, wo doch 
auch die monopolistische Preisbildung von Genußgütern auf dem 
Grenznutzengesetz fußt? Uebrigens werden wir auf diese Fragen 
noch zurückkommen, Hier sind aber schon zwei Dinge klar: Daß 
wir im erwähnten Fall des Machtmoments nicht bedürfen, weil die 
Theorie da durchaus nicht versagt. Und daß, wenn sie versagte, wir 
die fehlende Erklärung nicht etwa durch den Appell an die Macht- 
verhältnisse supplieren könnten, sondern überhaupt keine Erklärung 
hätten: Denn die »Machtverhältnisse« sagen uns gar nichts. 

Daß wir das Machtmoment nicht zu bemühen brauchen, auch wo 
es recht nahe zu liegen scheint, läßt sich vielleicht am besten am 
System Oppenheimers demonstrieren. In diesem spielt das »Gewalt- 
eigentum« an Grund und Boden, also ein Geschöpf der Machtver- 
hältnisse, gewiß eine große Rolle. Dennoch erklären die »Machtver- 
hältnisse« bei ihm höchstens dieses Gewalteigentum selbst, nur die 
ökonomische Theorie aber dessen Konsequenzen. Für diese ist es 
ganz gleichgültig, ob »Gewalteigentum« vorliegt und wie es sich er- 
klärt. Worauf es da ankommt, ist einfach die Tatsache des Boden- 
monopols. Angenommen diese Tatsache existiere, was allerdings 
nicht der Fall ist, so gibt die rein ökonomische Theorie des Monopols 
-—- und nicht der Machtfaktor — die Erklärung für das ab, was Oppen- 
heimer aus seinem Gewalteigentum folgern könnte: Weshalb wir 
sagen können, daß er von dem Machtmoment gar keinen andern 
Gebrauch macht als jeder andre Theoretiker. Wäre sein System 
selbst ganz einwandfrei, so würde daraus nichts für die Verwen- 
dung des Machtmoments innerhalb des ökonomischen Gedan- 
kengangs zu gewinnen sein. Daß ganz dasselbe auch für Stolzmann 
und zwar sowohl seine Lehre wie seine Kritik gilt, abgesehen davon, 
daß beide in jedem Punkte völlig verfehlt sind und von keinem Stand- 
punkt aus gehalten werden können, habe ich an andrer Stelle ®) 
gezeigt. 

Der wichtigste von den Punkten, an denen manche Theoretiker 
zum »Machtmoment« greifen, ist die Zinstheorie. Und in der Tat ist 
es den meisten von ihnen vor allem darum zu tun, zu zeigen, daß der 
Zins als selbständiger Einkommenszweig durch direkte Ein- 
-wirkung des Machtfaktors entstehe. Was von allen diesen Versuchen 


31) In meiner Besprechung seiner beiden Hauptwerke, Die soziale Kategorie 
und Der Zweck in der Volkswirtschaft, Schmollers Jahrbuch 1910. Alle ssozialee 
Phraseologie führt schließlich zu nichts anderm als einer recht mangelhaften 
Form der Grenzproduktivitätstheorie zurück. Solcher Beispiele für die Gehalt- 
losigkeit des Machtgedankens auf dem Gebiet der reinen Oekonomie gibt es viele. 
Immer hüllt er irgendeinen reinökonomischen Gedanken ein, der sich ohne 
solche Hülle als verfehlt oder als alter Bekannter entpuppen würde, 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 25 


gu halten ist, hat, wie erwähnt, uns Marx für alle Vergangenheit und 
alle Zukunft gesagt. Er hat ferner in musterhafter Weise das Inein- 
andergreifen des Macht- und des ökonomischen Moments an seiner 
Lohntheorie gezeigt: Da wird uns zunächst jenes meisterhafte farben- 
glühende Bild vom Entstehen ‘des Arbeiterheers entworfen, an dem 
alle Detailforschung bisher so wenig zu ändern vermochte, und damit 
der ökonomische Gedankengang in die speziell modernen und ka- 
pitalistischen soziologischen Daten verankert. Dann aber folgt dieser 
(Gedankengang selbst in voller methodischer Reinheit, immer adap- 
tiert zwar an die konkreten sozialen Bedingungen der Zeit, aber stets 
sie theoretisch beherrschend, niemals bloß an sie appellierend. Wohl 
sagte er: »Die Gewalt ist die Geburtshelferin jeder alten Gesellschaft, 
die mit einer neuen schwanger geht, sie selbst ist eine ökonomische 
Potenze — aber diese ökonomische Potenz war für ihn nie der deus 
ex machina, den er Arbeit tun ließ, die er selbst nicht leisten konnte, 
sondern er kannte genau ihren präzisen Platz in der Erklärung des 
sozialen Seins. Und hätten wir nur dieses Vorbild voll erfaßt, so hätte 
z. B. Dühring nie finden können, daß es beim Verteilungsproblem 
kein Auslangen mit den Sätzen der ökonomischen Thecrie gäbe, 
weil die historisch und politisch zu erklärenden Tatsachen der sozialen 
und gesellschaftlichen Gliederung der Menschen eines Wirtschafts- 
gebiets zum Verständnis der Verteilung unentbehrlich seien, und 
daß man das Gewalteigentum erst ausmerzen müsse ehe man zu den 
sNaturgesetzen« der Wirtschaft gelangen könne, Oppenheimer nie, 
daß der Satz, daß »nicht ökonomische Beziehungen zwischen Freien 
und Gleichberechtigten, sondern politische Beziehungen zwischen 
Siegern und Unterworfenen die sozialen und wirtschaftlichen Klassen 
erschaffen habe« — selbst soweit richtig — schon irgendein ökonomi- 
sches Problem löse, Lexisnie, daß die Quelle des Gewinns des Sklaven- 
halters sunverkennbar« sei d. h., daß es über die Gründe des Ent- 
stehens seines Sklavenbesitzes hinaus da nichts zu fragen gäbe usw., 
und Albrecht 2) hätte es nie als einen Mangel der Theorie emp- 
finden können, daß sie bei der Frage steckenbleibe, welchen Anteil 
am Gesamtproduktionserfolg die einzelnen Produktionsfaktoren ihren 
Besitzern einbringen und nichts darüber sage, warum gerade diese 
Leute Besitzer dieser Produktionsfaktoren seien — ein »Mangele«, 
der nur soweit besteht, als sich die Herrschaft über Produktions- 
faktoren durch im Sinne der Theorie außerwirtschaftliche Momente 
erklärt, und insoweit sehr natürlich ist. 

Erkennt man einmal diese ganze Sachlage, so erkennt man damit 
zugleich definitiv, was schon früher betont wurde, nämlich wie völlig 
unbegründet der Standpunkt ist, daß das Problem der Einkommens- 
bildung wegen der angeblichen Einwirkung des Machtfaktors eine 
Sonderstellung einnehme, und wie wenig mit dem Appell an ihn ge- 
leistet ist. Man erkennt ferner, daß jede Erklärung der Einkommens- 
bildung, die mit dem Machtfaktor arbeitet, wenn sie überhaupt etwas 


38) Zur sozialen Theorie der Verteilung, Conrads Jahrb. III. Folge 47. Bd. 








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26 Joseph Schumpeter, 


sagt, mindestens implizite einen theoretischen Gedankengang von 
der Art aller rein ökonomischen Gedankengänge außer der in ihr liegen- 
den Behauptung über die soziologischen Daten des Verteilungs- 
problems enthalten muß, so daß sich jede mit den Mitteln der 
Theorie nachprüfen läßt und es da kein Ausweichen nach der Sozio- 
logie hin geben kann. Man erkennt endlich, daß man das Verhältnis 
zwischen »Macht« und ökonomischem Gesetz nicht als ein Verhält- 
nis eines Nebeneinanderwirkens auf gleicher Linie diskutieren darf, 
sondern nur als ein Hintereinanderwirken verschiedener Glieder 
der Kette sozialer Kausation, die alle zwar im Allzusammenhang 
der Dinge einander beeinflussen, methodisch aber autonom sind. 
Wenn ich eine Analogie wiederholen darf, die das Wesen der Sache 
für den Zweck der ökonomischen Theorie (nicht 
einer soziologischen Gesamtübersicht) ausdrückt: Man kann gewiß 
sagen, daß der Erfolg der Spieler in einem Kartenspiel vom Glück 
abhängt. Aber nur in einem reinen Hazardspiel wäre diese Erklärung 
eines konkreten Erfolges ausreichend. Sonst erschöpft sich der Ein- 
fluß des Glückes in der Verteilung der Karten. Im übrigen ist das 
Resultat durch das Verhalten der Spieler zu erklären, das für jedes 
Spiel in gewisse formale Regeln gefaßt werden kann unddas allein 
darüber entscheidet, welches von den Resultaten, die innerhalb der 
gegebenen Kartenverteilung überhaupt möglich sind, tatsächlich 
eintritt. Wie sich nun Kartenverteilung und Spieltechnik zueinander 
verhalten, so verhalten sich im Wirtschaftsleben Machtdiktat und 
Wirtschaftsgesetz. 

Dieser Standpunkt, der schon immer — implizite wenigstens — 
der Standpunkt aller Theoretiker war, wird nun auch durch Tugan- 
Baranowskys Angriff nicht alteriert, und in dem Sinn, in dem allein 
das überhaupt jemals behauptet werden konnte, können die Ein- 
kommen der kapitalistischen Wirtschaft als Wert- und Preiserschei- 
nungen auch weiterhin aufgefaßt werden. Und gerade einem Mann 
von der fairness und Einsicht Tugan-Baranowskys gegenüber ist 
das besonders leicht nachzuweisen, ist es besonders leicht zu zeigen, 
daß die Barrieren, die er zwischen sich und der Theorie aufrichtet, 
die er im übrigen so generös beurteilt und auszubauen so berufen 
wäre, nichts weniger als unübersteiglich sind. 

Er geht davon aus, daß sich im Verteilungsprozesse nicht, wie 
auf dem Markt der Genußgüter, weiter nicht differenzierte Massen 
von Käufern und Verkäufern, sondern soziale Klassen gegenüber- 
stehen, deren relative Macht so sehr das entscheidende Moment sei, 
daß der Verteilungsprozeß ganz aus der Tatsachengruppe heraus- 
fällt, welche die Wert- und Preistheorie befriedigend beschreiben 
könne. Allein, selbst zugegeben, daß innerhalb der auf den Märkten 
der produktiven Leistungen einander gegenüberstehenden Parteien 
sozialer Klassenzusammenhang bestehe — daß also der Begriff der 
sozialen Klasse zusammenfällt mit dem Ergebnis der alten Klassifi- 
zierung der Wirtschaftssubjekte in Arbeiter, Grundherrn und Kapi- 
talisten, — .entspricht es nicht der Grundidee der kapitalistischen 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie, 27 


Wirtschaftsordnung, den Einzelnen im Wesen sich selbst zu über- 
lassen, jedem im Verteilungsprozeß zuzuteilen, was er im Preiskampf 
erringen kann und muß deshalb nicht die Einkommensbildung ent- 
weder preistheoretisch oder gar nicht erklärbar sein ? 

In der Tat äußert sich die höhere ökonomische Macht der »Be- 
sitzenden« bei Tugan-Baranowsky in dem einzigen Moment, in dem 
sie sich äußern kann, in der Herrschaft über die Produktionsmittel. 
Einerseits erscheint diese ökonomische Macht bei ihm als die Ursache 
dieser Herrschaft und andererseits als deren Konsequenz. Selbstver- 
ständlich aber ist in beiden Fällen die Natur der Macht eine ganz 
verschiedene: Als Ursache der Herrschaft über die Produktionsmittel 
mag sie in der Möglichkeit bestehen, sich durch physische Gewalt in 
deren Besitz zu setzen oder zu erhalten. Als Folge der Herrschaft 
über Produktionsmittel ist sie offenbar etwas andres — nämlich die 
Möglichkeit durch den Verkauf der »Nutzungen« derselben sich ein 
Einkommen zu verschaffen. Andre Macht gewährt ihr Besitz ja 
nicht — wenn wir absehen von der übrigens erst aus dieser Möglich- 
keit folgenden weitern Möglichkeit der Beeinflussung der Gesetz- 
gebung usw., die, wie einem Theoretiker vom Range Tugan-Baranowsky 
gegenüber nicht erst hervorgehoben zu werden braucht, offenbar 
kein Element des ökonomischen Gedankengangs sein kann — und 
diese Macht ist in ihrem Wesen und ihrer Ausdehnung doch offen- 
bar ganz von der produktiven Bedeutung jener Produktionsmittel 
abhängig. Aus dieser produktiven Bedeutung also müßte selbst vom 
Standpunkt Tugan-Baranowskys die Erklärung der Besitzeinkom- 
men fließen. Auch dann, wenn wir die Realität jener ersten Art von 
Macht durchaus anerkennen, was wir hier tun wollen, obgleich kaum 
aller Grund- und noch weniger aller Kapitalbesitz sich so erklären 
lassen und in der »Kinderfibel« doch einige Wahrheit stecken dürfte. 
Nur wenn behauptet würde, daß Kapitalisten und Grundherrn nicht 
so zu ihrem Einkommen gelangen, daß sie die Nutzungen ihrer Pro- 
duktionsmittel verkaufen, sondern daß sie sich ihr Einkommen ein- 
fach gewaltsam nehmen — wobei sie dann aber gar nicht erst des Be- 
sitzes irgendwelcher Produktionsmittel bedürften — könnte von 
Macht neben und außer der produktiven Bedeutung der Produktions- 
mittel, also von Macht im erstern und eigentlichen Sinn als Element 
des Verteilungsprozesses die Rede sein, andernfalls aber nur von 
Macht als Erklärungsgrund gewisser Daten desselben. Damit wäre 
Tugan-Baranowskys Problemstellung völlig in eine Linie mit der 
üblichen gebracht und nur mit den Mitteln der Wert- und Preistheorie 
könnte auch er an die Lösung gehen. 

Allein Tugan-Baranowsky meint trotzdem, daß sich die sozialen 
Machtverhältnisse auch direkt im Prozeß der Einkommensbildung 
durchsetzen und die Geltung der Wert- und Preisgesetze ausschließen. 
Und zwar findet er das Einbruchstor ihres Einflusses in der ungünsti- 
gen taktischen Position der Arbeiterklasse, die als Klasse einer andern 
mächtigern d.h. reichern Klasse gegenüberstehe und durch ihre Not- 
lage und ihr Ausgeschlossensein von sachlichen Produktionsmitteln, 


28 


daher von anderweitiger Produktionsmöglichkeit, daran gehindert 
werde als gleichberechtigte Gegenkontrahentin im Lohnvertrag 
aufzutreten, sich vielmehr dem Machtgebot des Kapitalisten unter- 
werfen müsse, was denn zum Entstehen des Kapitalgewinns führe — 
also in der Ansicht, daß die Arbeiter als arme Teufel so ziemlich nehmen 
müssen, was ihnen gegeben wird. Wir wollen nun, um den für den 
theoretischen Gedankengang entscheidenden Punkt scharf hervor- 
heben zu können, gar nicht untersuchen, obesallgemein richtig 
ist, daß die Arbeiter stets der im Tauschkampf schwächere Teil sind, 
sondern einfach das als richtig voraussetzen. Dann ist klar erstens, 
daß das nicht ein Ausschalten der Preisgesetze bedeutet, sondern 
nur das Einsetzen der besondern Bedingung in dieselben, daß eine 
der Parteien bei gerade diesem Tausche ein ganz besonders dringen- 
des Angebot entfaltet und »weniger lange aushalten« kann als die 
andre. Das wäre nicht die einzige Besonderheit des Arbeits- 
markts — wie denn jeder Markt seine Besonderheiten hat, ohne daß 
deshalb gleich die allgemeinen Preisgesetze ausgeschaltet würden. 
Zweitens, daß die Tragweite dieser Besonderheit nur auf dem Wege 
der Preistheorie festgestellt werden könnte, wofür Tugan-Baranowskys 
Darstellung selbst den schlagenden Beweis gibt. Denn so ganz ohne 
Zweifel würde das Resultat, das Tugan-Baranowsky aus ihr ab- 
leitet, nämlich eine Ausbeutung, ein notwendiger Ueberschuß zu- 
gunsten der Kapitalisten, nur dann aus ihr folgen, wenn die Kapi- 
talisten monopolistisch organisiert wären. Das ist aber im allge- 
meinen nicht der Fall und es gehört zu den Verdiensten unsres Autors, 
den heute wieder einmal so populären Mißbrauch des Monopolge- 
dankens abgelehnt, bzw. das Monopolmoment auf den Ausnahms- 
fall beschränkt zu haben, wo in einer zurückgebliebenen Gegend 
eine Unternehmung wirklich eine Monopolstellung hat und dadurch 
noch einen weitern Ueberschuß erzielt. Außerhalb dieses Falles aber 
ist es gar nicht so selbstverständlich, daß die ungünstigere Position 
des Arbeiters auch wirklich immer einen Gewinn der Unternehmer- 
Kapitalisten sicherstellt und den Beweis dafür schuldig geblieben 
zu sein, bildet. eine der wesentlichsten materiellen Einwendungen 
gegen die Lehre des eminenten russischen Theoretikers. Die Frage 
wird im folgenden behandelt werden. Hier kommt es nur darauf 
an festzustellen, daß kein Appell an Machtverhältnisse für sich allein 
diese — oder eine andre — ökonomische Konsequenz dieser 
Machtverhältnisse beweisen kann. Im besondern gilt auch hier wie 
sonst, daß Gewalteigentum noch kein Gewalteinkommen erklärt: 
« Mag man, soviel man will, das Eigentum an Produktionsmitteln 
‘ aus Gewalt erklären, daß diese Gewalt und ihre Folge, d.h. eben 
: dieses Eigentum, zu einem Einkommen führt, bedarf erst noch wei- 
‘terer Erklärung. Und unser Autor erkennt das auch bis zu einem 
í gewissen Grade an, wenn er die Profitrate durch Angebot und Nach- 
; frage bestimmt sein läßt (p. 79), was in Verbindung mit seiner prin- 
zipiellen Zustimmung zur Zurechnungstheorie (p. 52/53) viel mehr 
bedeutet als er wohl selbst anzunehmen geneigt ist. Dem gegenüber 


Joseph Schumpeter, 


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Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 29 


bedeutet es wenig, daß er der These, daß der »Profit« auf der spezifi- 
schen Produktivität des Kapitalfaktors beruhe, einfach die Behaup- 
tung entgegenstellt, derselbe sei eine Kategorie der Verteilung und 
beruhe »daher« auf den sozialen Machtverhältnissen oder sagt, daß 
der Besitz auf Gewalt beruhe und deshalb der »Profit« ‚wenn 
er ein Besitzeinkommen sei, von sozialen Machtverhältnissen abhän- 
genmüsse®), Drittensist noch klar, daß selbst wenn die sozialenMacht- 
 verhältnisse wirklich die Einkommensbildung direkt beherrschten, 
die Grenzproduktivitätstheorie noch immer Bedeutung behielte: 
Denn sie würde noch immer den Standard abgeben, an dem die durch 
den Machtfaktor bewirkten Abweichungen gemessen werden könnten. 
Ein eigentümlich verfehltes Argument sei noch diskutiert. Die 
rein ökonomische Erklärung der Einkommensbildung scheitere, meint, 
Tugan-Baranowsky, auch daran, daß Arbeiter und Kapitalisten nur 
unter- und nicht miteinander konkurrieren können. Der Spinner, dem 
der Preis seines Produkts zu niedrig sei, könne zu einer andern Pro- 
duktion übergehen und sein bisheriges Produkt künftig eben kaufen. 
Das könne der Arbeiter nicht, er könne sich nicht in einen Kapitalisten 
verwandeln. Wiederum wollen wir, um das für die Technik der Argu- 
mentation Wesentliche hervorzuheben, die Behauptung selbst als sach- 
lich richtig voraussetzen, also annehmen, daß wirklich in keinem Sinn 
von einer wirksamen Konkurrenz zwischen Arbeit und Kapital — 
denn darauf und nicht auf Konkurrenz zwischen Arbeitern und Kapi- 
talisten würde es ankommen, — gesprochen werden könnte. Dann 
läßtsich zeigen erstens, daß dieser Umstand ganz gleichgültigist: Gewiß 
konkurrieren auf jedem Markt die Käufer nur mit den Käufern und 
® die Verkäufer nur mit den Verkäufern — das hindert nicht, daß 
sich trotzdem ein auch ökonomisch, d. h. preistheoretisch, völlig be- 
stimmter Gleichgewichtszustand herausstellt. Die Beweglichkeit 
von Arbeit und Kapital zwischen den einzelnen Branchen genügt 
außerdem völlig zum Bestehen sowohl »kommerzieller« wie »indu- 
strieller«e Konkurrenz im Sinn Cairnes’, Zweitens, daß dieser Um- 
stand, wenn er erheblich wäre, in ganz demselben Sinn für Kapital 
wie Arbeit gelten würde, sodaß sich kein Vorteil für das erstere daraus 
ergeben könnte: Denn auch für das Kapital gibt es nur Beweglich- 
keit zwischen den Branchen — es kann sich nicht in lebendige Ar- 
beit verwandeln und, wenn wir im Sinne Tugans von der Möglich- 
keit Arbeit durch Kapital zu ersetzen absehen, nicht die Position 
der Arbeiter einnehmen. Was Tugan-Baranowskys Spinner tut, 
kann jeder Arbeiter auch tun, nämlich zu einer andern Branche über- 
gehen — wobei Verluste für den Spinner im allgemeinen geradeso 
eintreten wie für den Arbeiter. Drittens, daß der Spinner zwar die 
Spinnerei aufgeben kaun, wenn der Preis gerade in diesem Industrie- 





*) Der Leser sieht einerseits, wie das, wenn richtig, auch auf die Grundrente 
passen würde und andrerseits, wie ganz dieselbe Argumentation, die Tugan- 
Baranowsky bei dieser zum richtigen Resultate führte, auch hier dasselbe Resultat 
geben müßte — so daß wir jedenfalls vor einer alternativen Selbstwiderlegung 
des Autors stehen. 


30 Joseph Schumpeter, 


zweig unrentabel ist, aber diese Operation nur Sinn hat, wenn diese 
entabilität geringer ist als in andern Industriezweigen, daß also 
das vorhandene Kapital auch nur partiell ungünstigen, nicht aber 
etwa allgemein ungünstigen Bedingungen ausweichen kann: Es 
kann nicht das Produzieren überhaupt aufgeben, ohne daß der Kapi- 
talist in genau dieselbe Notlage käme wie der arbeitslose Arbeiter, 
so daß die Position beider in dieser Beziehung ganz dieselbe ist. 
Auch hier sehen wir wieder, daß nur die Preistheorie darüber 
entscheiden kann, ob der erwähnte Umstand relevant ist und welche 
Konsequenzen er hat, so daß wir wieder zum Resultat kommen, daß 
es sich immer nur um theoretische, eventuell eben mit besondern 
Bedingungen ausgestattete rein ökonomische Probleme handeln kann. 
Deshalb ist es denn auch aussichtslos, den »Profit« aus der »Gewalt« 
und aus ihm erst jenen Wertüberschuß des Kapitals erklären zu 
wollen, aus dem die Grenzproduktivitätstheorie irgendwie — es gibt 
da viele verschiedene Auffassungen — den »Profit« ableitet. Tugan- 
Baranowskys Gedankengang ist einfach: Die Arbeit produziert. 
Die »Gewalt« der Besitzenden nimmt ihr einen Teil des Produkts und 
der Umstand, daß sie es kann, gibt dem Machtmittel — also dem 
Kapital — seinen Wert. Dieser Gedankengang sinkt in sich zusam- 
men, wenn wir erkennen, daß die Gewalt, von der hier die Rede ist, 
nicht mehr jene soziale oder physische Macht zur Erlangung und Be- 
wahrung der Herrschaft über Produktionsmittel, sondern die an deren 
Besitz geknüpfte Stellung ist. Diese Stellung aber hat keinen 
andern Inhalt als ihr der Grad der Notwendigkeit der Produktions- 
mittel für die Produktion gibt, also deren produktive Rolle, deren 
Grenzproduktivität. Diese »Macht« haben die Arbeiter prinzipiell 
geradeso, wenn auch, was gerade nur die Betrachtungsweise der 
Grenznutzentheorie vollständig erklärt, bald die Stellung einer, bald 
die Stellung der andern Partei im Tauschkampf die stärkere sein 
kann: Denn auch sie haben ein unentbehrliches Produktionsmittel 
und nur in demselben Sinn können sie ohne Hilfe der Kapitalisten 
nicht produzieren, in dem diese nicht ohne ihre Hilfe produzieren 
können. Diese Macht ist also nur ein andrer Name für 
relative Grenzbedeutung der sachlichen Produktions- 
mittel und das ist der Begriff, der in Tugan-Baranowskys Gedanken- 
gang an Stelle des Worts Gewalt zu setzen wäre, das hier nur in einem 
übertragenen Sinn steht — und dann wäre der Zirkel jenes Gedanken- 
gangs offenbar. | 
Erkennt man das aber, so erkennt man auch, daß die Situation 
ökonomisch dieselben wesentlichen Züge tragen würde, wenn die 
Arbeiter und die Kapitalisten dieselben Personen wären, wenn also 
z. B. das Kapital unter die Arbeiter verteilt wäre. Gewiß wäre das 
Bild einer solchen Gesellschaft sozial und soziologisch genug von dem 
der unsern verschieden. Aber die Prinzipien ökonomischen Verständ- 
nisses der Dinge wären ganz die gleichen. Die »Arbeiter« würden nun 
eben die »Macht« haben, einander »auszubeuten« nach dem Gesetz 
Grenzproduktivität der sachlichen Produktionsmittel, wie sie ein- 


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! 
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Das Grandptinzip der Verteilungstheorie. 33 


ander schon im Falle der gegenwärtigen Gesellschaft nach der Grenz- 
produktivität der Arbeit sausbeutene.. Gewiß wäre diese Art von 
Ausbeutung keine klassenmäßige, gewiß wäre kein Grund vorhanden, 
se vom Standpunkt Tugan-Baranowskys moralisch zu verurteilen, 
aber der ökonomische Sinn und die ökonomischen Ursachen der Ein- 
kommensbildung wären dieselben — ja es würde das Gewaltmoment 
sogar dieselbe prinzipielle Rolle spielen. Tugan-Baranowsky deutet wie- 
derholt an, daß er einen prinzipiellen Unterschied zwischen großem und 
kleinem Boden- und Kapitaleigentum mache. Soziologisch hat er 


recht. Auch ökonomisch hätte er recht, wenn er an den Fall dächte, 


wo das Boden- und Kapitaleigentum einzelner oder von Organisa- 
tionen so groß wird, daß diese eine Monopol- oder monopolähnliche 
Stellung haben. Er meint aber nicht das, sondern spricht jedem 
größern Boden- und Kapitaleigentum eine prinzipiell besondere Rolle 
m — jedem Boden- und Kapitaleigentum, das arbeitsloses Einkommen 
abwerfe. Das tut aber jedes Boden- und Kapitaleigentum und 
die Arbeiter-Kapitalisten unsres Falls hätten arbeitslose Einkommens- 
elemente, die ganz so zu erklären wären, wie die arbeitslosen 
Gesamteinkommen unserer Gesellschaftsordnung. Tugan-Bara- 
nowsky freilich faßt das Einkommen der Bauern und Handwerker 
als einheitliches Arbeitseinkommen auf, wirft der Theorie wohl gar 
vor,.daß sie diese Art von Einkommen vernachlässige. Allein das 
tut sie nicht, und kein Theoretiker würde die zahlreichen Besonder- 
heiten dieser Einkommen leugnen. Im Prinzip nur erkennt sie, daß. 
es ökonomisch ganz gleichgültig ist, ob der Handwerker sein Kapital 
mit seiner Arbeit kombiniert oder etwa sein Kapital ausleiht 
und seine Arbeit in einer Fabrik verwertet. Der Fall liegt seinem 
ökonomischen Wesen nach ganz so wie beim Beamten, der zugleich 
Kapital besitzt. Welchen Sinn hätte es, das Einkommen eines Mannes, 
der einen Gehalt von 10 000 K und Aktiendividenden von ebenfalls 
10000 K im Jahre bezieht, als Arbeitseinkommen von 20000 K 
zu bezeichnen? In der Entwicklungsgeschichte und Soziologie der 
Einkommensformen sind beide Fälle voneinander zweifellos himmel- 
weit verschieden. Aber was gewinnen wir, wenn wir den soziologi- 
schen und den ökonomischen Gesichtspunkt konfundieren ? Uebrigens 
können wir Tugan-Baranowsky eigene Ausführungen zur Wider- 
legung seiner Auffassung heranziehen. In seiner Diskussion der 
srbeitstheories des »Profits« führt er als ein Gegenargument gegen 
sie die Tatsache an, daß der Profit mit der Größe des investierten 
Kapitals variiere. An anderer Stelle konstatiert er, daß die Größe 
des Einkommens des Bauern von der Größe seines Grundbesitzes 
abhänge — also?! u 

Erkennt man endlich die Natur der »Gewalt«, die allein die 
Einkommensbildung wirklich erklärt, so kommt man zu dem Schluß, 
daß der Satz Tugan-Baranowskys: Der Profit hängt ab von der 
Produktivität der Arbeit und der relativen Macht der Kapitalisten- 
klasse — mit der Grenzproduktivitätstheorie sehr gut vereinbar ist. 
Unter Produktivität der Arbeit versteht er physische Produktivität 


32 Joseph Schumpeter,: 


und, weil er — was natürlich terminologisch durchaus freisteht — 
nur der Arbeit Produktivität zuschreibt, Gesamt produktivität: 
also einfach die Größe des Sozialprodukts. Die relative Macht der 
Kapitalistenklasse ist aber nichts andre» als der Ausdruck der relativen 
Wichtigkeit einer Grenzmenge von Kapital — denn nur das ist der 
Inhalt der ökonomischen Macht des Besitzes über die Wirtschaft und 
die Waffe, in der sie sich konkretisiert — und so fällt Tugan-Bara- 
nowskys Satz einfach zusammen mit dem Satz der Grenzproduktivi- 
tätstheorie, der allerdings noch zu vielen innertheoretischen Kontro- 
versen Raum bietet und zu sehr verschiedenen Zinserklärungen 
führen kann: Der »Profit« hängt ab von der Größe des Sozialprodukts 
und der relativen Grenzproduktivität des Kapitals. Da unser Autor 
auch keineswegs die Zurechnungstheorie verwirft, so sind beinahe 
alle Voraussetzungen gegeben, ihn als Anhänger der Grenznutzen- 
theorie auch für den Kreis des Verteilungsproblems zu reklamieren. 
Und das ist ja auch ganz natürlich. Man braucht den Wert der Grenz- 
nutzentheorie nicht zu überschätzen, um einzusehen, daß in diesen 
Fragen die moderne wissenschaftliche Situation zwingend zu ihren 
Gunsten spricht. Man mag das wissenschaftliche Interesse auf andre 
Fragen lenken wollen, man mag durch Betonung andrer Momente 
‘oder eine andre Terminologie oder durch Aufbauschen von Neben- 
dingen den Sachverhalt verhüllen — schließlich kommt man doch 
immer zu dem Resultat, das zu bekämpfen man ausgezogen ist. Wenn 
man im besondern die Unzulänglichkeit der Marxischen Ausbeutungs- 
theorie erkannt hat, so wäre es wahrlich ein schlimmes Auskuntfts- 
mittel, wollte man, wie es alle die Autoren tun, die an den Macht- 
faktor im ökonomischen Gedankengang appellieren, nun unter das 
von Marx schon erreichte Maß von Erkenntnis zurücksinken — und, 
weil man Marx’ Analyse nicht akzeptieren kann, nun wieder zurück- 
greifen auf die Auffassung, deren Unzulänglichkeit von Marx schon 
klar gesehen wurde. Auch ist dies ja gar nicht nötig, um moralisch 
oder in manchem andern Sinn von »Ausbeutung« sprechen zu können: 
Auch an die Grenzproduktivitätstheorie kann eine moralische Ver- 
urteilung des Zinseinkommens geknüpft werden. 


III. 


Wie die »Verteilungsvorgänge« also vom Standpunkt der ökono- 
mischen Theorie nur eine gegebenenfalls aus praktischen Gründen 
aus dem allgemeinen System von voneinander abhängigen Güter- 
mengen oder -werten herausgegritfene, künstlich verselbständigte 
Gruppe von Preisproblemen sind, wobei sich die meisten Detail- 
resultate durch Einsetzen besonderer Daten in den allgemeinen 
theoretischen Gedankengang ergeben, so ist auch das Lohnproblem ??) 


37) Monographien über die Lohntheorie nach dem Prinzip der Grenzproduk- 
tivität gibt es nicht viele, was eben damit zusammenhängt, daß sie ein bloßer 
»Spezialfalls ist. Außer in den Werken der österreichischen Schule findet man 
«ine ausführliche Darstellung, die für einen weiten Schülerkreis mit Recht ton 


Dien 


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-»- - rn 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 33 


zunächst nur ein solcher wert- und preistheoretischer Spezialfall, wie 
immer das Lohnsystem entstanden sein und welcher - Lage immer 
es den Arbeiter unterwerfen mag: Der Lohn ist zunächst der: Preis 
eines Guts und ebenso zu erklären wie die Preise aller andern Güter. 

Dabei sind zunächst nur zwei Dinge zu beachten: Die Arbeits- 
kraft ist — erstens — zwar früher oft alsein Produkt betrachtet 
worden, was dazu führte, von ihren Produktionskosten zu sprechen. 
Da es aber klar ist, daß Menschen und nach wirtschaftlichen Grund- 
sätzen produziert werden wie Waren, und da zwischen dem Lohn 
und den Erziehungskosten eines Menschen deshalb kein notwendiger, 
wenn auch mitunter ein entfernter tatsächlicher Zusammenhang 
besteht, so ist diese Auffassung gegenwärtig allgemein aufgegeben, 
und es wird der nationale Vorrat an Arbeitskraft als ein — gewiß 
zum Teile auch durch wirtschaftliche Momente, aber nicht durch den 
wirtschaftlichen Zusammenhang, den die reine Theorie beschreibt, 
bestimmtes — Datum betrachtet ganz so wie der vorhandene Vorrat 
an Naturstoffen und -kräften, mit denen zusammen also die jeweils 
vorhandene Menge von Arbeitskraft in dieser Hinsicnt eine Kategorie 
von Güteın bildet. Zwar ist die Arbeiterbevölkerung in einem Wirt- 
schaftsgebiet nicht konstant wie die Menge der Bilder eines verstor- 
benen Meisters, die das alte Paradigma für diese Kategorie von Gütern 
sind, aber sie ist auch nicht wie andre Güter durch Produktion variier- 
bar sondern nach eignen Gesetzen veränderlich, so daß sie sich jeweils 
vom Standpunkt des theoretischen Systems ganz so verhält, wie die 
in schlechthin konstanten Mengen gegebenen Güter. Zweitens aber 
gehört die Arbeitskraft zu jenen Gütern, wenigstens insoweit es sich 
um ihre industrielle Verwendung im Gegensatz zu den »persönlichen 
Dienstleistungen« handelt, die nicht direkt Bedürfnisse befriedigen, 
sondern nur indirekt, indem sie zur Entstehung von Genußgütern 
beitragen. Man könnte nun nach Analogie einer primitiven Geld- 
theorie auf den Gedanken kommen, daß der Preis der Arbeit eben 
durch die Wertschätzung bestimmt sei, die Käufer »persönlicher 
Dienstleistungen« diesen entgegenbringen: Wie man den Standpunkt 
einnahm, daß der Wert des Geldes in: der Geldverwendung bestimmt 
sei durch den Wert ds Goldes in dessen Gebrauchsverwendungen, 
so könnte man offenbar auch sagen, die Wertschätzung, die den 
spersönlichen Dienstleistungen« entgegengebracht werde, sei unmittel- 
bar gegeben, weil sie unmittelbare Bedürfnisbefriedigungen auslöst, 
der Preis der Arbeit aber müsse in beiden Verwendungsarten offenbar 
gleich sein oder zur Gleichheit tendieren, folglich sei mit Wert und 
Preis der Arbeit in der einen auch der Preis (»Tauschwert«) in der 
andern bestimmt. Doch würde uns diese Analogie nicht viel helfen, 
weil eben jene Geldwerttheorie unhaltbar ist, und m. W. hat es auch 





angebend wurde, bei Marshall und dann in den Werken der Clarkschule. Doch 
seien besonders hervorgehoben: John Davidson: The bargain theory of Wages, 
1898, Herbert M. Thompson: The theory of Wages. 1892, Stuart Wood: The 
theory of Wages (Publ. Amer. Econ. Assoc. 1889, wo auch Clark seine Lohntheorie 
zuerst publizierte). Dann Pigous großes Werk: Wealth and Welfare. 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 1. 3 


re o a P aD 


34 Joseph Schumpeter, 


kein Autor versucht, auf diesem Weg dem Lohnproblem beizukom- 
men. Vielmehr hat die Grenznutzentheorie einen andern Weg be- 
treten. Man ging eben von der zwar indirelten, aber darum doch 
nicht weniger realen Nutzwirkung der Arbeitskraft als Produktions- 
mittel aus und leitete daraus subjektive Werte des jeweiligen Arbeits- 
vorrats ab, auf Grund welcher sich die Preise der Arbeit, also die Löhne, 
in ganz derselben Weise ergaben wie die Preise der Genußgüter, so 
daß in dieser Beziehung die Arbeitskraft in die allgemeinere Kategorie 
der »Produktionsmittel« gehört. 

Dabei gibt es nur noch eine Differenz, die gleich hier erwähnt 
sei. Je nach der Zinstheorie, die man im Rahmen des Grenzproduk- 
tivitätsgedankens akzeptiert $8), entsprechen die Preise der Arbeit 
der vollen Nutzwirkung der Arbeitskraft oder dem auf die jeweilige 
Gegenwart diskontierten Wert der erst mit Beendigung des Pro- 
duktionsprozesses zu realisierenden Nutzwirkung. Die letztere Auf- 
fassung ist von Böhm-Bawerk eingeführt worden und wird nicht, 
nur von Autoren, die seiner Zinstheorie ganz zustimmen wie 
Taussig, sondern auch von den sehr zahlreichen andern vertreten, 
die mehr oder weniger vollständige Derivate der Böhm-Bawerkschen 
Theorie vortragen, vor allem von Fisher und Fetter. Doch würde die 
Erörterung dieses Moments zu weit von unserm Weg abführen. 

Diese Betrachtungsweise begegnet mancher Schwierigkeit, die 
bei den Zuständen auf unserm Arbeitsgebiet auch sofort zu ebenso- 
vielen Einwendungen wurden. Nur einige davon können hier be- 
handelt werden. 

Zunächst ist allerdings der Satz, der Lohn beruhe auf dem Wert 
und dieser auf der produktiven Rolle der Arbeit, so wenig paradox, 
daß man eher an seiner Selbstverständlichkeit Anstoß nehmen könnte 
— wenn man sich nur dabei hütet mit dem Vorwurf der Selbstver- 
ständlichkeit auch den der Unfruchtbarkeit zu verbinden: Denn 
durch den letztern beweist man nur, daß man mit dem Instrument 
des ökonomischen Systems nicht umzugehen versteht. Eine solch 
ungeheure Masse von Tatsachen, die jenen Satz verifizieren, zeigt. 
sich dem flüchtigsten Blick, daß man kaum noch zu fragen braucht, 
ob denn wirklich jemand ernstlich daran zweifle, daß der Arbeiter 
bezahlt wird, weil man seiner bedarf. Und daß die Intensität, mit der 
man seiner bedarf, gegebenenfalls sehr gering sein kann ungeachtet 
der Tatsache, daß ohne Arbeit so gut wie gar nichts vorhanden wäre, 
ist nicht rätselhafter als daß man einen Liter Wasser normalerweise 
durchaus nicht besonders »schätzt«, obgleich man ohne Wasser nicht 
leben könnte. Doch gibt es noch immer Autoren, die die Uebertragung 
der Grenznutzenbetrachtung auf Produktionsmittel für unmöglich 

as) Die Gegensätze, die innerhalb dieses Rahmens möglich sind, sind sehr 
erheblich, aber sie werden oft in der Hitze des Gefechtts überschätzt. So besteht 
ein äußerlich sehr scharfer Gegensatz zwischen Clark und Taussig und der letztere 
wird oft als Gegner der Grenzproduktivitätstheorie überhaupt bezeichnet. Aber 
erstens denkt man dabei an die speziellen Eigentümlichkeiten der Grenzpro- 
duktivitätstheoric Clarks und zweitens ist auch zwischen dieser und der Theorie 
Taussigs die Kluft realiter gar nicht groß. 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 35 


erklären, sich gegen den so furchtbaren Gedanken, in den Produktions- 
mitteln potentielle Genußgüter zu sehen, hartnäckig wehren und 
durchaus keinen unterscheidbaren, der Arbeit »zuzurechnenden« 
Teil des Gesamtprodukts anerkennen wollen. Soweit sich dieser 
Standpunkt selbst gegen die Anwendung unserer Betrachtungs- 
weise auf den Fall der geschlossenen, nur für Eigenkonsum produ- 
zierenden Wirtschaft kehrt, soll er hier nicht wieder diskutiert werden. 
Es ist sinnlos, die Möglichkeit der Lösung eines Problems zu leugnen, 
wenn es gelöst vorliegt. Es ist ebenso sinnlos zu leugnen, daß der 
Leiter einer solchen geschlossenen Wirtschaft die Produktionsmittel 
nach ıhrer Grenzbedeutung einschätzen und dementsprechend be- 
handeln würde, woraus sich eine Wertskala für jedes von ihnen, also 
auch für die Arbeitskraft, ablesen lassen würde. 

Aber in der Verkehrswirtschaft ergibt sich die Frage, wie diese 
Betrachtungsweise gegenüber der Tatsache aufrecht erhalten werden 
kann, daß da in der Regel weder der Unternehmer noch der Arbeiter 
den Produkten des Betriebs eine Gebrauchswertschätzung entgegen- 
bringen kann. Folgt daraus nicht, daß also auch weder Unternehmer 
noch Arbeiter der Arbeitskraft jene abgeleitete Wertschätzung ent- 
gegenbringen können, die sich bei Produktion für den eigenen Bedarf 
‚ aus der Nutzwirkung der Produkte ergeben würde, und daß daher die 
Grenznutzgrößen, die im Verkehr zwischen Unternehmern und 
Arbeitern über den Lohn entscheiden müßten, für beide Parteien 
gleich Null sind ? 

Was den Unternehmer betrifft, so ist er sicher nur an der Höhe 
seines Gewinns interessiert. Alle übrigen sind bloß »durchlaufende« 
Posten für ihn und kommen nur in ihrer Einwirkung auf den Gewinn- 
posten in Betracht. Aber die Käufer der Produkte des Betriebs haben 
die dem Unternehmer fehlende Gebrauchswertschätzung für die- 
selben und von dem Geldausdruck dieser Gebrauchswertschätzung 
hängt der Preis ab, den der Unternehmer erzielen wird 3). Als not- 
wendige Mittel, um diesen Erlös zu erzielen, haben die Produktions- 
mittel Wert für ihn,$soidaß seine Nachfrage nach Produktionsmitteln 
der Reflex der Nachfrage der Konsumenten nach Genußgütern ist 
und sich die Intensitätsskala der Nachfrage nach Arbeitskraft daraus 
nach dem Prinzip der Grenzbedeutung derselben für das Produktions- 
resultat bei optimaler 4%) Kombination aller Produktionsmittel er- 





2) Natürlich auch vom Einkommen der Konsumenten, welches wieder vom 
Resultat der Verteilung abhängt. Mit vollständiger Korrektheit sind alle diese 
Wechselbeziehungen nur mit Hilfe der allgemeinen Gleichgewichtstheorie darzu- 
stellen. Hier wollen wir dem obigen Satz die Worte »bei gegebenen Einkommen« 
hinzufügen, ohne aber etwa sachlich zu behaupten, daß dieses Einkommen 
an Datum für uns wäre. Wir verkennen die allgemeine Interdependenz nicht, wenn 
wir jeweils einige Elemente als fest annehmen und dann wieder gerade diese 
variieren lassen, sondern wir bedienen uns dadurch gerade einer Methode in 
einfacher Weise Stelle für Stelle eines Systems interdependenter Größen zu 
untersuchen. 

1%) Der Ausdruck soptimal« hat den Vorteil, in der Oekonomie ungewöhnlich 
und daher nicht mit Nebenbedeutungen belastet zu sein. R 
i 3 


T. e Aarla a a 


REN AHRENS a y ER 


36, Joseph Schumpeter, 


gibt. Seine ganze Stellung, so wie sie sich vom Standpunkt der reinen 
Theorie darbietet — und die ganze Kluft, die diesen Standpunkt 
von soziologischen trennt, öffnet sich hier wiederum — und die Natur 
der von ihm vorgenommenen Wertungen ist also durchaus unter die 
Kategorie der Stellung und der Wertungen eines Zwischenhändlers 
zu subsumieren, 

Alle Unternehmer schälen die Grenzarbeitsmenge in Geld 
bei freier Konkurrenz notwendig gleich hoch ein, in dem Sinne, daß 
der Lohn im Gleichgewicht die Grenzwertschätzung aller Unternehmer 
mißt, d.h. das von einer kleinen Arbeitsmenge abhängige Ertrags- 
element muß in Geld ausgedrückt für alle Betriebe gleich groß sein. 
Daß das so sein muß, ergibt sich aus. der Erwägung, daß andernfalls 
einzelne Arbeitsmengen weniger vorteilhaft verwendet würden als 
sie verwendet werden könnten und intensivere Nachfrage leer aus- 
ginge, während weniger intensive befriedigt würde. Daß das aber 
auch so sein kann und nicht etwa den Widersinn einschließt, daß 
eine Arbeitsstunde für einen Handwerker nur ebenso wertvoll sei 
wie für einen Großunternehmer, ergibt sich ohne weiters, wenn man 
nur bedenkt, daß es sich hier nicht einfach um Wertschätzungen, 
sondern um Geldausdrücke von Wertschätzungen handelt. Wie man 
sagen kann, daß der Brotpreis den Grenznutzen des Brots für den 
Bettler wie für den Millionär mißt, weil ja nicht nur der Pfennig ` 
sondern auch das einzelne Stück Brot für beide sehr verschiedene 
subjektive Werte hat und das Verhältnis zwischen dem Wert 
des Pfennigs und des Stückes Brot deshalb sehr gut für beide das- 
selbe sein kann — allerdings ist sogar dieser einfache Tatbestand mit 
Ruhe und mit Selbstbewußtsein zu einer Einwendung gegen die 
Grenznutzentheorie gemacht worden —, so kann auch in unserm Fall 
trotz aller Verschiedenheit der Größe und Rentabilität der Betriebe 
das gleiche gelten. Wenn man in elementaren Darstellungen der 
Theorie gleichwohl von besondern »Grenzunternehmern« und »Grenz- 
betrieben« liest, so hat man das lediglich als eine einfachere und an- 
schaulichere Ausdrucksform aufzufassen, die mit Rücksicht auf 
die Tatsache, daß gewisse Erscheinungen sich an schwächern Unter- 
nehmungen deutlicher zeigen als an andern, ganz praktisch ist, aber 
nicht vergessen lassen darf, daß bei freier Konkurrenz jede Unter- 
nehmung die Produktivitätsgrenze berührt und das Grenzprodukt 
nicht etwa in einer einzelnen Unternehmung realisiert oder die wenigst 
intensive Nachfrage nach Arbeit in der wenigst kräftigen Unter- 
nehmung konzentriert ist. 

Auch der Arbeiter hat im allgemeinen keine Eigenwertschätzung 
für seine Arbeitskraft, und er hat nicht einmal eine abgeleitete 
Wertschätzung, die etwa auf eine ursprüngliche zurückgehen würde. 
Doch hat er etwas andres, nämlich eine negative Wertschätzung 
für die Arbeitsleistung (disutility), welche von der durch den Lohn 
gewährleisteten Bedürfnisbefriedigung mindestens aufgewogen werden 
muß. Man könnte sich nun damit begnügen, diesem Moment die 
Rolle zuzuweisen, welche sonst die Wertschätzung für das hinzu- 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 37 


gebende Gut beim Tausche spielt. Aber obgleich sowohl für den 
einzelnen Arbeiter, wie für die ganze Arbeiterschaft einer Kategorie — 
wenn auch in jedem dieser Fälle in etwas verschiedenem Sinn — es 
wahr ıst, daß der Grenznutzen des Lohns dem »Grenzleid« der Ar- 
beit sich ungefähr gleichzustellen tendiert, so liegt darin doch nur 
einer der Bestimmungsgründe für die jeweils angebotene Arbeits- 
menge und nicht mehr. Das wirtschaftliche Verhalten des Arbeiters 
kann mit diesem Instrument nicht erschöpfend erfaßt werden,' da 
seine Waffe im Preiskampf in der Produktivität seiner Arbeit und 
nicht in dem Umstand liegt, daß sie ihm unangenehm ist. Ein andrer 
Weg wäre wieder durch eine Analogie mit der Geldtheorie gegeben, 
die aber nicht mit der schon angeführten verwechselt werden darf. 
Wenn es gleich hoffnungslos ist, den Wert der Geldeinheit aus dem 
Werte des Geldstoffes in andern Verwendungen erklären zu wollen, 
sobald sich dieser einmal in seiner Geldrolle eingelebt hat, so kann 
man doch sehr gut den Wert des Geldstoffes in dessen »Warenverwen- 
dung« als historischen Ausgangspunkt der Wertbewegung ansehen, 
welche dann unter dem Einfluß beider Verwendungen ihre 
weitern Schicksale erfährt. So könnte man den Wert der Arbeits- 
kraft genetisch ableiten von den Momenten, in denen der Uebergang 
von der Produktion zu eigenem Bedarf, innerhalb welcher die Arbeits- 
kraft für den Arbeiter (produktiv-indirekten) Eigenwert besaß, zur 
verkehrswirtschaftlichen erfolgte, innerhalb welcher das nicht mehr 
der Fall ist. Könnte man sich auf den Standpunkt stellen, daß der 
Bauer, Handwerker usw. sich unter dem Impulse eines in Form des 
Lohns winkenden höhern Einkommens in den Lohnarbeiter meta- 
morphosierte, so wäre jeweils ein Element seines in der verlassenen 
Produktionsorganisation erzielten Einkommens — natürlich unter 
Berücksichtigung der sonstigen Vor- und Nachteile der betreffenden 
Methoden der Lebensführung — als ursprüngliche Eigenwertschätzung 
des Arbeiters für seine Arbeit einzustellen, auch wenn sie im Bewußt- 
sein des Arbeiters nicht vorhanden ist. An sich wäre dieser Weg 
nicht so absurd wie er aussieht, denn der Umstand, daß die Arbeiter- 
bevölkerung zu einem großen Teil Arbeitsbevölkerung nur deshalb 
wurde, weil sie vom Land, aus dem Handwerk usw. vertrieben wurde, 
und nicht weil sie im Beruf des Lohnarbeiters eine bessere Existenz- 
möglichkeit sah, hindert nicht, daßdas letztere sicher bei einem, wenn 
auch vielleicht kleinen Teil der Arbeiter der Fall war und bei einem, 
wenn auch ganz kleinen Teil noch heute — beim mitteleuropäischen 
Häusler oder in der umgekehrten Richtung beim kanadischen Kolo- 
nisten usw. — der Fall ist. Und daß das vollständig genügt, mag der 
Leser aus dem analogen Fall sehen, dem wir bei der Abstinenztheorie 
des Zinses begegnen: Damit man von einem für die Höhe des Zinses 
relevanten »Sparopfer« sprechen könne, ist es keineswegs nötig, daß 
alles Sparen ein Opfer involviere. Es genügt, daß die effektive Nach- 
frage nach Sparkapital groß genug sei, um zu ihrer Befriedigung 
auch. sunlustvolle« oder »Opfer« involvierende Sparakte nötig zu 
machen. Mutatis mutandis steht es ebenso in unserm Fall. 


a. Au BE an a Zu 4, 2 E 


38 Joseph Schumpeter, 


Aber dennoch ist dieser Weg wenig einladend. Abgesehen von 
dem ja immer geringen Wert einer genetischen Erklärung 
und abgesehen davon, daß jene Grundlage der Eigenwertschätzung 
für den einzelnen Arbeiter meist in nebelhafter unerreichbarer Ferne 
zurückliegt, würde man so nie in die Bestimmungsgründe des Lohns 
eindringen können. Zweckmäßiger und realistischer ist es vielmehr, 
ruhig die Tatsache hinzunehmen, daß der Arbeiter seiner Arbeits- 
kraft keine FEigenwertschätzung entgegenbringt, sondern eben 
in dem in jeder Verkehrswirtschaft auch sonst häufigen Fall des 
Mannes ist, der ein Gut besitzt, das er an sich gar nicht schätzt, das 
aber andre Leute schätzen, und der einfach entschlossen ist, soviel 
wie möglich auf dem Markt dafür zu fordern. Die Arbeiter werden 
also ihre Arbeitskraft einfach dem Höchstbietenden verkaufen wollen, 
dann wenn dessen Nachfrage befriedigt oder in ihrer Intensität ge- 
sunken ist dem diesem an Intensität der Nachfrage nächststehenden 
Kauflustigen und so weiter, »solange der Vorrat reicht« und die in 
Geld gemessene Intensität der wenigst intensiven, aber zum Absatz 
des ganzen Vorrats noch heranzuziehenden Nachfrage wird für den 
Lohn jeder Arbeitsqualität entscheidend sein, wenn es sich um einen 
Markt des (logischen) Idealtypus handelt, auf dem nur ein Preis 
für jedes Gut bestehen kann. Natürlich ist wieder zu betonen, daß 
diese Darstellung nicht so zu verstehen ist, daß eine bestimmte unter- 
scheidbare Gruppe der Arbeiter jeder Kategorie der wenigst inten- 
siven Nachfrage dient: »Marginal Bill«, wie die Studenten in Cam- 
bridge den »Grenzarbeiter« getauft haben, ist nur eine darstellerische 
Fiktion. Tatsächlich haben in jedem Zeitpunkt alle Arbeiter die 
Stellung des Grenzarbeiters und jeder kann, wenn sein Fortfallen 
in Frage kommt, in dieser Eigenschaft hervortreten: Denn auch bei 
den höhern, den »intramarginalen« Nachfrageintensitäten wird die 
einzelne Arbeitskraft nicht höher geschätzt als es der »marginalen« 
entspricht — infolge des »Prinzips der Substitution«. 

Diese Gleichgewichtslöhne müssen, wie erwähnt, noch einer 
andern Bedingung genügen: Die durch sie dargebotene Bedürfnis- 
befriedigung muß die höchste noch durchzumachende Arbeitsunlust 
aufwiegen. In der Tat ist ja auch bei gegebener Arbeiterzahl das 
Arbeitsangebot noch dehnbar, welche Unbestimmtheit eben durch 
diese Bedingung ihre Bestimmung erfährt. Unsere Bedingung muß 
für jeden Arbeiter realisiert sein. Es liegt nahe, ihre Geltung wiederum 
auf den »Grenzarbeiter« zu beschränken und die übrigen, besonders 
die Arbeiter höherer natürlicher Qualifikation, davon zu eximieren. In 
der Tat hat es auch einen Sinn, die Arbeiter nach dem Maß des von 
ihnen erlittenen Arbeitsopfers in eine Skala zu reihen und allen einen 
‘ Wohlfahrtsüberschuß über den Befriedigungszustand des »letzten« 
zuzubilligen $1). Aber außerdem muß jeder die Grenze berühren, 
die durch die Gleichung »Grenzopfer = Lohngrenznutzen«, beides 


a) Ein Ueberschuß, der eine Analogie zur Ricardianischen "Darstellung der 
Grundrente hat. 


5 a 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 39 


in Geld angeschlagen, gegeben ist, wenn für ihn indivi- 
duell »Gleichgewicht erreicht« sein soll. | 

Wenn der einzelne Arbeiter mit dem einzelnen Unternehmer 
kontrahiert, so ist die von dem letztern dargebotene Arbeitsgelegen- 
heit bei freier Konkurrenz natürlich nicht die einzige. Beim Vertrags- 
schluß wird daher der Arbeiter immer auch andre Möglichkeiten be- 
wußt oder unbewußt in Betracht ziehen und zwar ebenso natürlich 
unter diesen die jeweils besten. Mit den letztern vergleicht er die 
Bedingungen desjenigen Unternehmers, mit dem er gerade verhandelt 
und unter sie wird er nicht herabgehen. Da bildet sich also eine Art 
von Eigenwertschätzung des Arbeiters für seine Arbeit, die durch 
andre Verwendungsmöglichkeiten seiner Arbeitskraft gegeben ist. 
Insofern diese andern Verwendungsmöglichkeiten nur aus andern 
Verkaufsmöglichkeiten der Arbeitsleistungen bestehen, sind die darauf 
beruhenden Wertschätzungen des Arbeiters aber bloße Konsequenz 
bestimmter schon bestehender Lohnsätze, so daß man sie zu einer 
auf den Grund gehenden Lohnerklärung nicht verwenden kann. Es 
handelt sich um bloße Pseudo- nicht wirkliche Eigenwertschätzungen, 
die nichts andres sind als eine kurze, für den einzelnen Fall nützliche 
Zusammenfassung der Situation im Bewußtsein oder doch im Ver- 
halten des Arbeiters. 

Da sie nun aber stets vorhanden sind und dem Arbeiter als Kom- 
pab dienen, da die Verhältnisse, auf denen sie beruhen, sich im all- 
gemeinen nur langsam ändern und sich daher dem Arbeiter sehr fest 
einprägen, zumal ja seine ganze Lebensgestaltung von ihnen geformt 
wird, so erscheinen sie jeweils als festbestimmte Größen — sie er- 
Scheinen jeweils als die orts- und zeitüblichen »Ansprüche« der Ar- 
beiter, an denen diese tunlichst festhalten und mit denen auch die 
Unternehmer rechnen, denn auch diese leisten nicht bewußterweise 
alle die geistige Arbeit, die dazu nötig wäre um festzustellen, was je- 
weils die der Situation entsprechende Grenzbedeutung der Arbeit 
wäre, sondern sie nehmen ebenfalls — wie überhaupt die meisten 
Kostensätze — diesen von langer Erfahrung evolvierten, der Grenz- 
bedeutung jeweils ungefähr entsprechenden Lohnsatz hin und ändern 
nur unter dem Druck neuer Verhältnisse allmählich daran. Obgleich 
also die Ansprüche der Arbeiter stets Konsequenzen irgendwelcher 
Lohnsätze sind und daher weder das Wesen noch die Gesetze des 
Lohnphänomens daraus jemals erklärt werden können, vielmehr der 
Inhalt und der Erfolg der Ansprüche prinzipiell aus der Lohntheorie 
heraus begriffen werden muß, so wird es trotzdem verständlich, daß 
sie infolge ihrer sTrägheits« für den einzelnen Fall und solange sich 
die Verhältnisse nicht allzusehr ändern, besonders wenn Recht 
und Sitte oder öffentliche Meinung über sie wachen — in solchen 
Punkten hat die Theorie eine direkte Einwirkung des Machtmoments 
stets anerkannt — eine sekundäre kausale Rolle wirklich und 
in noch höherm Maß scheinbar erlangen. Diese Sachlage ist 
im sozialen Leben überhaupt häufig. Sprechen wir z. B. von einem 
sangenehmen Haus«, so können wir damit im eigentlichen Sinn nur 


40 ; Joseph Schumpeter, 


ein liebenswürdiges Verhalten der Familienmitglieder meinen. Aber 
die einmal zustandegekommene Gewohnheit liebenswürdigen Ver- 
haltens kann in der betreffenden Familie so fest werden, daß sie sich 
jedes neue Element, das hinzutritt, einordnet, und so gleichsam zu 
etwas Un- und Ueberpersönlichem wird und schließlich auch zu 
einer Causa des Verhaltens der einzelnen, während sie doch zu- 
gleich nur Konsequenz des Verhaltens aller einzelnen ist. 
Darauf ist die populäre Anschauung von der kausalen Rolle der An- 
sprüche der Arbeiter zu beschränken, die neuestens wieder zu einem 
Hebel der wissenschaftlichen Analyse gemacht worden ist 43). 

In der Verkehrswirtschaft hat also im Grunde wirklich niemand jene 
— indirekte, wie es dem Produktionsmittelcharakter der Arbeitskraft 
entspricht — Eigenwertschätzung für die Arbeitskraft, die die Grenz- 
nutzentheorie für ihre Lösung des Tausch- und Preis-, also auch 
Verteilungsproblems zu postulieren scheint. Nicht der Konsument, 
denn dieser wertet nur das gekaufte Genußgut und denkt nicht weiter; 


4) R. Schüller, Die Ansprüche der Arbeiter, in diesem Archiv Maiheft 1915, 
Die sekundäre kausale Rolle der »Ansprüche« ist immerhin wichtig genug, 
um eine besondre Untersuchung nötig zu machen und das Verdienst eine solche 
angebahnt zu haben, soll nicht verkleinert werden. Aber die Rolle des Moments 
ist vom Autor erheblich überschätzt worden. Noch störender ist, wie auch in 
einer andern noch zu besprechenden Arbeit desselben Autors, die Kritik, an die 
er seine positiven Ausführungen knüpft. Daß z.B. soweit die Ansprüche der 
Arbeiter entscheidend für den Lohn sind, bei Verschiedenheit dieser Ansprüche 
diejenigen der sanspruchsvollsten« von den zur Befriedigung der beim betreffen- 
den Lohn effektiven Nachfrage nötigen Arbeiter über den Lohn entscheiden, 
verkündet er als ein Resultat, das mit den »geltenden wissenschaftlichen An- 
sichten« nicht übereinstimme (p 389). Allein welcher Theoretiker hätte je daran 
zweifeln können? Der Satz hat große Aehniıchkeit mit dem Satz, daß die 
höchsten Kostensätze innerhalb einer Produktmenge dem Produktpreise 
gleich sind. Und wenn nichts andres, so hätte diese Aehnlichkeit zeigen müssen, 
daß die Theorie unmöglich für den von Schüller behandelten Fall andres be- 
haupten kann. Wohl behauptet sie auch, aber unter an dern Voraussetzungen, 
daß die niedrigsten Kostensätze innerhalb einer Produktmenge dem Produkt- 
preis gleich sind und unter eben solchen Voraussetzungen würde sie das gleiche 
für die verschieden anspruchsvollen Arbeiter Schüllers behaupten, Und welche 
von den entgegengesetzten Voraussetzungen einem konkreten Fall entsprechen, 
ist jeweils quaestio facti — die erste Behauptung gilt für den Gleichgewichts- 
zustand, die zweite hebt eine Tendenz der ökonomischen Entwicklung hervor —, 
aber ein Gegensatz zwischen beiden in dem Sinne, daß entweder der eine oder 
der andre allgemein wahr sein würde, besteht nicht. Daß insbesondre der 
Lohn in einer Industrie immer mehr steigen muß, je vorteilhafter fortschreitend 
die Verwendungsmöglichkeiten werden, denen weitere Arbeitsmengen entzogen 
werden müssen, wenn die Nachfrage nach Arbeitskräften seitens jener einen 
Industrie steigt, und daß der zur Heranziehung der jeweils sletzten« ‚hier also 
steuersten«, weil vorteilhaftesten andern Verwendung entzogenen, Arbeiter 
nötige Lohnsatz allen Arbeitern in der betrachteten Industrie gezahlt werden 
muß, ist unmittelbare Konsequenz der Kostenlehre der Grenznutzentheorie. 
Ueberhaupt muß ausdrücklich betont werden, daß keiner der auf der letzten 
Seite der Abhandlung Schüllers gesperrt gedruckten Sätze irgendetwas enthält, 
was der Theorie widerspräche oder einem Theoretiker fremd sein könnte. 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 4I 


nicht der Unternehmer, denn für ihn haben seine Produkte keinen 
Gebrauchswert, aus dem Eigenwertschätzung jener Art für die Pro- 
duktionsmittel allein fließen könnte; und nicht der Arbeiter, denn 
er hat im allgemeinen keine Verwendungsmöglichkeit seiner Arbeit, 
die eine derartige Eigenwertschätzung — eine indirekte oder abge- 
leitete Gebrauchswertschätzung — für seine Arbeit begründen könnte. 
Die Wertschätzungen für die Arbeitskraft, die wir in der Wirklich- 
keit bei Arbeitern und Unternehmern unmittelbar feststellen können, 
sind schon die Folge der Tatsache eines Arbeitsertrags in Geld und 
wesentlich verschieden von jenen, die die Grenznutzentheorie im 
einfachsten Fall, dem der Produktion für den eigenen Bedarf des 
wertenden Wirtschaftssubjekts, aus dem spezifischen »Anteil« der 
einzelnen Produktionsfaktoren am Produktionsresultat ableiten 
kann: Im Fall des Arbeiters sind die Wertschätzungen für seine Ar- 
beitskraft, mit denen er jedem einzelnen Anstellungsangebot 
entgegentritt, im allgemeinen nur durch die in andern Anstellungen 
erreichbaren Lohnsätze gegeben, sodaß es ein Zirkel wäre sie zur Er- 
klärung der Tatsache des Lohns überhaupt verwenden zu wollen, 
wenngleich sie bei der Erklärung der Lohnhöhe*#) gewiß eine 
Rolle spielen. Im Fall des Unternehmers liegt die Sache zwar nicht 
so;denn der Ertrag, auf dem seine Wertschätzung für die Arbeits- 
kraft beruht, ist da nicht wie im Fall des Arbeiters schon der eben 
dadurch zu erklärende Preis der Arbeit, sondern der Erlös aus dem 
Verkauf der Produkte und kann sehr gut dem Preis der Arbeit als 
selbständiger Bestimmungsgrund gegenübergestellt werden. Aber 
dennoch ist diese Wertschätzung etwas andres als die aus dem Ge- 
brauchswert des Produkts für den Produzenten abgeleitete Wert- 
schätzung. Um zu zeigen, daß auch sie dem Grenznutzengesetz unter- 
steht und daß und wie ihre fehlende Basis von Gebrauchswert durch 
die Wertschätzung des Konsumenten für das von ihm konsumierte 
Produkt suppliert wird, in der der Angelpunkt des wirtschaftlichen 
Zusammenhangs zwischen »Produktion« und »Verteilung« liegt, ist 
Dun genauer zu untersuchen, in welchem Sinn der Unternehmer den 
Konsumenten in der Funktion des Wertens der Arbeitsleistung ver- 
tritt und wie sich diese »vikarische« Wertschätzung der Arbeitskraft 
zu der Wertschätzung derselben nach ihrer Bedeutung für den Er- 
trag des Betriebs verhält. 

Im Bewußtsein des Unternehmers ist also nur die letztere vor- 
handen, und ‚auch diese nur wenn er nicht rein gewohnheitsmäßig 
nach orts- und brancheüblicher Praxis vorgeht, wobei man allerdings 
die »sunterbewußte Berechnung« ohne weiters ergänzen kann, worin 
noch keine Fiktion liegt. Er betrachtet die einzelnen Teilmengen 
der verschiedenen Produktionsmittel unter dem Gesichtspunkt der 
Variationen ), die ihr Fortfallen oder Hinzutreten in der Rentabilität 

“) Vgl. die Ausführungen v. Böhm-Bawerks über die Werte »beliebig käuf- 
licher Güters in der Positiven Theorie des Kapitalzinses und die Ausführungen 
in meiner Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, ı. Kap., über die »Vielheit 
der Wertfunktionen« von vielfach verwendbaren Gütern. 

“) Ein dagegen geäußertes Bedenken wird später diskutiert werden. 


42 Joseph Schumpeter, 


seines Betriebs zur Folge hätte. Dabei ist zunächst die davon zu 
erwartende Veränderung des Bruttoerlöses aus dem Verkauf der 
Produkte entscheidend, nicht etwa die des Nettoerlöses, d. h. des Er- 
löses nach Abzug aller Kosten: Denn die Größe des zu erwartenden 
Zuwachses an Bruttoerlös entscheidet darüber, was der Unternehmer 
an Kosten auslegen kann resp. will. Seine »Wertschätzung« für einen 
Arbeiter ist ebensowenig durch den mit seiner Hilfe zu realisierenden 
Reingewinn erschöpft, wie meine Wertschätzung für eine Zigarette 
durch jenen in Geld ausgedrückten Nutzenbetrag, um den der Genuß 
der Zigarette den dafür zu zahlenden Preis übersteigt. In beiden 
Fällen ist es freilich dr Nutzgewinn, auf den es abgesehen 
ist, und in beiden Fällen ist der Rest des erzielten »Nutzens« paraly- 
siert durch das zu bringende Opfer; aber in beiden Fällen — und sie 
sind in diesem Punkte durchaus analog — ist das Maß der Wertschät- 
zung durch den ganzen Nutzen, den das betreffende Gut einbringt, 
gegeben, und nur diese Größe erklärt das Verhalten des Wirt- 
schaftssubjekts und namentlich eben dessen Bereitschaft, die betreffen- 
den »Opfer« zu bringen: Im Fall des Unternehmers ist es also der zu 
erwartende Zuwachs an Bruttoerlös, der die Wertschätzung von Pro- 
duktionsmitteln begründet, zu dessen Erlangung der Entschluß ge- 
faßt wird Kosten aufzuwenden und der als Maß der Nachfrage nach 
Produktionsmitteln auf dem Markt hervortritt. 

Dieser jeweilige »Zuwachs an Bruttoerlös« aber ist nichts andres 
als der Geldausdruck für die Konsumentengrenznutzen, welcher, wie 
erwähnt, ja für alle Konsumenten eines Guts gleich groß sein muß. 
Und ist er gleich für den Unternehmer nur »Zuwachs an Bruttoer- 
lös«, ein Rechnungsposten, an den sich gar keine Gebrauchswert- 
gefühle knüpfen, so ist es doch darum nicht weniger wahr, daß er dem 
Bedarfsleben der Konsumenten sein Dasein und sein Gesetz ver- 
dankt und in diesem Sinn seinem innern Wesen nach ein in Geld aus- 
gedrückter Gebrauchswert ist, in erster Linie ein direkter Gebrauchs- 
wert von Genußgütern, in zweiter Linie ein indirekter Wert von Pro- 
duktionsmitteln für die Konsumenten, aus dem dann einfach durch 
Beobachtung der Wirkung von Variationen der Menge der einzelnen 
Produktionsmittel bei Gleichbleiben der übrigen auf den pro- 
duktiven Erfolg die Konsumentenwertschätzung für die einzelnen 
Produktionsmittel gewonnen werden kann. Die beiden Arten von 
Wertschätzung, die wir dem Unternehmer imputierten, fallen also 
zusammen. Die eine ist gleichsam das Kleid der andern, die Serien von 
Ertragswerten und Gebrauchswerten gehen streng parallel und die 
Variationen dr Rentabilität beruhen stets auf Variationen 
der Gebrauchswertproduktivität, ohne daß sich der Unter- 
nehmer über den indirekten Gebrauchswert einer Arbeitsleistung 
Gedanken zu machen braucht. Der Konsument seinerseits hat zwar 
keine Schätzung der Arbeitskraft, aber seine Wertschätzungen für 
Genußgüter tragen die Nachfrage nach Arbeitsleistungen und der 
volkswirtschaftliche Prozeß geht so vor sich, wie wenn der Konsu- 
ment Eigenwertschätzung für die Arbeitskraft hätte. Schreiben wir 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 43 


ihm eine solche zu, so ist dasgewiß eine Fiktion — aber eine Fiktion, 
die auf die Tatsachen paßt. 

Aus den Tatsachen, daß die Nachfrage des Unternehmers nach 
Arbeit nichts andres als eine »vikarische« Eigenwertschätzung der 
Arbeitskraft ausdrückt und daß die Wertschätzung des Arbeiters 
für seine Arbeitskraft gleich Null ist, folgt, daß sich der Lohn beim 
Geldausdruck unseres fiktiven Konsumentengrenznutzens an der 
Stelle, die dem vorhandenen Arbeitsvorrat entspricht, festsetzen 
muß *). Denn wäre der Lohn niedriger, so könnte zu diesem niedrigern 
Lohn eine größere Anzahl von Arbeitern vorteilhaft beschäftigt werden 
als vorhanden ist, so daß die Konkurrenz unter den Unternehmern 
den Lohn in die Höhe treiben müßte. Wäre er höher, so könnte bei 
diesem höhern Lohn nicht die ganze vorhandene Zahl von Arbeitern 
der betreffenden Kategorie Beschäftigung finden, ohne daß Verluste 
entstünden, so daß es beschäftigungslose Arbeiter geben und deren 
Konkurrenz den Lohn drücken müßte. Da das nun natürlich für alle 
Produktionsmittel gilt, so kommen wir zu dem Satze, der mit Unrecht 
oft und neuerdings wieder von Tugan-Baranowsky als ein unerträg- 
liches Paradoxon betrachtet wird, daß im Gleichgewichtszustand 
der Unternehmer weder Gewinn macht noch Verlust erleidet: Obgleich 
nämlich nur für die Grenzmenge eines jeden Produktionsfaktors 
Preis und Erlös zusammenfallen und an jedem ein »intramarginaler« 
Ueberschuß realisiert wird, so wird doch das, was bei der Betrach- 
tung jedes einzelnen Produktionsfaktors als solcher Ueberschuß er- 
scheint, jeweils von den übrigen in Anspruch genommen; der Ueber- 
schuß, der an der Arbeit realisiert wird, ist der Fonds zur Bezahlung 
von Zins und Grundrente, das, was als Ueberschuß erscheint, wenn 
man den Boden als die Variable betrachtet und fortschreitend weitere 
Bodenmengen auf Arbeit und Kapital »anwendet«, ist der Fonds 
für Lohn und Zins usw. und es läßt sich zeigen, daß im Gleichgewichts- 
zustand so das ganze »Produkt« nach dem Gesetze der Grenzproduk- 
tivität in Teile zerfällt werden kann, welche es erschöpfen, so daß kein 


4) Das gilt nur für den zunächst behandelten Fall freier Konkurrenz. Der 
Fall des Monopoles — der natürlich genau so unter das Grundprinzip der Grenz- 
produktivitätstheorie fällt, wie der freier Konkurrenz — wird später berührt 
werden. Die Bildung des Lohnsatzes ist natürlich ein preistheoretisches Problem, 
dessen Lösung von jenen Autoren, die wie Wieser oder Clark nur die großen 
Züge der wirtschaftlichen Zusammenhänge schildern wollen, vorausgesetzt und 
nichts weiter diskutiert wird. Es ist aber vielleicht nicht überflüßig zu betonen, 
daß der Umstand, daß im Fall der Lohnbildung die sVerkäufer« für ihr Gut 
die Eigenwertschätzung gleich Null haben, nicht etwa eine Schwierigkeit be- 
gründet, sondern bei freier Konkurrenz einfach zum oben ausgesprochenen Re- 
sultat führt. Man könnte glauben, daß der Käufergrenznutzen in diesem Fall 
nur eine Obergrenze bilde und dieser Glaube wird durch die Darstellung der 
Elemente des Vorgangs bei manchen Grenznutzentheoretikern bestärkt, so 
namentlich durch das Beispiel Böhm-Bawerks vom Pferdemarkt. Dem ist jedoch 
nicht so. Vielmehr ist der Preis auch dann, wenn alle Käufer oder alle Verkäufer 
das Gut gleich hoch und die letztern eventuell mit Null einschätzen, das Problem 
eindeutig bestimmt, so daß es weiterer Bestimmungsgründe des Preises nicht 
bedarf. 


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44 ... Joseph Schumpeter,. 


»Residuum« mehr übrig bleibt (Wicksteed). Nebenbei gesagt sehen 
wir hier, wie der »Grenzproduktivitätsgedanke« den »Residualge- 
danken« 46), der in der Verteilungslehre so populär ist, ergänzt, wie 
er diesem formal zwar stets richtigen, aber ganz leeren Gedanken erst 
seinen Inhalt gibt. 

Mit Unrecht, so sagte ich, ist der eben gewonnene Satz, der für 
das Lohnproblem also darauf hinausläuft zu sagen, daß der Unter- 
nehmer bei ideal vollkommener Konkurrenz #) und im Gleichge- 
wichtszustand keinen Gewinn an seinen Arbeitern mache, als Paradoxon 
empfunden worden. Wir denken eben stets an die Tatsache, daß 
der Unternehmer in Wirklichkeit einen erheblichen Teil des Erlöses 
für sich zu behalten vermag. Aber wenn man erwägt, daß die moderne 
Theorie die Rolle des Kapitalisten, des Grundherrn und des Arbeiters 
streng von der Rolle des Unternehmers trennt, sodaß unser Unter- 
nehmer, auch wenn er keinen Unternehmergewinn macht, noch immer 
Zins für etwa ihm selbst gehörendes Kapital, Grundrente für ihm 
gehörende Grundstücke und Unternehmerlohn für von ihm geleistete 
Arbeit, sowie eine Risikoprämie erhält 48), so verliert unser Satz alles 
Bedenkliche. Ferner bezieht er sich ja auf einen idealtypischen Zu- 
stand des Gleichgewichts und der freien Konkurrenz: Die nächste 
Annäherung an den erstern, die uns die Wirklichkeit überhaupt bietet, 
sind jene »ruhigen Zeiten«, die meist auf eine Depressionsperiode 
folgen und zum neuen Aufschwung hinüberleiten. Da der Unter- 
nehmer in solchen Zeiten überhaupt keine besondre, über die Er- 
ledigung der Routinearbeit eines in eingelebtem Gang befindlichen 
Betriebs hinausgehende Funktion hat, so ist es sehr verständlich, daß 
er keine die Summe der erwähnten Posten übersteigenden Einnahmen 
erzielt, und das stimmt auch ganz mit der praktischen Erfahrung. 





3) Vgl. darüber meine Abhandlungen: Das Rentenprinzip in der Vertei- 
lungslehre, Schmollers Jahrb. 1907, ferner Thompson: The theory of Wages 1898. 
Es ist vielleicht nicht überflüssig zu erwähnen, daß im Residualgedanken 
nur einer von den vielen Inhalten des Begriffs »Rente« liegt. Eine andre Bedeutung 
desselben ist sarbeitsloser Ertrag«, eine dritte »Ertrag aus naturgegebenen Pro- 
duktionsmitteln«, eine vierte »Differenzialgewinne, eine fünfte »Ueberschuß, 
dem keine Kosten gegenüberstehen«, eine sechste »Ertrag aus produktiven Auf- 
wendungen, deren Angebot nur langsam oder'gar nicht variiert werden kann«. 
Keine dieser Bedeutungen deckt sich mit irgendeiner der übrigen ganz, oben 
zwischen ihnen zahlreiche Beziehungen bestehen. 

“) Obgleich ich darauf noch zurückkomme, sei auch hier betont, warum die 
Tatsache daß eine solche sidealee Konkurrenz nie besteht, keine Einwendung 
bilden würde: Erstens weil es Annäherungen an und Tendenzen nach diesem 
Zustand gibt, die man nur auf Grund einer Theorie der freien Konkurrenz ver- 
stehen kann. Zweitens, weil, auch wo das nicht vorliegt, es zur Diagnose der Dinge 
nötig ist zu wissen, wie sie bei freier Konkurrenz sein müßten. 

48) Daß diese Scheidungen nicht etwa »Spielerei« sind, zeigt z. B. die schon 
erwähnte Tatsache, daß ihre Vernachlässigung einen Autor wie Tugan-Bara- 
nowsky zu einem zweifellosen Mißgriffin der Behandlung der Bauern- und Hand- 
werkereinkommen führte, der seinerseits wieder seine ganze Auffassung des 
Verteilungsprozesses beeinflußte — denn seine Ausbeutungstheorie wäre 
unmöglich, wenn er den Fall des Bauern korrekt analysiert hätte. 





Das Grundprinzip der Verteilungstheorie, 45 


Eine besondre, ihm als Unternehmer zum Unterschied vom bloßen 
Betriebsleiter eigene Funktion, Gelegenheiten zu jenen Verände- 
rangen und Neuschöpfungen im Betrieb und überhaupt zu »Speku- 
lationen«, bieten vor allem die Aufschwungsperioden und überhaupt 
die Zeiten gestörten Gleichgewichts — und sie sind ja auch die wich- 
tigsten Quellen jener Gewinne, die jene Posten so auffällig über- 
steigen #). Die andre Art von Quellen sind ferner Monopole oder über- 
haupt alle die Abweichungen vom (logischen) Idealbild der freien 
Konkurrenz, die uns die Wirklichkeit überall zeigt. Unser Satz leugnet 
ihre Existenz nicht, er hilft uns nur, sie zu besserem Verständnis der 
Wirklichkeit von den dem Konkurrenzmechanismus notwendig in- 
haerenten Phänomenen zu unterscheiden — was billig als ein Dienst 
der Analyse anerkannt werden sollte statt zu Einwendungen Anla 
zu geben. 
Aber unser Satz ist auch nicht etwa in sich absurd — weil er 
etwa dem Unternehmer eine Tendenz zuschreibe, seinen eigenen 
Gewinn zu vernichten, wie oft und gleichfalls auch von Tugan-Bara- 
nowsky behauptet wurde. Daß das Gewinnstreben des Unternehmers 
den Gewinn — bei freier Konkurrenz — vernichte, daß der stimulus 
des Gewinnmaximums selbstmörderisch für eben den Gewinn ist, 
der zu einem Maximum gemacht werden soll, resp. ihn schließlich 
dem Unternehmer entwindet, ist gewiß nicht nur ein fundamentales, 
sondern auch zunächst befremdendes Resultat. Aber es sagt ja nur, 
daß der Unternehmer die Produktionsmittel unter dem Gesichts- 
punkt höchster Rentabilität verwendet, daß er sie unter diesem Ge- 
sichtspunkt mit bestimmten Wertgrößen in Geld anschlägt und daß 
die Konkurrenz ihn eben unter der Triebkraft des Strebens nach 
vollständiger Ausnützung der Gewinnmöglichkeit zwingt, Beträge 
bis zur vollen Höhe jener Wertgrößen in Geld dafür anzulegen, wobei 
natürlich seine eigene Arbeit usw. mit anzuschlagen ist. Weil nun 
jedes Ertragselement von der Mitwirkung irgendwelcher Produktions- 
mittel abhängig ist, so strömt der ganze Ertrag auf diese zurück und 
muß den Besitzern — darunter ist ja auch der Unternehmer selbst — 
ausgezahlt werden, wenn keine Monopolstellung das verhindert. 
Daran ist nichts, was nicht die Beobachtung des wirtschaftlichen 
Alltags rechtfertigen würde. Der tiefere »Sinn« des Vorgangs ist, 
daß ebenso wie der Wert, den wir den Gütern beilegen, nur Reflex 
unserer Armut ist und umsomehr sinkt, je reicher unser Milieu ist, 
so auch jeder die Summe der Produktionsmittelpreise im weitesten 
Sinne übersteigende »Reinertrag« Folge und Symptom eines Defekts 
im Produktionsprozesse ist, der volle Ausnützung vorhandener Mög- 
lichkeiten verhindert — wobei aber diese Folge eines Defekts gleich- 
zeitig einen Anreiz zu seiner Beseitigung bildet: Es lockt da ein Ge- 
winn, er wird realisiert und dementsprechend werden nun die dazu 
nötigen Produktionsmittel höher geschätzt und — bei freier Kon- 
kurrenz — bezahlt werden, sodaß ihr neuer Wert und Preis ihn ab- 


*) Und welche — ein Gegensatz zum »Kapitalgewinn« — keine erhebliche 
Ausgleichstendenz zeigen. | 


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an Lie 


40 Joseph Schumpeter, 


sorbiert, wenn ihn nicht eine Preissenkung der Produkte vorher 
wegschwemmt. 

Das alles ist außerordentlich einfach und nur jene »passive Re- 
sistenz«, der auch die praktisch nötigsten und technisch primitivsten 
Abstraktionen begegnen, kann hier noch Schwierigkeiten erheben. 
Aber trotzdem muß ich noch einen Augenblick dabei verweilen auf 
die Gefahr hin, dem Leser mit Selbstverständlichkeiten lästig zu 
fallen. Immer wieder hört man — und nicht bloß von Anfängern — 
die Frage: Wie kann denn ein Unternehmer so töricht sein solange 
zu produzieren, bis sein Gewinn eliminiert ist, wie kann er die Gewinn- 
möglichkeit verfolgen, bis sie in nichts zerrinnt oder noch vorhandene 
Gewinnmöglichkeiten auch dann ausnützen wollen, wenn das seinen 
Gesamtgewinn verringern würde? Und das hält man mitunter für 
eine reductio ad absurdum des theoretischen Gebildes vom gewinn- 
losen Unternehmen und, weil offenbar nur der Gesamtgewinn für 
den Unternehmer von Interesse sei und er sich deshalb so einrichten 
werde, daß dieser ein Maximum wird, auch für eine reductio ad ab- 
surdum der Grenzmethode. Allein der Unternehmer ist natürlich 
nicht so töricht. Er will jenes Resultat nicht. Das Handeln aller 
Unternehmer führt es ohne und gegen den Willen des Einzelnen herbei. 
Durch ausdrückliche oder stillschweigende Uebereinkunft kann es 
ausgeschlossen werden. Es können die Unternehmer ein Kartell 
abschließen oder auch ohne solches stillschweigend vermeiden, »den 
Preis zu verderben« oder »einander Arbeiter abspenstig zu machen«. 
Aber das gehört in die Monopoltheorie und findet dort erschöpfende 
Behandlung. Davon reden wir jetzt nicht, sondern wir wollen uns 
über das innere Wesen der Konkurrenzwirtschaft klar werden. In 
dieser wird der einzelne Unternehmer auch nie seine Produktion über 
den Punkt ausdehnen wollen, über den hinaus das ein Sinken des 
Gesamtgewinns zur Folge hat. Aber wenn er es nicht tut, so werden 
es andre tun, so daß es nichts ausmacht, wenn auch er mittut. Jeder 
Einzelne ist ja bei freier Konkurrenz ein »Tropfen im Meer«, und es 
erhöht weder seine gesteigerte Nachfrage nach Arbeit den Lohn, 
noch drückt sein gesteigertes Angebot an Produkten deren Preis. 
Jeder Einzelne kann daher ruhig seine Produktion ausdehnen, ohne 
seinen Gesamtgewinn zu verringern, ja er vergrößert ihn dadurch 
sogar, so daßer individuell unwirtschaftlich handeln würde, wenn er 
es nicht tite. Weil aber jeder dieser Einzelne sein will, und alle die- 
selben Schritte unternehmen, so tritt durch deren Massenwirkung 
eben jener Erfolg ein, den keiner von ihnen will, den aber auch kein 
Einzelner verhindern kann, indem er sich zurückhält. Ist dann zwar 
der Lohn gestiegen und der Produktpreis gefallen, aber immer noch 
ein Ucberschuß vorhanden, so haben wir wieder die gleiche Situation: 
Jedem. ist zwar soeben der Gesamtgewinn verringert worden, aber 
jedem winkt nun wieder weiterer Gewinn und indem alle darnach 
greifen, sinkt der schon verringerte Gesamtgewinn noch weiter, bis 
schließlich gar kein Ueberschuß vorhanden ist. 

Eventucll werden auch neue Unternehmungen gegründet werden. 


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Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 47 


die solange ihre Einnahmen die Summe jener Posten decken, durch- 
aus lebensfähig sind — und vorteilhaft für alle Wirtschaftssubjekte, 
die keinen Ueberschußgewinn vor Verringerung zu bewahren haben. 
Wer soll diese neuen Betriebe gründen ? Nun, erstens werden alle 
Besitzer von Produktionsmitteln, die wenn ein solcher Ueberschuß- 
gewinn besteht, weniger erhalten als der produktiven Bedeutung 
ihrer Produktionsmittel entspricht, bereit sein, diese Produktions- 
mittel Leuten, die Unternehmer werden wollen, zu überlassen, da 
deren Auftreten den Preis der betreffenden Produktionsmittel (natür- 
lich schließlich allgemein) erhöht. Gegenwärtig geschieht das 
bekanntlich durch Vermittlung des Bankkredits. Sodann aber gibt 
es stets Kapitalisten, die in solchem Fall Unternehmer werden — 
in geringerem Maße würde es auch Grundherrn geben, die in einer 
solchen Situation zur Eigenbewirtschaftung übergehen würden. Die 
nötigen Produktionsmittel würden so den alten Betrieben entzogen, 
wobei deren Ueberschußgewinn verschwände 5°), außerdem wird 
ja stets Kapital — um von den übrigen Produktionsmitteln, deren 
Menge sich nicht rein wirtschaftlich erklärt und die wir daher momentan 
als konstant d.h. jeweils »gegeben« annehmen, abzusehen — neu 
gebildet und angeboten. Dieser Prozeß kann erst aufhören, wenn 
der Typus des gewinnlosen Unternehmers realisiert wäre und es. 
würde dahin kommen, wenn erstens völlig freie Konkurrenz be- 
stünde und zweitens nicht stets neue Situationen geschaffen würden, 
in denen, ehe sie ausbalanciert sind, auch immer neue Gewinne mög- 
lich werden. 

Es ist sehr wichtig, diese ja ganz einfachen Zusammenhänge 
vollkommen zu beherrschen. Dann wird es u. a. auch klar, daß eine 
solche Ausdehnung der Produktion für sich allein gar nie zu einer 
Krise führen kann, wie das mitunter behauptet wird !). Denn sie 
vollzieht sich zu sinkenden Preisen, bei denen einerseits das größere 
Produkt abgesetzt werden kann und bei denen andrerseits die einzelnen 
Betriebe nicht unrentabel und lebensunfähig werden, auch die alten 
nicht, da diese in ihrem bisherigen Ueberschußgewinn einen »Pufier« 
besitzen, der diesen Stoß von ihrem Lebensmark abhält — und um 
mehr als diesen Ueberschußgewinn kann ja ihr Reinertrag infolge 
dieses Prozesses — zum Unterschied von dem ganz andern Pro- 
zesse der Verdrängung veralteter Betriebe durch jeweils mit moder- 
nern Methoden arbeitende — nie sinken. Dann wird weiter klar, 
dab niemals, wie gleichfalls oft behauptet wird, Kapitalmangel die 


‘) Dieser Prozeß ist natürlich sehr kompliziert. Das Moment einmal ge- 
machter, nicht schnell zu verändernder Investitionen, das Moment des Steigens 
und des Sinkens der Einheitskosten des Produkts bei Ausdehnung der Produk- 
tion in den verschiedenen Betrieben u. a. beeinflussen ihn und erschweren die 
Beurteilung einer konkreten Situation. Es ist wohl derMühe wert, alles das- 
auszuarbeiten und mit den nötigen Daten aus der Praxis zu versetzen. Von 
hier aus beginnen manche Wege, die die Theorie zu Ende zu gehen haben wird, 
und hier kann sie von den Tatsachensammlungen der »Privatwirtschaftslehre«: 
wertvolle Hilfe empfangen. 

") So vom Standpunkt des Marxschen Systems aus. 


48 | Joseph Schumpeter, 


Ausdehnung der Produktion bis zur Produktivitätsgrenze verhindern 
kann 5). Wohl mag den einzelnen Unternehmer Kapital- 
mangel an der Ausdehnung seines Betriebs hindern, obgleich das 
heute immer nur Folge ganz besonderer Umstände sein kann und der 
normale, alerte, gut eingeführte Geschäftsmann in dieser Beziehung 
in der Regel sehr wenig Schwierigkeiten findet. Aber die Industrie 
als Ganze kann im Prinzip immer den Punkt erreichen, an dem im 
Gleichgewicht der Unternehmergewinn im engsten Sinn verschwindet, 
auch dann, wenn die Kapitalmenge konstant bliebe 53), was sie im 
allgemeinen außerdem nicht tut. 

Ganz klar ist die Sache, wenn wir das normalerweise stetige 
Einströmen neugebildeten Kapitals in Betracht ziehen. Zunächst 
ist dieser Prozeß der wichtigste von den Vorgängen, die die Tendenz 
zur Ertragsausgleichung nicht nur für das Kapital, sondern auch 
für die Arbeit jeder Qualität durchsetzt, jene Tendenz, die nie ihr 
Ziel erreicht, durch tausend Umstände paralysiert wird, aber doch 
einen wesentlichen Teil des Lebens der Volkswirtschaft bloßlegt 5$). 
Wie immer man über das Wesen des Kapitals, die Art seines Ent- 
stehens und die Wege jenes Prozesses des Nähern denken mag — 
und man kann darüber sehr verschiedener Ansicht sein — immer 
meint man etwas sehr Reales, wenn man sagt, daß das stetig in den 
Kreislauf einströmende neue Kapital der unter Berücksichtigung 
der Risikodifferenzen jeweils lohnendsten Verwendung zustrebe, 
dadurch deren Rentabilität drücke und dem Niveau der übrigen 
annähere. Dieser Prozeß in der erweiterten Bedeutung, in der er 
auch schon Amortisationssummen umfaßt, ist ferner der Weg, auf 
welchem, wie man es ausdrückt, Kapital aus einer Verwendung »heraus- 
gezogen« werden kann, um in eine andre zu »wanderne«, was sonst 
nur mit großen Verlusten möglich ist. Er ist analog der Bewegung 
der Arbeiter von einer Industrie in die andre, die, wenigstens soweit 


5) Diese Behauptung spielt u.a. eine Rolle in R. Schüllers gleich zu er- 
wähnender Abhandlung. 

ss) Wenn aber zum Verschwinden des Ueberschußgewinns des Unterneh» 
mers eine Ausdehnung der Produktion nötig wäre, für die die Produktionsmittel 
einfach nicht vorhanden sind ? Ich formuliere der Vorsicht halber diese Frage, 
obgleich sie durch die obigen Ausführungen schon beantwortet ist. Die Antwort 
lautet: Dann bleibt es beim Ausdehnungs versuch, der die Preise der Pro» 
duktionsmittel ganz ebenso in die Höhe treibt, wie wirkliche Ausdehnung. Wenn 
aber wohl der nötige Boden und die nötige Arbeit, aber nicht das nötige Kapital 
vorhanden ist? Wenn eine solche Situation wirklich — und nicht etwa 
nur als Folge eines z. B. durch eine Panik begründeten Zurückhaltens deı Ka- 
pitalisten — vorliegt, so kann das nur daher kommen, daß die produktive Or- 
ganisation der Gesellschaft dem vorhandenen Vorrat an Produktionsmitteln 
ausirgendeinem Grunde nicht angepaßt, die Volkswirtschaft also nicht im Gleich- 
gewicht ist und die Preise der Produktionsmittel nicht den Grenzproduktivitäten 
derselben entsprechen. Es wird dann eine Tendenz zum Steigen oder Sinken 
dieserPreise bestehen und bei den neuen Preisen wird jene Situation verschwinden. 

s) Die Einzelheiten des Vorgangs sind natürlich wieder sehr kompliziert 
und für jede Branche und Unternehmung von der intramarginalen Struktur 
‚der Nachfrage nach Kapital abhängig. 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 49 


qualifizierte Arbeit in Betracht kommt, sich zum Teil auch nur durch 
die Berufswahl der jeweils neuen Generationen vollzieht. Beide 
Prozesse vollziehen sich langsam und oft nur unmerklich, auch einem 
sehr großen Reibungswiderstand gegenüber. Daher die sehr großen 
Abweichungen, die es da vom »ökonomischen Gesetz« in der Wirk- 
-lichkeit gibt und die Notwendigkeit einer besondern Theorie für die 
»Zwischenzeit«, im deren Mittelpunkt der Begriff der »Quasirente« 
steht 5). | 

Dieser Prozeß ist es weiters, was die Konkurrenz um die Unter- 
'nehmerrolle, die in »ruhigen Zeiten« den Unternehmergewinn im 
engsten Sinn abscheuert, in der Praxis vor allem erleichtert und 
Lohn und Grundrente vornehmlich auf die entsprechende Höhe 
‚heben hilft. Seine Wirkung in dieser Beziehung ist nicht ganz leicht 
zu überblicken. Zunächst hat er ein Sinken des Zinsfußes zur Folge. 
‚Auch das ist bestritten worden und zwar von nicht geringerer Autorität 
als den Ricardianern. Wests (Application of capital to land ed. 
Hollander p. 21) Argument dagegen illustriert besser als alle allge- 
meinen Gründe die fundamentale Bedeutung der Unterscheidung 
‚zwischen Unternehmern und Kapitalisten. Nur weil er beide zu- 
sammenwarf, bot sich ihm für den Satz Smiths (Wealth, I. Buch, 
Kap. VIII), daß die Zunahme des Kapitals die Löhne zu erhöhen, 
aber infolge der Konkurrenz der Kapitalisten den Zinsfuß zu ver- 
mindern tendiere, nur die Interpretation dar, daß da mehr produziert 
werde und daher der Produktpreis sinke — denn nur so könne 
-der Profit (abgesehen von der Wirkung des gestiegenen Lohns) sinken. 
Darauf antwortete West nun freilich mit Recht, daß dieser Grund zum 
Sinken der Preise allgemein für alle Waren (sc. allerdings: gleicher 
sorganischer Zusammensetzung«) vorliege und mithin höchstens 
auf den Ausdruck der Tauschverhältnisse in Geld, nicht aber auf den 
wealen« Inhalt derselben, also auch nicht auf den »Realzins«, wirken 
könne. Macht man aber jene Unterscheidung, so erkennt man, daß 
-der Zins auch sinken kann ohne daß der Anteil des Unterneh- 
mers sinkt, und daß sein Sinken auch andre Gründe haben kann, 
als bloß ein Sinken des »Tauschwerts« der Produkte. Und dann ist 
-es nicht schwer einzusehen, daß eine Vermehrung des Kapitals ceteris 
‘paribus die Wirkung haben muß, die ihr der Praktiker ja auch immer 
zugeschrieben hat. 

Soweit ein Sinken des Zinses eintritt, ist das schlechthin ein 
Vorteil für den Unternehmer, der seinen Ueberschußgewinn nur 
‚erhöhen könnte. Erfolgt es in einigermaßen starkem Maße, so würden 


3) Bekanntlich verdanken wir dieses überaus brauchbare Instrument Mar- 
shall, Ich benütze den Anlaß, um auch hier schon zu betonen, wie fundamental 
8 ist, sich bei der Diskussion wirtschaftlicher Fragen immer darüber klar zu 
sein, daß die Erscheinungen und Probleme, mit denen wir es zu tun bekommen, 
:zum Teil ganz verschieden aussehen, je nachdem man kurze Perioden und un- 
mittelbare Wirkungen oder lange Perioden und jene Wirkungen betrachtet, 
‚welche erst dann eintreten, wenn sich die Volkswirtschaft einer neuen Situation 
ganz angepaßt hat. Das Vermischen beider Gesichtspunkte ist eine der frucht- 
‘barsten Quellen von Mißverständnissen. 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. ı 4 


so Joseph Schumpeter, 


sich alle Rentabilitätsberechnungen und alle Produktionskombi- 
nationen verändern, allerdings in den einzelnen Branchen in sehr ver- 
schiedener Weise — es handelt sich hier um sehr komplizierte Zu- 
sammenhänge, auf die wir nicht eingehen wollen. Der hier betrachtete 
Prozeß erfolgt aber allmählich und beeinflußt von einem auf das 
andre Jahr den Zinsfuß auch dann nicht merklich, wenn der Kapital- 
zuwachs nicht unbedeutend ist, denn die Nachfrage nach Kapital ist 
sehr elastisch. Während also der dem Unternehmer aus dem Sinken 
des Zinsfußes erwachsende Vorteil von einem Jahr auf das andre 
so gering ist, daß er ruhig vernachlässigt werden kann, wächst die auf 
dem Kapitalzufluß beruhende Konkurrenzmöglichkeit um die Unter- 
nehmerrolle erheblich, umsomehr als es sich eben um das Hinzu- 
treten von Kapital in der Gegend der Produktivitätsgrenze handelt, 
wo schon verhältnismäßig kleine Mengen entscheidend sein können. 

Damit wäre dieser Teil unsres Arguments erledigt und sowohl 
der Sinn wie die Berechtigung des entrepreneur faisant ni bénéfice 
ni perte dargetan — mag auch in der Wirklichkeit sehr häufig ein 
monopolistisches oder quasimonopolistisches Verhältnis ihm einen Ge- 
winn zuführen, der aber dann theoretisch vollkommen aufgeklärt 
ist — und daher auch unser Satz, daß der Lohn gewissen Konsu- 
mentengrenznutzen sein Dasein und Gesetz verdanke. Aber es ergibt 
sich von hier aus ein interessantes ‚side-light’ auf den rätselhaftesten 
aller Einkommenszweige, nämlich auf den Zins, auf das im Vorbei- 
gehen hingewiesen sei. Warum verschwindet nicht auch er, ganz so 
wie der Unternehmergewinn im engsten Sinn des Worts? Mir ist 
die Behandlung dieser Frage durch den Umstand erschwert, daß ich 
persönlich in der Tat der Ansicht bin, daß er in einem stationären 
Gleichgewichtszustand der Volkswirtschaft verschwinden müßte 
und nur stets sich erneuernder »Entwicklung« sein Dasein verdankt. 
Wer jedoch nicht dieser Ansicht ist und ihn für ein dem wirtschaft- 
iichen Kreislauf notwendig — wenngleich vielleicht nur in der kapi- 
talistischen Organisationsform — inhärentes Phänomen hält, der muß 
in ihm die Bezahlung für irgendetwas sehen, das ein Kostenelement 
ist oder doch als solches konstruiert werden kann, etwas, was zur 
Produktion nötig, ein »produktiver Dienst« irgendwelcher (natürlich 
nicht notwendig persönlicher) Art ist. Keinesfalls ist der Zins der 
»Profit« des Laien, der etwa ein Deszendent der »bürgerlichen Nah- 
rung« des Mittelalters ist, keinesfalls ein erst im »Verteilungspro- 
zesse« entstehender Zwischengewinn, etwa ein »Preisaufschlag« oder 
eine Uebervorteilung der Lieferanten irgendwelcher Produktionsmittel, 
keinesfalls irgendeine Beute wirtschaftlicher »Machte Denn alle 
solchen Dinge sind entweder ab initio unmöglich oder sie können 
sich den geschilderten Vorgängen gegenüber nicht halten. Wäre 
der Zins etwas derartiges, so müßte er verschwinden, resp. eine viel 
stärkere Tendenz zum Verschwinden zeigen, als man allenfalls im 
»historischen« Sinken des Zinsfußes finden könnte. Das trifft selbst 
die Ausbeutungstheorie von Marx 5%) und noch mehr die von Tugan- 


se) Man kann nicht etwa einwenden, daß der Preis der »Ware Arbeits ja 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 5E 


Baranowsky. Ein Monopolgewinn könnte er wohl sein, wenn auch 
nur ein Monopolgewinn der Kapitalisten und nicht der Unternehmer, 
aber wer das behauptet, hätte den Beweis dafümanzutreten, daß ein 
Kapitalistenkartell besteht und immer bestanden hat 57). 


IV. 


Frägt man also nach dem ökonomischen Wesen des Lohns und 
den allgemeinsten Wahrheiten über seine Bestimmungsgründe in der 
Konkurtenzwirtschaft, so kann die Grenznutzentheorie sehr wohl 
antworten: Lohn wird gezahlt, wel und in dem Maße als 
der Unternehmer und in letzter Linie der Konsument den einzelnen 
Arbeiter »braucht«. Dieser Ausdruck ist nunmehr durchaus eindeutig 
und haltbar, wenn man ihn nur in dem Sinn nehmen will, in dem er 
gemeint ist. Er sagt nicht nur, was ja ohne weiters klar ist, daß der 
Grund der Lohnzahlung in der produktiven Bedeutung der Arbeit 
liegt, sondern auch, daß die Höhe der Lohnzahlung bei freier Kon- 
kurrenz der jeweiligen produktiven Bedeutung der Arbeit entspricht, 
und dasselbe gilt auch für die dem Arbeitslohn koordinierten Ein- 
kommenszweige. Er sagt, daß bei freier Konkurrenz der Lohn be- 
stimmt wird von dem von jeweils einer Einheit von Arbeit ab- 
hängigen Geldertrage der Betriebe, welcher nicht nur die Wertschätzung 
des Unternehmers mißt und daher die Obergrenze des Lohns bildet, 
sondern auch wirklich durch das Spiel der Kräfte auf dem Markte 
dem Arbeiter zuzufallen tendiert. Diesem Geldertrag — Grenz- 
ertrag— entspricht ein Grenzprodukt. Dieses Grenzprodukt 
kann sowohl in Produkten wie in Werten von Produkten ausgedrückt 
werden und diese Werte sind nichts andres als reale, durch Vermitt- 
lung des Unternehmers aus den Werten der Genußgüter herausge- 
löste und in Geld ausgedrückte Konsumentengrenznutzen für die 
Arbeit, deren Intensität mit Grenzproduktivität bezeichnet wird. 

Das Grenzprodukt, der produktive Beitrag, die Grenzproduk- 
tivität oder endlich die »Grenzeffizienz« der Arbeit entscheidet bei 
freier Konkurrenz über den Lohn, und im Verhältnis dieser Größe 
zu den analogen Größen der übrigen Produktionsfaktoren nimmt 
die Arbeiterschaft in einem Gleichgewichtszustand am Sozialprodukt 
tel, Diese Ausdrücke wollen alle nicht in einer beliebigen von den 
vielen Bedeutungen genommen werden, die sie haben können, sondern 
nur in einer bestimmten. In andern Bedeutungen ist es gewiß richtig, 


nicht, was er nach unserer Auffassung tun müßte, über das durch den Arbeits- 
wert der Arbeitskraft gegebene Maß steigen könne. Denn das Marxsche Wert- 
gesetz versagt jedenfalls bei der »Ware Arbeite: Es setzt voraus, daß die Waren, 
auf die es angewendet wird, rationell produziert werden. Menschen werden aber 
nicht nach wirtschaftlich-rationellen Gesichtspunkten produziert. 

sn Wohl ist mitunter behauptet worden, so von O. Conrad, Lohn und Rente 
1910, daß eine Monopolstellung des Kapitalisten darin liege, daß das Kapital 
in beschränkter Menge vorhanden sei. Aber diese Auffassung, die den Unter- 
schied zwischen swirtschaftlichem Gute und smonopolisiertem Gute verwischt, 
wäre auch auf den Produktionsfaktor Arbeit anwendbar. 


N} 


4 


g2 Joseph Schumpeter, 


daß es ein unterscheidbares Produkt eines Produktionsfaktors 
nicht gibt oder daß das ganze Sozialprodukt Produkt der Arbeit 
ist usw. Unter anderm wird es mitunter als befremdend empfunden, 
daß nach dieser Theorie das Grenzprodukt, also die produktive Lei- 
stung des Arbeiters, variiert, wenn die andern Produktionsfaktoren 
variieren. Wie steht es um die unterscheidbare Leistung der Arbeit 
als Grundlage des Lohns, wenn zugegeben werden muß, daß sich der 
Lohn ändern kann, obgleich die Arbeiter nach wie vor dasselbe leisten ? 
Das muß freilich zugegeben werden, aber das ist trotzdem keine 
Einwendung. Hier wird das Wort »Leistung« in zwei verschiedenen 
Bedeutungen gebraucht. Bei der einen liegt die dem Sprachgebrauch 
und dem sozialen Denken des Alltags nächstliegende Bedeutung 
vor: Leistung als ein Verhalten des leistenden Subjekts, denn nur 
dieses kann »nach wie vor« dasselbe sein. Und diese Bedeutung, an 
die sich auch die sozialen Gefühle knüpfen, die uns das Reden von 
einem unterscheidbaren »Beitrag« des Arbeiters erschweren, schiebt 
sich der andern, technischen, unter. In dieser letztren heißt Leistung 
nichts andres als relative produktive Nützlichkeit, liegt der Ton auf 
dem abhängigen produktiven Erfolg. Daß dieser und Leistung 
in diesem Sinn variieren muß, wenn die kooperierenden Gütermengen 
variieren, ist selbstverständlich, denn ganz allgemein ändert sich 
der Wert der Güter und das, was wir mit ihnen anfangen können, je 
nach dem Vorrat anderer Güter, den wir besitzen und nie ist Gesamt- 
und Grenznutzen eines Guts Funktion der Menge nur dieses Guts 
sondern stets Funktion der Menge aller Güter, die wir besitzen. 
Die Grenzproduktivität der Arbeit ist eines der wichtigsten 
Elemente des Völkerschicksals und einer der wichtigsten Indices der 
sozialen Vorgänge. Wenn man sich nur darüber klar bleibt, daß sie 
nicht etwa von einem sozialen Zentralorgan »empfunden« wird, son- 
dern überhaupt nicht anders existiert als implicite in der Wertschätzung 
der Konsumenten für die Genußgüter und explicite, aber in fremdem 
Kleid, in der in Geld gemessenen Intensität der Wertschätzung des 
Unternehmers für die Arbeitseinheiten, so ist es kein großes Unglück, 
wenn man sie als »sozialen Grenznutzen der Arbeit« bezeichnet 8). 
Nur darf man damit weder apologetische Tendenzen verbinden, etwa 
im Zusammenhang mit dem Gedanken, der Arbeiter erhalte was 
er für die Gesellschaft wert sei 5%), noch ohne weiters den Lohn als 
Maß eines sozialen indirekten Gebrauchswerts der Arbeit bezeichnen, 
oder man darf dabei wenigstens nicht vergessen, daß diese Größe 
durchaus von den vorauszusetzenden Eigentumsverhältnissen an 


68) Ich selbst habe mich dagegen ausgesprochen in: The Concept of Social 
Value, Quarteriy Journal of Econ. 1909, aber es kann trotzdem zugegeben 
werden, daß dieser Konsumentengrenznutzen unter allen Kandidaten das meiste 
Recht auf den Titel ssoziale und auf eine Verbindung mit dem Begriff »volks- 
wirtschaftliche Produktivitäte hat, wenn diesem ein präziser Sinn zukommen 
soll. Wirklich sind die Konsumenten das Forum, von dem in der Verkehrswirt- 
schaft noch am ehesten gesagt werden kann, daß es Organ der Sozialinter- 
essen sei. Ä 

ss) Wie das besonders durch Clark und Carver geschah. 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 53 


den Produktionsmitteln, besonders an Grund und Boden, abhängt 
und keineswegs in jeder sozialen Organisation dieselbe wäre. 

Alle solchen Ausdrucksweisen führen leicht zu Mißverständnissen 
seitens des Lesers und gelegentlich auch zu Verirrungen des Autors. 
Besonders dann, wenn der letztre versucht, die Preistheorie zu über- 
springen und vor uns das Bild einer ihre Produktionsmittel ver- 
wendenden und das Resultat verteilenden Gesellschaft zu entrollen. 
Aber immerhin ist eine solche Darstellungsweise geeignet uns den 
sozialen Sinn des Lebensprozesses auch der Konkurrenzwirtschaft 
und manche wesentliche Analogien, den dieser mit dem Lebensprozeß 
einer kollektivistischen hat, vor Augen zu führen. Auch für die Kon- 
kurrenzwirtschaft kommt es letzten Endes darauf hinaus, daß sich 
der Strom der nationalen Arbeitskräfte gleichsam (logisch, nicht 
genetisch) zuerst auf die Produktion jener Güter stürzt, die jene Be- 
dürfnisregungen befriedigen, deren Geldausdrück der höchste ist — 
und die insofern die »dringendsten« sind —, um dann auf der Linie 
der jeweils noch höchsten zu, in Geld ausgedrückt, immer geringern 
Bedürfnisintensitäten vorzudringen, solange bis er erschöpft ist, 
und daß seine letzten Wogen das Gebiet befruchten, dessen Ernte 
über die jeweilige Bedeutung aller seiner Wogen entscheidet, 
Soweit ist ein reales, wenngleich nur im Resultate des Ineinander- 
greifens der wirtschaftlichen Elemente und in den Tatsachen, 
nicht aber in irgendeinem Bewußtsein realisiertes, soziales 
Gesetz, dessen entscheidendes Charakteristikon das Phänomen der 
Grenzproduktivität ist, auch in der Konkurrenzwirtschaft erkennbar. 
Wenn ein kollektivistisches Gemeinwesen darauf verfiele, gerade 
diese Einschätzung der Dringlichkeit der Bedürfnisregungen 
zur Grundlage seines Wirtschaftsplans zu machen, so wäre das — hier 
nur eben bewußt angestrebte — Resultat ganz dasselbe. Der Unter- 
schied liegt darin, daß kein kollektivistisches Gemeinwesen das tun 
würde und daß in der Konkurrenzwirtschaft dieser Prozeß gleich 
auch automatisch und ipso facto die Einkommensbildung bewirkt, 
während in der kollektivistischen Wirtschaft die Verteilung ein be- 
sonderer Akt wäre. Begrifflich ist es aber verfehlt, einen Unterschied 
zwischen beiden darin finden zu wollen, daß den Arbeitern z. B. auch 
die Grundrente zufiele. Denn das wäre auch in der Konkurrenzwit- 
schaft möglich, indem etwa die Arbeiter pro rata parte zu Grundherrn 
gemacht würden und etwas Andres geschähe auch in der kollek- 
tivistischen Wirtschaft erst dann, wenn der Genußgüteranteil des 
Einzelnen von jeder Beziehung zur produktiven Bedeutung (in tech- 
nischem Sinn) seines Produktionsmittels losgelöst würde. Das aber 
läge noch nicht in einer solchen Maßregel, sondern die neuen Grund- 
herrn würden ihre Rente auf Grund desselben Gesetzes der Grenz- 
produktivität — des Bodens — erhalten wie die frühern, als Ar- 
beiter aber nach wie vor nur ihren Lohn. »Praktisch« mag das gleich- 
giltig sein, für die wissenschaftliche Erklärung der Vorgänge aber ist 
es wesentlich. 

Das Verständnis des tiefern Sinns der Grenzproduktivitäts- 


54 Joseph Schumpeter, 


theorie, den man also mit den nötigen Einschränkungen ganz gut so 
herausarbeiten kann, daß man ohne Rücksicht auf das Tun des ein- 
zelnen Unternehmers den gesamten sozialen Arbeits-, Kapital- und 
Bodenvorrat zusammen- und aufeinanderwirken läßt und die »Grenz- 
produkte« dieser Faktoren als Indices ihrer produktiven Bedeutung 
und des Anteils ihrer Besitzer am Sozialprodukt betrachtet, läßt 
sich durch die Ueberlegung vervollständigen, daß, da der Unter- 
nehmer nur Zwischenhändler ist und Konsumenten und an der Pro- 
duktion Beteiligte zusammenfallen, im Grunde genommen der ganze 
Prozeß nichts andres ist als Austausch von »produktiven Leistungen« 
oder »potentiellen Produkten« untereinander, so daß man schließlich 
auf die fundamentale Tatsache der Arbeitsteilung zurückkommt, 
von der schon A. Smiths Gedankengang ausgeht, und Produktion, 
Tausch und Verteilung unter dem Gesichtspunkt der Bedürfnisbe- 
friedigung zuletzt in eine innere Einheit verschmilzt, wie das keiner 
andern Theorie jemals gelungen ist. 

Die volle Bedeutung des Prinzips der Grenzproduktivität zeigt 
sich eigentlich gar nicht im einzelnen Betrieb, wenigstens dann nicht, 
wenn wir, wie zum Bestehen völlig freier Konkurrenz nötig ist, an- 
nehmen, daß der einzelne Betrieb ein Tropfen im Meer ist, d. h., daß 
sein Angebot an Produkten und die von ihm ausgehende Nachfrage 
nach Produktionsmitteln klein sei im Verhältnis zum Gesamtangebot 
und zur Gesamtnachfrage auf den betreffenden Märkten. Sein An- 
gebot an Produkten übt keinen merklichen Einfluß auf deren Preis 
aus, und ebenso erhöht seine Nachfrage nach Produktionsmitteln 
deren Preis, also seine Nachfrage nach Arbeitskraft den Lohn, nicht 
merklich. Deshalb fehlt die Rücksicht auf solche Wirkungen in seinen 
Kalkulationen. Wo immer das.nicht der Fall ist, liegt en sicheres 
Zeichen vor, daß wir nicht den Fall der »freien« Konkurrenz vor uns 
haben. Da im allgemeinen auch der Grenznutzen seines Gewinns 
für den Unternehmer in den für die hier behandelten Fragen in Be- 
tracht kommenden Intervallen ziemlich konstant ist, so ist die Wir- 
kung aller der Faktoren gelähmt, die ein Ueberblick über die ganze 
Branche am Werk zeigt. Der Eintritt der Produktivitätsgrenze wird 
für den einzelnen Unternehmer teils durch die Massenwirkung der 
Nachfragen und Angebote aller Betriebe herbeigeführt, die auch er 
zu fühlen bekommt, teils stehen ganz andre Momente dabei im Vorder- 
grund, vor allem die Abnahme der physischen Produktivität 
des Betriebs, die nach einem bestimmten Punkt eintritt, wenn man 
im Rahmen einer gegebenen Anlage weitere Produktmengen hervor- 
zubringen versucht. Diese Tatsache steht weder mit dem »Gesetz 
vom zunehmenden Ertrag«, noch mit den »Vorteilen des Großbetriebs« 
in Widerspruch, sondern sie ist wie diese zwar allgemein, d.h. in 
allen Industriezweigen zu beobachten, aber sie ist ebenso wie diese 
an bestimmte Voraussetzungen geknüpft: Es mögen die Produktions- 
kosten bei Einführung neuer Produktionsmethoden, die aber nur 
bei entsprechend größerer Absatzmöglichkeit rentabel sind, noch so 
sehr sinken, innerhalb der neuen Produktionsmethode tritt 


— 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 55 


hinter einem gewissen Punkt wieder das Gesetz vom abnehmenden 
Ertrag in seine Rechte. Es mögen an die großindustrielle Organi- 
sation noch soviele Ersparungen geknüpft sein, über einen bestimmten 
Punkt hinaus, dessen Lage natürlich von Fall zu Fall sehr variiert, ver- 
kehren sie sich in das Gegenteil. Es mag für jeden Betrieb — auch in 
der Landwirtschaft gilt das — ein Intervall geben, in dem jede Mehr- 


- aufwendung mehr als proportionellen Ertrag gibt: Aber diese Inter- 


valle kommen hier nicht in Betracht, denn wenn ein Unternehmer 
zu sinkenden Kosten mehr produzieren kann und es dennoch nicht 
tut, so kann der Grund nur in der Befürchtung liegen sich den Markt 
zu verderben — fast niemals, wie wir schon sahen, in Kapitalmangel, 
— eineBefürchtung, die nur für den Monopolisten oder doch jemand 
Sinn hat, der eine quasimonopolistische Stellung entweder selbst 
hat oder doch durch Einverständnis mit seinen Genossen für alle 
zusammen erzielen hilft. 

Für die einzelnen Unternehmer steht daher die Sache so: Ein 
jeder von ihnen kombiniert optimale Mengen von Arbeitsleistungen, 
Bodennutzungen und Kapital unter dem Gesichtspunkt größtmög- 
lichen Gewinns. Man sieht leicht, daB sein Ziel erreicht sein wird, 
wenn er soviel von jedem Produktionsfaktor verwendet, daß der Ge- 
winn, der aus der Verwendung einer weitern kleinen Menge eines 
von ihnen zu erzielen wäre, durch den dafür zu zahlenden, hier wo 
wir bloß vom Standpunkt des einzelnen Unternehmers sprechen, 
ohneweiters als gegeben anzunehmenden Preis mindestens aufge- 
wogen würde, so daß wiederum im Gleichgewichtszustand der Grenz- 
ertrag jedes Produktionsfaktors für den Unternehmer dem Preise 
gleich ist, den er dafür zu zahlen hat und wir innerhalb des engern 
Rahmens des Unternehmerstandpunkts zum gleichen Resultate 
wie früher und zu dem Punkt gelangt sind, an dem Unternehmer- 
kalkulation und sozialer Prozeß ineinandergreifen. 


V. 


Das Gesagte ist nur der Grundriß einer Lohntheorie, auf dem sich 
ein hohes Gebäude von zum Teile außerordentlich komplizierter Struk- 
tur erhebt, und als Grundriß und allgemeinste Abstraktion will es 
gewertet sein, eine Forderung, deren Erfüllung es ausschließen würde, 
daß immer wieder Spezialfälle sich zu Einwendungen gestalten. Als 
Grundriß ist das Gesagte aber überaus einfach und wenn es trotzdem 
so vielen Mißverständnissen begegnet, so liegt das außer an gewissen 
allgemeinen Gründen auch noch an dem besondern, daß es vielen 
Fachgenossen schwer fällt, den Sinn der Grenzmethode — schon als 
solcher und auch abgesehen von der Form der Grenznutzen- 
theorie — zu erfassen und sich der Grenzanalyse mit Freiheit zu be- 
dienen. Diesen Schwierigkeiten seien nun einige Worte gewidmet. 

Der Zweck des Grenzbegriffs ist — auf allen Gebieten — das Er- 


fassen eins Vorgangs durch konstante Größen: Mit seiner 


Hilfe beobachten wir ein System in steter Veränderung begriffener 


56. Joseph Schumpeter, 


Elemente, indem wir feststellen, welchen konstanten Größen sie sich. 
in jedem Moment annähern, und indem wir sie in diesem Moment: 
gleichsam erstarren lassen und durch diese konstanten Größen er- 
setzen. Das ist natürlich eine Fiktion, ein »Kunstgriff«, der niemals 
im Bezirke der Vorstellungsweise der meisten Sozialökonomen hätte 
entstehen können — hier vielmehr als »wirklichkeitsfremd« sofort‘ 
abgelehnt worden wäre —, der aber bekanntlich die ganze mathe- - 
matische Physik erst möglich machte und nicht etwa bloß deren 
Gegenständen angepaßt, sondern allgemein logischer Natur ist. Er 
involviert stets einen »Fehler«, und dieser »Fehler« ist nur dann von 
keiner Bedeutung, wenn die Größen, um die es sich handelt, überaus 
klein sind. Für solche überaus kleine Größen gelten mit ausreichen- 
der Annäherung Sätze, die für erhebliche Größen falsch oder ganz 
sinnlos sind. Wenn immer man sich also dieses — durchaus unent- 
behrlichen — Hilfsmittels bedient, so muß man sich vor Augen halten, 
daß man es dabei stets nur mit den erstern zu tun hat. Die Verstöße 
gegen diesen Grundsatz auf unserm Gebiet sind zahllos. | 
Ich will mich nun nicht mit dem gröbsten dieser Verstöße be- 
fassen, der im Umkreis unseres Spezialproblems in Betracht kommt, 
nämlich mit dem Argument, daß das ganze Sozialprodukt von der 
Arbeit abhängig und mithin die Grenzproduktivitätsidee notwendig 
ein Nonsens sei. Aber Argumente, die keine bessere Grundlage haben, 
sind auch heute noch häufig. Um ein Beispiel anzuführen: Hobson 
(Economics of Distribution p. 146) meint die Grenzproduktivitäts- 
theorie zu widerlegen, wenn er sagt: »Um die Produktivität der letzten 
Dose von Arbeit zu messen, wollen wir uns sie fortdenken. Der Aus- 
fall am Gesamtprodukt sei 8%. Diese 8% .. . sind also der fort- 
gefallenen Arbeitsmenge zuzuschreiben. Setzen wir sie wieder hinzu 
und lassen wir die letzte Dose Kapital wegfallen, so sei der Ausfall 
am Gesamtprodukt ıo %, die als das Produkt dieser Kapitaldose 
zu betrachten wären. Aehnlich bewirke das Fortfallen der letzten 
Dosis von Land eine Verminderung des Produkts um Io %. Was 
wäre die Folge eines gleichzeitigen Fortfallens der Grenzdosen aller 
drei Faktoren? .. . Offenbar 28 %,.« Auf der folgenden Seite faßt 
er gar alles Land, alles Kapital, alle Arbeit in je eine Dose zusammen: 
und findet dann, daß das Fortfallen jeder dieser Dosen das ganze 
Produkt vernichte— und das ganze Produkt sei gewiß kein richtiges 
Maß für die Produktivität eines Produktionsfaktors allein. Solche 
Argumente beweisen nur, daß die Theorie das Stadium verlassen 
hat, in dem sie ohne alle Vorbildung verständlich war. Hier hilft 
kein Diskutieren, sondern nur ein Hinweis auf ein Lehrbuch der wissen- 
schaftlichen Methoden. Wir mögen die Theorie als solche nicht lieben. 
Aber wir können ihrer nicht völlig entraten, und dann müssen wir 
uns schon die Mühe nehmen, sie selbst und ihre Voraussetzungen 
zu lernen. 
Schmerzlich ist nur, daß auch mancher vortreffliche Autor, 
der uns viel zu geben hätte, in diesen Dingen zum eigenen Schaden 
und dem der Wissenschaft fehlgreift. Ein Beispiel dafür ist R. Schüller, 


Das Grundprinzip: der: Verteilungstheorie. 57 


dessen Artikel in diesem Archiv 6°) den sehr hoffnungsvollen Weg 
betreten, die Struktur der Nachfage nach und des Angebots an Ar- 
beitskräften in größerem Detail zu untersuchen. Das ist Arbeit an' 
dem Gebäude, das sich nach und nach auf der geschilderten theo- 
retischen Grundlage erheben muß. Ihr Wert wird auch dadurch nur 
zum Teil verringert, daß der: Autor statt die speziellen Daten jener 
Grundlage .einzugliedern, sie in einen Gegensatz zu ihr stellt ®). 
Aber die kritische Seite der Abhändlungen wird völlig entwertet 
durch das mangelnde Entgegenkommen des Autors für das Wesen 
der Grenzanalyse. Gleich seine erste These leugnet den Satz, daß der 
Wert der Arbeitskräfte für den Unternehmer desto geringer wird, 
je mehr Arbeiter: er beschäftigt, ein Satz, in den, nebenbei gesagt, 
im Namen aller Gerechtigkeit doch die Worte »von einem bestimmten 
Punkte an« auch dann eingesetzt werden müssen, wenn sie ein Autor 
gelegentlich wegläßt. Im Gegenteil also, meint Schüller, habe das 
Fortfallen von Arbeitern in der Regel einen sogar überproportionellen 
Ausfall an Gewinn zur Folge; so daß solche »Grenzarbeiters für den 
Unternehmer einen höhern Wert haben müßten als die übrigen (p. 44). 
Man sieht da. sofort, wo der Fehler — denn ein Fehler und nichts 
andres ist es — liegt: Schüller betrachtet eben das Fortfallen einer 
solchen Anzahl von Arbeitern, daß dadurch der rationelle Betrieb 
gestört und der Druck der Generalkosten auf die Produkteinheit 
erheblich erhöht wird. Bei seinen Beispielen arbeitet er denn auch 
mit Variationen von 20 (p. 48), 100 (p. 50), 50 % (p.55) usw., was 
natürlich der reine Hohn auf das Wesen der Grenzanalyse ist. 
So ist ja der bekämpfte Satz gar nicht gemeint. Wenn die Varia- 
tionen der Mengen und Preise groß sind, namentlich wenn sie ganz 
andre Betriebsmethoden zu den vorteilhaftesten machen als die vor- 
her optimalen, und eine völlige Revolution in der Rentabilitätsbe- 
rechnung eintritt, so kann natürlich nie der Grenznutzen oder die 
Grenzproduktivität entscheidend sein, die den alten Verhältnissen 
entsprach, den Verhältnissen, mit Rücksicht auf welche die Betriebe 
überhaupt so und nicht anders entstanden waren. Auch ist das nicht 
etwa ein Mangel der Theorie, sondern sie hat Mittel, auch solche Vor- 
gänge erschöpfend zu beschreiben. Wenn eine bestimmte Produktions- 
methode ein absolutes Minimum von Arbeitern voraussetzt, so daß 
die dazu fehlenden Arbeiter jeweils die Rolle des bekannten vierten 
Pierdes für den Viererzug oder des ebenso bekannten zweiten Hand- 
Schuhs haben, so ist es freilich klar, daß ihre Bedeutung für den Unter- 
nehmer gegebenenfalls sogar größer ist als die Bedeutung der ohne 


*) Die Nachfrage nach Arbeitskräften Bd. XXXIII S. 37 und 715ff. 

0) Auch die Vernachlässigung der Tatsache macht sich störend bemerkbar, 
daß für kurze Perioden wahr sein kann, was für lange falsch ist und umgekehrt, 
ferner, daß der Autor nicht unterscheidet, ob Gleichgewicht oder kein Gleichge- 
wicht besteht. Endlich darf noch darauf hingewiesen werden, daß manche Dinge 
von der Theorie längst aufgeklärt sind (so die Fälle von joint cost p. 55), die 
Schüller in einer Weise vorträgt, die es vermuten läßt, daß er sie für der Anwen- 
dung der Theorie entgegenstehende Schwierigkeiten hält. 


58 Joseph Schumpeter, 


sie nur zu weniger lukrativer Verwendung geeigneten übrigen — 
aber wer möchte darin ein auffälliges, der Grenznutzentheorie wider- 
sprechendes Phänomen sehen? Diese Analogie mit Genußgütern, 
von denen ein Minimum zu einem bestimmten Nutzeffekt schlechthin 
nötig ist, erkennt Schüller übrigens an, betrachtet aber den Fall 
bei diesen im Anschluß an eine achtlose Bemerkung Wiesers als eine 
Ausnahme, hingegen als Regel bei den Produktionsmitteln (p. 51). 
Selbst wenn das so wäre, würde daraus gar keine Einwendung folgen. . 
Aber es ist nicht so, vielmehr gehen beide Arten von Werterschei- 
nungen bei Genuß- wie Produktionsmitteln alltäglich nebeneinander. 

Es ist lehrreich, hier noch einige Punkte der Schüllerschen Kritik 
zu betrachten — und sei es auch nur, um uns zur melancholischen 
Frage zu führen, was wir, wenn das am grünen Holze Schüllers 
geschieht, von allen unsren Dilettanten erwarten sollen —, auch wenn 
sie nicht in unmittelbarem Zusammenhange mit dem Gedanken der 
Grenzanalyse stehen. Knüpfen wir an die letzte Aeußerung unseres 
Autors an. Das Gesetz abnehmender Wertung weiterer Güterzu- 
wächse könne also bei Produktionsmitteln nicht gelten, weil der 
Unternehmer für seinen Betrieb eben bestimmte Mengen davon, 
nicht mehr und nicht weniger brauche. Allein — erstens, muß wirk- 
lich erst an Beispielen dargetan werden, daß, um bei der Arbeit zu 
bleiben, jeder Betrieb, wie unelastisch er auch sei, bei verschiedenen 
Löhnen verschieden viele Arbeiter beschäftigen wird? Kann man 
nicht Arbeit zur Schonung — z.B. sorgfältigen Aufbewahrung — 
von Rohmaterial, zur Pflege der Maschinen, zur Reinigung und Aus- 
besserung des Gebäudes, zur »Aufmachung« oder überhaupt feinern 
Vollendung der Produkte, zur Kontrolle, zu Diener- und Boten- 
funktionen usw. verwenden, deren Kosten sofort zur unwirtschaft- 
lichen Aufwendung werden, wenn der Lohn etwas steigt ? Zugegeben, 
daß das nur kleine Unterschiede mache — aber gerade auf solche 
kommt es ja an. Natürlich kommt die Massenwirkung solcher Varia- 
tionen hinzu, und ebenso natürlich bezieht sich das auf den für das 
Argument Schüllers denkbar günstigsten Fall — in der Regel sind 
die Betriebe natürlich nicht so »starr«. Aber ganz abgesehen davon, 
ist es nicht klar — zweitens —, daß schon für die Wahl einer bestimm- 
ten Betriebsart von allen in der gegebenen Situation bekannten und 
möglichen der Gesichtspunkt der optimalen Kombination der Pro- 
duktionsmittel maßgebend ist und daß dieses Aneinanderpassen 
derselben schließlich durch Grenzprozesse fixiert wird, so daß der 
Betrieb, mager wenn er einmal im Gang ist, noch so »starr« sein — 
was dann, bei Veränderung der Verhältnisse, zu allen den tausend- 
fach: verschlungenen Wirkungen führt, die alle im Worte »Quasi- 
rente« eingeschlossen sind —, doch auf eine bestimmte Grenzpro- 
duktivität der Arbeit abgestimmt ist? Woran natürlich der Umstand 
nichts ändert, daß es aus technischen und sonstigen Gründen nicht 
immer möglich ist, gerade beim Grenzarbeiter haltzumachen oder 
ihn zu erreichen (Analogie: Verkauf eines Gutes in marktüblichen 
Minimalquanten, die den Käufer zwingen, mehr oder weniger zu 


— em 
E ee ee Eu SEE E EREEEEEE 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. | 59 


kaufen, als seinem Grenznutzen entspricht). — Aus der so begrün- 
deten angeblichen Inelastizität der Nachfrage nach Arbeit, ergeben 
sich dann aber die wichtigsten praktischen Resultate Schüllers. 

Dazu ist durchaus nicht nötig, daß der einzelne Unternehmer 
auch wirklich jedesmal eine solche Berechnung der Grenzrentabili- 
täten durchführt. Er hat ja stets andre Betriebe vor Augen und 
auch sonst einen alten Schatz wirtschaftlicher Erfahrung zur Ver- 
fügung, der ihn das Richtige im großen und ganzen treffen läßt, 
wie ja auch bei der Einkommensverwendung jeder von uns nur aus- 
nahmsweise besondre bewußte Betrachtungen anstellt oder auch 
nur sschwankt«, sondern in jedem Augenblick die betreffende geistige 
Arbeit schon vorgeleistet in seinen Gewohnheiten findet. Daher ist 
auch ein Umstand, auf den Schüller viel Gewicht legt, wenig relevant, 
nämlich daß der Unternehmer seine Arbeitskräfte nur im ganzen 
werte und sich über den Wert eines einzelnen Arbeiters für ihn weder 
klar werden könne noch wolle. Das hätte für ihn auch meist gar 
keinen Sinn und daß er es tut, behauptet die Grenznutzentheorie 
sowenig als sie behauptet, daß er durch das Kostenphänomen hin- 
durch jeweils zu dessen tiefern Gründen vordringe. Die Kosten sind 
für ihn eine bequeme Brachylogie, an die er sich ruhig halten kann 
und hält. Und ebenso bedarf er in der Regel keines expliziten Wertens 
des einzelnen Arbeiters, es genügt ihm und uns, daß sein Verhalten 
tatsächlich ein solches involviert. 

Es wäre noch vieles zu sagen, so über die Interpretation, die 
gewisse Umstände bei Schüller finden, wie z. B. die Tatsache, daß die 
einzelnen Unternehmer Rohstoffe derselben Art und Qualität sehr 
“häufig zu verschiedenen Preisen kaufen, oder über die Auffassung 
von Differenzen in den Produktionskosten der Betriebe als »Gewinne« 
u.a. Das würde zuweit führen, aber unwidersprochen darf seine 
zweite kritische Grundthese nicht bleiben, nämlich seine Bekämp- 
fung des Satzes, »daß durch den geringsten Wert, den die Arbeits- 
kräfte irgend eines Unternehmers haben, der Wert aller Arbeits- 
kräfte gleicher Art für alle Unternehmer bestimmt werde und daß 
dieser Grenzwert allein die Intensität der Nachfrage und ihren Ein- 
fluß auf den Lohn bestimme. Tatsächlich aber haben die Arbeits- 
leistungen für die einzelnen Unternehmer verschiedenen Wert und 
die sich hieraus ergebenden Abstufungen gelangen in den Gestal- 
tungen der Nachfrage und in ihren Wirkungen auf den Lohn zum 
Ausdrucke (p. 38). Der Grenzwert der Arbeitskräfte gleicher Art 
ist zwar nicht für alle Unternehmer derselbe, weil der Geldausdruck, 
in dem er zutage tritt, für sie verschieden viel bedeutet. Aber das 
hindert nicht, daß dieser Geldausdruck selbst für alle derselbe ist 
und nur darauf kommt es an. Wer das leugnen wollte, verfiele in 
denselben Fehler wie jene, die, wie schon erwähnt, daran Anstoß 
nehmen, daß nach der Grenznutzentheorie der Grenznutzen des Brots 
für Millionär und Bettler durch dessen Preis gemessen ist. Und nur 
jener Geldäusdruck bestimmt die Intensität der Nachfrage nach 
weiterer Arbeit in der Nachbarschaft der Grenze. 


60 Joseph Schumpeter, 


Was für die verschiedenen Unternehmer verschieden ist, das ist ihre 
Nachfragesk ala, deren individuelle Gestaltenbeierheblichen 
Veränderungen des Preises oder des Angebots sichtbar und der An- 
laß zu in der Tat besonders zu untersuchenden Wirkungen auf den 
Lohn werden #2). Das ist aber etwas ganz andres und wurde nie von 
jemand geleugnet. | 

Unter anderm kommt Schüller auch zu einer nur in einem Punkte 
haltbaren Kritik Clarks (p. 732 fg.). Dieser eine Punkt ist seine Ab- 
lehnung der Tendenz Clarks, den Gleichgewichtslohn auf Grund des 
Produktivitätsgedankens als »gerecht« darzutun. Aber im übrigen 
macht sich die schon erwähnte Verkennung des Sinnes des Gesetzes 
von der abnehmenden Grenzproduktivität gerade dem großen ameri- 
kanischen Theoretiker gegenüber ganz besonders störend bemerkbar. 
Dazu sei hier nur mehr bemerkt, daß es in der Tat nicht ganz richtig 
ist zu sagen, daß der »erste« Arbeiter den größten Wert habe. Denn 
mit einem Arbeiter könnten die meisten Betriebe natürlich gar 
nichts anfangen und er würde daher ebensowenig Wert haben, wie 
eine infinitesimale Menge der meisten Genußgüter. Aber solchen 
darstellerischen Leichtsinn muß man ja wohl zu verzeihen wissen. 
Der geniale Leichtsinn, von dem Clarks glänzende Darstellung über- 
haupt nicht freizusprechen ist, hat dann Schüller den Eindruck ge- 
macht, wie wenn behauptet würde, daß die »Schichte der Nachfrage; 
deren Intensität am geringsten sei, die »breiteste« wäre, so daß bei 
einer Lohnsteigerung sehr viele Arbeiter entlassen werden müßten. 
Dem ist nicht notwendig so. Das will Clark durchaus nicht sagen — 
im besondern folgt es nicht aus der von Schüller angezogenen Stelle 
— und jedenfalls ist es für das Prinzip der Theorie irrelevant: Es mag 
so sein oder nicht, es mag mitunter so sein und zu andern Zeiten 
anders — jedenfalls handelt es sich hier um eine statistisch zu unter- 
suchende konkrete Tatsache, die wohl in die Theorie eingesetzt werden 
kann und muß, aber nicht etwa aus ihr folgt. Die übrigen Einwen- 
dungen Schüllers gegen Clark sind mit dem früher Gesagten erledigt. 
Sie erinnern an die Argumentationsweise des von Schüller auch bei- 
fällig zitierten Thornton — und da dessen Vorbeischießen am Wesen 
der Sache nicht hinderte, daß er gehört wurde, so wollte ich hier einem 
in manchem ähnlich gearteten Unternehmen entgegentreten, so u 
ich die Verdienste des Autors zu schätzen weiß. 

Auch sonst ist Clark, wie das seine große Stellung mit sich bringt, 
manchem Angriff ausgesetzt gewesen, den zu diskutieren instruktiv 
wäre ®). Wir wollen jetzt denjenigen herausgreifen, den v. Zwiedi- 

6) Wenn Schüller zwischen der durch den Lohn gemessenen Nachfrageinten- 
sität und der »swahren«e Nachfrageintensität unterscheidet (p. 62), welche letztere 
gegeben ist durch die Geldsumme, die der Unternehmer. lieber zahlen würde 
als auf die betreffende Arbeiterzahl zu verzichten, so ist es klar, daß diese Unter- 
scheidung nur für intramarginale Arbeitsmengen Sinn hat — ebenso wie es bei 
Genußgütern »Konsumentenrente«e nur intra marginem gibt. 

63) Vgl. als besonders bezeichnend für die Natur der Mißverständnisse, denen 
auch ein Theoretiker von notorisch glänzender Darstellungsgabe nicht entgeht: 
Veblen, Professor Clarks Economics, Quarterly Journal of Economics 1908. 


eR oo Sn = =. Sn 00 0 U SW ce 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 6i 


neck in einer Literaturbesprechung (Neuere Literatur zur Lohn- 
frage, dieses Archiv Bd. XXIII, Heft 2, p. 640 fg.) unternommen 
hat. Zunächst leugnet auch er die Abnahme der Grenzproduktivität 
der Arbeit mitder Begründung, es sei nicht ausgeschlossen, daß, wenn 
ein Arbeiter mit einer bestimmten Kapitalmenge ein bestimmtes 
Produkt erzeugen könne und nun ein zweiter Arbeiter hinzukomme, 
das Produkt doppelt und mehr als doppelt so groß werde. Das ist 
in der Tat nicht ausgeschlossen und kann in zwei Fällen eintreten: 
Erstens dann, wenn der eine Arbeiter zu rationeller Verwertung der 
Kapitalmenge nicht ausreichte und zweitens dann, wenn diese Ver- 
mehrung der Arbeitsmenge um 100% ganz neue Betriebsformen 
möglich macht. Sonst nicht. Und keiner der beiden Fälle — bei denen 
übrigens erst noch das entscheidende Moment der Wert produktivi- 
tät zu untersuchen wäre — spricht im geringsten gegen Clark, wie 
wohl nicht mehr auseinandergesetzt zu werden braucht. Auch hier 
liegt der Fehler des Kritikers im ungenügenden Erfassen des Sinnes 
der Grenzanalyse. | | 

Dasselbe gilt von der zweiten Einwendung, die v. Zwiedineck 
erhebt und die noch viel bedenklicher ist. Er findet nämlich einen 
Widerspruch zwischen den folgenden beiden Sätzen: Mit zunehmen- 
der Arbeiterzahl wird bei gleichbleibendem Kapital eine Abnahme 
der Gesamtproduktivität beobachtet, also fallende Produktivität 
bi sinkender auf die Arbeitseinheit entfallender Kapital- 
menge. Und: Bei gleichbleibender Arbeiterzahl mit zunehmender 
Kapitalinvestierung wird ebenfalls eine Abnahme der Gesamtpro- 
duktivität behauptet, also fallende Produktivität bei stei- 
gender auf die Arbeitseinheit entfallender Kapitalmenge. Es be- 
steht kein Widerspruch, weil in beiden Sätzen die Variable eine andre 
ist. Der Satz, daß wenn die Arbeitseinheit mit fortschreitend immer 
weniger Kapital zusammenwirkt, die Produktivität sinkt, wider- 
spricht nicht im geringsten dem Satz, daß wenn die Kapitaleinheit 
mit fortschreitend immer weniger Arbeit kooperiert, dasselbe Resultat 
eintritt: In beiden Fällen wird ein, aber jedesmal ein andrer, Pro- 
duktionsfaktor fortschreitend weniger ausgenützt und die Wirkung 
auf die »Gesamtproduktivität« muß in beiden dieselbe sein. Ein 
Widerspruch läge nur vor, wenn in beiden Sätzen eine Abnahme 
der Produktivität desselben Faktors behauptet wäre. 

Auch Tugan-Baranowskys Clarkkritik ist durchaus unglücklich. 


Zunächst bringt er die uns schon aus der Diskussion der Abhand- 


lungen Schüllers bekannte Einwendung vor, daß der Unternehmer 
die Arbeiter als ein Ganzes werte, weshalb das Produkt des Grenz- 
arbeiters nicht für den Lohn aller maßgebend sei, und daß von der 
Verfügung über die letzte Teilquantität meist nicht weniger, sondern 
mehr als ein proportioneller Teil des Gewinnes abhänge (p. 61), worauf 
ich nicht nochmals eingehen will. Sodann aber meint er, daß, selbst 
zugegeben, daß dem Grenzprodukt eine reale Bedeutung zukomme, 
der Lohn zwar nicht darüber steigen, wohl aber darunter sinken könne. 
Die Konkurrenz der Unternehmer untereinander verhindere das 


62 Joseph Schumpeter, 


nicht. Sie verhindert das aber, wie wir ebenfalls schon sahen und die 
Preistheorie mit aller wünschenswerten Zweifellosigkeit beweist. 
Völlig verfehlt ist endlich das Argument (p. 63/641. c.), daß die Ka- 
pitalisten kein Motiv zur Beschäftigung von Arbeitern hätten, wenn 
sie dabei keinen Gewinn machten: Nur mit der Beschäftigung der 
Grenzmenge von Arbeit ist kein Kapitalgewinn verbunden, und 
das heißt doch nicht, daß überhaupt kein Kapitalzins mit Hilfe der 
Arbeiter erzielt wird — und zwar auch dann nicht, wenn dieser Zins, 
wie das bei Clark der Fall ist, sich an die produktive Rolle des Arbeits- 
mittelkapitals knüpft, denn auch dann ist die Anstellung von Arbeitern 
nötig um ihn zu erzielen, wie umgekehrt die Verwendung von Arbeits- 
mittelkapital nötig ist, um das Grenzprodukt der Arbeit zu reali- 
sieren. Wenn sich Tugan-Baranowsky dabei den Satz von der gewinn- 
losen Verwendung des Grenzarbeiters nur so erklären kann, daß Clark 
entweder übersehe, daß das Kapital nicht bloß aus Arbeitsmitteln 
sondern auch aus Unterhaltsmitteln der Arbeiter bestehe oder aber 
der Meinung sei, daß den Kapitalisten Kapital der letztern Art in 
unbeschränkten Mengen zur Verfügung stehe, so daß sie Auslagen 
an Lohn überhaupt nicht fühlen, so liegt darin ein kaum verständ- 
liches Mißverständnis der Clarkschen Analyse, ein Mißverständnis, 
das dadurch, daB es möglich ist, uns alle verurteilt *). — Uebrigens 
ist auch an der Polemik Tugan-Baranowskys gegen den Satz, daß 
Angebot und Nachfrage den Lohnsatz bestimmen (p. 34 fg.), auch 
nicht ein Wort haltbar. Im besondern ist es nicht richtig, daß der 
Preis der Arbeit nicht auf deren Nachfrage wirke und Gleichgewicht 
so gut bei dem einen wie bei einem andern Lohnsatz eintreten könne. 
Es erübrigt sich aber darauf einzugehen, denn Tugan-Baranowsky 
erkennt selbst an, daß bei sinkendem Lohn mehr Arbeiter angestellt, 
bei steigender Nachfrage die Löhne steigen würden (p. 40) und daß 
die Produktivität der Arbeit auf den Lohn wirke (p. 43) — was völlig 
genügt, um den bestrittenen Zusammenhang zu beweisen. Doch ist 
die Formel von Angebot und Nachfrage mit jeder und auch mit Tugan- 
Baranowskys Lohntheorie kompatibel %), so daß für ihn gar kein 
Grund vorlag sie zu bekämpfen. Namentlich ist es nicht wahr, daß 
Versuche, den Lohnsatz zu beeinflussen, sinnlos wären, wenn An- 
gebot und Nachfrage ihn »bestimmten«. 

“) Und einem Autor, dem es offenbar Ernst mit der Theorie ist, wie Albrecht, 
fällt dabei gar nichts auf. 

65) Das scheint er allerdings nicht zu erkennen. Vielmehr betrachtet er die 
Anwendung dieser Formel als eine besondre Theorie des Lohns, ganz so wie auch 
in den Diskussionen der Klassiker vor John St. Mill die Anschauung zutage tritt, 
daß Angebot und Nachfrage ein vom Kostengesetz verschiedener Preisbestim- 
mungsgrund seien. Solche Reminiszenzen an veraltete Anschauungen finden 
sich bei Tugan-Baranowsky oft. Nur sie machen es verständlich, daß er z.B. 
die Reproduktionskostentheorie der Arbeit so ernst nimmt, und im »Nicht- 
produziertsein« der Arbeit eine Schwierigkeit für die Theorie überhaupt zu er- 
blicken scheint, 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 63 


VI. 


Nochmals: Nur über Grundlagen haben wir bisher gesprochen 
und nur über die Grundlage dessen, was an unserm Problem »prin- 
zipiell«e relevant oder »wesentlich« ist, d.h. was das Erklärungsprinzip 
des (ökonomischen) Wesens des Lohnphänomens betrifft. Der »Praxis« 
gegenüber ist alles Gesagte nur »Tendenz« oder, auf sie angewendet, 
nur äußerst grobe erste Annäherung«, die nicht nur bei jedem Einzel- 
fall der Einsetzung der konkreten Umstände desselben, sondern 
überhaupt noch theoretischer Verfeinerung in vielen Richtungen 
bedarf. Der »praktische« Wert jener theoretischen Grunderkenntnis 
ist — unbeschadet der Unmöglichkeit, jemals ein Realphänomen 
theoretisch zu erschöpfen — zwar viel größer als gewöhnlich ange- 
nommen wird, und in eine ganze Reihe von praktischen Fragen wirft 
ste unentbehrliches Licht; aber trotzdem ist sie ihrem Wesen nach 
so abstrakt, daß sie in vielen Fällen unsnur einen praktischen Dienst 
leistet, der allerdings auch viel wichtiger ist als jene annehmen, die 
die Theorie mit einem Hinweis auf abweichende Tatbestände für 
erledigt halten: nämlich den Dienst, uns die Diagnose auch solcher 
Tatbestände zu erleichtern. Denn es macht, wie erwähnt, einen sehr 
großen Unterschied, ob eine Erscheinung zum Wesen der Konkurrenz- 
wirtschaft gehört oder gerade durch eine von ihrer Grundidee ver- 
schiedene Gestaltung der Dinge zu erklären ist. 

Obgleich das für das gesamte Gebiet der ökonomischen Theorie 
— und überhaupt für alle exakte Wissenschaft — gilt, so sollen doch 
einige besondere Formen, die solche »Abweichungen« gerade beim 
Lohnproblem annehmen, hier angeführt werden. Selbstverständlich- 
keiten wie »Indolenze, mangelnde Uebersicht über den Markt usw. 
scheiden wir aus. Manches, wie das Moment der durch Gewohnheit 
usw. zu erklärenden Festigkeit der Lohnhöhe oder der durch sozialen 
Druck mitunter gegebenen Unmöglichkeit für den Arbeiter, seine 
ökonomische Position zur Geltung zu bringen, wurde schon erwähnt. 
Was noch übrig bleibt, läßt sich alles unter den Begriff von Schwierig- 
keiten im Mechanismus der freien Konkurrenz zusammenfassen ®®). 

Zunächst wäre zum Bestehen völlig freier Konkurrenz erforder- 
lich, daß jeder Arbeiter mit jedem Unternehmer kontrahieren könne. 
Aber ganz abgesehen davon, daß örtliche Lage der Unternehmungen 
usw. Hindernisse dafür bilden, ist in der Regel offenbar jeder Arbeiter 
gezwungen, einem Unternehmer seine ganze Arbeitskraft 
für eine bestimmte Minimalzeit zu überlassen, obgleich es sein könnte, 
daß die vorteilhafteste Verwendung die wäre, daß der Arbeiter einen 
Teil der Arbeitszeit für einen und einen andern Teil für einen andern 
Unternehmer arbeitete. Es ist jedoch klar, daß wenn es sich um 


$) Diese Schwierigkeiten treten uns am besten vor Augen, wenn wir uns 
klarmachen, welche Anforderungen an die Wirklichkeit der Begriff der freien 
Konkurrenz eigentlich involvieren würde. Vgl. darüber: Moore, Paradoxes of 
@mpetition Quarterly Journal of Economics 1906 und mein Wesen und Haupt- 
inhalt der theoretischen Nationalökonomie. 


64 Joseph Schumpeter, 


viele Arbeiter und viele Unternehmer handelt, dieses Moment 
keine erhebliche Rolle spielen kann #). Weiters hat der Umstand, 
daß der Arbeiter meist vor die Wahl gestellt ist, einen bestimmten 
Arbeitstag zu prästieren oder gar nicht angestellt zu werden, die 
Folge, daß die Gleichheit zwischen Grenznutzen des Lohns und Grenz- 
opfer der Arbeit nicht leicht für jeden einzelnen realisiert werden 
wird. Aber es ist klar, daß die Fabriksordnungen im großen und 
ganzen dem Druck, den die Arbeiter in dieser Richtung ausüben) 
nachgeben müssen und daß die tägliche Arbeitszeit im allgemeinen 
nicht weit von dem Maß sein wird, das für die meisten Arbeiter dem 
Punkte jener Gleichheit ungefähr entspricht. Ferner ist zu berück- 
sichtigen, daß sich der Arbeitsmarkt von vielen andern Märkten da- 
durch unterscheidet, daß auf ihm der Grenznutzen des Geldes für 
die »Verkäufer«, die Arbeiter, nicht: konstant ist. Das hat manche 
Schwierigkeiten in der Anwendung von theoretischen Hilfsmitteln 
zur Folge, die nur für den Fall der Konstanz des Geldgrenznutzens 
beim Tausch anwendbar sind. Die wichtigste Folge aber ist, daß eine 
Erhöhung des Lohnsatzes die Folge haben kann, daß weniger Arbeit 
angeboten wird ®#), wie man das bei plötzlichen und scharfen Lohn- 
steigerungen — z.B. bei Weltausstellungen — auch wirklich wahr- 
nehmen kann. 

Dann fehlt es bekanntlich am Erfordernis vollständiger Beweg- 
lichkeit der Arbeitskraft, so daß die Arbeiterschaft in viele »non- 
competing gröups« zerfällt, wie man das seit Cairnes nennt, wobei 
freilich nicht vergessen werden darf, daß die Folgen dieser Tatsache 
zum Teil durch die Beweglichkeit des Kapitals wieder gut gemacht 
‚werden. Diese Folgen bestehen darin, daß der Arbeitsmarkt in Teil- 
märkte zerfällt und zwar für jeden von diesen das Produktivitäts- 
gesetz gilt, aber nicht für alle zusammen dieselbe Grenzpro- 
duktivität, ein Umstand, der die dem Begriff des sozialen Grenz- 
produkts zugrundeliegende Realität schwächt und in der Tatsache 
verschieden hoher Lohnsätze für gleichschwierige und gieichunange: 
nehme Arbeit zum Ausdruck kommt ®). 

Nehmen wir zunächst den Fall unvollständiger Beweglichkeit, 
der dem Wortsinn entspricht — unvollkommene geographische Be- 
weglichkeit von Arbeit derselben Art im Wirtschaftsgebiet — und 
erörtern wir an ihm die interessante Frage, ob Herstellung vollkom- 
mener Beweglichkeit für die Arbeiter gut oder schlecht wäre. Bekannt- 
lich arbeiten eine Menge von Institutionen auf dieses Resultat hin 
und zwar weitaus die meisten in der Absicht, das Arbeiterinteresse 
dadurch zu fördern. Sicher wird dasselbe auch dadurch gefördert 

©) Vgl. Edgeworth, Economic Journal p. 225 und Mathematicalpsychics p.42. 

8) Ein analoger Fall wäre das Abnehmen der Sparintensität bei steigendem 
Zins, das wir später ausführlicher diskutieren wollen, weil viele, darunter Tugan- 
‚Baranowsky, auf diese Tatsache ein Argument gegen die Abstinenztheofe ge- 
‚stützt haben. 

°) Diese. Tatsache spricht aber, sei es besonders betont, aurchaus nicht - 
gegen die Grenzproduktivitätstheorie. Uebrigens auch nicht, wie Tugan-Bara- 
nowsky meint, gegen die Formel von Angebot und Nachfrage. 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 65 


und zwar jener »Zweig« des Arbeiterinteresses, der in die Richtung 
eines größtmöglichen Sozialprodukts weist. Aber der Arbeiter- 
anteil an diesem kann dabei auch Schaden nehmen, unter Um- 
ständen so sehr, daßdadurch der Vorteil eines größernSozialprodukts 
für die Arbeiter mehr als aufgewogen wird. Diese Möglichkeit erkennt 
man sofort, wenn man überlegt, daß durch die Herstellung voller 
Beweglichkeit ganz kleine Inseln hohen Lohns, die es aus verschiedenen 
Gründen hier und da gibt, verschwinden, ohne daß sich das in einem 
merklichen Vorteil für die übrigen Arbeiter zu äußern braucht: 
Diese letztern haben in solchem Falle unmerklich gewonuen, die 
früher Begünstigten aber haben merklich verloren — so daß ein Passiv- 
saldo für die Arbeiter im Ganzen verbleibt, der denn freilich aufge- 
gewogen oder übertroffen werden kann, aber eben nicht muß, 
durch gleichzeitige Vernichtung von solchen kleinen Inseln unter- 
normalen Lohns. Uebrigens ist es klar, daß alle Vorteile der Arbeiter- 
schaft zunächst meist an vereinzelten Stellen errungen werden und 
daß daher das Bestehen völliger Beweglichkeit — auch abgesehen 
von dem Fall, in welchem organisierte Arbeiter durch 
nichtorganisierte unterboten werden, für den das ja selbstverständlich 
ist — nicht immer für die Arbeiter günstig ist. Viel interessanter ist aber 
eine andre Erwägung: Vollkommnere Beweglichkeit bedeutet für 
die Gesamtmenge der im Wirtschaftsgebiet vorhandenen Arbeit 
vollständigere Ausnutzung der Verwendungsmöglichkeiten. Es wird 
der soziale Arbeitsvorrat dadurch, daß er prompt den jeweils ren- 
tabelsten Verwendungen zugeführt wird, gleichsam produktiv wirk- 
samer. Das bedeutet ganz dasselbe wie wenn er ohne beweglicher zu 
werden, größer geworden wäre. Und das kann die Wirkung haben, 
daß seine Grenzbedeutung nun kleiner ist als der (gewogene) Durch- 
schnitt der Grenzbedeutungen auf den Teilmärkten war und daß daher 
der relative Anteil der Arbeiterschaft am Sozialprodukt sinkt ?9), 
Absoluter Anteil und Reallohn brauchen deshalb nicht zu sinken 
und werden es so gut wie nie wesentlich tun, in der Regel sogar 
eher steigen. Aber sie können sinken — das hängt von der Ela- 
stizität der Nachfrage nach Arbeit ab. Ich will damit nicht sagen, 
daß größere Beweglichkeit der Arbeit für die Arbeiter im allgemeinen 
schädlich sei 7!). Aber sie kann im einzelnen Fall schädlich sein, und 
es ist jeweils eine schwierige Frage, ob das eine oder das andre eintritt. 


10) Tugan-Baranowsky sagt wiederholt, daß ein Steigen der Produktivität 
der Arbeit den Lohn erhöhen smüsse«e.. Das ist nicht richtig, auch nicht für 
seinen von dem unsern verschiedenen Begriff der Produktivität. 

n) Vor allem ist zu beachten, daß unsre Argumente sich zunächst auf in 
Geld ausgedrückten Vorteil und Schaden beziehen. Nun hat aber größere Be- 
weglichkeit der Arbeit sicher die Folge, daß Gebiete des Minimalstandes des 
Lohnsatzes verschwinden, wenn seine Ursache nicht in etwas anderm als mangel- 
hafter Beweglichkeit liegt. Selbst wenn dieser Vorteil in Geld durch Ver- 
schwinden von Gebieten übernormalen Lohns aufgewogen würde, so 
bliebe doch noch ein Wohlfahrtsgewinn für die Arbeiter, weil der Lohnzuwachs, 


den die Aermsten erfahren, für sie größern Grenznutzen hat, als der Lohnausfall 
für die Bestsituierten. 


Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 1. 5 


66 Joseph Schumpeter, 


‚Hier eröffnet sich ein weites Feld für praktisch sehr wichtige Spezial- 
"untersuchungen, bei denen es sich stets darum handelt »konkrete Da- 
ten in die Theorie einzusetzen« und tür die die Theorie alle prinzipiellen 
"Hilfsmittel darbietet *2). Sie stellt der Tatsachensammlung ihre Auf- 
gaben und gewinnt aus den gesammelten Tatsachen die Antworten 
auf unsere Fragen, — wenigstens immer dann, wenn diese Fragen 
nicht so einfach sind, daß sie sich schon durch die Betrachtung der 
Tatsachen ohne irgendwelche technischen Hilfsmittel gewinnen lassen 
— oder, besser, sie gibt von vornherein bestimmte Antworten, die 
alternativ gelten je nach Gestaltung der konkreten Bedingungen 
des einzelnen Falles und aus denen wir auf Grund der Untersuchung 
der konkreten Umstände die eine oder die andre auswählen. Um 
ein einfaches Beispiel anzuführen: Wenn in unserm Fall die Beweglich- 
` keit der Arbeit so steigt, daß die Gesamtleistung ebenso zunimmt 
“wie wenn z. B. die Zahl der Arbeiter um I % gestiegen wäre, so 
wird immer dann, wenn in dem betreffenden Intervalle die Elastizität 
der Nachfrage nach Arbeit kleiner ist als r — wenn also der Lohn 
um mehr als 1 % sinken muß, damit dieses »vermehrte« Angebot 
untergebracht werde — die Gesamtlohnsumme sinken und den Ar- 
beitern als Ganzes genommen ein bestimmter »Schaden« erwachsen. 
Wenn in dem betreffenden Intervalle die Elastizität größer ist als I, 
so wird die Gesamtlohnsumme größer, so daß den Arbeitern ein »Vor- 
teile erwächst, was freilich nicht hindert, daß ihr relativer 
Anteil am Sozialprodukt sinken kann. 
Noch sei bemerkt, daß vermehrte Beweglichkeit der Arbeits- 
kraft jedenfalls günstig für das Kapitalisteninteresse ist. Sie kann 
wohl den einzelnen Unternehmer und den einzelnen Kapitalisten 
schädigen, nämlich die Rentabilität von Betrieben, die in Gebieten 
abnormaler Lohnminima liegen; auch kann vorhandenes fixes Kapital 
dadurch gelegentlich entwertet werden — das wiederum besonders 
in Gebieten abnormaler Lohnmaxima. Besonders können sehr große 
Monopolisten dadurch zu Schaden kommen, die vorher den Arbeits- 
markt einer ganzen Gegend beherrschten: daher oft das Bestreben 
der Unternehmer, durch die Technik der Arbeitsanordnung im Be- 
trieb den Arbeiter für andre Betriebe und Branchen tunlichst un- 
brauchbar zu machen und ihm so die Bewegungsfreiheit zu verkürzen. 
Aber man sieht leicht, daß unser Hauptargument, wie es einen Vor- 
teil inGeld für die Arbeiterschaft als Ganzes mitBestimmtheit höchstens 
in letzter Linie und auf die Dauer — nämlich für die Zeit, in welcher 
sich auch die dem Kapital erwachsenen Vorteile in Nachfrage nach 
Arbeit umgesetzt haben werden — unmittelbar aber nur für einen 
von zwei möglichen Fällen voraussagen läßt, so für das Kapitalisten- 
interesse als Ganzes genommen, unter allen Umständen und auch un- 
mittelbar, einen Vorteil — in Geld ausgedrückt — verheißt 73). 

72) Bei diesen wie andern Problemen zeigt sich u. a. gerade die praktische 
Brauchbarkeit des Grenzproduktbegriffes, der Arbeitsmenge, Arbeitsleistung, 
Arbeitswert in sich vereint, während sonst der Gedankengang in mehrere Argu- 
mente zersplittert wird, die in keinem bestimmten Verhältnis zueinander stehen. 

73) Ganz ähnlich wäre die Argumentation über die Wirkungen des Taylor- 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 67 


Dasselbe gilt nun nicht bloß für die geographische Beweglich- 
keit der Arbeiter, sondern auch für die Beweglichkeit von Industrie 
zu Industrie, die immer dann beschränkt ist, wenn es besondre Quali- 
fikationen zu erwerben gibt, die in andern Branchen ganz wertlos 
oder doch erheblicher weniger nützlich sind. Wo solche erworbene 
Eignungen in Frage kommen, liegt für Zeitintervalle, für die die Be- 
rufswahl neuer Generationen nicht wirksam ist, ein Fall von Quasi- 
rente vor: Die einmal geschehene »Investition« ist nicht leicht und 
nur mit Verlusten rückgängig zu machen und innerhalb der Grenzen 
dieser Verluste müssen solche Arbeiter den Lohn passiv hinnehmen, 
den die temporäre Lage auf dem so geschaffenen beschränkten Markt 
ihnen zuweist, ohne durch Abwanderung in andre Teile des Gesamt- 
arbeitsmarkts das Angebot auf dem Teilmarkt entsprechend redu- 
zieren zu können. Das Grenzproduktivitätsgesetz ist, wie gesagt, 
zwar nicht außer Kraft gesetzt, aber der lebendige Kontakt mit den 
Grenzproduktivitäten andrer solcher Teilmärkte ist gelähmt. Wenn 
Schüller und Tugan-Baranowsky das gesagt hätten, so hätten sie 
auf dem Boden der Theorie alle die Tatsachen, an die sie dachten, 
erklären können. 

Nicht als Hindernis der Beweglichkeit ist die Verschiedenheit 
der natürlichen Anlagen der Arbeiter aufzufassen: Da liegen einfach 
verschiedene Arten der »Ware Arbeit« vor 7$), ganz so wie z. B. Erbsen 
und Bohnen verschiedene Genußgüter sind, zwischen deren Werten 
und Preisen zwar auch Zusammenhänge, aber viel kompliziertere 
bestehen. Es entspricht nun einem der vielen Rentenbegriffe, hier 
gegebenenfalls von »Rente« höherer Tüchtigkeit (rent of ability) zu 
sprechen, und in der Tat ist das ebenso berechtigt, wie die Rente 
fruchtbarern Bodens als Ueberschuß über den »Grenzertrag« von 
Boden im allgemeinen aufzufassen, nur ist damit in beiden Fällen 
nicht viel anzufangen. Wichtiger wäre, jene Zusammenhänge zwi- 
schen den Werten und Preisen verschiedener Kategorien von Arbeit 
zu untersuchen. Vor allem die teilweise Ersetzbarkeit derselben 
durcheinander in einer Beziehung und ihre Komplementarität in der 
andern und die Rückwirkungen von Lohnerhöhungen einer derselben 
aufandre kämen da in Betracht. Hier ist noch kaum ein Anfang ge- 
macht aber alle theoretischen Hilfsmittel dazu liegen in unserer Preis- 
theorie bereit, 

Hingegen sind soziale und nationale Schranken wieder wirkliche 
Hindernisse der Beweglichkeit und nichts weiter. Nur ist esin praxi 


systems durchzuführen, worauf wir indessen nicht besonders eingehen wollen. 
Vgl. darüber Pigou, Wealth and Welfare. 

") Insoweit das der Fall ist, verhalten sich Arbeitergruppen solcher Art 
ganz ebenso zueinander wie verschiedene Produktionsfaktoren. Edgeworth 
hat darauf hingewiesen, daß auf alle hier erwähnten Fälle die Theorie der inter- 
nationalen Wertbildung anwendbar ist: Deren Charakteristikum ist ja relative 
Unbeweglichkeit von Kapital und Arbeit und was für den Verkehr zwischen 
Nationen gilt, gilt daher vielfach auch für den Verkehr zwischen solchen Gruppen 
von Arbeitern, für den dieser Typus von Preistheorie also ein sehr wichtiges 
Instrument ist. 

5* 


68 Joseph Schumpeter, 


oft schwierig festzustellen, welcher der drei eben erwähnten Fälle vor- 
liegt, d. h. ob es sich um Berufsqualifikation — Erlernung, Gewöhnung, 
individuelle Anpassung an bestimmte Aufgaben — oder um Unter- 
schiede in angeborener Eignung oder um soziale und nationale Bar- 
rieren handelt — oder worum es sich vor wiegen d handelt, denn meist 
treffen ja alle drei Momente zusammen. Besonders ist diese Schwierig- 
keit bei der »vertikalen Beweglichkeit« der Arbeitskraft fühlbar. 
Wir sind uns ja noch durchaus nicht darüber klar, inwieweit die 
höhere Stellung im Wirtschaftsleben (und noch mehr die höhere Stel- 
lung in andern Sphären) andersgeartete oder bloß in derselben Art 
»höhere« oder überhaupt keine verschiedenen Fähigkeiten erfordert 
als die untergebene, wie diese »Fähigkeiten«, auf irgendeiner Skala 
aufgereiht, eigentlich zueinander stehen, was davon angeboren, er- 
worben oder einfach durch die Gelegenheit ausgelöst — oder auch 
gar nicht vorhanden — ist, ferner, wie die Fähigkeit eine Stellung 
zu erringen sich zur Fähigkeit verhält sie gut auszufüllen und wie 
sich die Höhe der Entlohnung der Leistung zu deren Stellung in einer 
andern Skala verhält 75). Hier wirken soziologische und biologische 
Probleme in unser Gebiet herein, u.a. die Frage, welche Rolle spe- 
zielle Begabungen spielen und ob es überhaupt oder wenigstens 
aut dem Gebiet nichtmanueller Arbeit so etwas wie eine allgemeine 
Tüchtigkeit (ability, aptitude) etwa im Sinn des Spearmanschen 
»Zentralfaktors« gibt, die sich auf allen oder den meisten Gebieten 
in ungefähr gleicher Weise durchsetzt. In allen diesen Fragen stehen 
uns zahlreiche Vorurteile und Tendenzen hindernd im Wege, und die 
Theorie kann da nur selten zu den Antworten etwas beitragen, muß 
vielmehr eher auf diese Antworten warten, um sie dann in ihrem Kreise 
zu verwerten. Wir berühren da einen Punkt des Problemkreises der 
Galtonschule. 

Eine brillante Leistung auf diesem Felde liegt übrigens schon 
vor, Moores Laws of Wages, die ich in diesem Archiv (1912) besprochen 
habe. Die große Idee, die Beziehungen zwischen Lohndifferenzen 
und Befähigungsdifferenzen zu untersuchen, öffnet gewaltige Per- 
spektiven vor uns. Der neue Weg ist steil und steinig, aber er muß 
gegangen werden. Ich kann auf diese Probleme im Rahmen der vor- 
liegenden Arbeit nicht eingehen. 


VII. 


Wir haben in unsern Ausführungen stets den Fall der freien 
Konkurrenz in den Vordergrund gerückt und auch gesagt, warum 
wir das taten: Weil selbst wenn er nie und auch annähernd nicht 
realisiert wäre, es trotzdem für unsere Erkenntnis der Vorgänge 


15) Eine besondre Schwierigkeit liegt darin, daß es nicht nur »künstlichee, 
d. h. hier soziologisch und nicht ökonomisch erklärbare, Differenzierungen, 
sondern auch ebenso skünstlichese Herabdrücken und Emporheben verschie- 
dener »Tüchtigkeiten« auf dasselbe Niveau gibt, so daß sehr häufig der Tüch- 
tigere und der Untüchtigere zur gleichen Leistung gezwungen sind. 


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Das Grandprinzip der Verteilungstheorie, 69 


nötig wäre festzustellen, was dem Wesen des Konkurrenzmechanis- 
mus inhärent ist und was nicht. Und das zu wissen ist nicht nur für 
die Diagnose des einzelnen Falls an sich unentbehrlich, sondern auch 
für die Beantwortung sehr praktischer Fragen: Steuern oder Lohn- 
erhöhungen lösen ganz verschiedene Wirkungen aus je nachdem wir 
Industrien vor uns haben, die die Produktivitätsgrenze erreichen 
oder solche, die Grenzgewinne realisieren 78). Ohne Berücksichtigung 
dieses Unterschieds gibt es da keinen Einblick in die Dinge und einer 
der häufigsten Fehler der Diskussion besteht darin, daß man von 
einem dieser Fälle behauptet, was nur für den andern gilt. 

Wenn also ein Unternehmer oder seine Kombination von Unter- 
nehmern innerhalb gewisser Grenzen oder überhaupt ein Nachfrage- 
monopol auf dem Arbeitsmarkt besitzt, so ist seine Wertschätzung 
für Arbeitsleistungen noch immer ganz so zu verstehen wie die eines 
mit andern Unternehmern konkurrierenden — ob er außerdem noch 
einAngebotsmonopol für seine Produkte hat, z. B. infolge eines Pro- 
hibitivzolls, ist für das Grundgesetz des Vorgangs gleichgültig, ob- 
gleich es sonst einen besondern Fall konstituiert. Aber diese Wert- 
schätzung, die übrigens in diesem Fall prinzipiell genau so 
von Gebrauchswertschätzungen der Konsumenten derivieren würde 
wie bei freier Konkurrenz, also das »Grenzprodukt« der Arbeit, wäre 
nicht mehr für den Lohn entscheidend. In der Tat, warum sollte der 
Unternehmer einen Lohn in der Höhe des Grenzprodukts bieten, da 
alle die Momente weggefallen sind, die ihn in der Konkurrenzwirt- 
schaft dazu zwingen? Der Lohn wäre in diesem Fall unbestimmt. 
Der Monopolpreis ist zwar sonst eindeutig bestimmt, aber nur infolge 
des Umstandes, daß die Gegenkontrahenten des Monopolisten ihre 
Nachfrage oder ihr Angebot je nach dem von ihm bestimmten Preise 
variieren. In unserm Fall aber wäre das den Arbeitern nicht möglich. 
Wenn sie wirklich auf die Nachfrage des Monopolisten als einzige 
Verwendungsmöglichkeit ihrer Arbeit angewiesen wären und, wenn 
er sie nicht anstellt, wirklich verhungern müßten, so müßten sie jeden 
Lohnsatz akzeptieren und welcher das — über das für die vom Mono- 
polisten benötigte Arbeiterzahl notwendige physische Existenz- 
minimum hinaus — sein würde, läßt sich rein ökonomisch nicht an- 
geben, es müßte denn sein, daß der Monopolist zur Erzielung seines 
Gewinnmaximums einer größern Anzahl von Arbeitern bedürfte als 
unmittelbar vorhanden sind und durch höhere Lohngebote solche 
heranziehen könnte. Trifft das letztere aber nicht zu und ist eine 
bestimmte Anzahl von (konkurrierenden) Arbeitern schlechthin 
da, nicht mehr und nicht weniger, so kann man auch nicht durch 
Heranziehung des Momentes der Disutility der Arbeit das fehlende 
Bestimmungsstück zu beschaffen hoffen. Denn obgleich die Arbeiter 
gewiß die zu leistende Arbeitsmenge bei jedem gegebenen Lohnsatz 





' Viele Autoren haben behauptet, daß die Erscheinung von Grenzge- 
winnen schlechthin allgemein sei. Das ist z. B. die Lehre Hobsons von den sforced 
gainse. Auch Tugan-Baranowsky gehört hierher. Aber auch wenn diese Be- 
hauptung zuträfe, so spräche das nicht im geringsten gegen die Theorie als solche, 


70 Joseph Schumpeter, 


nach dem Gesetz der Gleichheit von Lohngrenznutzen und Arbeits- 
grenzunlust bemessen möchten, so kann ihnen doch der Mono- 
polist, wenn er ihnen Arbeitsmenge und Lohn z.B. pro Tag oder 
Woche als unteilbare Ganze vorschreibt, mit Rücksicht auf den jede 
angebbare Größe übersteigenden Wert derjenigen Lohnelemente, 
von denen die Lebenserhaltung abhängt, eine Leistung aufzwingen, 
für die jenes Gesetz nicht — auch nicht annähernd — realisiert ist 7°), 
Deshalb tritt hier das ökonomisch erfaßbare Moment völlig zurück 
hinter andern, wie z. B. Furcht vor eventueller Erbitterung, Rück- 
sicht auf öffentliche Meinung, Sitte, ethische Rücksichten usw. Uebri- 
gens ist das ein extremer Fall, in der Regel hat eine Monopolstellung 
auf dem Arbeitsmarkt sehr enge Grenzen — nur in dieser Form kommt 
sie überhaupt in der Praxis vor — oder es kommt die Heranziehung 
von Arbeitern von außen in Betracht usw. 

Praktisch wichtiger ist der Fall einer Monopolstellung von Unter- 
nehmern auf dem Produktmarkt. Hier wird das Arbeiterinteresse 
nur insoweit berührt, als der monopolistische Unternehmer weniger 
produziert, mithin eine geringere Nachfrage nach Arbeit entfaltet, 
als von der betreffenden Industrie ausgehen würde, wenn freie Kon- 
kurrenz in ihr herrschte 78). Auch hier ist die Wertschätzung des 
Unternehmers oder Trustleiters für die Arbeit ein Derivat eines Kon- 
sumentengrenznutzens. Aber erstens ist dieer Konsumentengrenz- 


nutzen — weil ja nun im allgemeinen weniger produziert wird als 
produziert würde, wenn unter sonst gleichen Umständen freie 
Konkurrenz herrschte — nun größer und zweitens ist er in seiner 


Wirkung auf die Wertschätzung des Unternehmers für die Arbeit 
beeinflußt durch die Möglichkeit, die einzelnen Arbeiter durch andre 
aus Industrien zu ersetzen, in denen freie Konkurrenz herrscht. Nur 
dieses »Substitutionsgrenzprodukt« ist hier für den Lohn maßgebend 
und die Größe der Nachfrage bestimmt sich hier aus der Erwägung, 
welche Zahl von Arbeitern unter Berücksichtigung dieses Lohns ein 
Gewinnmaximum gibt. Jedem solchen Lohnsatz entspricht bei ge- 
gebener Produktionsmethode ein und nur ein Maximum. Wären alle 


17) Man sieht ohneweiters, wie sehr dieser Fall in das Schema Tugan-Bara- 
nowskys paßt und wie sehr er gerade an derartige Konstellationen denkt, zu- 
gleich aber auch, wie ungezwungen der Fall sich der Grenzproduktivitätstheorie 
einfügt. Viclleicht ist das der wichtigste von den Punkten, an denen sich die 
Möglichkeit völliger Einigung in der theoretischen Konstruktion zwischen beiden 
zeigt. Mag dann Tugan-Baranowsky immerhin der Ansicht sein, daß dieser 
Fall die Regel bilde — darauf käme es mir gar nicht an. 

38) Das gilt auch dann, wenn der Monopolist vom Typus des Trustkönigs 
ist und eine völlige Reorganisation der Industrie durchführt, die den Einheits- 
kostensatz so sehr herabdrückt, daß der Monopolpreis von jetzi niedriger 
ist als der Konkurrenzpreis von früher, was die Folge hätte, daß jetzt sogar 
mehr produziert würde als früher und möglicherweise sogar, daß jetzt mehr 
Arbeiter angestellt würden als früher. Noch immer ist es dann wahr, daß der 
Monopolpreis höher und die Nachfrage nach Arbeit geringer wäre, als sie sein 
würden, wenn bei dieser neuen Organisation der Produk. 
tion freie Konkurrenz herrschte. 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 7I 


Industrien monopolistisch organisiert, so würde es zwar infolge der 
Konkurrenz aller dieser Monopolisten auf dem Arbeitsmarkt jeweils 
eine Tendenz nach Ausgleichung der Lohnsätze für gleichartige Ar- 
beit geben, aber dieses Niveau selbst wäre nicht eindeutig bestimmt. 

In der Wirklichkeit schließen sich an diese Fälle alle jene der 
beschränkten Konkurrenz an, in denen die Latitude, die vom rein 
ökonomischen Gesetz gelassen wird,.stets mehr oder minder erheblich 
ist und die tatsächlich einen breiten Raum in der Volkswirtschaft 
einnehmen. Wiederum muß dem Leser auffallen, wie nahe unsre 
Argumentation da an die Tugan-Baranowskys herankommt. In der 
Tat sınd wir jetzt bei jenen Tatsachen, an die er vor allem denken 
mußte, wenn er dem Moment der »Macht« einen so großen Raum 
anwiess. Auch die Ausführungen Schüllers beziehen sich namentlich 
auf den Problemkreis beschränkter Konkurrenz. Dieser bietet sich 
dem Beobachter um so ausschließlicher dar, je kürzere Perioden er be- 
trachtet. Und wirklich beschäftigt sich Schüller ganz vornehmlich 
mit dem Verhalten der Unternehmungen in der momentanen Situation, 
betrachtet er nicht die glatte Fläche des Niveaus, nach der das öko- 
nomische Meer tendiert, sondern die stürmischen Wogen der jeweiligen 
unmittelbaren Gegenwart. Dieser Standpunkt hat sein Recht. Was 
hier nochmals sowohl Tugan-Baranowsky wie Schüller gegenüber 
betont werden muß, ist, daß alles das in keinem Widerspruch zu den 
Grundlagen der Theorie steht und daß wir uns durch alles das nicht 
unser Verständnis des Wesens des Konkurrenzmechanismus trüben 
lassen dürfen, wenn es gleich ganz wahr ist, daß wir nicht weit kommen 
würden, wenn wir nie andres untersuchten als ihn. Die großen Züge 
der Dinge und ihr Wesen ist Eines, die Art und Weise, wie sie sich in 
enem kleinen Ausschnitt der Dinge erkennen lassen, ist ein Andres. 
Beides muß untersucht werden. Aber zwecklos ist der Kampf zwischen 
den sich dabei ergebenden Resultaten 7°). 

Wenn die Arbeiter monopolistisch organisiert sind, so ist der 
Lohn wieder eindeutig bestimmt — bei gegebener Produktions- 
methode zunächst — durch den Punkt, an dem die Gesamtlohn- 
summe zu einem Maximum wird. Ob um diesen Punkt zu erreichen, 
das Gesamtarbeitsangebot überhaupt und wie erheblich es einge- 
schränkt werden muß, ist quaestio facti und hängt von der Elastizität 
der Nachfrage ab. Jedenfalls brauchen sich die Arbeiter hier nicht 
mit dem Lohn zu begnügen, der dem Grenzprodukt der Arbeit ent- 





”) Der Leser bemerke, wie vollständig sich auch die Einwendungen K. Diehls 
auflösen, soweit sie als solche gemeint sind, und wie vollständig unhaltbar z. B. 
seine neuerlich wiederholte (Zur Kritik der Kapitalzinstheorie von Böhm-Bawerk, 
l.c. p. 603) Behauptung ist, die Zinstheorie v. Böhm-Bawerks sei sebenso wie 
seine Wert- und Preistheorie unter der Voraussetzung völlig freier Konkurrenz 
aufgestellte. Nur für die Theorie des Konkurrenzpreises trifft das natürlich zu, 
aber daneben steht ja die Theorie des Monopolpreises, die jeder u.a. auch auf 
die Lohn- und Zinstheorie anwenden kann, ohne daß der Autor das selbst ause 
fübrlich tan müßte. Bezüglich der Werttheorie, deren. Grundlagen bei Böhm 
doch am Robinson entwickelt sind, ist der Vorwurf überhaupt unverständlich. 


72. Joseph Schumpeter, 


spricht, da sie über die intramarginalen Werte der Arbeit herrschen 8°) 
und jeden Unternehmer vor die Wahl stellen können, entweder auch 
noch die Grenzarbeiter beim gewünschten Lohn anzustellen oder 
überhaupt keine Arbeiter zu erhalten. Da im Gleichgewichtszu- 
stand aber diese intramarginalen Ueberschüsse von Grundrente und 
Kapitalzins in Anspruch genommen werden, so ist die Lohnforde- 
rung, wenn sie sich auf die Dauer halten lassen soll, natürlich durch 
die Rücksicht auf die Wirkungen eines Entzugs an Rente und Zins 
auf das Angebot an Boden — wenn Privateigentum an Grund und 
Boden herrscht, so ist auch das Angebot an Grund und Boden mit 
Rücksicht auf andre mögliche Verwendungen (Jagd, Parkanlagen usw.) 
nach der Höhe des Ertrags variabel — und Kapital beschränkt, worauf 
wir gleich zurückkommen werden. Abgesehen davon aber kann, der 
Lohn auch dann über das durch das Grenzprodukt gegebene Maß 
steigen, wenn das Arbeitsangebot nicht eingeschränkt wird, voraus- 
gesetzt nur, daß den einzelnen Unternehmern jene Bedingung aufgelegt 
werden kann. Ist das letztere nicht möglich, so bleibt nur die Ein- 
schränkung des Angebots, durch die die Arbeitskraft künstlich zu 
einem seltenern Gut gemacht, ihr Grenzprodukt also künstlich erhöht 
wird und die in der Form der Herabsetzung der Arbeitszeit in der 
Tat eine wesentliche Waffe der Arbeiterorganisationen ist. 

Steht monopolistisch organisierten Arbeitern eine in bezug auf 
die Nachfrage nach Arbeit monopolistische Industrie gegenüber, 
so liegt ein Tausch zwischen zwei Monopolisten vor — ein »isolierter 
Tausch«, wie der zwischen Robinson und Freitag — und es gibt keinen 
eindeutig bestimmten Lohnsatz. Aber verschiedene Umstände, so 
die Rücksicht, die der Leiter jeder Partei auf das mögliche Aus- 
brechen irgendwelcher Gefolgsleute nehmen muß, die Rücksicht auf 
die schließlich verheerenden Wirkungen steten Kampfes und auf die- 
Konsequenzen über ein gewisses Maß hinaus gespannter Forderungen 
für die wirtschaftliche Entwicklung usw. setzen dem Schwanken des 
Lohnsatzes Grenzen ®!), wenn es sich nicht um einen prinzipiellen 
Vernichtungskampf sondern nur darum handelt, innerhalb der kapi- 
talistischen Produktionsweise das dauernd Mögliche zu erreichen. 
Einen besonderen Vorteil für die Arbeiter gibt es in diesem Fall: Wäh- 
rend sie, wenn sie konkurrierenden Unternehmern gegenüberstehen, nur 
dem einzelnen die Bedingung auferlegen können, auch zum höhern 
Lohnsatz keine Arbeiter zu entlassen, wenn er produzieren will, aber 
nicht hindern können, daß einzelne Betriebe überhaupt aufgelassen 
werden, so können sie hier der ganzen Industrie diese Bedingung 
auferlegen. 

Wie bei allenMonopolen ergibt sich hier dieFrage derDifferenzierung. 
Jeder Monopolist kann seinen Monopolgewinn erhöhen, wenn er nicht 
genötigt ist einen einheitlichen Preis zu bestimmen, sondern ein 


80) Da tritt der Unterschied zwischen den beiden Begriffen hervor: Gesamt- 
füutzen und Menge mal Grenznutzen — außerdem die Tatsache, daß von der 
Gesam t arbeitsmengé das Gesamt produkt abhängig ist. 

6&1) Vgl. Pigou: Methods of Industrial Peace, Anhang. 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 73. 


Preissystem festsetzen kann, welches die höhere Kaufkraft mancher 
Käufer ausnützt, ohne, wie es ein einheitlicher Preis dieser Höhe täte, 
weniger kaufkräftige auszuschließen, und welches die schwächere 
Kaufkraft andrer Käufer schont und sie heranzieht, ohne doch, wie es 
ein so niedriger einheitlicher Preis tun würde, den Monopolisten um 
die an sich mögliche Ausbeutung kaufkräftiger Käufer zu bringen. 
Aehnliches gilt natürlich für ein Einkaufsmonopol. Der monopolisti- 
sche Verkäufer von Arbeit könnte nun ebenso verfahren und die so 
differenzierten Löhne hinterher einziehen und unter die Arbeiter 
einer Kategorie gleich verteilen. Der monopolistische Käufer von 
Arbeit verfährt tatsächlich mitunter so und aus quasimonopolisti- 
schem stillschweigenden Uebereinkommen erklären sich mitunter Lohn- 
diiferenzen bei gleicher Leistung (zwischen Männern und Frauen, 
konnationalen und fremden Arbeitern, jungen und alten Leuten). 


VIII. 


Wenn man nun die skizzierte Theorie entsprechend ausbaut 
und sachgemäß auf das jeweils vorliegende Tatsachenmaterial an- 
wendet, so ergibt sich eine wesentlich inhaltsreichere Ausbeute an 
Resultaten über die alten Themen der »künstlichen Lohnerhöhungen«, 
der Verkürzung der Arbeitszeit 8?) und der Bewegungsgesetze des Lohn- 
einkommens als in der Regel angenommen wird. Ich will hier auf 
das erstgenannte noch mit einigen Worten eingehen, wobei ich von 
der Beziehung zwischen Arbeitslohn und Qualität der Leistung absehe 
und die letztere als durch die zu betrachtende Lohnerhöhung unbe- 
rührt annehme. Das Problem ist oft genug behandelt worden, wie 
das seiner praktischen Bedeutung entspricht. Bekanntlich ist es stets 
ein Sturmzentrum antitheoretischer Stimmungen gewesen, und eine 
Reihe von Vorurteilen gegen die Theorie und das, was sie angeblich 
lehrt, wurzeln hier. Fast nirgends kann man so gut die Natur ökono- 
mischer Diskussionen studieren, vor allem dieTatsache, daß der von 
praktischem Wollen erfüllte Mann sich meist gar nicht die Mühe 
nimmt, eine wissenschaftliche Theorie auch nur zu verstehen, sondern 
sich vielmehr an die eine oder andre Phrase hält 83), die irgendwie 
an sein Ohr gedrungen ist. Wäre das nicht so, so hätte man die Frage 
nach der »Möglichkeit« künstlicher Lohnerhöhungen überhaupt nicht 
stellen können. Denn niemand konnte sie je bestreiten. Was alleın 
jemals behauptet werden konnte, war, daß »künstliche« Lohner- 
höhungen gewisse Wirkungen haben, welche eventuell ihren dauernden 
Erfolg beeinträchtigen können. Dennoch hat wiederum niemand 
geringerer als Tugan-Baranowsky die Meinung ausgesprochen, daß 
die Theorie, wenn sie richtig wäre, die Sinnlosigkeit aller solcher 


#) Die besten Ausführungen über dieses Problem findet man in den zit. 
Arbeiten von Thompson und von Pigou. 

0) Ein hübsches Beispiel dafür sind die Schicksale der Lohnfondstheorie. 
Vgl. darüber meine Epochen der Dogmen- und Methodengeschichte in Grundriß 
der Sozialökonomik I. 





74 Joseph Schumpeter, 


Versuche beweisen würde, und eben aus deren Erfolg auf die Falsch- 
heit der Theorie geschlossen — und nach einer neuen gesucht. 

Vor allem muß man sich darüber klar sein, ob man die Wirkung 
einer »künstlichen« z. B. durch Gesetzgebungsakt erfolgenden Lohn- 
erhöhung für den Fall des Monopols, der beschränkten oder freien 
Konkurrenz behandeln will, resp. welcher dieser Fälle in concreto 
vorliegt. Bei freier Konkurrenz wiederum, ob die Erhöhung über 
den Lohn im Gleichgewichtszustand hinaus erfolgen soll oder ob ım 
Momente der Erhöhung gar kein solcher erreicht ist. Dann ob man 
die momentanen oder die erst im Laufe der Zeit eintretenden Wir- 
kungen untersuchen will. Weiters ob man an Lohnsteigerungen in 
nur einer Branche oder an allgemeine denkt. Und stets muß man die 
Wirkungen der Lohnerhöhung auf das Sozialprodukt und die Wir- 
kungen auf den Anteil der Arbeiter — den relativen wie den absoluten 
— auseinanderhalten. Eine ganz allgemeine Frage wie: Ist eine 
künstliche Lohnsteigerung möglich ? Oder: Wie wirkt eine künstliche 
Lohnsteigerung? — hat überhaupt keinen Sinn. Wir wollen einige 
der wichtigern Fälle behandeln und an diesen auch die hauptsäch- 
lichsten allgemeinen Gesichtspunkte hervorheben. 

Wenn die Arbeiter einem Unternehmer gegenüberstehen, der 
ein Monopol am Markt seiner Produkte hat — der Fall des Nachfrage- 
monopols nach Arbeit erledigt sich ja von selbst —, so brauchen 
keine Rückwirkungen einzutreten und die Lohnerhöhung kann sich 
dauernd erhalten, wenn die Arbeiter den Zudrang andrer Arbeiter 
fernzuhalten wissen. Denn der Monopolist könnte es zwar vorteil- 
haft finden 84), den Preis seiner Produkte zu erhöhen, was die Folge 
hätte, daß die Nachfrage nach ihnen, folglich auch die Nachfrage 
des Monopolisten nach Arbeit, sinken würde. Aber es kann ihm, ohne 
daß die Produktion als ganze für ihn unren- 
tabel wird, innerhalb gewisser Grenzen vorgeschrieben werden, 
den Produktpreis nicht zu erhöhen (Montemartini 8). Wird ihm das 
` freilich nicht vorgeschrieben, so wird es früher oder später zu Arbeiter- 
entlassungen kommen, denn bei veränderten Produktionskosten 
ist im allgemeinen der Punkt des Gewinnmaximums (Punkt von 
Cournot) ein andrer. Obgleich die Möglichkeit der Auflage jener 
Bedingung ein Vorteil für die Arbeiter ist, so bedeutet das doch nicht, 
daß ihre Lage einem Monopolisten gegenüber günstiger ıst als gegen- 
über einem Unternehmer, mit dem andre konkurrieren; denn das 
Sozialprodukt ist in ersterm Falle geringer als in letzterm und über- 
haupt ist es Ja nur die Tatsache eines auf Kosten aller Konsumenten, 
darunter meist auch der Arbeiter, zustandegekommenen Gewinns, 
also ein Nachteil, der gerade in diesem Punkte einen Vorteil bietet. 
Sind alle Industriezweige monopolisiert und erfolgt die Lohnsteige- 
rung allgemein, so ist die Situation der Arbeiter insofern noch günstiger, 
als nun auch kein Unterbieten seitens andrer Arbeiter zu befürchten 
ist. Uebrigens kann in beiden Fällen der Monopolist ein Interesse 

84) Was sich preistheoretisch exakt nachweisen läßt, 

85) Im Giornale degli Economisti, 1909. 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 75 


daran haben, die Produktmenge zu variieren, auch wenn er den Pro- 
duktpreis nicht erhöhen darf, und vor allem die Produktionsmethode 
zu verändern, denn die beim frühern Lohn vorteilhafteste Kombina- 
tion der Produktionsmittel ist es nun nicht mehr. 

Aehnlich steht es überall dort, wo beschränkte Konkurrenz 
oder irgendein stillschweigendes Einvernehmen zwischen den Unter- 
nehmern besteht, also besonders in wenig entwickelten Ländern. 
Da gibt es überall Gewinne auch noch an der Produktivitätsgrenze, 
die als »Puffer« dienen und den Stoß einer Lohnerhöhung für den 
gesamten Organismus der Volkswirtschaft abschwächen. Besonders 
für kurze Perioden gilt das fast überall und diese Umstände erklären 
es, daß wir dem Resultate Schüllers beistimmen können, daß »durch 
Erhöhung der Löhne innerhalb der praktisch in Betracht kommen- 
den Grenzen . . . in der Regel nur ein relativ geringer Rückgang der 
Nachfrage nach Arbeitskräften verursacht werden kann« (Nachfrage 
nach Arbeitskräften p. 743), ohne freilich seine Begründung des Satzes 
zu billigen. Aehnlich ergibt sich hier auch eine teilweise Ueberein- 
stimmung mit den praktischen Resultaten Tugan-Baranowskys. 

Wenden wir uns dem Fall der Konkurrenz zu, so haben wir vor 
allem zu beachten, ob z. B. ein autoritativer Eingriff in die Lohnbe- 
stimmung in einen schon vorhandenen Gleichgewichtszustand ein- 
greift oder nicht. Sehr häufig wird nämlich der Schein eines Erfolgs 
dadurch hervorgerufen, daß die Löhne aus irgendeinem Grunde nicht 
die Gleichgewichtshöhe hatten. Ein Eingriff, der etwa diese erst 
durchsetzt, bewährt sich natürlich ohne alle ungünstigen Rück- 
wirkungen. Ein besonders wichtiger Fall ist der der Geldentwertung, 
die seit Mitte der Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts 
eintrat und nun natürlich durch die Zeitereignisse noch gewaltig ver- 
stärkt wird. Hier pflegt der Lohn den veränderten Verhältnissen 
nur in größerm oder geringerm Abstand zu folgen und daher ein ganz 
ungerechtfertigtes, d.h. in den realen Bedingungen der Lohnhöhe 
unbegründetes, temporäres Sinken des Reallohns einzutreten. Wird 
das nun durch autoritativen Eingriff korrigiert, so ist damit nur der 
Zustand hergestellt, der ohnehin dem Konkurrenzmechanismus ent- 
spräche. Vielleicht ist es in solchen Fällen — und sie sind sehr zahl- 
reich — gar nicht richtig von einem Scheinerfolg zu sprechen. Denn 
es wird ja tatsächlich viel unnötige Friktion, viel Kämpfen und viel 
Elend beseitigt. Ein wirklicher Scheinerfolg liegt aber vor, wenn in 
einer Epoche wirtschaftlichen Aufschwungs, die schon von selbst 
Lohnsteigerungen mit sich bringen würde, autoritative oder sonstige 
skünstliche« Lohnerhöhungen erfolgen, die, weil die Gleichgewichts- 
lage des Lohns sich ohnehin nach oben verschiebt, sich ebenfalls 
ganz gut »bewähren«. Deshalb ist die Befriedigung des Sozialpoli- 
ükers über seine Leistungen im Laufe des ıg. Jahrhunderts in der 
Tat zum Teil eine Illusion. Jedenfalls aber stellt sich das wahre Pro- 
blem der »künstlichen Lohnerhöhung« der Praxis viel seltener als das 
Problem der Erhöhung eines unter seiner Gleichgewichtshöhe zu- 
Tückgebliebenen Lohns, 


Cannona 


76 Joseph Schumpeter, 


Soweit kann keine Meinungsverschiedenheit bestehen. Kontrovers 
könnte nur die Lösung dieses »wahren« Problems sein, das zwar den 
theoretischen Kern der Sache enthält aber praktisch viel weniger be- 
deutsam ist. Wenn in einer einzelnen Industrie, in der freie 
Konkurrenz herrscht, der Lohnsatz durch autoritativen Eingriff über 
die Gleichgewichtshöhe gehoben und Zudrang der Arbeiter aus andern 
Branchen ferngehalten wird, so wird nunmehı die Grenzmenge mit 
Verlust produziert und fällt weg, so daß der Produktpreis steigt. Ein 
andrer Weg zum gleichen Resultate ist: Es wird der Unternehmer 
die Lohnerhöhung auf den Preis »aufschlagen«, deshalb wird die Nach- 
frage zurückgehen und der Preis von dieser Höhe wieder herabsinken, 
aber nicht ganz auf den frühern Stand, so daß eine teilweise Ueber- 
wälzungauf den Konsumenten stattfindet und — durch die verringerte 
Produktion — eine weitere teilweise Ueberwälzung auf die Besitzer 
der Produktionsmittel, darunter auch die Arbeiter. Wenn es sich 
wirklich um einen »gewinnlosen Unternehmer« handelte, so müßten 
beide Ueberwälzungen die Lohnerhöhung wettmachen. Der geschil- 
derte Prozeß braucht sich in der Praxis nicht Schritt für Schritt so 
abzuspielen, sondern die Unternehmer können sein Resultat — ein 
oder einige Glieder des Zusammenhangs überspringend — antizipieren. 

Zu diesem Ergebnis ist zu bemerken: Es tritt nur dann merklich 
hervor, wenn nicht eine gleichzeitige Entwicklung die Daten des 
betreffenden Gleichgewichtszustandes verändert und z. B. die Nach- 
frage nach dem Produkt der betreffenden Industrie erhöht. Weil das 
nun in der Regel der Fall ist, so wird jener Abwälzungsprozeß meist 
ganz überschattet werden, selbst dann wenn es, was ebenfalls meist 
der Fall ist, keine »Puffer« von Quasirente und Uebergewinn in dieser 
Industrie gibt. Das darf uns nicht veranlassen zu sagen, daß jener 
Prozeß irreal sei und vernachlässigt werden könne. Dergleichen wird 
zwar oft gesagt, wie ja auch oft argumentiert wird, die Kaffeepreise 
seien nach Einführung von Kaffeezöllen gesunken, folglich der Zoll 
ohne Einfluß auf den Preis gewesen. In letzterm Fall ist es klar, daß 
ohne Zoll der Kaffeepreis noch viel mehr gesunken wäre und ebenso 
ist es in unserm Fall klar, daß eine analoge Entgegnung nicht etwa 
nur theoretisch korrekt sondern auch im Interesse unseres Verständ- 
nisses eines praktisches Falls geboten ist. 

Ferner tritt der skizzierte Prozeß nur dann ein, wenn die Nach- 
frage nach dem betreffenden Produkt nicht etwa unelastisch ist. Ist 
sie das, so tritt das Sinken der Nachfrage anderswo in der Volkswirt- 
schaft ein und kann dann für dasAuge des Beobachters leicht unsicht- 
bar sein. 

Man könnte ferner glauben, daß die Reduktion der Produktion 
nur dann die, vom Unternehmerstandpunkt gesehen, geeignete Reak- 
tion auf die Lohnerhöhung wäre, wenn die Kosten der Produkteinheit 
dadurch reduziert werden, also die Industrie einem Gesetz des ab- 
nehmenden Ertrags folgt. Dem ist nicht so. Auch wenn die Kurve 
oder Skala der sukzessiven Angebotspreise in der betrachteten Industrie 
abwärts gerichtet ist, sie also einem Gesetz des zunehmenden Ertrags 


| rn Tr ne - = 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie, 77 


folet und die Kosten der Produkteinheit bei Reduktion der Produktion 
z. B. infolge der größern Quote von Generalkosten, die dann auf die 
Einheit fällt, steigen, gibt es einen Punkt, an dem die Nachfragekurve 
dauernd unter die Angebotskurve sinkt und der der Punkt stabilen 
Gleichgewichts ist. Wird nun durch eine Lohnerhöhung die Angebots- 
kurve parallel mit sich selbst nach aufwärts verschoben, so lehrt 
ein Blick auf die bekannte Figur nicht nur, daß die Reduktion der 
Produktion im allgemeinen noch immer die geeignete Reaktion des 
Unternehmers auf die Lohnerhöhung ist, sondern sogar, daß die Ver- 
wüstungen, die eine Störung des Gleichgewichts, sei es eine Lohn- 
erhöhung, eine Steuerauflage oder sonst etwas, in einer Industrie 
anrichtet, meist viel größer sein werden, wenn sie einem Gesetz 
des zunehmenden als wenn sie einem Gesetz des abnelımenden Er- 
trags folgt. Allerdings gibt es da kompliziertere Fälle, u.a. den 
Fall multipler Gleichgewichtslagen. Aber alle diese Fragen sind von 
Marshall, Edgeworth und ihrem Kreis sorgfältig behandelt worden und 
Unkenntnis der betreffenden Resultate ist heute schlechthin un- 
entschuldbar. 

Einwendungen von der Art, wie sie R. Schüller wieder vorge- 
bracht hat, verfehlen weiters auch hier den Sinn des Arguments. 
Gewiß kann ein Unternehmer in unserm Fall nicht in der Weise 
seine »Nachfrage nach Bodenleistungen« reduzieren, daß er etwa 
einen Quadratmeter des Grundstücks aufgibt, auf dem seine Fabrik 
steht. Für kurze Perioden begegnet natürlich in solchen Fällen der 
ökonomische Prozeß sehr großem Reibungswiderstand, der ihn hie 
und da zum Stillstand bringen kann und für dessen Erfassung die 
Theorie ja ihre Mittel hat ®). Es kommt für den Unternehmer außer- 
dem in Betracht, daßer meist darauf rechnen kann, daß die nierastende 
Bewegung des Wirtschaftslebens auch ohne daß er etwas tut, die 
Rentabilität seines Betriebs wiederherstellt. Daß das Problem einfach 
und durch die Enunziation der Grundprinzipien schon erledigt sei, 
hat ja die Theorie nie behauptet, besonders nie die moderne. Uebrigens 
ist die Sache so zu denken, daß infolge der Lohnerhöhung, wenn 
sie sich überhaupt dem oberflächlichen Betrachten in ihren Wirkungen 
offenbart, irgendwelche Betriebe unrentabel werden und lang- 
sam hinsiechen und dadurch die übrigen Luftraum gewinnen, so daß 
Sich nur bei einem Ueberblick über den ganzen sozialen Prozeß und 
nicht schon bei Untersuchung des Verhaltens jeder einzelnen Unter- 
nehmung die Wirkung des ökonomischen Zusammenhangs zeigt. 

Die Variationen, auf die sich unsre Darstellung zunächst be- 
zieht, sind als relativ sehr klein zu betrachten, so daß die Grund- 


‚lagen der Betriebsweise und der Einkommensverwendung in der 


Volkswirtschaft dadurch nicht verändert werden, was seinerseits 





*) Diehl freilich meint (l. c. p. 606), daß die Tatsache, daß Unternehmungen, 
die großes fixes Kapital haben, sjahrelang« ihre Arbeiter auch zu Löhnen weiter- 
beschäftigen, welche einen Kapitalverlust involvieren, dem Satz widerspreche, 
daß sich Lohnsätze, bei denen der Unternehmer mit Verlust arbeitet, nicht auf 
die Dauer halten können! 


78 Joseph Schumpeter, 


wiederum in erster Linie auf relativ kurze Perioden paßt. Die prak- 
tische Brauchbarkeit der Resultate wird dadurch nicht alteriert, 
denn Lohnerhöhungen solcher Art, d.h. Lohnerhöhungen über 
das Gleichgewichtsniveau des Lohns in einer Industrie, in 
der völlig freie Konkurrenz herrscht, sind in der Tat immer 
nur klein. Betrachtet man einerseits größere Variationen — die aber 
noch immer nicht so groß sein dürfen, daß eine Katastrophe oder 
doch ein völliger Abbruch der organischen Beziehungen zum Vor- 
handenen eintritt — und andrerseits längere Perioden, so sind auch 
Veränderungen der Produktionsweise und des Kapitalangebots zu 
berücksichtigen. Es wird nun eine andre Kombination der Produktions- 
faktoren optimal und die Produktionskoeffizienten ändern sich. Es 
wird vorteilhaft, mehr Kapital und Boden im Verhältnis zur Arbeit 
zu verwenden. Die Vermehrung der Kapitalmenge pro Arbeiter geht 
meist in der Form der Ausdehnung des maschinellen Betriebs®”) vor 
sich und bekanntlich sind Lohnsteigerungen eine der wichtigsten 
Ursachen dafür, daß nach immer weitern Mechanisierungsmöglich- 
keiten im Produktionsprozeß gesucht wird 8). Dabei seien im Vorbei- 
gehen zwei interessante Fälle berührt: Einmal der Fall, daß infolge 
der völligen Veränderung aller Posten der Unternehmerkalkulation 
nun eine viel größere Produktionsmenge optimal wird als früher: Daß 
also zwar früher eine geringere die optimale war und bei den frühern 
Verhältnissen auch durch Mechanisierung des Produktionsprozesses 
keine größere vorteilhaft geworden, vielmehr eben diese Mechani- 
sierung beim frühern Lohn unrentabel gewesen wäre, daß aber jetzt, 
bei einem neuen Lohn die Mechanisierung, mit ihr aber auf einmal 
eine größere Produktionsmenge die rentabelste wird. Dieser Fall 
braucht nicht einzutreten, aber er tritt oft ein und hat dann nicht 
nur die Folge, daß die Arbeiter als Konsumenten gewinnen, sondern 
auch, daß eine sozusagen sekundäre Nachfrage nach Arbeit ausgelöst 
wird, welche zwar die frühere Gesamtnachfrage nach Arbeit nicht 
ganz wiederherstellt, aber doch zum Teil. Diese mögliche Produktions- 
ausdehnung widerspricht nicht unserm Prinzip, daß der Lohnsteige- 
rung eine Reduktion der Produktion zu folgen tendiere. Denn dieses 
Prinzip gilt allgemein nur innerhalb der Annahme wesentlich kon- 
Stanter Produktionsmethoden, der eben erwähnte Fall beruht aber 
auf der entgegengesetzten Annahme. Beide Fälle sind gleich real, 
beide stimmen gleich gut zu den Grundlagen der Theorie, aber beide 
beziehen sich auf verschiedene Reihen von Tatsachen, die in der Wirk- 
lichkeit sich einander stets superponieren. Aehnlich ist es kein Wider- 
spruch, wenn wir sagten, daß infolge der bei Lohnerhöhungen wenig- 
stens vorhandenen Tendenz nach Produktionseinschränkungen 
die Nachfrage nach Kapital sinkt, nun aber sehen, daß sie auch stei- 


87) Dieser Punkt ist mit besonderer Sorgfalt herausgearbeitet im zit. Artikel 
v. Böhm-Bawerks. 

88) Das sei gegenüber Schüller und Tugan-Baranowsky ausdrücklich betont, 
welche dieses Moment zwar nicht leugnen, aber ihm nicht seine gebührende 
Rolle zuweisen. 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. .79 


gen kann. Im großen und ganzen kann man sagen, daß 
das eine für kleine Veränderungen und relativ kürzere Perioden, 
das andre für größere Veränderungen des Lohnsatzes’ und relativ 
längere Perioden gelte. Vielleicht frägt jemand, was er denn mit 
einer Theorie anfangen solle, die ihm auf seine »klare Frage« nach 
den W'rkungen von Lohnerhöhungen eine solche Masse ‘voneinander 
widerstreitenden Möglichkeiten bietet ? Das wäre in deg Tat erfreulich, 
wenn dieselben Leute, die sich immer darüber beklagen, daß die 
Theorie die vıelgestaltige Wirklichkeit mit ihren einfachen Formeln 
entstelle, nun, wo sie sehen können, daßaus diesen einfachen Formeln 
ein elastisches lebensvolles System von Resultaten für alle möglichen 
Fälle zu gewinnen ist, wiederum darüber entrüstet sein und aus den 
verschiedenen Möglichkeiten die Theorie desavouierende Wider- 
sprüche machen wollten — guarda e passa! Wenn aber mit jener Frage 
etwas andres gemeint ist, nämlich welche Wirkungen eine Lohner- 
höhung in praxi in einem konkreten Fall oder doch so ungefähr in 
der Gegenwart und im kapitalistischen Kulturkreise haben würde, 
so ıst es klar, daß die Theorie, die wie alle Theorie ihre Resultate nur 
hypothetisch formulieren kann, diese Frage nie aus sich selbst sondern 
nur dann geben wird, wenn die nötigen Tatsachen in sie eingesetzt 
werden. Selbst dann aber wird gerade ein Theoretiker, der die Theorie 
wirklich beherrscht, sich hüten, zu sabsolut« zu sein. Auch auf andern 
Gebieten geht Einsicht nicht immer mit prompten Urteilen über den 
einzelnen Fall Hand in Hand: Die promptesten Diagnosen gibt seinen 
Patienten der Dorfbader — der Mann der Wissenschaft zeigt oft 
eine, ihm auch gebührend übel angerechnete, »Unsicherheit« in der 
Diagnose. | 

Der andre Fall, den ich in diesem Zusammenhang erwähnen 
wollte, ist der, daß bei einer solchen Reorganisation der Produktion, 
wie die Mechanisierung des Produktionsprozesses sie involviert, sehr 
leicht ganz neue Möglichkeiten auftauchen, an die früher niemand 
dachte und daß sich an dieerwähnte dann wieder eine weitere Reorgani- 
sation der Produktion anschließt, die u. a. auch die Folge haben kann, 
daß die Nachtrage nach Arbeit beim neuen Lohnsatz ihre frühere 
Höhe wieder erreicht oder auch, diesen Lohnsatz weiter erhöhend, 
übertrifft. Vom Standpunkt des hier betrachteten Kausalzusammen- 
hangs wäre das lediglich als ein Zufall zu qualifizieren, aber es ist ein 
Zufall, der sehr leicht eintritt. 

Die Vermehrung der Kapitalmenge pro Arbeiter braucht aber 
nicht notwendig in der Form der Vergrößerung des stehenden Kapitals 
vor sich zu gehen, wenngleich das der wichtigste Fall ist. Es kann 
z. B. auch mit Rohstoffen weniger hausgehalten oder das finishing 
der Produkte vermindert werden. Der wichtigste Fall der Ver-- 
mehrung des Produktionsfaktors Boden ist bekanntlich der Ueber- 
Bang von intensiver zu extensiverer Betriebsform. Diese Fälle führen 
uns besonders klar die Natur einer Seite des theoretischen Problems 
vor Augen, mit dem wir es hier jmmer zu tun haben. Die Wirkungen 
von Lohnerhöhungen stehen unter dem Einfluß der Tatsache, daß- 


30 Joseph Schumpeter, 


es sich um zwei verschiedenartige Beziehungen zwischen den Werten 
und Preisen der Arbeitskraft einerseits und Kapital und Boden andrer- 
seits handelt: Einmal sind alle drei komplementäre Güter und sodann 
sind alle drei auch innerhalb gewisser Grenzen rivalisierende Güter ®9). 
Ein Paradigma der erstern Beziehung ist die Beziehung zwischen 
den Werten und Preisen von Zucker und Kaffee und der letztern die Be- 
ziehung zwischen den Werten und Preisen von Kaffee und Kaffee- 
surrogaten. Nun sind zwar beide Fälle seit langem sorgfältig behandelt 
worden °°). Aber ihre Kombination bietet besondre Schwierigkeiten. 
Doch soll darauf nicht weiter eingegangen werden. 
An sich muß der absolute Kapitalertrag infolge einer Lohner- 
höhung nicht notwendig sinken. So gut wie ausnahmslos gilt das 
nur für kleine Variationen und kürzere Perioden. Darüber hinaus 
nur dann ausnahmslos, wenn die Reaktion auf die Lohnerhöhung 
lediglich in Verlängerung der Produktionsperiode besteht. 
Aber soweit er sinkt, ergibt sich die Frage, wie das auf das Kapi- 
talangebot wirkt. Wenn dieses sich kontrahiert, so muß das im allge- 
meinen und vor allem unmittelbar eine Rückwälzung der auf das 
Kapital gewälzten Last aut die Arbeiter zur Folge haben, und in der 
Tat war es von altersher üblich zu sagen, daß künstliche Lohnerhöhungen 
bewirken müßten, daß die Leute »nicht mehr sparen«, während dieser 
Anschauung immer und nun auch von Tugan-Baranowsky entgegen- 
gehalten wurde, daß ein Sinken des Kapitalertrags innerhalb gewisser 
Grenzen sogar eine Erhöhung der »Spartätigkeit« nach sich ziehen 
könne. Dieses Gegenargument ist richtig. Stellen wir uns nämlich 
auch auf den Standpunkt, daß Kapital durch Sparen entstehe und 
dieses — an der Grenze natürlich nur — ein »Opfer« involviere, das 
durch den Zinsertrag aufgewogen werden müsse, so folgt daraus 
noch nicht, daß die Leute, wenn der Zins sinkt, notwendig weniger 
sparen würden. Denn wenn auch der Grenzertrag des Kapitals dem 
Grenzopfer desSparens gleich sein müßte, so kann doch diese Gleich- 
heit bei sehr verschiedenen Zinssätzen realisiert sein. Bei hohem 
Zins sinkt die Kurve des Grenznutzens immer weiterer Sparsum- 
men natürlich schneller als bei niedrigem. Wenn wir nun die Kurven 
des Grenznutzens der Einkommens zuwächse und die Kurven 
der Disutility des Sparens als in beiden Fällen identisch annehmen, 
so kann es sein, daß bei höherm Zinsertrag das Gleichgewicht bei 
einem geringern Grenzopfer, also einer geringern Gesamtsparsumme 
erreicht wird als bei niedrigerm, weil der Grenznutzen der schneller 
zunehmenden Einkommenszuwächse im ersten Fall früher von der 
»Sparunlust« aufgewogen werden kann als im zweiten. Und wenn 
nicht weniger gespart wird, so kann es zu einer Rückwälzung der 
Last auf die Arbeiter in diesem Sinn nicht kommen, ja es kann sich 


e?) Das gilt auch, wie gesagt, für die verschiedenen Qualitäten der Arbeit 
in ihrem Verhältnis zueinander. 

90) Die neueste Arbeit darüber ist die große Abhandlung von Fanno im 
Giornale degli Economisti, ottobre 1914. 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 8] 


sogar ereignen, daß mehr als bisher gespart und der Zins also noch 
weiter gedrückt wird. 

Nur darf man diesem Argument nicht zuviel zumuten. Vor 
allem hat es die für die meisten der Autoren, die damit operieren, 
unangenehme Eigenschaft, daß es zwar die Möglichkeit einer Zins- 
herabsetzung zeigt, ohne daß deshalb notwendig weniger gespart 
würde, aber zugleich die Notwendigkeit eines Zinses, damit — über 
einen ganz kleinen Teil der erforderlichen Kapitalmenge hinaus, von 
dem angenommen werden kann, daß er als Reserve für Unglücks- 
fälle usw. jedenfalls, auch ganz ohne Zins, »zurückgelcgt« werden 
würde — überhaupt gespart werde. Dann kann man nicht etwa da- 
mit beweisen, daß jede Zinsherabsetzung das Kapitalangebot unver- 
ändert lassen oder gar erhöhen würde, wenn der Zins nur überhaupt 
größer als Null bleibe, Denn das gilt sicher nur für begrenzte Inter- 
valle und nur für die verschiedenen Motive des Sparens und Klassen 
der Sparer in sehr verschiedenem Maß. Auch gilt es, selbst inner- 
halb dieser Grenzen, nur für den einzelnen Sparer ganz zweifellos, 
darf aber nicht ohne weiters auf die soziale Gesamtsumme der Spar- 
gelder angewendet werden. Denn für diese kommt in Betracht, daß 
wenn auch manche Leute bei höherm Zins weniger sparen als bei 
niedrigem, dafür bei höherm Zins manche Leute zur Gruppe der Sparer 
hinzutreten — besonders »kleine Leute« — die bei niedrigerem über- 
haupt nicht sparen würden. Erwägt man das, so wird das Resultat 
durchaus zweifelhaft. Man kann nicht etwa sagen, daß die Tatsachen 
ganz klar für dieses Argument sprächen: Der Umstand, daß bisher 
das Sinken des Zinsfußes und zunehmende Besteuerung des Kapital- 
ertrags mit steigenden Sparsummen Hand in Hand gegangen ist, 
beweist nichts. Denn erstens würde eine einmal akquirierte Spar- 
gewohnheit noch lange vorhalten, auch wenn ihre rationellen Grund- 
lagen fortgefallen wären; zweitens handelt es sich bei dieser angeb- 
lichen Verifikation um einen historischen Vorgang, in dessen Ver-. 
lauf sich alle Daten so gründlich verändert haben und besonders 
so viele Leute erst in die Möglichkeit versetzt wurden zu sparen, die 
früher am Existenzminimum waren, und andre so viele Unternehmerge- 
winne machten wie noch nie daß man daraus gar nichts herleiten 
kann; drittens ist es gar nicht so sicher, ob hier und da auftretende 
Unlust zum Sparen in gewissen Kreisen, die früher mehr dazu geneigt 
waren, nicht auch, unter andern Ursachen, die Ursache des schwä- 
chern Impulses eines niedrigern Zinsfußes hat. Endlich aber — und 
das ist besonders zu betonen — ergäbe sich aus dem diskutierten 
Argument nichts gegen die Abstinenztheorie. Denn sie kann sich, 
wie gezeigt, völlig mit der Tatsache abfinden, auf der es beruht, auch 
wenn diese Tatsache gar nicht als solche angezweifelt werden könnte. 
Tugan-Baranowsky hat ohne weiters den Schluß gezogen, daß, wenn 
eine Zinsherabsetzung sowohl Zu- wie Abnahme des Kapitalangebots 
zur Folge haben könne, die Abstinenztheorie des Zinses widerlegt 
sei. Ich habe nun durchaus nicht die Absicht, diese Theorie zu ver- 


Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 1. 6 


82 Joseph Schumpeter, 


teidigen, die auch ich nicht für befriedigend halte. Aber dieseı 
Angriff geht an ihr vorbei. 

Wir haben bisher an eine »künstliche« Lohnerhöhung nur in 
einer Industrie gedacht. Da wir aber dabei schon — als ohne weiters 
klar — die Wirkung des Zudrangs von Arbeitern aus andern Industrien, 
also eines wesentlichen Unterschieds zwischen diesem Fall und dem 
einer allgemeinen solchen Lohnerhöhung, ausgeschieden haben, so 
gilt das Gesagte größtenteils auch für den letztern. Nur ein Punkt 
bleibt aufzuklären. Die populäre Meinung ist auch in diesem Fall, 
daß die Unternehmer einfach den Betrag der Lohnerhöhung auf die 
Produktpreise »aufschlagen«, und eine der beliebtesten Theorien über 
die Preissteigerungen der letzten fünfzehn Jahre ist in der Tat, daß 
sich diese aus dem Steigen der Löhne erklären. Allein, bekanntlich ist 
das nicht so einfach. Es können bei gegebener Menge und Umlaufs- 
geschwindigkeit der Kaufkrafteinheiten nicht alle Preise zugleich 
steigen. Auf dieses — vom Nationalökonomen oft dem Laien vorge- 
haltene — Argument gibt es nun freilich eine Antwort. Wenn sich für 
alle Unternehmer die Kostensumme vermehrt und alle die Absicht 
haben, höhere Preise zu fordern, so werden sie sich nun auch größere 
Darlehen von ihren Banken verschaffen, z. B. höhere Wechselsummen 
diskontieren können. Dann ist durch Banknoten oder neubegründete 
Guthaben die Umlaufsmittelmenge erhöht — insofern als der Rück- 
zahlung meist Erneuerung des Darlehns folgt, dauernd — und es 
können wirklich, wie der Laie schon immer meinte, alle Preise gleich- 
zeitig steigen. So geschieht es auch — das ist eine von den vielen 
Formen modernen Kreditmißbrauchs und einer der Gründe, warum 
es den Notenbanken so schwer fällt, Goldagien zu vermeiden. Aber 
eine solche Erhöhung aller Preise ist illusorisch, und kein Unter- 
nehmer hätte etwas davon, wenn zwar seine Einnahmen steigen, aber 
auch die Preise aller Güter, die er dafür zu kaufen wünscht, aller- 
dings mit der Einschränkung — und eine praktisch gewichtige Ein- 
schränkung ist es —: abgesehen von den Zwischengewinnen, die Valuta- 
entwertung für die Unternehmerkreise (aber nicht für die Kapita- 
listen als solche) zur Folge hat. Das ist, wie schon Ricardo sagte, 
jedenfalls ausgeschlossen, daß alle Tauschverhältnisse der Waren 
untereinander gleichzeitig steigen. Diese Erkenntnis wird auch nicht 
wesentlich durch die gleichfalls schon von Ricardo hervorgehobene 
Tatsache berührt, daß Lohnerhöhungen die Tauschverhältnisse zu- 
gunsten der Waren, in denen relativ viel unmittelbare Arbeit enthalten 
ist, auf Kosten jener, die mit relativ großem fixen Kapital erzeugt 
werden, verschieben. Aber dennoch ist dieser Satz ein sehr wichtiges 
Element in unserm Problem. Die Verschiebung der Tauschver- 
hältnisse bringt nämlich in der Zeit, während welcher sie sich voll- 
zieht, Gewinne und Verluste hervor, die nichts mit der Hauptströ- 
mung der Effekte der Lohnsteigerung zu tun haben, sie für die einzelne 
Unternehmung aber vollständig verdecken können, und gibt uns ein 
Beispiel dafür, wie verschieden eine Lohnerhöhung auf die einzelnen 
Unternehmungen wirkt — ein andres ist der große Unterschied, den 


— se m————._ x 


~ 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 83 


es machen kann, ob ein Betrieb einem Gesetz des ab- oder einem Gesetz 
des zunehmenden Ertrags unterliegt, ein drittes wie elastisch die 
Nachfrage nach seinen Produkten und seine Nachfrage nach Arbeit 
it — und welches Gewirre von Wirkungen und Rückwirkungen 
sich hier vor uns öffnet. 

Obgleich es aber weiter wahr ist, daß, abgesehen vom erwähnten 
Fall des »Kreditmißbrauchs«, nicht alle Preise zugleich steigen könnten, 
soist es doch ebenso wahr, daß sie das tun können, wenn eine Reduktion 
der Produktion eintritt, wobei natürlich wieder zu ergänzen ist: unter 
jenes Maß, das sie andernfalls erreicht haben würde. Geschieht das, 
so werden die Arbeiter als Konsumenten eines Teils des Vorteils wieder 
beraubt, den sie als Produzenten erreicht haben, sodaß dieser Vorgang 
keineswegs nur »nominelle« Wirkungen hat. Auch bringt eine solche 
Reduktion der Produktmenge es mit sich, daß die Lohnsteigerung 
nicht bloß auf das Kapital (und Grund und Boden) zu fallen braucht, 
obgleich bei einer allgemeinen Lohnsteigerung die taktische Position 
des Kapitals dadurch verschlechtert ist, daß es nicht abwandern — 
allerdings aber sich noch immer »mechanisieren« — kann. Wenn 
Ricardo hier scheinbar zu einem andern Resultat kam, so liegt das 
zum Teil an gewissen Besonderheiten der Fälle, die er allein betrachtete, 
namentlich an der »Unzusammendrückbarkeit des Lohns« und zum 
Teil an seiner primitiven Werttheorie, die das Eindringen in diese 
Dinge erschwerte. Es wäre leicht, zu zeigen, daß sein Resultat inner- 
halb seines Datensystems »richtig« ist und nicht im geringsten der 
hier vorgeführten Auffassung widerspricht, wie man auch im Fall 
Schüllers, der im Ergebnis sich mit Ricardo berührt, zeigen kann, 
daß die Tatsachen, an die er denkt, sich der Theorie ohne weiters 
einfügen, wenn man auch für seinen Gedankengang nicht so einstehen 
kann, wie für den Ricardos. 

Die Wirkungen einer allgemeinen Lohnerhöhung sind wesentlich 
dieselben, ob sie, wie wir bisher annahmen, durch autoritativen Ein- 
griff oder durch organisiertes Vorgehen der Arbeiterschaft — mit oder 
ohne Strike — durchgesetzt wird. In dem letztern Fall haben die 
Arbeiter eine mehr oder weniger vollständige Monopolstellung und 
das darüber schon Gesagte reicht für unsern Zweck hin. Was dort 
durch äußere Macht — hier allerdings ist das Moment der »Macht« 
an Seinem Platz und deutlich vom Wirken ökonomischer Faktoren 
unterscheidbar — erreicht wird, wird hier dadurch erreicht, daß die 
intramarginalen Werte der Arbeit zur Geltung gebracht werden. 
Natürlich hätten die Arbeiter in diesem Fall kein Interesse, den Lohn 
über die Gleichgewichtshöhe zu erhöhen, denn diese ist ja ohnehin 
durch das Maximum der sei es temporär, sei es dauernd zu erzielenden 
Gesamtlohnsumme charakterisiert. Als eine Besonderheit dieses 
Falles könnte man die leichtere Möglichkeit betrachten, sowohl die 
persönlichen Verluste entlassener Arbeiter als auch den von diesen 
drohenden Lohndruck durch ihre Versorgung oder überhaupt ihre 
Entlassung abzuwenden. 


Praktisch ist die Gefahr temporärer und, wenn der Lohn 
6* 


84 Joseph Schumpeter, 


infolge von autoritativen ° Bestimmungen oder Machtworten der 
Arbeiterorganisationen nicht sinken kann, dauernder Arbeits 
losigkeit viel geringer als sie es wäre, wenn der theoretische Grundfall 
der Erhöhung des Lohns über sein Gleichgewichtsmaß in einer im 
übrigen unter völlig freier Konkurrenz arbeitenden Industrie in der 
Wirklichkeit die Regel bilden würde. Aber sie besteht immerhin 
und wir finden in der Tat in England, wo das industrielle Leben im 
übrigen besonders dem Schema der freien Konkurrenz nahekommt, 
zugleich aber besonders starke »künstliche«e Lohnerhöhungen vor- 
kamen, in den letzten Jahren vor dem Krieg zahlreiche Fälle von 
Arbeitslosigkeit, die man in der verschiedensten Weise zu erklären 
suchte. Auch Tugan-Baranowsky notiert diese Erscheinung, aber 
ohne im geringsten ein Gefühl dafür zu äußern, daß hier eine Erklä- 
rung naheliegt, die uns vermuten lassen könnte, daß »der kühne Ver- 
such Englands, diese -Politik im großen Stil einzuleiten« (p. 82) nicht 
ganz so für die unbegrenzte Macht der Sozialpolitik spricht, wie er 
annimmt. Dem von seinem Wollen erfüllten Sozialpolitiker gegenüber, 
der Gegenargumente nicht hören, entgegenstehende Tatsachen nicht 
sehen will, wäre jeder solche Hinweis vergeblich. Von einem Mann 
vom Rang Tugan-Baranowskys aber darf man wohl erwarten, daß er 
auch unerwünschten Tatsachen ins Auge zu sehen vermag °?!) — und 
daß er nicht arglos vom Hochstand des Lohns »trotz starker Arbeits- 
losigkeit« spricht, wie wenn zwischen beiden kein Zusammenhang 
bestünde. 

Nun verlohnt es sich aber die wichtigsten praktischen Spitzen 
unsres Gedankengangs in bezug auf die Frage der Wirkungen »künst- 
licher« Lohnerhöhungen zusammenzufassen. Wir sehen vor allem, 
daß in sehr vielen Fällen solche Versuche ohne weiters dauernden 
Erfolg haben können und daß in andern zwar nur ein Scheinerfolg 
vorliegt, aber ebenfalls keine für die Arbeiter schädlichen Folgen 
eintreten. Diese Fälle bilden m. E. die Mehrzahl aller praktisch über- 
haupt unternommenen Versuche. Soviel hätten übrigens schon die 
Klassiker zugestanden. Und schon deshalb ist es unrichtig, mit Tugan- 
Baranowsky zu sagen, daß es, wäre »der Arbeitslohn durch Preisgesetze 
bestimmt«, »höchst verkehrt« sein würde, »auf dessen Höhe durch 
sozialpolitische Gesetzgebung einwirken zu wollen« (p. 83) und noch 
unrichtiger, schon deshalb nach einer »Wandlung der Theorie« zu 
rufen, weil die alte »mit den realen Tatsachen des gesellschaftlichen 
Lebens im Widerspruch steht«e. Aber selbst für den theoretischen 
Grundfallhat die Theorie niemals mit solcher Schärfe die »Unmöglich- 


91) Uebrigens braucht die Vernichtung von Beschäftigungsmöglichkeiten, 
von einem allgemeinen Standpunkt gesehen, kein Unglück zu sein. Vielleicht 
ist z. B. die nächstliegende Methode, um Industrien zu eliminieren, die Herde 
sozialer Mißstände sind, einfach die, Minimallöhne festzusetzen, die sie ruinieren, 
und für die dadurch arbeitslos gewordenen Arbeiter, soweit es sich dabei um 
tiefstehende Typen handelt, zu sorgen, so daß sie auf den allgemeinen Lohnsatz 
nicht drücken können, bis dieser Menschentypus überhaupt ausgestorben ist, 
wobei freilich entsprechende, dieses Ziel fördernde, Maßregeln hinzutreten 
müßten.. 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 85 


keite solcher Lohnerhöhungen gepredigt 92). Tat das gelegentlich 
einmal en Theoretiker, so darf man das nicht ohne weiters 
der Theorie zu Lasten schreiben. Die Berechtigung dieser Unter- 
scheidung liegt darin, daß die Grundlagen der Theorie so beurteilt 
werden müssen wie sie sind und nach dem, was an Resultaten potentiell 
in ihnen steckt und nicht bloß darnach, was der einzelne Autor daraus 
ableitet, noch weniger aber darnach, was der Troß der Tagesschrift- 
steller damit anfängt. So beurteilt ließe sich selbst mit den Mitteln 
der Klassiker zeigen, daß Erfolge sozialpolitischer Versuche auch 
für diesen Fall nicht ausgeschlossen sind. Noch viel mehr aber gilt 
das von der heutigen Theorie, wenn man sich nur ihrer Mittel korrekt 
bedient. Sie behauptet nichts andres, als daß solche Lohnerhöhungen 
gewisse Rückwirkungen auslösen, die unter gewissen Voraussetzungen 
die Arbeiter eines Teils, unter andern Voraussetzungen auch des ganzen 
Gewinns berauben — aber das ist sehr verschieden von dem Stand- 
punkt, den Tugan-Baranowsky bekämpft.. 

Da sahen wir denn, daß es möglich ist, sowohl durch organisiertes 
Vorgehen ®) wie durch gesetzliche Maßregeln den Anteil der Arbeiter- 
schaft am Sozialprodukt zu erhöhen 9). Es ist zunächst bei kleinen 
Lohnerhöhungen, die die Grundlage der eingelebten Betriebsweise 
unverändert lassen, möglich, daß die durch die Lohnerhöhung 
bewirkte »Reduktione der Produktion unter das Maß, das sie 
ohne die Lohnerhöhung erreicht haben würde, 
und die entsprechende »Reduktions der Nachfrage nach Produktions- 
mitteln unter das Maß, das sie ohne dieLohnerhöhung 
erreicht haben würde, vornehmlich — im denkbaren, wenn 
auch äußerst seltenen Grenzfall sogar ganz — Kapital- und Boden- 
nutzungen trifft, und sicher, daß sie sie — außer im denkbaren 
aber äußerst seltenen Grenzfall — auch trifft, so daß die Zahl der 
entlassenen Arbeiter in der überwiegenden Anzahl der Fälle nicht groß 
genug ist, damit ihr Arbeitsangebot den Lohn auf das frühere Niveau 
herabdrücken, oder wenn das nicht möglich ist, damit ihr Verlust 
an Lohn in Geld den Gewinn der übrigen ausgleichen würde 9). Der 

") Schon deshalb nicht, weil stets die Wirkung anerkannt wurde, die Lohn- 
erhöhungen auf die Qualität der Arbeit ausüben können. 


®) Nochmals sei betont, daß zur Erklärung des Erfolgs dieses Vorgehens l 
das Moment der Macht gar nichts beiträgt und dazu überhaupt nichts nötig ist | 


wie eine entsprechende Beherrschung der Theorie des Monopolpreises. 

") Einen Spezialfall, der sich hauptsächlich durch die Wirkungen von Lohn- 
veränderungen einer Arbeiterschicht auf die Löhne anderer Arbeiterschichten 
kompliziert, bildet die Einführung von Minimallöhnen. 

”) Ein denkbarer Fall, der aber nur theoretisches Interesse hat, wäre durch 
eine Analogie mit einem Vorgang gegeben, den man, allerdings nur äußerst 
selten, auf dem Markt der Genußgüter wahrnehmen kann: Steigt der Preis 
des billigsten üblichen Nahrungsmittels, also z. B. in England des Weizens, bleibt 
aber dieses Nahrungsmittel noch immer das billigste, so kann es geschehen, 
daß die Arbeiter den Konsum z. B. von Fleisch nun ganz aufgeben und in 
der Hauptsache nur Brot konsumigren Tun sie das, so ist es möglich, daß die 
Nachfrage nach Brot infolge der Preissteigerung desselben sogar steigt. 
In ähnlicher Weise könnte es sich einmal ereignen, daß der Unternehmer bei 


-Nq 


86 Joseph Schumpeter, 


innere Sinn dieses Vorgangs ist, daß durch den Eingriff entweder 
die relativen Grenzproduktivitäten der Produktionsmittel geändert 
werden — und zwar in aller Regel zum Vorteil der Arbeiter — oder 
daß der Arbeitslohn vom Grenzprodukt emanzipiert und der intra- 
marginale Wert der Arbeit zur Geltung gebracht wird. Es ist ferner 
möglich, wenn auch weniger leicht, daß erhebliche Lohnerhöhungen, 
die zur Veränderung der Produktionsmethoden führen, ebenfalls das 
Grenzprodukt der Arbeit günstig beeinflussen, damit zunächst deren 
relativen Anteil am Sozialprodukt, möglicherweise auch die Gesamt- 
lohnsumme — auch deren realen Inhalt —, und im günstigsten Fall 
sogar dadurch noch weitere Lohnsteigerungen provozieren. Heißt 
das Frucht- und Aussichtslosigkeit der Sozialpolitik predigen ? 
Freilich hat alles das seine Grenzen. Ein blindes Ringen nach 
Lohnerhöhungen kann gewiß sinnlos sein — wenigstens ökonomisch 
sinnlos, als Mittel im sozialen und politischen Vernichtungskampf 
gegen den Kapitalismus können immer weitere Lohnforderungen 
sehr wohl Sinn haben, was Tugan-Baranowsky übersieht, wenn er 
meint, daß eventuelle ökonomische Zwecklosigkeit von Lohnforde- 
rungen mit deren Zwecklosigkeit überhaupt zusammenfallen würde °$). 
Aber abgesehen davon ist viel größere Um- und Vorsicht in diesen 
Dingen nötig als sie der populär-humanitäre Sozialpolitiker zu üben 
pflegt. Irgendwelche Rückwirkungen, die den Arbeiter eines Teils 
seines Erfolgs berauben, treten fast immer ein, wenn es sich um einen 
Fall handelt, der dem theoretischen Grundfall annähernd entspricht. 
Vor allem verlieren die Arbeiter als Konsumenten ein Teil dessen, was 
sie als Arbeiter errungen haben. Lohnerhöhungen haben in der Regel 
die Folge, daß das Sozialprodukt fortan geringer wird, als es ohne 
sie gewesen wäre. Auch kann man sich nicht ohne weiters damit trösten, 
daß der Verlust auf alle Wirtschaftssubjekte fällt, der Gewinn aber 
nur den Arbeitern zufließt. Denn es handelt sich da zum Teil um 
Verluste an Konsumentenrente, die wohl alle treffen, aber niemand 
zugute kommen. Dann ist natürlich noch die Wirkung auf das Kapital- 
angebot und die Möglichkeit zu berücksichtigen, daß der Anpassungs- 
prozeß der Industrie an die höhern Löhne für die Arbeiter mindestens 
temporär ungünstig verläuft. Ist die Wirkung der Lohnerhöhung 
auf die Nachfrage auch nicht so gefahrdrohend, wie manche Theo- 
retiker annahmen, so ist die Gefahr von dieser Seite doch sehr real. 


einer Lohnsteigerung es vorteilhafter findet, auf Mengen andrer Produktions- 
faktoren in größerm Maße zu verzichten und seine Nachfrage nach Arbeit 
zu erhöhen. 

#6) Selbst wenn übrigens der Kampf um höhern Lohn in jeder Rich- 
tung sinnlos wäre, so könnten die Arbeiter noch immer vom Bewußtsein durch- 
drungen sein, daß der Lohn von sozialen Machtverhältnissen abhänge (p. 82). 
Denn der Laie ist in ökonomischen wie in andern Dingen sehr oft von ganz sinn- 
losen Ueberzeugungen erfüllt. Die Technik moderner Massenbewegungen schafft 
ferner eine Tendenz zu prinzipiellem Mehrfordern, der jeder in eine solche organi- 
siertte Bewegung eingepferchte Einzelne dienen muß, auch wenn er die Zweck- 
losigkeit der Forderung im konkreten Fall einsieht: Besonders der berufsmäßige 
Vertreter von Arbeiter- (oder andern) Interessen hat sehr oft keine Wahl. 


u - u ax m m e ‘M 


Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 87 


Will man nun durchaus eine kurze Antwort auf unsre Frage, so 
kann man sagen, daß geringe Lohnerhöhungen meist und erhebliche 
in immerhin zahlreichen Fällen — wir sprechen hier nur mehr vom 
theoretischen Grundfall und weder vom Fall monopolisierter Industrien 
noch von den Fällen, wo der zu erhöhende Lohn unter dem Gleich- 
gewichtsmaß stand — den relativen Anteil der Arbeiterschaft am 
Sozialprodukt günstig beeinflussen und zu einer um etwas und mit- 
unter erheblich höhern Gesamtlohnsumme führen; daß zwar meist 
dadurch die Größe des Sozialprodukts ungünstig beeinflußt wird 
und der Befriedigungszustand der gesamten Gesellschaft unter das 
Maß herabsinkt — in Geld ausgedrückt —, das er andernfalls erreichen 
würde, aber für die Arbeiter auch der reale Inhalt ihres Anteils steigen 
kann; daß die mittelbaren und unmittelbaren Rückwirkungen der 
Lohnerhöhung die Arbeiter meist eines Teils, oft des größten Teils 
des errungenen Erfolgs berauben, aber fast nie des ganzen; und daß 
also, wenn für etwa entlassene Arbeiter gesorgt wird, sodaß ihr Angebot 
nicht auf den erreichten Lohn drücken kann, auf diesem Wege auch 
dauernde Erfolge erzielt werden können. Wie groß diese Erfolge sein 
können, besonders wie groß jene »relativ kleinen« Lohnerhöhungen 
sein dürfen, bei denen die Chancen für die Arbeiter am besten sind, 
darüber ist ein allgemeines Urteil unmöglich. Das wird in jedem 
Fall von einem sehr komplizierten System von Bedingungen abhängen. 
Besonders wenn man die Elastizität der Nachfrage nach Arbeit in 
den entscheidenden Intervallen für groß hält, mag man die Grenzen, 
innerhalb deren dauernder Erfolg zu erwarten ist — wiederum: wenn 
die Gleichgewichtshöhe des Lohns schon vor dem Eingriff wirklich 
erreicht war, auch keine unterstützende Konjunkturwelle einsetzt — 


ganz gut recht eng finden. 
Aber kann sich denn jemand darüber wundern? Daß innerhalb 
des Systems der — kapitalistischen, wenn man will — Verkehrs- 


wirtschaft mit ihrem Privateigentum an Produktionsmitteln, ihrem 
Angewiesensein auf den individuellen Erwerbstrieb usw. die Mög- 
lichkeiten dieser Art von Sozialpolitik beschränkt sein müssen, mögen 
ihre Schranken auch sehr dehnbar sein, — ist das nicht im Grunde 
selbstverständlich und ist nicht gerade das der Angelpunkt der sozia- 
listischen Kritik dieses Systems? Ist es nicht gerade die Aufgabe der 
Wissenschaft, diese Schranken anzugeben und kann nicht gerade das 
der Laie von der Wissenschaft fordern? Völlig versagt an dieser 
Aufgabe das Schlagwort von den sozialen Machtverhältnissen. Hier 
zeigt es sich in seiner ganzen Leere. Denn wenn man über die Wir- 
kungen von Lohnerhöhungen, die doch auch ein Blinder tausend- 
fältig im praktischen Leben fühlen kann, etwas wissen will, so bleibt 
e einfach stumm, hat es uns bestenfalls nur »Vulgärökonomie« 
zu bieten. Daß aber die Theorie dieser Aufgabe gegenüber versage 
oder daß irgendwelche Tatsachen von ihrem Standpunkt unerklärlich 
wären, ist wie wir sahen, nicht richtig. Daß sie nicht alles bietet, was 
wir wohl wünschen könnten, ist freilich wahr. Aber das liegt nur an 
der Art wie sie betrieben wird und an jener passiven Resistenz gegen 


88 Joseph Schumpeter, Das Grundprinzip der Verteilungstheorie. 


sie, die es mit sich bringen, daß sie statt von Leistung zu Leistung 
fortzuschreiten, fortwährend über ihre eigenen Beine stolpert und 
daß selbst das, was sie leistet, unverstanden, ja ungekannt bleibt. 
Es ist Zeit, daß Kontroversen aufhören, die längst ihren Sinn verloren 
haben, und daß wir uns alle zu gemeinsamer Arbeit auf einem Boden 
zusammenfinden, der ja ganz neutral ist und auf dem wir alle den- 
selben Weg einschlagen müssen, von welchem politischen Wollen 
wir auch erfüllt sein mögen 9”). Es ist Zeit mit der kindischen Attitude 
zu brechen, die nur das sehen will, was uns behagt, und der das Dogma 
von der Allmacht der Sozialpolitik ein Heiligtum ist. Es ist vor allem 
Zeit, endlich wieder das theoretische Handwerk zu lernen und die 
Theorie, da wir ihrer ja doch nicht entraten können, ordentlich 
zu betreiben. An diesem Punkt fehlt es uns am meisten. Alles Uebrige 
wäre ja so ziemlich vorhanden für eine wahre soziale Theorie 
der Verteilung. 


#7) Sei besonders nochmals betont, daß sich die sozialistische Kritik genau 
so gut an die Grenzproduktivitätstheorie knüpfen läßt, wie an eine andre. Tat- 
sächlich stehen auch in England und Amerika (auch in Italien) genug Sozialisten 
auf ihrem Boden. Und je früher man die Unvermeidlichkeit ihrer Annahme 
einsieht, um so besser für den Sozialismus, denn ein Stocken der Entwicklung 
im Fond ihrer Ideen kann für eine Richtung auch praktisch zu einer Gefahr 
werden. 


"à 
ii 


EA EST è 


89 


Die romantische Geldtheorie. 
Von 
MELCHIOR PALYI. 


Inhalt: I. Fichte, Gentz und Adam Müller S. 89, — II. Die 
sldees des Geldes S. ror. — III. Metall und Papier. — IV. Die 
spraktischee Wirkung. — V. Adam Müllers Stellung in der Geschichte 
der Geldlehre, 


I. 


In dem Briefwechsel zwischen Gentz und Adam Müller 
sind die Dokumente einer tiefen und innigen Freundschaft enthalten, 
die von der Studienzeit des letzteren bis zu seinem im Jahre 1829 
erfolgten Tode dauerte, einer Freundschaft, die auf den Lebensgang 
beider von großem Einfluß gewesen und eben dadurch für die Ent- 
stehung und Entwicklung einer »romantischen« Nationalökonomie 
entscheidend war!). Wie die beiden Persönlichkeiten, ebenso merk- 
würdig ist ihre Freundschaft, über die sich frühere Biographen beider 
(Schmidt-Weißenfels, Mischler u. a.) nicht genug 
wundern konnten. Der berühmte Publizist Friedrich von 
Gentz, einer der bedeutendsten politischen Schriftsteller Deutsch- 
lands, lernte wahrscheinlich 1798 den um 15 Jahre jüngeren Adam 
Heinrich Müller kennen, der — am 30. Juni 1779 geboren 
— seit seinem neunzehnten Lebensjahr die Universität Göttingen 
bezog, um dort erst Theologie und dann Jurisprudenz zu studieren 2). 
Schon während dieser Studienzeit dürfte es der Einfluß Gentzens 
gewesen sein, der das Interesse des begabten, jungen Mannes auf po- 
litische und ökonomische Probleme lenkte, auf Probleme, die dem im 

1) »Briefwechsel zwischen Fr. v. Gentz und A. H. Müllere (1850) und Fr. 
C.Wittichen; »Briefe von und an F. v. Gentze, II. Band (1910). Am ein- 
gehendsten handelt von den Beziehungen der beiden zueinander die im letzteren 
Werk erschienene Studie von Ernst Salzer über sGentz und A. Müller«. 
Vgl. auch Guglia, Fr. von Gentz (1901), S. 119—27. 

t) In Göttingen lehrte damals unter anderen auch der als »Vorläufer« der 
bistorischen Schule bekannte Naturrechtsiehrer Gustav Hugo. Müller 
erwähnt ihn öfters als einen stiefsinnigen Juristens, z.B. »Gesammelte Schrif- 
tene I. (einziger) Bd., 1839, S. 285; Briefwechsel, S. 292. 





90 Melchior Palyi, 


Hause eines protestantischen Pastors erzogenen und vielseitig inter- 
essierten Studenten ursprünglich ferne standen. Gentz dagegen, 
obwohl noch preußischer Kriegsrat, webte und lebte schon damals, 
um die Wende des Jahrhunderts, in der hohen Politik; seine publi- 
zistische Tätigkeit, insbesondere in dem »historischen Journal« (1799 
— 1800) erregte allgemeine Aufmerksamkeit, der von ihm mit großer 
Sachkenntnis und mit Scharfsinn geführte Kampf gegen das Vor- 
dringen der Revolution und des revolutionären Geistes, wobei er da- 
mals noch ganz auf dem Boden der herrschenden liberalen Ideen 
stand, und der klare, temperamentvolle Stil verschafften seinem Na- 
men den Glanz der Popularität. Wenn einerseits diese Eigenschaften 
seine Feder den Machthabern in England und in Oesterreich wert- 
voll erscheinen ließen, so wußte er sich andererseits durch seine red- 
nerischen und politischen Talente, durch die außerordentliche Fertig- 
keit in der Kunst des geselligen Verkehrs, nach und nach die Pforten 
der hohen, ja der höchsten Kreise zu eröffnen, wo man den liebens 
würdigen und geistreichen Schriftsteller vollauf zu würdigen ver- 
stand 3). | 

Anders das Bild des jungen Adam Müller. Sein ganzes 
Wesen atmet eine pedantische Schwerfälligkeit in auffallendem Ge- 
gensatze zu dem äußerst beweglichen Naturell des Freundes; während 
Gentzens Sinnen und Trachten stets, damals wie später, auf welt- 
liche Ziele gerichtet war, während er niemals aufhörte in all seinem 
Tun und Lassen der nüchterne Praktiker zu sein, — neigte Müller 
zu mystisch-metaphysischen Spekulationen und zu ästhetisch-reli- 
giöser Schwärmerei, die sein Denken in den auf die Universitätszeit 
folgenden Jahren und im letzten Dezennium seines Lebens völlig, 
ausschließlich beherrscht und auch sonst wesentlich beeinflußt haten. 
Er selbst charakterisierte später einmal die lediglich auf Mystik angeleg- 
ten Jugendjahre® als eine »Periode meiner Bildung. .., wo ich das mensch- 
liche, das persönliche meiner irdischen Tatkraft hätte mögen in Rauch 
aufgehen lassen, um dem Gott, den ich anbetete, einen süßen Geruch zu 
bereiten, wo ich meines Namens, meiner Individualität mich hätte ent- 
äußern mögen, um der... . geistlichste Geistliche zu werden« (Brief- 
wechsel, S. 99). In sich gekehrt, kränklich, stille Einsamkeit, beschau- 
liche Ruhe liebend, erscheint Müller in seiner Jugend zunächst al: 
das Gegenstück seines einflußreichen Freundes und Gönners, der, von 
heftigen Leidenschaften geleitet, aus Tatendrang und Eitelkeit auf 
öffentliche oder gesellschaftliche Betätigung auch nur zeitweilig schwer- 
lich verzichten konnte. Ungeachtet aller Gegensätzlichkeiten, die oft 
durch das Hervortreten der »klassischen« Neigungen Gentzens, noch 
öfters durch seinen Unwillen über alles unpraktische Treiben ent- 
standen, waren die zwei Persönlichkeiten in vielen Charakterzügen 

3) Die wichtigsten Schriften über G en tz (eine Bibliographie hat K ir ch- 
eisen in den »Mitteilungen d. Instituts f. österreichische Geschichtsforschung®, 
27. Bd., 1906, veröffentlicht) sind die folgenden: R. Hay m in der Allg. Ency- 
klopädie von Ersch und Gruber, 58. Bd. (1854), K. Mendelssohn Bart- 
holdy, Fr. Gentz (1867), A. Fournier, Gentz und Cobenzl (1880), 
und E. Guglia, op. cit. 


Die romantische Geldtheorie. QI 


wesensverwandt, vielfach aufeinander angewiesen, und so konnte 
eine lebenslängliche Freundschaft bestehen, ein gegenseitiges Beein- 
{lussen und Lenken stattfinden. Durch ihren Briefwechsel ist uns zu- 
nächst der Gen tzsche Einfluß auf Müllers Entwicklungsgang 
einwandfrei bezeugt, und er dürfte wohl schon an dem im Dezember- 
heft 1801 der Berliner Monatsschrift erschienenen Aufsatz Müllers 
Weber einen philosophischen Entwurf des Herrn Fichte, betitelt: 
Der geschlossene Handelsstaat« erkenntlich sein $4). Als Erstlings- 
schrift des angehenden Staatsgelehrten verdient diese Kritik eine 
nähere Betrachtung. 

»Der geschlossene Handelsstaat«, der gerade im Jahre 1800 er- 
schienen ıst, kann als die Brücke angesehen werden, die von der libe- 
ralen wirtschaftspolitischen Doktrin des 18. Jahrhunderts zu der 
sozialistischen Propaganda des ıg. hinüberführt. Jener ökonomi- 
sche Liberalismus — man denke vor allem an die Physiokraten — 
ging von einer gerechten, sozialen Weltordnung aus, deren Gesetze 
durch menschlichen Willen nur hintangehalten, niemals jedoch beein- 
trächtigt, in ihrer endgültigen Erfüllung nicht verhindert werden kön- 
nen, und gelangte unter Annahme von »natürlichen«, angeborenen 
Menschenrechten zu dem Postulat der Freiheit des Individuums in 
seinen wirtschaftlichen Bestrebungen, um durch das harmonische 
Spiel der Einzelinteressen jene vielgepriesene Harmonie des Ganzen 
m erreichen. Fichte stand auch auf dem naturrechtlichen Boden: 
auch er nahm ursprüngliche Menschenrechte an, vor allem das »Recht 
auf Existenz«, leitete daraus ein »Recht auf Arbeit« ab und verlangte 
Ihre bedingungslose Verwirklichung; er ging aber um einen Schritt 
weiter als die Physiokraten, indem er einsah, daß die Freiheit, das 
Haisser faire, laisser aller« zur strikten Erfüllung des Zweckes keines- 
wegs ausreicht, vielmehr eine Umgestaltung der bestehenden sozialen 
Ordnung nötig sei. Denn wie soll das freie Spiel der Einzelinteressen 
die harmonische Eatwicklung der Menschheit und die Verwirklichung 
der »Rechtsidee« innerhalb einer Gemeinschaft herbeiführen, inner- 
halb deren die Machtmittel von vornherein so ungleich verteilt sind, 
daß der eine den anderen kraft seiner materiellen Ueberlegenheit be- 
liebig ausnutzen, für die eigenen Zwecke dienstbar machen kann? So 
kam er zu der Forderung eines Gemeinwesens, das einem jeden so- 
wohl seine Rolle in der Güterproduktion und Güterverteilung genau 
vorschreiben, als auch seinen Anteil an den Ergebnissen derselben 
sichern und statt eines anarchischen Kampfes aller gegen alle ein 
wirklich harmonisches Ineinandergreifen der einzelnen Räder des 
göttlichen Uhrwerks« zustande bringen sollte. Der Staat, der sich 
dieser Aufgabe unterwirft, muß sich nach außen völlig abschließen 
und jeden unmittelbaren wirtschaftlichen Verkehr seiner Bürger mit 
Ausländern verhindern, um Störungen zu vermeiden und die Möglich- 
keit einer unkontrollierbaren Bereicherung seiner Untertanen abzu- 
schneiden. Um also einen selbstherrlichen, geschlossenen Staat zu 


1) Abgedruckt in Müllers sVermischten Schriften« (1812, 2. Aufl. 1817) 
1. Bd. und in seinen sgesammelten Schriften«. 





92 Melchior Palyi, 


schaffen, und die Bürger ganz in den administrativ-wirtschaftlichen 
Mechanismus desselben einzuflechten, dazu langen Reiseerschwe- 
rungen, Ein- und Ausfuhrverbote allein noch nicht: der innerste Faden 
selbst, der die Nationen wirtschaftlich verbindet, das Metallgeld muß 
abgeschafft werden. Kaum wird sich jemand, meint er, den Mühselig- 
keiten eines Warenaustausches unterwerfen, wenn man das überall 
geltende Metall nicht als Tauschvermittler verwenden kann. Durch 
Abschaffung des Metallgeldes wäre nun jeglicher internationale Ver- 
kehr unterbunden und der Gefahr einer regellosen Beeinflussung der 
Preise vorgebeugt. Von außen könnte dann niemand mehr unmittel- 
bar eingreifen in das Wirtschaftsleben des Landes, wo die Preisbildung 
jeglicher Autonomie entblößt werden müßte. Denn sein »Handels- 
staat« konnte das ihm vorschwebende Ideal eines von Gerechtigkeit 
erfüllten Gemeinwesens nur verwirklichen, wenn die Festsetzung der 
Preise der Willkür und Habgier der einzelnen entzogen und den all- 
wissenden Behörden anheimgestellt wurde; auf diesem Wege allein 
schien es ihm möglich, die dem Naturrecht widersprechenden Un- 
gleichheiten zu beseitigen. 

Für seinen Staat war es also eine Lebensbedingung, den Markt 
zu beherrschen und zwar sowohl auf der Waren-, als auch auf der 
Geldseite, um den Menschen »gerechte« Preise diktieren zu können, 
und er bedurfte außerdem eines bequemen Mittels zur Regulierung 
der Einkommensverteilung. Hier setzte er nun mit der für die roman- 
tische Geldlehre später so wichtig gewordenen Distinktion zwischen 
»„Weltgeld« und »Landesgeld« ein. Das Weltgeld, das Metall ist es, das 
er abschaffen und durch ein Landesgeld ersetzen will; das letztere soll 
unter den Bürgern nach Maßgabe ihrer »gerechten« Ansprüche auf 
Güter und Leistungen verteilt werden. 

Die geldtheoretische Argumentation, mit der er diese Distinktion 
begründet, wurzelt in den »quantitätstheoretischen« Anschauungen 
jener Zeit, auf die wir noch zurückkommen werden, und zeichnet 
sich durch Kürze und Klarheit der Darstellung aus5). Das Geld hat, 
so führt er aus, an sich keinen Wert (d.h. Brauchbarkeit), es ist nur 
»Wertzeichen«, Anweisung auf wertvolle Gegenstände. Folglich ist 
der Stoff völlig gleichgültig, »denn das Stück Silber ist mir an sich 
ebensowenig wert, als dies durch den Staat so bezeichnete Papier« ô). 


5) Seine geldtheoretischen Ausführungen — sie erinnern den Leser gerade 
durch die Art der Darstellung an Humes Aufsatz »On money«e, was schon 
Müller in der Rezension angedeutet hat, — finden sich im VI. Kapitel des 
ersten, im III. des zweiten und im IV. und V. des dritten Buches. Die leitenden 
Gedanken sind übrigens schon in der »Grundlage des Naturrechtss von 1796 
(sFichtes sämtliche Werke«, III, 237—40) niedergelegt. 

6) „Der geschlossene Handelsstaat«, ed. Reclam, S. 98. In dem System 
der Rechtslehre von 1812 (»Fichtes nachgelassene Werke«, II. 1834, S. 570, 574) 
stellt er die Wertlosigkeit des Geldes nicht als Tatsache, sondern als Postulat hin. 
Und damit dieses Postulat erfüllt, das Geld nur »Zeichen« und niemals auch Ware 
werde, muß (S. 585) das Landesgeld in den »Magazinen des Staates« stets durch 
Warenvorräte srepräsentiert« werden und für etwa thesauriertes Geld muß der 
Staat jeweils neues in den Verkehr bringen. Aehnlich auch im »Handelsstaat« S.47- 


nr Tr me oe e ur us: 


VE a a 


Die romantische Geldtheorie. 93 


Das Entscheidende sei, daß das Geld als solches anerkannt werde; 
dies hängt lediglich vom Staate ab: »das Geld ist an und für sich gar 
nichts; nur durch den Willen des Staates (nämlich des geschlossenen 
Handelsstaates) repräsentiert esetwas«. 

»Ein geschlossener Handelsstaat, dessen Bürger mit dem Aus- 
länder keinen unmittelbaren Verkehr treibt, kann zu Gelde 
machen, schlechthin, was er will, wenn er nur 
deklarirt, daß er selbst nur in diesem Gelde, und schlechthin mit kei- 
nem anderen werde bezahlen lassen. Denn es kommt beim Besitze 
dieses Greldes jedem nur darauf an, daß jeder andere, mit welchem er 
ın Verkehr kommen könnte, es von ihm um denselben Wert wieder 
annimmt, um welchen er es erhalten hat. Der Bürger eines geschlos- 
senen Handelsstaates kann nur mit einem Bürger desselben Staates 
in Verkehr kommen und schlechthin mit keinem anderen Menschen. 
Aber alle Bürger des Staates sind genötigt, sich dasjenige Geld anzu- 
schaffen, womit derjenige, an den sie alle am meisten zu zahlen haben, 
bezahlt werden kann. Dies ist nun der Staat, an welchen alle, sei es 
mittelbar oder unmittelbar, Abgaben zu entrichten haben, und der 
über alles Verhältnis mehr einnimmt, als irgendein einzelner oder 
irgendein Handelshaus im ganzen Lande. Hierdurch entstände ein 
Landesgeld, bei welchem es auch nicht einmal in Frag: kommt, 
ob dasselbe im Auslande werde genommen werden, oder nicht; indem 
für einen geschlossenen Handelsstaat das Ausland so gut als gar nicht 
vorhanden iste?). — Nur zu gut weiß es Fichte, daß der Ver- 
kehr mit dem Auslande nicht ganz unterbunden werden kann. Dar- 
auf kommt es auch nicht an, vorausgesetzt, daß der Staat über jeden 
Schritt seiner Bürger die Kontrolle behält; dies ist ihm leicht mög- 
lich, denn er und nur er allein hält große Metallreserven — das Metall 
muß von den Bürgern gegen Landesgeld eingezogen werden —, mit 
denen er den Fremden jederzeit bar bezahlen kann (und dadurch, 
fügen wir hinzu, den Wert der inländischen Währung gegen das Aus- 
land sichert). 

Adam Müller hat auch, wie so manche andere Zeitgenossen, 
de Fichte’sche Distinktion später übernommen ®); er hat aber 

?) »Der geschlossene Handelsstaat«, S. 48 f. 

! Man begegnet häufig diesem Gedanken Fichtes, oder wenigstens 
säner Terminologie, in zeitgenössischen Schriften, zumeist freilich ohne daß 
der Urheber genannt wäre. So wird z. B, in der »Staatsform« (1809) des Gra- 
fen H. W. A. v. Kalkreuth zwecks Verwirklichung des Staates, als der 
sherrschend werdenden Gerechtigkeit unter Menschen« (S. 5), dessen Schlie- 
Bung und zu diesem Zweck die Einführung eines sreinen Geldzeichens« an Stelle 
der Metalle gewünscht (S. 57 f.). Die Unterscheidung zwischen Landesgeld 
und Weltgeld, die ihren Ursprung wohl den Verteidigern der Assignatenwirt- 
schaft in den französischen Revolutionsparlamenten verdanken dürfte, findet 
sich dann auch bei Bülow, Geschichte des Feldzugs von 1805 (1806 ano- 
zym erschienen), I. Bd., S. 113; M. A. Füger, Neues Banksystem (1806), 
3.21; K. Murhard, Theorie des Geldes und der Münze (1817), S. 183, 186 ff. 
(setzt sich mit Fichte auseinander und unterscheidet 3 Arten von »Münzee: 
Privatmünze, Staats- oder Nationalmünze und Weltmünze); Bülow-Cumme- 
tow, Das normale Geldsystem (1846), S. 19; usw. 


94 Melchior Palyi, 


das Landesgeld in »nationales« umgetauft, keineswegs um die Quelle 
dieses Schlagwortes und den Gedankengang, den es ursprünglich sym- 
bolisierte, zu verdecken; sein politisches Denken war um 1810 herum 
entschiedener »national« orientiert, als Fichte zehn Jahre früher, 
und er hat sich das Wesen des Geldes wie das Verhältnis von Papier 
und Metall ganz anders zurechtgelegt, als der große Idealist. In 
Müllers Geldtheorie, wie wir noch sehen werden, handelt es sich 
um die Ehrenrettung der damaligen Papiergelder (vornehmlich preußi- 
sche Tresorscheine, österreichische Bankozettel und Noten der Bank 
von England), die nicht als eine Anomalie abgetan werden sollten; 
Fichte dagegen erklärte ausdrücklich, daß der von ihm eingeführte 
Begriff des Landesgeldes nur für den Zukunftsstaat einen Sinn habe 
und lehnte jede Verwandtschaft mit Assignaten, Banknoten, Papier- 
geld und sonstigen gewöhnlichen Zahlungsmitteln ab. Denn diese 
zirkulieren, sagt er, mit dem Weltgeld zusammen und lauten letzten 
Endes auf dasselbe; folglich hängt ihr Wert nicht von dem Willen 
der Regierung, sondern von der »allgemeinen Uebereinstimmung« 
ab®), kann also auch kein »stabiler« sein. Und darauf kam es doch 
für Fichte an: ein Geld zu schaffen, ein Geld von unveränder- 
lichem Wert, was für ihn, dank seiner quantitätstheoretischen Schu- 
lung, gleichbedeutend war mit festen, nur durch staatlichen Entschluß 
veränderlichen Preisen. Neu war dieses Bestreben nicht !V), ebenso- 
wenig, wie die Leugnung des stofflichen Wertes beim Gelde (oder 
vielmehr die Betrachtung desselben als einer »Anomalie«, die mit der 
Zeit verschwinden muß); neu war dagegen der Hinweis auf die grund- 
sätzliche Bedeutung der Annahme bei staatlichen Kassen für die 
Konstituierung des Geldcharakters !), sowie die konsequente Durch- 
führung dieser Gedanken und die klare Erkenntnis, daß nur ein vom 
allgemeinen Verkehr abgeschlossener Staat völlig Herr über sein 
eigenes Geldwesen werden könne!?). Den Widerspruch, in den er sich 

») Op. cit. S. 69. 

10) Vgl. C. M. Walsh, The fundamental Problem in monetary 
Science (1903), nach dessen Einteilung der Geldwerttheorien Fichte so- 
wohl in die Gruppe der »Tauschwert«-, als auch in den der »Kostenwert«- 
Theoretiker gehören würde, denn er willim Zukunftstaate sowohl die Quantitäts- 
theorie ausgeschaltet wissen (so schon in der »Grundlage des Naturrechts«, Werke 
III, 238), als den Wert, der dem Arbeitsaufwand entspricht, — die Arbeit wurde 
für ihn später zum »Grundmaßstab des Wertes aller Dinges: Nachgelassene 
Werke II, 558 ff. — stabilisieren. — 

11) Die Bedeutung der Annahme bei staatlichen Kassen wurde zwar oft 
"betont, aber nur für das Papiergeld und nicht in der grundsätzlichen Weise. 
vgl.z.B. Adam Smith, Wealth of Nations (ed. Basil) II. 90: »A prince who 
should enact, that a certain proportion of his taxes should be paid in a paper 
money of a certain kind, migth thereby give a certain value to this paper money. 

12) Durch diese Einsicht unterscheidet sich seine Konstruktion von der in 
G. F. Knapps »Staatlichen Theorie des Geldes«, mit der sie sich sonst in den 
Grundgedanken deckt und damitist er wenigstens den praktischen Schwierigkeiten 
— freilich nicht den begrifflichen —, die dem großzügig angelegten Versuch 
Knapps anhaften (vgl. darüber W. Lotz in Schmollers Jahrbuch, 1906), aus 
dem Wege gegangen. — Vom selben Gesichtspunkt aus hat schon damals Stru- 


= Rh X 


. = v n no ë m wA a W 


e 


Die romantische Geldtheorie. 95 


dadurch verwickelte, daß er einerseits im Gelde lediglich eine Ver- 
kehrsmarke, den Repräsentanten von Waren sah, andererseits die 
staatliche Annahme dennoch nötig fand (mit Rücksicht auf die »Vor- 
urteile« des Publikums), um diesem »Wertzeichen« einen Wert zu ver- 
leihen, — den Widerspruch merkten weder er, noch sein Rezensent !3). 

In einer ebenso oberflächlichen wie boshaften Weise griff Müller 
den »Handelsstaat« an. Weltiremdheit, phantastische Spielerei, Un- 
kenntnis des Wirtschaftslebens und der wissenschaftlichen Literatur 
warf er dem Verfasser vor; behauptete dann, die »ganze Idee der 
inneren Administration dieses Handelsstaates« sei von der — Stall- 
fütterung hergenommen usw. 1$). Für uns haben die Einzelheiten 
seiner Kritik ebensowenig Interesse, wie die detaillierten Ausfüh- 
rungen Fichtes über den Uebergang vom Gegenwarts- zum Zu- 
kunftsstaate, Interessant ist es aber, daß der nachmalige Lobred- 
ner des Mittelalters sich von dem zunftmäßig organisierten, auf 
den unbeschränkten Erwerb verzichtenden, selbstgenügsamen Han- 
delsstaat — damals, wie später — so sehr abgestoßen fühlte!5). 
Für den späteren »Staatsphilosophen der Romantik« konnte nichts 
verhaßter sein, als die »kalkulatorische Staatsweisheit«, mochte sie 
demokratisch -revolutionärer oder absolutistischer Herkunft sein, 
die alles schematisiertt und alles »naturwüchsige« auszuschalten 
strebt 18); und für den damaligen Müller war seine Schulung das 
Entscheidend. Auch die feurigen Angriffe Fichtes gegen die 


ensee (Abhandlungen, III., 1800, S. 575 f.) die Assignatenwirtschaft kritisiert: 
die Nichtbeachtung des Prinzips, daß die Valuta in jedem auswärtigen Handel 
treibenden Lande vom Ausland abhängig ist, habe zur Katastrophe geführt 
(vgl. auch S. 376 £.). 

13) Für die neuere geldtheoretische Literatur scheint die Geldlehre F ic h- 
tes in Vergessenheit geraten zu sein, denn weder Walsh (op. cit.), noch 
Altmann (Deutsche Geldiehre des 19. Jahrhunderts, in der Festgabe für 
Schmoller, 1908) oder Hoffmann (Dogmengeschichte der Geldwerttheo- 
rien, 1907) erwähnen sie, geschweige denn Stephinger (Die Geldlehre 
A. Müllers, 1909), Roscher auch nur ganz flüchtig (Geschichte der Natio- 
nalökonomik, 1874, S. 644): mehr Aufmerksamkeit schenkt ihr Schmoller 
(Zur Literaturgeschichte der Staats- und Sozialwissenschaft«, 1888, S. 65 ff.). 

H) Für den Ton der Rezension, den selbst Gentz nur mißbilligen konnte 
[Briefe von und an Gentz«, herausgegeben v. Wittichen, II, 363 f.), scheinen 
such persönliche Motive entscheidend gewesen zu sein. Vgl. Müllers Verm. 
Schriften, I. 324. 

16) Noch 1809 hat er dieser Abneigung Ausdruck verliehen: »Elemente der 
Staatskunste, I. ıız f., II. 239 f. 

1) Wie für alle »historischen« Politiker jener Zeit (Burke, Möser, 
Rehberg, Stein, u.a). Vgl. Gunnar Rexius, Studien zur 
Staatslebre der historischen Schule (»Historische Zeitschrifte, 107, Bd., r91 I), 
S. 532. — Fr, Schlegel dagegen stand noch in den »Philosopbischen Vor- 
lesungen« (aus den Jahren 1804 bis 1806), obwohl die Wendung zur politischen 
Romantik bereits vollzogen war, unter dem Eindruck des Geschl. Handelsstaa- 
tes; so z. B. II, Bd. 337 f.: »Philosophisch genommen sollte der Staat in dem 
ausschließlichen Besitz des auswärtigen Handels sein«, usw. 


al Ban 
m. 


06 Melchior Palyi, 


herrschende Handelspolitik und gegen den rücksichtslosen Konkur- 
renzkampf, die sich so leicht in eine Kritik der Geldwirtschaft selbst 
und des »Zeitgeistes« umbiegen ließen, konnten auf den Müller 
von 1801 keinen tieferen Eindruck machen, als auf jeden anderen 
Adeptendes Adam Smith. Dennder Geist des Engländers schwebt 
über der ganzen Rezension; zum Schluß wird er als der sgroße Be- 
gründer der Staatswirtschaft« gefeiert. Und — horresco referens, 
wie Gentz zu sagen pflegte, wenn er über seinen Freund sehr ent- 
rüstet war — und selbst das Naturrecht, als die Wissenschaft vom 
»Universalstaate«e, von dem »Zustand der Dinge, den die Vernunft 
postuliert«, wird von dem späteren Vorläufer des Historismus freudig 
anerkannt !?)| 

Man geht wohl kaum irre, wenn man die Schuld für die unroman- 
tischen Anwandlungen des Romantikers, teilweise wenigstens, auf 
das Konto von Gentz setzt ?8). Oder ist er vielleicht damals, wo er 
in Göttingen lebte, von der romantischen Strömung noch unberührt 
geblieben, und erst nach seiner Rückkehr in die Geburtsstadt, in 
Berlin, wo zu Beginn des neuen Jahrhunderts die Friedrich 
Schlegel, Tieck, Bernhardi, Schleiermacher 
wirkten — von denen ihn besonders der erste tief beeinflussen sollte 
—, mitgerissen worden? Wie dem auch sein mag, der Gent z sche 
Einfluß ist schon, so will es mir scheinen, an dem Stil erkennbar; und 
was den Inhalt der Fichte-Rezension betrifft, so hätte sie Gen tz, 
der in einer Fußnote als der »erste politische Schriftsteller seiner 
Nation« bezeichnet wird und der Fichten von jeher abgeneigt war, 
beinahe ebenso gut schreiben können, als Müller. 

Eine Darstellung der politischen Anschauungen Gentzens 
wäre an dieser Stelle schon deshalb überflüssig, weil wir eine Würdigung 
derselben aus der Feder Eugen Guglias besitzen !). Genug, daß 
er zeitlebens, trotz mancher Schwankungen, dem Ideenkreise der soge- 
nannten »rationalistischen« Staatslehre, die die meisten Denker des 18, 
Jahrhunderts gefangen hielt, treu blieb. Dementsprechend konnten 
sich seine nationalökonomischen Anschauungen nicht anders als in 
dem Bannkreis der Physiokraten und des Adam Smith be- 
wegen. Schon frühzeitig war er veranlaßt, sich mit wirtschaftlichen 
Problemen zu befassen. Aus einem Brief an seinen väterlichen Freund, 
den »Popularphilosophen« Christian Garve geht hervor, daß 


17) Als charakteristisch für den Standpunkt der preußischen Liberalen, 
den zur Zeit der Rezension auch Müller teilte, sei hier auf Friedrich 
von Raumers Urteil (ausdem Jahre 1806) über den Geschlossenen Handels- 
staat hingewiesen (Raumer, Lebenserinnerungen, I. (1861) S. 208 ff.). 

18) Vgl. Wittichen, op. citt. II. 363 (Fußnote). 

19) Guglia, op. cit. — Die Dissertation von Alfr.Gerhardt (Roman- 
tische Elemente in der Politik und Staatsauffassung Fr. Gentz’, 1907) bietet 
nichts Neues. Vgl. auch die oben zitierten Werke von Haym und Four- 
nier; außerdem Paul Wittichen in der Deutschen Literaturzei 
1901, No. 28 (Besprechung von Guglias »Gentze) und Fr. C. Wittichen 
in der Historischen Vierteljahrsschrift XIV. Bd. (»Gentz’ Stellung zum deutschen 
Geistesleben vor 18064), IgII. 


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Die romantische Geldtheorie, 97 


er bereits im Jahre 1790 das Werk über den Reichtum der Nationen 
vnAdamSmith gut kannte 2°). Als Beamter in verschiedenen 
Departements der obersten preußischen Verwaltungsbehörde, des 
»Generaldirektoriumse, von 1785—1802, »war ihm eine Beschäftigung 
mit dem Finanzwesen auch in theoretischer Hinsicht nahegelegt 
worden«, Die finanzpolitischen Reformbestrebungen Preußens in den 
goer Jahren konnten ihn nicht unberührt lassen; unter dem Minister 
Hoym (1794—98) wurde er vielfach an wichtige Geschäfte heran- 
gezogen). Sein erster Versuch, ökonomische Probleme vor der 
Oeffentlichkeit zu behandeln, datiert aus dem Jahre 1795: im Au- 
gustheft der »Neuen deutschen Monatsschrift« erschien der Aufsatz 
Ueber den Einfluß der Entdeckung von Amerika auf den Wohlstand 
und die Kultur des menschlichen Geschlechts« 22). Mit zukunftsfroher 
Begeisterung feiert er darin, ganz im Geiste der »materialistischen 
Geschichtsauffassung« des 18. Jahrhunderts, die neuzeitliche kolo- 
niale Expansion als die Hauptquelle aller ökonomischen Fortschritte 
und aller Kulturentwicklung. Durch Mehrung des materiellen Reich- 
tums, durch Ausbreitung des Absatzgebietes, durch Förderung der 
wirtschaftlichen Tätigkeit und der »wechselseitigen Berührung« der 
Menschen hätten die geographischen Entdeckungen jene gewaltige 
Revolution, Untergang des Mittelalters und Entstehen einer neuen 
Zivilisation, hervorgerufen. Die Bedeutung der Vermehrung der 


' Edelmetalle wird in beachtenswerter Weise, die eine schon damals 


wohl bekannte Anschauung wiedergibt 2), geschildert; die Nachricht 
von großen Vorräten an diesen »Repräsentationszeichen des Werts 
aller übrigen Waren« habe die Gewinn- und Genußsucht mächtig 
entfacht. »Städtische und ländliche Industrie, alle Künste und Ge- 
werbe nahmen einen neuen Flug. Da man Aur durch Arbeit zu einem 
Anteil an jener unermeBlichen Ausbeute — gleichsam zu einer Aktie in 
diesem großen Unternehmen — gelangen konnte, so wurden nun alle 
körperlichen und geistigen Kräfte, die bisher geruhet, in Bewegung 
gesetzt, alle, die bisher gespielt hatten, verdoppelt. Um unaufhörlich 
Gegenstände zum Austausch gegen die neuen Schätze bereit zu haben, 
wurde das Produkt der europäischen Arbeit, mithin die Masse des 
europäischen Reichtums, unaufhörlich vervielfältiget.« — Diesem 
ersten Versuch folgten dann andere, finanzpolitische. Als publizisti- 
scher Anwalt Englands in dem Kampfe gegen die Revolution schrieb 
Gentz im Historischen Journal Lobreden auf das Pitt sche 
Finanzsystem, die das Vertrauen des deutschen Publikums in die 


2%) sBriefe von u. an Gentz« I. (1909) 181. 

2) Guglia, op. cit. S. 85 ff., 271. 

2) Abgedruckt in den »Auserwählten Schriften von Fr. Gentzs herausge- 
geben von W. Weick (1836—38). 

») Vgl. z. B. die bekannte Stelle bee H u m e (Essays 1. ed. 1889, p. 313): 
sWe find that, in every kingdom, into which money begins to flow in greater 
abundance than formerly, everything takes on a new face: the merchant be- 
comes more enterprising: the manufacturer more diligent and skilfull and even 
the farmer follows his plough with greater alacrity and attention.« 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. r. 7 


98 ' Melchior Palyi, 


wirtschaftliche Macht und Ausdauer Großbritanniens befestigen 
sollten ?2*). Bereits früher (1797) hatte er es in den Ergänzungen zu der 
Uebersetzung der »Geschichte der französischen Finanzverwaltung 
im Jahre 1796« vond’Ivernois zu beweisen versucht, daß das re- 
volutionäre Frankreich schon aus finanziellen Gründen notwendig 
einer Katastrophe entgegengeht. Diese beiden Schriften sind für uns 
insofern von Interesse, als sie eine ziemliche Kenntnis der zeitgenössi- 
schen Nationalökonomie verraten. Erst nach dem Uebertritt in öster- 
reichische Dienste kamen jedoch seine Ansichten zur vollen Reife. 

Die: Grundgedanken Gentzens über. Wesen und Bedeutung 

des Papiergeldes, worin er sich als Schüler seines Freundes erwies, 
werden uns noch beschäftigen; vorerst war er noch der Gebende und 
‘aus manchen Stellen des Briefwechsels geht deutlich hervor, daß 
Müller sich bewußt ist, bei ihm in die Lehre gegangen zu sein. 
Hören Sie doch nicht auf«, schreibt er ihm im Jahre 1802, »mich, 
wofür ich mich immer halten werde, als eines Ihrer Werke zu be- 
trachten«3), und es ist reizvoll, an Hand der Briefe zu verfolgen, 
wie Gentz den »Philosophen« zu praktischer Tätigkeit förmlich 
erzieht. Während der ersten 3 Jahre von Gentzens Wiener Auf- 
enthalt (1802—1805) hielt sich Müller hauptsächlich auf dem 
Lande in Polen auf und widmete sich, wie es scheint, vorwiegend 
naturphilosophischen Studien; in diese Zeit fällt das Erscheinen 
seiner Metaphysik, der »Lehre vom Gegensatz«, und sein Uebertritt ` 
zum Katholizismus (1805). Im selben Jahre kam er nach Dresden 
und nun scheint es, daß die Gentzsche Erziehung ihre vollen 
Früchte zu tragen beginnt. Unter dem Eindruck der Schlachten von 
Ulm und Austerlitz, die Gentz tief erschütterten, schreibt ihm 
Müller am I3. Dezember: »Ihnen mein Vorbild, mein brüderlicher 
Freund, der Sie meinem Leben seine erste Kraft, seinen ersten Ge- 
danken gegeben haben, verbinde und verpflichte ich mich aufs neue 
zu unverbrüchlicher Genossenschaft, vor allem des Hasses und der 
Liebe, dann zu unermüdlicher Tätigkeit, unaufhörlicher Mitteilung 
und Verbreitung in Wort und Tat. Alles das erkläre ich mit Reue 
über lange kontemplative Untätigkeit, über langen Schlaf«....?®). Und 
es blieb auch dabei. Müller ist einer der entschiedensten und eif- 
rigsten Parteigänger unter den literarischen Gegnern Napoleons 
und dann unter den Vertretern der romantisch-katholischen Reaktion 
geworden. 

Am 28. Januar 1806 eröffnete er in Dresden seine »Vorlesungen 
über die deutsche Wissenschaft und Literatur«, auf die noch im selben 
Jahre die Vorlesungen »Ueber dramatische Kunst« und im Winter 
1807/08 die über die »Idee der Schönheit« folgten ®°). Scheinbar 


 %) In Buchform französisch unter dem Titel »Essai sur l’administration des 
finances en Grande-Bretagne« 1800 erschienen. 
256) Briefwechsel S. 5; ähnlich S. 25, 37, 100, 125 usw. 
26) Briefw. S. 68 f. 
27) Das Datum der Eröffnung entnehme ich dem »Freimütigen«, 1806, Nr. 
22. — Von den ästhetischen Vorlesungen sind die über dramatische Kunst im 


——- 


Die romantische Geldtheorie. 99 


snd diese Werke rein ästhetischen Inhalts, in den sich hie und da 
metaphysische Probleme mengen; in Wirklichkeit fehlt jedoch selten 
irgendeine, mehr oder weniger scharfe politische Pointe. In dem 
ersten Werke fesseln noch vorwiegend die literarischen Kämpfe, die 
um die jüngst konstituierte romantische Schule herum hin und her 
toben, das Interesse unseres Autors; hinter den literarischen Plänke- 
leien kommen aber bereits politische Kämpfe zum Vorschein, um 
sehr bald über alles Aesthetisieren herrschend zu werden. »Die Ver- 
söhnung der Wissenschaft und Kunst und ihrer heiligsten Ideen mit 
dem ernsthaften, politischen Leben war der Zweck meiner größeren 
Werkes, so bekannte er nachmals, in der Vorrede zu seinen Vermisch- 
ten Schriften. Ganz im Geiste der Frühromantik, die von der Vor- 
stellung eines untrennbaren, einheitlichen Zusammenhanges_ aller 
künstlerischen und wissenschattlichen Bestrebungen mit dem ge- 
samten Volksleben, mit dem Staate, erfüllt war — vornehmlich von 
Herder und Burke gingen die Anregungen aus, die dann so 
mächtigen Widerhall fanden —, sucht er das politische und nationale 
Bewußtsein seiner Zeitgenossen zu wecken und gegen die Vorherr- 
schaft der revolutionären, französischen Kultur ins Feld zu führen. 
So wird in den Vorlesungen über dramatische Kunst Shakes pea- 
res Richard II. als Apologie des Gottesgnadentums, seine Tragö- 
dien aus der Ritterzeit als Verherrlichung des untergehenden Mittel- 
alters, und König Lear als der Kampf des historisch gewordenen mit 
der Revolution gedeutet; eime »Betrachtung der griechischen Bühne« 
und ihres »religiösen Charakters« gibt ihm die erwünschte Gelegen- 
heit, der romantischen Doktrin von der religiösen Bedingtheit aller 
Künste Ausdruck zu verleihen. Vor allem hat er es aber auf die Fran- 
zosen abgesehen; wieder Politiker Gen tz Burkesche Staatsweisheit ge- 
geunapoleonischen Umsturz, so spielt der Aesthetiker Müller spanische 
undenglische Bühne gegen französisches Theater, mittelalterliche und 
deutsche Romantik gegen antiken und französischen Klassizismus aus. 
Und drei Gesichtspunkte sindes, welche die mit wachsender Deutlichkeit 
hervortretende, politische Zuspitzung seiner Polemik beherrschen: der 
anfangs vornehmlich privatrechtliche) Feudalismus im Gegensatz zu 
den demokratischen und liberalen Ideen der Revolution; positives Chri- 
stentumim Gegensatz zur »aufklärerischen« Irreligiosität der Zeit, und 
schließlich die nationale Idee im Gegensatz zum Kosmopolitismus,. 

Die literarischen Wandlungen Müllers zu verfolgen, wie ins- 
besondere während der Dresdener Jahre (1805—1809) der ästheti- 
sierende Philosoph zum politisierenden Aesthetiker geworden und 
wie er dann das ästhetische Gewand verwarf, um schließlich in seiner 
politischen Nacktheit vor die Oeffentlichkeit zu treten, wird die (noch 
ungelöste) Aufgabe des Biographen sein ?8). Der Einfluß G en t zens 





N. Bd. der »Vermischten Schriften« (1812, 2. Aufl. 1817), die anderen in Buch- 
form (1806 bzw. 1809) erschienen. 

?) Eine Biographie Adam Müllers gibt es noch nicht. Der beste Kenner 
der Materie dürfte wohl Alexander Dombrowsky sein, dessen wert- 


4 


100 Melchior Palyi, 


scheint in mehrfacher Richtung bestimmend gewesen zu sein. Ein- 
mal war er es, wie es scheint, der Müller zum Eingreifen in die 
Politik veranlaßte und ihm auch den Weg zeigte, auf dem er selbst 
ein Jünger Burkes war: Kampf gegen die Revolution. Er dürfte 
es dann gewesen sein, der Müller die Beschäftigung mit ökonomi- 
schen Dingen, für die Gentz eine besondere Vorliebe hegte, nahe- 
gelegt hat, und der ihm vollends den ersten Impuls zur Ausbildung 
seiner historischen Anschauungen gab. Dem feinsinnigen Politiker, 
der ein selten tiefes Verständnis für die treibenden Kräfte des poli- 
tischen Lebens besaß, der auf einen Heinrich von Sybel und 
einen Leopold von Ranke tiefen Eindruck machen, den 
ersteren sogar entschieden beeinflussen konnte ®), verdankte Müller 
sehr viel für seine historischen und politischen Einsichten; auch dort, 
worin seine größte Leistung lag, in dem gelegentlich so modern anmuten- 
den Verständnis für nationale und geschichtliche Eigenart, verdankte er 
ihm zum mindesten eine mächtige Anregung 3°). Hier war er freilich, wie 
in der feudalistisch-klerikalen Richtung seiner Politik und wie ın seiner 
ganzen Weltanschauung, noch vielmehr von Schelling, Novalis, 
Friedrich Schlegel und Burke, den er beijeder Gelegenheit als 
den größten Staatsmann verherrlicht, abhängig; Gentz konnte dage- 
gen, als echter Sohn des 18. Jahrhunderts und als echter Politiker, dem es 
ìm Grunde nur auf die Probleme des Machtstaates ankam, niemals 
ein wirklich innerliches Verhältnis zu der politischen Romantik, ge- 
schweige denn zum Katholizismus, gewinnen 3!). Was Müller m 
die »praktische« Bahn lenkte, war, von dem eigenen Talent und der 
eigenen Neigung abgesehen, wohl der Einfluß des Freundes; für die 
Ziele dieser »Praxis« war vor allem romantische Weltanschauung und 
romantische »Lebensstimmung« bestimmend gewesen. Mit einer Art 
von »Rassenbewußtsein« vermählter Patriotismus ®) und durch 


volle Dissertation (Aus einer Biographie A.M.se ıgıı) jedoch nur Bruchstück 
ist; die kleine Schrift von Tokary-Tokarzewski-Karaszewicz 
(sA. H. Müller . . . als Oekonom, Literat, Philosoph und Kunstkritiker«, 1913) 
ist nicht viel besser, als der völlig unzulängliche Artikel Mischlers in der 
Allg. Deutschen Biographie (22. Bd.), der freilich seinerzeit im Vergleich zu 
früheren Darstellungen (Varnhagen, Wilbrandt, usw.), einen Fort- 
schritt bedeutete. Ganz schief ist das Bild Müllers, wie es noch heute in den 
meisten Kleist biographien — auch die von S. Rahmer (1909) bildet 
keine Ausnahme — gezeichnet wird. 

2%) Vgl. Albert Lübbe, Fr. Gentz und H. von Sybel (1913). — Ueber 
die Beziehungen zwischen Gentz und Ranke vgl. Paul Wittichen 
in der Hist. Zeitschrift, 93. Bd. (1901), S. 76 ff. und die dort mitgeteilten Briefe 
Rankes; weiterhin Fr. C. Wittichen ibid., 98. Bd. (1907), S. 329 f. und 
H. von Caemmerer, Rankes Große Mächte, in der Festschrift für Lenz 
(1910), S. 310 ff. 

2) Vgl. Meinecke, op. cit. Weltbürger und Nationalstaas (2. Aufl. 1916), 
S. 126 ff. 

3) Vgl. u, a. Briefw., S. 220 ff.; »Briefe von Gentz an Pilate (1868) I. 185 ff., 
JI. 427 ff.: »Tagebücher von Gentz«, I. 39, 256; Guglia, op. cit. S. 117—327. 
32) Die zur Zeit der Freiheitskriege und noch lange nachher sehr beliebte 





: 
rt 


Die romantische Geldtheörie. ee ö i 


Todesfurcht bedingte Religiosität 3) mögen entscheidend mitgewirkt 
haben, um den zwischen der stillen Zurückgezogenheit kontempla- 
tiver Beschäftigung und dem lauten Getriebe des öffentlichen Lebens 
Schwankenden zu Taten zugunsten der »heiligen Sache« anzutreiben. 
Ob dem nach ehelichem Glück und Karriere dürstenden Mann die Ent- 
scheidung durch die Aussicht auf materiellen Vorteil und gesellschaft- 
liches Ansehen wesentlich erleichtert wurde — Gentz protegierte 
und unterstützte den unbemittelten jungen Gelehrten, der seine 
spätere Karriere wesentlich ihm zu verdanken hatte, mit wahrer 
Liebe —? Allem Anschein nach ist dies wirklich der Fall gewesen: 
¿DaB die ökonomischen Drangsale kommen mußten, wie Sie, mein 
Freund, einst so richtig sagten, um meine Unbändigkeit einzufangen 
und einzudrücken, fühle ich. . . .« (Briefwechsel S. 156). 


II. 


Der Uebergang von der »Aufklärung« zur Romantik war wohl 
die wichtigste, tiefstgreifende Umwälzung im Leben Adam Müllers, 
im Vergleich zu dem alle anderen Wandlungen als relativ geringfügige 
Konsequenzen erscheinen. Das gilt insbesondere auch für jene lang- 
same Wandlung, die er am deutlichsten in den Jahren etwa seit 1815 
durchmachte — seitdem wirkte er in der heiß ersehnten Lebens- 
stellung, als österreichischer Generalkonsul in Leipzig und (seit 1819) 
Gesandter am Hofe des Herzogs von Anhalt-Köthen, für die Inter- 
essen ds Metternich-Regimes und noch mehr Roms —, und 
die ihn von der geistig regsamen Zeit seiner »gegensätzischen« Welt- 
anschauung, ähnlich wie es auch bei Friedrieh Schlegel 


. der Fall war, zu dem ultramontan-orthodoxen Standpunkt der letzten 


10 Jahre, ja sogar zu förmlicher Desavouierung der eigenen früheren 
Werke führte #). So wichtig diese Entwicklung für das Verständnis 


Anschauung, wonach das revolutionäre Frankreich das böse Prinzip, seine Geg- 
ner das gute repräsentierten erhielt bei den Romantikern durch die nachdrück- 
liche Betonung der Blutsverwandschaft und -verschiedenheit neben ethischen einen 
rassenmäßigen Charakter: So reduziert sich für Müller der genannte Gegensatz 
auf den zwischen »Römern« und Germanen. Bezeichnend dafür, wie nahe der 
Romantik solche Konstruktionen mit einem, freilich ganz unklaren, Rassenbegriff 
lagen — die Darlegung der Gründe würde uns zu weit führen —, ist u. a. der 
Aufsatz über die Völkerwanderung von Wilh.von Schütz, einem Anhänger 
Adam Müllers (*Deutsche Staatsanzeigen« I. 1816). 

#) Belege für die mindestens zeitweilige Bedingtheit seiner Religiosität 
durch Todesfurcht: »Elemente der Staatskunst« III. 234 ff., 276 f.: Briefw. 53, 
61, 67; Dombrowsky, op. cit., S.32 usw. Es sei auch seiner Gewitterfurcht erin- 
nert, die durch den ganzen Briefwechsel mit Gentz hindurchzieht und manchmal 
geradezu komische Dimensionen annimmt. 

") Vgl. »Briefe v. u. an Gentze II. 446 f.; »Staatsanzeigen« II. 503; Dom- 
browsky, IV. Abschn., insbesondere S. 32. Auch die Wandlung seines 
ıHistorismuss, die von Dombrowsky (Zeitschrift f. d. ges. Staatswissen- 
schaft 1909) aufgedeckt worden ist, hängt innigst mit dem Uebergang von der 
Anfklärang zur Romantik zusammen. 


joz :: "9 0977 Melchior Palyi. 
der Persönlichkeit auch sein mag, sie berührt den Problemkreis der 
»romantischen Geldtheories doch nur wenig, da die wichtigsten Schrif- 
ten über Geldwesen in die erstere, die eigentlich romantische Epoche 
seines Lebens, bzw. in die Uebergangszeit fallen. Zeitlich das erste 
unter den hier in Betracht kommenden Werken sind die »Elemente 
der Staatskunst« (1809), die bereits alle wesentlichen Gedanken der 
romantischen Geldlehre enthalten, während die späteren Schriften 
bloß dieselben Ideen variieren 3%). Die »Elemente« gingen aus Vor- 
lesungen hervor, die in Dresden vor einem aristokratischen Publi- 
kum zugleich mit den Vorlesungen Heinrich Schuberts 
>Ueber die Nachtseite der Natur« gehalten, mit diesen zusammen ein 
einheitliches Weltbild entwerfen sollten ®). In der Tat hätte Sch u- 
bert zu seiner naturphilosophischen Mystik schwerlich einen wür- 
digeren Genossen auf dem Felde der »Menschheitsphilosophie« finden 
können. Denn der Versuch der Frühromantiker, die Lehre vom Ge- 
sellschaftsleben in allen ihren Zweigen durch den Organismus-Ge- 
danken neu zu »beleben« und zugleich die herkömmlichen vernunft- 
mäßigen Normen für das praktische Verhalten durch gefühlsmäßige 
zu ersetzen — der kühne Versuch scheint bei Adam Müller in 
gewissem Sinne seinen Höhepunkt erreicht zu haben. In dem Sinne 
nämlich, daß die sozialen Institutionen und Erscheinungen, deren 
Einverleibung in die romantische Weltanschauung bisher gleichsam 
nur tastend versucht wurde, wie Staat und Nation, oder die einer 
solchen Bewältigung bisher ganz widerstrebten, wie Recht und Wirt- 
schaft, durch ihn der Herrschaft der »Begriffe« nun auch entrissen 
und in die Höhe der »Ideen« erhoben wurden. 
»Gegensatz« ist die Grundformel des Müllerschen Denkens 
(auf das woher können wir nicht eingehen), d.h., daß aus dem Ein- 
ander-Entgegengesetztsein, der wechselseitigen Bedingtheit zweier 
Dinge, aus ihrer »Polarität« die Einheit hervorgehe, die das höchste 
Ziel allen menschlichen Strebens (nicht bloß des Strebens nach Er- 
kenntnis) sei. Ein solcher Gegensatz, methodisch der wichtigste, 
weil für den Charakter aller anderen entscheidend, ist der von Praxis 
— die künstlerische Tätigkeit mitinbegriffen 37) — und Wissenschaft. 
8) In der Darstellung folge ich in der Hauptsache den »Elementen« (4. und 
5. Buch) und ziehe die übrigen Schriften nur ergänzend heran. Zu aiesen sei 
noch folgendes bemerkt. Das Biographische Lexikon von Würzbach (19. 
Bd.) gibt das ausführlicbste Verzeichnis seiner Werke, das aber auch unvollstän- 
dig ist. Müller soll 1812 eine zweibändige »Theorie der Staatshaushaltung« 
publiziert haben, von der er selbst aber nirgends erwähnt und die mir nicht zu- 
gänglich war. Das Auskunftsbureau der deutschen Bibliotheken erklärt das 
Buch mehrfach vergeblich gesucht zu haben. Nach den »Elementen« sind die 
»Versuche einer neuen Theorie des Geldes mit besonderer Rücksicht auf Groß- 
britannien« (1816), die, wie er im Vorwort erzählt, in den Jahren 1810 und 11 
geschrieben wurden, für unsere Zwecke am wichtigsten. 

3) Schubert, Selbstbiographie II. 228. — Müllers Urteil über diesen 
Mystiker (Briefw. 38 f.) ist für beide ebenso charakteristisch, wie für Gentz 
seine scharf ablehnende Haltung (ibid., 96 f.). 

37) Kunst und Praxis sind bei ihm völlig identisch, denn es gibt (Verm. 
Schriften II. 268) »kein unkünstlerisches, d. h. unproduktives Handeln». 


Die romantische Geldtheorie. 103 


Die herkömmlichen »lahmen, hinsterbenden, keistlosene Wissen- 
schaften ®) trennen, analysieren die Erscheinungen, sie bilden bloß 
totes, weil sunpraktische« Begriffe; der Künstler, bzw. der Praktiker 
wermählt, verbindet, vermittelt, vereinigt« die Einzelheiten zu einem 
Ganzen, indem er handelt, schafft, miterlebt; der »Philosoph« soll 
beides ausüben: er soll den Gegensatz von Denken und »Handeln« 
nicht bloß erkennen, sondern auch »behandeln«e die Entwicklung 
nicht bloß verstehen, sondern zugleich auch »mitwandelne Das 
nennt er die Dinge im Werden, »im Fluge« zu betrachten, anstatt leerer 
Abstraktionen lebendige Ideen bilden, die auch »empfunden« (gefühlt) 
werden, und, da sie mit der Entfaltung des Geschehens auch sich selbst 
entwickeln, das praktische und künstlerische Bedürfnis befriedigen 
können 9). _ Ä | 

Die Urpolarität allen Lebens, also auch des ökonomischen (Theorie 
des Geldes, S. 243), versichert er uns, ist der Gegensatz »Person — Sache« 
(das romantische Gegenstück zum Fichte schen Begriffspaar Ich — 
Nicht-Ich), durch den alle unsere Werte bedingt sind. Wir hätten 
namlich zwei wesensverschiedene Arten der Bewertung zu unter- 
scheiden: jedes Objekt hat »einerseits einen individuellen Wert, durch 
das was sie im unmittelbaren Gebrauch oder direktem Genuß ist, 
andererseits einen geselligen Wert, durch das was sie im mittelbaren 
Gebrauch ist, oder im Tausch und im Handel« (Elemente II. 182). 
Den ersteren nennt er auch Gebrauchs- oder Privatwert, den zweiten 


38) „Zwölf Reden über die Beredsamkeit« (1816), S. 277. Andere Ausfälle 
gegen Gelehrte und Wissenschaften: Elemente II. 135, 188, III. 275, 296 usw. 

» Vgl. die Lehre vom Gegensatz (1804) und die philosophischen Miszellen 
(Verm. Schr. II. Bd.). Die Unterscheidung von Begriff und Idee wird, ihrer 
fundamentalen Bedeutung für die ganze Lehre entsprechend, in nahezu allen 
' Schriften unseres Romantikers wiederholt und endlos kommentiert: sie hat 
bereits auch recht viele Deutungen erfahren, am ausführlichsten durch Arno 
Friedrichs (Klassische Philosophie und Wirtschaftswissenschaft, 1913). 
der die Abhängigkeit von Schelling betont, und Ludwig Stephin- 
ger. Sie wird aber auch regelmäßig mißhandelt, und zwar durch die Heran- 
zehung mehr oder weniger entfernter Analogien, und weil insbesondere dar- 
auf nicht geachtet zu werden pflegt, daß die romantische »Idee« nicht bloß Ge- 
genstand bzw. Inhalt der Erkenntnis, sondern auch der Ausdruck für eine be- 
stimmte Art und Weise des Handelns sein soll. Bei Stephinger z.B. ist 
es leicht irreführend, daß er in diesen Ideen die platonischen wittert (Die Geld- 
lehre A. Müllers, S, 9 f., 153 £.), und ganz bedenklich ist die Parallele, die er mit 
der Rickert-Windelbandschen Lehre von dem Unterschied zwischen 
nomothetischer und ideographischer Methode zu ziehen versucht (S, 149 ff.). 
Sollte er die Stellen alle übersehen haben — um nur auf den einen Punkt hinzu- 
weisen —, wo Müller seine Methode ausdrücklich für alle Wissenschaften gültig 
und für alle notwendig (!), und die Geometrie für das Muster erklärt (z. B. Ele- 
mente III., Verm, Schr. II. 43 ff. 272 ff., 280 f. und öfters)? Es darf auch nicht 
außer acht gelassen werden, daß die fundamentalen Gedanken dieser 
Lehre der Naturphilosophie Schellings und Steffens entlehntsind (so- 
weit sie nicht von Novalis undFriedrich Schlegel herrühren\, 
— Ein näheres Eingehen auf diesen Gegenstand ist mir hier aus technischen 
Gründen versagt, soweit nötig, werde ich noch darauf zurückkommen. 


104 Melchior Palyi, 


National- oder Tauschwert 4°) und rechtfertigt diese Unterscheidung 
mit dem Hinweis darauf, daß jedes Produkt »die doppelte Bestim- 
mung hat: es soll der Konsumtion dienen und es soll zu neuer Pro- 
duktion, d. h. als Kapital angewendet werden, ... es soll dem Augen- 
blick und doch wieder der Ewigkeit, zum Bindungs-, zum Befruch- 
tungsmittel dienen« (Elemente II. 373 f.). Dieser Doppelcharakter 
des Wertes ist nicht bloß Sachen, sondern auch dem Menschen eigen, 
der als Privatmann lediglich augenblicklichen, »individuellen«, »säch- 
lichen«e, als Bürger jedoch auch dauernden, »nationalen«, »persön- 
sönlichen« Wert besitzt (El. II. 188. 192) und dementsprechend haben 
alle Individuen im Staate, sowohl Personen als Sachen, .. . einen 
doppelten Charakter: einen sächlichen oder Privatcharakter und einen 
persönlichen oder bürgerlichen« *). Je mehr nun ein Mann den »per- 
sönlichen Charakter ausbildet, je mehr in ihm der Privatmann hinter 
dem Bürger zurücktritt, um so mehr ist ei »Staatsmann« geworden ; 
je weitgehender eine Sache der Vermittlung sozialer Beziehungen 
dient, je mehr also in ihr die »persönliche Eigenschaft« überwiegt, um 
so klarer kommt in ihr die »Idee des Geldes« zum Vorschein. Denn 
»Geld ist eine Idee; oder... . eine allen Individuen der bürgerlichen 
Gesellschaft inhärirende Eigenschaft, kraft deren sie mehr oder weni- 
ger mit den übrigen Individuen in Verbindung zu treten und auch 
wieder die verbundenen Individuen auseinanderzusetzen ver- 
mögen« #2). 








40) Elemente II.184, 228, 232; III. 139 f. 

41) El. II. 193. — Nach R. Kaulla soll der Müllersche Wertbegriff we- 
sentlich durch Fichtes Betonung der sozialen Seite ssowohl der menschli- 
chen Persönlichkeit als ihrer rechtlichen Herrschaft über die Sachen« bedingt 
sein (Geschichtl. Entwicklung der modernen Werttheorien, 1906, S. 222). Der 
Romantiker dürfte in der Tat auch hier von Fichte beeinflußt worden sein; 
nur ist es etwas verschieden, was dieser und was jener unter der ssozialen Seite« 
der Erscheinungen versteht und die einseitige Betonung der Analogie führt nicht 
zum tieferen Verständnis, ebensowenig, wie die Hervorhebung der Analogie mit 
der Wertlehre von Corn&lissen (Théorie de la valeur, 1903), der zwischen 
valeur d’usage personelle und d’usage sociale unterscheidet, sich als fruchtbar 
erweisen würde. — Ueber das Verhältnis der ökonomischen Werte zu anderen 
»Werten« in Müllers Lehre läßtsich nur sehr schwer etwas Bestimmtes aussagen; 
letzten Endes hält er ja alle Erscheinungsformen sozialen Daseins (Recht, Staat 
Sitte, Wirtschaft, Religion, Nation) für »identisch«e miteinander (vgl. El. I. 147 
II. 155, III. 321; »Zwölf Reden über Jie Beredsamkeit (1816), 264 f.. usw.): 
andererseits pflegt er zwischen Recht und Wirtschaft einen »Gegensatz« zu kon- 
struieren (z. B. El. III. 203) oder auch das Recht als den sdauernden Nutzene 
(Theorie des Geldes, 244 f.) mit der Wirtschaft zu verbinden. Bezeichnend ist, 
daß er auch das Wesen des Schönen im sozialen Charakter des Kunstwerks 
sucht — auf die Verwandtschaft mit der Aesthetik Burkes aus dem Jahre 1757 
hat Zimmermann in der Gesch. der Aesthetik (1858, S. 602 ff.) nach- 
drücklich hingewiesen —, was zur Folge hat, daß ihm die Wesensgleichheit von 
Dichter und Staatsmann als selbstverständlich gilt (Reden über Beredsamkeit, 
223). 

4) El. II. 194. Vgl. auch Theorie des Geldes, 156 (Geld ist nichts anderes 
sals die Eigenschaft der Geselligkeit«), Verm. Schr. I. 390 usw. 


u 0. Tg Tr | 


Die romantische Geldtheorie. 105 


Der herkömmliche Gegensatz von Geld und Ware hat also eine 
neue Form erhalten, aus jenem »absoluten« ist ein relativer Gegensatz 
geworden, wie wir ihn wohl bezeichnen dürfen. Die Neuerung besteht 
nämlich darin, daß nun nicht mehr ein bestimmter Gegenstand als 
sGeld« der Welt der Waren irgendwie gegenübersteht, sondern jeder 
Gegenstand ist zugleich Geld (»Person«) und Ware (»Sache«), in dem 
Maße, als er Kapital oder Konsumtionsgut — nach einer gelegent- 
lichen Wendung (Elemente II. 343 f.; III. 133 f.) —, als er »Vermitt- 
ler und Auseinandersetzer« oder »Objekt der Vermittlung« ist 4). Das 
Begriffspaar Person — Sache wird (entsprechend dem stets als Voraus- 
setzung dienenden romantischen »Organismus«, wonach alles lebendig, 
persönlich ist, was dem »Leben entspricht«, »in Beziehung auf das 
menschliche Leben« steht 4), wird hier als gleichbedeutend mit dem 
Begriffspaar Gesellschaft-Individuum, das durch die Unterstreichung 
des Zeitmomentes seine eigentümliche Färbung erhält, verwendet; 
Person und Sache bilden gleichsam zwei Pole, die sich einander in 
einer unendlichen Stufenfolge nähern und durchdringen, und am 
unteren Ende steht der reine Gebrauchswert, z. B. die Conchylien- 
sammlung des Naturforschers, die »keine Brauchbarkeit für die bür- 
gerliche Gesellschafte besitzt (El. II. 179f.), während die obere 
Spitze die Verkörperung des reinen Tauschwertes, das Geld, einnimmt. 
Man sieht schon, worauf das hinausläuft: Folglich darf das Geld 
keinen Gebrauchswert haben und folglich ist das Papier der 
geeignetste Stoff, um als Geld gebraucht zu werden. Diese letz- 
tere Folgerung hat er aber nirgends als solche ausgesprochen; 
kam sie ihm vielleicht gar so selbstverständlich oder zu banal und zu 


wenig »idealisch« vor? Das Bestreben, Banalitäten zu vermeiden, ist 


schwerlich der Grund gewesen, denn mit allem Nachdruck hebt er 
eine »noch nicht genug erhobene Eigenschaft« der Metalle hervor: 
sihre Unbrauchbarkeit zu den gemeinen körperlichen und physischen 
Zwecken des Lebens« (El. III. 207). »Es gibt wenige Waren, 
deren Brauchbarkeit für die Zwecke des alltäglichen Lebens so gering 
wäre,... als die edlen Metalle. Dessen ungeachtet hat man... einen 
großen Reiz und eine große Sicherheit in dem Besitze dieser Waren 
empfunden, welche Empfindungen in dem Bewußtsein, den Gegen- 
stand des s allgemeinsten Begehrens zu besitzen, ihren Grund hatten« t5), 


t) Die Bezeichnung »Subjekt« und »Objekte der Zirkulation erst in den 
sZeitgemäßen Betrachtungen über den Geldumlauf« von 1816 (Gesammelte Schr., 
84 ff.). 

“ El. I. 224; vgl. ibid. 225: »Der lebendige Mensch kann an den Sachen 
nichts brauchen, als die Eigenschaften daran, welche seinem Leben entsprechen, 
in sein Leben eingreifen, also selbst lebendig sinde, und Th. des Geldes, 298; 
»Was ist das eigentlich Persönliche und Wirkliche in aller Person? Nichts an- 
deres, als die Beziehung dieser Persönlichkeit auf die Person insonderheit, das 
auf den Staat.« 

&) EL II. 266 £.; vgl. El. II. 270 ff. und »Staatsanzeigen« I. (1816) 390. Die 
pelegsütliche Wendung, der Wert der edlen Metalle beruhe darauf, daß sie »den 
höchsten individuellen Wert und den höchsten geselligen, bürgerlichen, univer- 
æilen Wert in einander verbinden« (El. II. 271), besagt nichts gegen das Obige, 


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106 Melchior Palyi, 


Die edlen Metalle haben. noch manche gute Eigenschaften: außer 
ihrer Schönheit die Dauerhaftigkeit, fortwährende Gleichartigkeit, 
Transportabilität (die eine Folge ihrer verhältnismäßigen Seltenheit 
ist) und Teilbarkeit 46). Hierauf beruht es, daß sie sich zur Erfüllung der 
»Grundbestimmungen« des Geldes so gut eignen. Sie eignen sich erstens 
zur »Vermittlung oder Verbindung« der Individuen *) ; und zweitens zur 
Beschleunigung der »Bewegung der ökonomischen Objekte«%), oder 
zur »Auseinandersetzung«, dank ihrer Teilbarkeit. (El. II. 195). »Das 
Geld dient entweder zur Auseinandersetzung des augenblicklichen 
Interesses, oder es dient als vermittelnde Kraft... ., als Kapital, 
der Gesellschaft überhaupt« (El. III. 134t.). »Je mehr ... der 
Mensch des Menschen bedarf und ihn begehrt, desto mehr haben die 
Metalle die wechselseitigen Bedürfnisse des Menschen auseinander- 
zusetzen; je mehr... der Mensch für das Bedürfnis oder Begehren 
des Nebenmenschen arbeitet, um so mehr haben die Metalle zu ver- 
mitteln, auf Jahre, auf ganze Jahrhunderte, zu vereinigen« (El. III. 135£.). 
Dieser Unterschied zwischen Verkehrsvermittlung und »Wertaufbewah- 
rung«, wie man ihn heute nennen würde, beruht nach Müller auf dem 
Unterschied zwischen augenblicklichem und dauerndem Interesse, 
zwischen der »Konsumtionsfähigkeit« der Güter und ihrer »Nutz- 
nieBung«, zwischen Preis und Zins (El. III. 137 f.). — Hier liegt 
der Ursprung, das sei in parenthesi bemerkt, der Roscher- 
Kniesschen Lehre von der »Wertaufbewahrung« als einer be- 
sonderen Funktion des Geldes; was Müller zu dieser Konstruktion 
veranlaßte, war seine Auffassung vom Gegensatze der »horizontalen« 
und der »vertikalen« Gliederung der Gesellschaft (Raum- und Zeit- 
genossen), die das Fundament seiner geschichtsphilosophischen und 
politischen Anschauungen bildet. 

Verbinden und auseinandersetzen, die Verbindung der Gene- 
rationen und die Auseinandersetzung der Zeitgenossen bewerkstelli- 
gen: das sind die zwei Grundbestimmungen des Geldes 49), die erste 


denn bereits die folgende Seite (272) zeigt, daß unter sindividuellems Wert in 
diesem Falle das »Bedürfniss nach der Gesellschaft, die Brauchbarkeit für die- 
selbe verstanden wird. 

46) El. II. 195. — Vgl. El. II. 269. 

#) El. II. 195 (»... durch ihre Dauerhaftigkeit, . . . fortwährende Gleich- 
artigkeit und durch ihre Transportabilitäte). 

48) El. II. 266 (+... deshalb muß das Geld im höchsten Grade beweglich 
seine). 

49) El. II. 195. — Wenn Müller einmal auch noch eine dritte Bestim- 
mung nennt: »Das Bleiben, aie Dauer der übrigen, ökonomischen Objekte zu be- 
festigen, zu repräsentieren« (El. II. 266), so steht das im Widerspruch zu seinem 
Geldbegriff, wie es aus der im Text folgenden Darstellung hervorgeht. Als Vor- 
aussetzung für diese Funktion nimmt er übrigens aie Dauerhaftigkeit des Geldes 
an, dieselbe Eigenschaft, die auch der »Vermittlunge zugrunde liegt. — Die 
gelegentliche Einteilung der Geldfunktionen in die sachliche und die Kreditfunk- 
tion, je nachdem das Geld »für eine Sache hingegeben wirde oder sman eine per- 
sönliche Verpflichtung dafür empfängt« (Theorie d. Geldes, S. 299), ist als ein 
Versuch zu bezeichnen, das Problem des Geldbegriffs mit dem (Müllerschen) 


nn. 


«hl 
INN) 


Die romantische Geldtheorie. 107 


seine Funktion in der Zeit, die zweite die im Raume (Briefwechsel S. 226). 
Beide zusammen ergeben die ökonomische »Vereinigung«, wie das Gesetz 
die juristische; und Edelmetall ist das Mittel der Vereinigung, wie Eisen 
das der Trennung (El. II. 268). Diese Vereinigung ist aber nichts 
anderes, als die bürgerliche Gesellschaft selbst, der Staat, die Na- 
tion, die Religion, — sie ist der wahre Reichtum 5°). Denn nicht 
in der Zahl der aufgehäuften Güter, wie die Physiokraten annehmen, 
oder in der Arbeit, wie es Smith meint (El. II. 246 f.), besteht das 
Wesen des Reichtums; es genügt auch nicht, mit Lauderdale zu 
den sphysischen« noch die »geistigen« Bedürfnisse hinzuzuzählen (El. 
II. zoof., 243f): der wahre Reichtum ist viel mehı als »die bloße Veran- 
schlagungder Krätteund Besitzstücke einer Nation« (El. II. 189 5!) ‚er be- 
stehtnicht bloß in der Summe der Produkte, sondern auch in der »Nütz- 
lichkeit, Brauchbarkeit, Nationalität . . . sowohl der sogenannten 
Personen, als der sogenannten Sachen, als auch aller idealischen Güter« 
(El. IL. 202), nicht in dem zahlenmäßig bestimmten »reinen Einkom- 
men«, sondern in dem, swas den Zahlen erst Kraft und Wert gibt«, 
in der »Nationalkratt« (El. II. 205 f.); die »politische Idee« ist es, die 
den ganzen Reichtum bindet und aufrecht erhält« 5). Es ist der 
romantische Organismus, der diesem Begriff (dieser »Idee«) des Reich- 
tums zugrunde liegt %), Alle Eigenschaften jenes Organismus sind 
auch die des Reichtums: vor allem bildet den Kern seines Wesens 
die Polarität, d. h. die Ausgleichung, die »Indifferenz« (Schelling) 
von polaren Gegensätzen, ihre »sphärische Richtung« auf einen »Mit- 
telpunkts %), auf etwas »Höheres«, auf einen »Suverän« 55); er geht 
aus der Polarität hervor, denn » Produzieren heißt, aus zwei Elementen 
etwas Drittes erzeugen, zwischen zwei streitenden Dingen vermitteln, 
und sie nötigen, daß aus ihrem Streite ein Drittes hervorgehe« 5®), 
Problem des Verhältnisses von Metall und Papier zu verquicken, Sie blieb auch 
unausgeführt. 
$0) Theorie des Geldes, 17; El. I. 104 f. (»Wenn der Reichtum einer Nation 
eins wird mit ihre usw.), III. 321. — 
8) Aehnlich: El. III. 123 f., Th. d. Geldes, 12 f. 
i8) EI. II. 225, 235; III. 3 f. — Ges. Schr. I. 173 f. — Theorie des Geldes, 
13 Í; »Aller Reichtum oder . . . alles Vermögen hat notwendiger Weise zwei Ele- 
mente: die Kraft des Einzelnen und die Kraft des Staates.e »Alles Einzelne im 
Umkreise eines Staates vorhandene ist nur tätig und produktiv vorhanden, in 
wie fern es in beständiger Wechselwirkung mit dem Allgemeinen und Gemein- 
schaftlichen steht. — Das Staatsvermögen ist also der gesamte Inbegriff der- 
jenigen Kräfte, unter deren ... Einfluß das Privatvermögen steht, wächst, 
sich verteidigt und behauptet.e Staats- und Nationalreichtum sind also iden- 
tisch und auch »die Gesetze, alle großen Nationalerinnerungen«, sowie »aus 
dem Standpunkt des Einzelnen . . . die Gesamtkraft aller übrigen Indivi- 
duen« Bestandteile desselben. 
8) Das »Zentrum« eines jeden Haushalts (Th. d. Geldes, 94) ist sein unsicht- 
bares, bloß empfundenes Wesen« usw. 
#) Vgl. Theorie des Geldes, S. 143—54- 
%) El. II. 247 f., 296 (die sallgegenwärtige Kraft, juristisch ausgedrückt, 
beißt Souverän oder Rechtsidee: ökonomisch ausgedrückt heißt sie Gelde). 
“) EI. II. 249; ähnlich ibid. 346, III. 35 f. und öfters. 


108 Melchior Palyi, 


Wie bei jenem Organismus, so gehört es auch zum Wesen des Reich- 
tums, daß er in ewigem Fluß, in ewiger Bewegung und Entwicklung 
begriffen ist 57); wie der romantische Organismus, so ist auch der ro- 
mantische Reichtum »sozialer« Natur: nicht in der bloßen Summe 
von Menschen und Sachen, sondern vielmehr in ihren gegenseitigen 
Beziehungen, in ihrer »Harmonie« 8), offenbart er sich. Der Reich- 
tum einer Nation ist das »geheimnisvolle Band«, das alle Individuen 
verbindet und sein Maß ist keine »tote« Zahl, sondern die Dauer, die 
sdie Probe aller ökonomischen Werte ist« (Theorie des Geldes, 50, 67), 
sdas Gefühl von Dauerhaftigkeit, welches sich nicht in den Comp- 
toiren, sondern nur im Mittelpunkte des gesamten geistigen und physi- 
schen bürgerlichen Lebens erwerben läßt« 59). 

»Geld« (in weiterem Sinne) sein heißt nun, als »Vermittler« in 
der Produktion des Reichtums, d.h. des »vaterländischen Geistese«, 
der Nation, auftreten; in diesem Sinne ist das Geld jene »Idee«, die 
die Einheit der Gegensätze, aus deren Wechselwirkung die »Ge:ell- 
schaft« hervorgeht, zustande bringt 6°). Der vollkommenste Ver- 
mittler ist aber der Staat selbst 4), — das Nationalwort, die National- 
kraft, das Gesetz, der Kredit: lauter Ausdrücke für jenen »höheren 
Mittelpunkt«, wohin alle Kräfte tendieren 2), — oder sein »Substitut«, 
das Geld (im engeren Sinne) 3). Dieses Geld »repräsentiert« die bür- 
gerliche Gesellschaft, wie der Richter die streitenden Parteien, das 
»Centrum« der Polarität die Gegensätze, wie jede »Idees eine mysti- 
sche Einheit, ein »Lebewesen«, repräsentiert t). Was aber die (ro- 
mantische) Gesellschaft konstituiert, ist der bürgerliche Charakter, 
der gesellige Wert der einzelnen; und so läßt sich das Wesen des 
Geldes auf die Formel bringen: es repräsentiert den (gesellschaft- 
lichen) Wert der Individuen. 

Für gewöhnlich spricht Müller bloß von einem Repräsen- 
tieren der Waren. »Daß das Geld .. . alle Dinge und Waren reprä- 
sentieren, d.h. die Partei jeder einzelnen Ware ergreifen kann, ohne 
doch je sich selbst in diese Ware leibhaftig zu verwandeln, das gehört 
zum Wesen des Geldes« ®). Das Geld ist der »Maßstab der geselligen 
Eigenschaft aller übrigen Waren« (Theorie des Geldes, S. 157), was 
aber keineswegs bleichbedeutend ist mit dem, was man gewöhnlich 
unter der Funktion des Wertmessers oder Preisindikators zu ver- 
stehen pflegt. Das Geld fungiert zwar auch, das muß selbst 
Müller zugeben, als »Aequivalent« und als »Maßstab« im ge- 

87) Vgl. El. II. 247£. 

5e) Vgl. z. B. El. III. 123. 

5%) EI. II. 344; vgl. El. III. 11. — Es sei noch auf folgende Stellen, den 
»Reichtume betreffend, hingewiesen: El. II. 198 f., 219, 241 f., 369 f.. 

60) Vgl. z. B. El. II. 241 f. 

“ı) Vgl. El. II. 256 f., 276 f. und öfters. 

“) Vgl. El. II. 197, 204 f., 257, 287, 364; III. 135, 162 ff., 170. 

3) Theorie des Geldes, 34, 139. 

“) Vgl. EI. II. 271 f. 

6) El. III. 207; vgl. I. 225 f — Beinahe wörtlich derselbe Satz findet sich 
auch bei Franz von Baader (Werke V. 284). 


— wm 


Die romantische Geldtheorie. 109 


wöhnlichen Sinne des Wortes; er hält dies jedoch für eine ganz 
minderwertige Beschäftigung, wie alles Zählen und Abwägen, bei 
dem der Verstand über das Gefühl »wuchert«, und nicht einmal würdig, 
in die Reihe der Grundbestimmungen des Geldes aufgenommen zu 
werden €). Mit dem Gelde wird der (Gebrauchs-)Wert der Ware, wie 
mit der Ware der Wert des Geldes »gemessen« (El. II. S. 257 f.) ; »re- 
präsentierens, die Richtung auf eine höhere Idee anzeigen, kann aber 
bloß das Geld (ibid. S. 275 ff.). Die Rolle, die das Geld in der Preis- 
bildung spielt, ist ihm ziemlich gleichgültig, kaum daß er davon er- 
wähnt; das Wesentliche ist, daß alle Werte durch das Geld in eine 
Einheit, den »Staat«, zusammengefaßt werden, einen Vertreter und 
Vermittler gefunden haben. Das Repräsentieren der bürgerlichen, 
— der Tauschwerte, also der »Geldeigenschaft« der Waren, ist also 
überhaupt nichts von der Art einer ökonomischen Funktion; es ist 
das Mysterium des Geldes, es ist die »Axe der ökonomischen 
Sphäre« (Theorie des Geldes, S. 165) 67). — 

»Wechselwirkungen« bilden den Gegenstand der Müllerschen 
»Dekonomie« und »Kapital« ist alles, was die Wechselwirkungen ver- 
mittelt ®). Kapital entspringt als »bieibende Spur« aus der Wechsel- 
wirkung von Stadt- und Landwirtschaft (El. III. 41) oder auch von 
Bedürfnis und Arbeit (El. II. 244 f.), und es dient zur Belebung der Ge- 
sellschaft, zur neuen Produktion (El. 111.146). Das höchste Kapital 
ist adas ganze dieses bürgerlichen Lebens selbst«, der Staat (El. I. 39), 
die »Totalität der menschlichen Angelegenheiten« (El. I. 66), das »Be- 
dürfnis aller Bedürfnisse« und ein unvollkommener Repräsentant des- 
selben das Metallgeld $). Das Metall ist dazu immerhin eher als 
sonst eine Ware geeignet, vornehmlich weil es keinen Gebrauchs-, nur 
Tauschwert besitzt. Das Metall wird zum Gelde in der »Bewegung«, 
indem es zirkuliert;; thesauriert hört es auf Geld zu sein 7°). Denn in 
Bewegung, in Wechselwirkung — alle Ausführungen Müllers, was 
sie auch betreffen mögen, sind nach diesem Mittelpunkt hin »centriert« 
— besteht der Reichtum, der Staat, die Nation; »aus der innigsten 
Wechselwirkung des Kaufmanns mit dem kaufenden Begehren« geht 
sdas größte beiderseitige Zutrauen, oder der Kredit, das unsichtbare 
Geld« hervor (El. II. 277) — das Wesen des Kredits liegt keineswegs 
im Kreditverkehr, sondern im Vertrauen, Glauben, und wie »aller 
füchtige Glaube« bringt er auch das hervor, woran geglaubt wird 





“EI II, 196. Í. 245, 272—76; Theorie des Geldes, 262 f 

") Am ausführlichsten wird in der Theorie des Geldes (S. 20992 und 
pasim) über den »Wertmaßstab« gehandelt, auf verschiedene Punkte werden 
wir noch zurückkommen. 

#) Vgl. EI. III. 39; Theorie des Geldes, 14f, 127f. — Auch die Nationalität 
ist nichts anderes als »Verbindung und Wechselwirkung« (El. III. 253, 311 £.). 

'n EI. II. 205, 245. In der Schrift von der »Inneren Staatshaushaltung« 
(1820) ist bereits Gott selbst der Vermittler zwischen »Material und Werkzeugs 
der Produktion (Müllers ges. Schriften I. 289). 

10 EL II, 294; III. 8 f., 40, 182, 186 ff.; »Ueber König Friedrich [I.« (1810) 
S. 285 f., 289 f. 


IIO Melchior Palyi, 


(Verm. Schr. II. 231), bzw. dessen »Idee«, also die Idee der Gesell- 
schaft, des Staates (Th. d. Geldes, 79) 7!) — und in der sungeheueren 
Bewegung einer Staatswirtschaft« offenbart sich die Nationalkraft 
oder die bürgerliche Gesellschaft (El. II. 256) 13). Diese, oder das 
Nationalwort, oder die Idee des lebendigen Staates ist es, die saus 
dem Metallgelde hervorlächelt« 73) und ihm »die Seele einhauchte« 
(El. III. 135, 19I); denn »Nie muß vergessen werden, daß... das 
Metallgeld in seiner reinsten Gestalt... . für die eigentlich nationalen 
Bestimmungen noch unzureichend ist, und daB der Stempel der 
Nationalkraft erst hinzukommen muß .. .« (El. II. 287). Und auf 
diese nationalen Bestimmungen kommt es gerade an: »Die bloße Stem- 
pelung des Metallstückes mit Anzeige seines Gewichts und seiner 
Feinheit« ergibt folglich noch keine Münze; »Erst durch dıe bestimmte 
Geldbenennung, durch die Lokalisierung, kurz durch eine Art von 
Vermählung mit irgendeinem Natienalgesetz wird es zur Münze« 74). 
Durch die Lokalisierung wird der nationale Charakter des Geldes 
wie der Sprache bestimmt: »Nach Maßgabe der Lokalität eines be- 
stimmten Landes und des Charakters einer bestimmten Nation, wer- 
den sich diese beiden Auseinandersetzungs- und zugleich auch Ver- 
bindungsinstrumente eigentümlich ausprägen.« »In dieser Land- 
sprache und in diesem Landgelde vornehmlich stellt sich das Kapital 
einer Natien dar: ihr Kapital an Erfahrungen, Ideen und Lebens- 
weisheit wird bewirtschaftet vermittels der Sprache; ihr Waren- und 
Sachenkapital wird konserviert und in Bewegung gesetzt vermittels 
des Geldes« 75). 


71) Der Grund dafür, daß er den Glauben an die Idee mit der Idee selbst für 
identisch hielt, ist leicht ersichtlich: seine »Ideen« bilden eigentlich nicht Gegen- 
stand oder Inhalt der logischen sondern der gefühlsmäßigen, sintuitiven« (Schel- 
ling) Erkenntnis, der »Phantasiee (Fr. Schlegel), und also eben des 
Glaubens. (Mit seltener Freimütigkeit hat er das in dem kleinen Aufsatz vom 
»Wissen und Glauben«, Verm. Schr. I. 370 f., ausgesprochen.) — Auch der öko- 
nomische Kredit ist für ihn nur eine Erscheinungsform des »Glaubens« und die 
Tatsache seiner Existenz liefert ihm den erwünschten »Beweis«, daß es im Wirt- 
schaftsleben letzten Endes nicht auf die Zahl der Produkte, sondern auf etwas 
sidealischese ankomme, selbst der Kredit der einzelnen ist etwas viel Tieferes, 
als was man gewöhnlich unter Kredit versteht (El. II. 366 f.) und sden der Mensch 
nicht als Mensch, sondern als Sache mi: allem ihm zufällig anklebenden säch- 
lichen Besitze nach einer meistenteils täuschenden Veranschlagung ansprechen 
kanns (Ges. Schr. 179 ff.), wo doch der swahre Kaufmann« nicht danach strebt, 
Sachen zu erwerben, sondern sum mehr geglaubt zu werden« und um »sdie Sicherheit 
.... seines ganzen Daseins zu gewinnen« (Tb. d. Geldes, 173 £.). 

12) Vgl. El. II. 311 f.: »Die National-Kraft... . liegt in der Harmonie und 
in der unendlichen Wechselwirkung aller Individuen des Staates unter sich und 
mit dem suveränen Gedanken oder dem Suverän.« 

73) El. II. 205; »Staatsanzeigen«, I. 391 f. 

14) Theorie des Geldes, 197. Aehnlich ibid., S. 157 (die Metalle werden durch 
den Stempel »wie durch eine Art von Creditive zum Gelde erhoben); 161 »Wenn 
das Metallgeld zu wirklichem Gelde werden scll, so muß das Wort sein Siegel, seinen 
Stempel darauf drücken«. 

75) EI. II. gof. Der Vergleich zwischen Sprache und Geld ist schon bei 


— {om 


Die romantische Geldtheorie. IlI 


Der Mensch bedarf seines Bandes, das ihn mit den Personen und 
Sachen unauflöslich verbinde« »Das, was diese Verbindung voll- 
zieht, ist . . . der Staat; und Geld ist nichts anderes als der ökonomi- 
sche Ausdruck für dieses Bedürfnis der Vereinigung oder für den 
Staate (Theorie des Geldes, S. 158). Bereits in der Verwendung 
des Metalls kommt diese »Sehnsucht« der Menschen nach etwas Höhe- 
rem zum Ausdruck. »Indem eine Sache, nicht von unmittelbarem, 
sondern von mittelbarem, vermittelndem Werte, über alle anderen 
unmittelbar brauchbaren Sachen zum König, zum Suverän, erhoben 
wurde, zeigte der Mensch von Anfang an sein über alle Tiergeschlechter 
erhabenes Wesen; . . . das ganze, große, unsichtbare Halbteil seiner 
Natur wurde durch jene suveräne Sache repräsentiert« (El. II. 269 £.). 
Mit der Hinzukunft des Wortes erhielt das Geld jedoch erst die 
wirkliche Richtung auf den Staat; so schon in der Prägung der Münze 
(ibid.) und noch mehr im Papiergeld. Das Gesetz des Staates 
oderder Glaube an ihn, — das Wort oder der Kredit, und also, wie wir 
bereits wissen, das wahre Geld, erscheint im Papier 78). Dieses ist das 
nationale Geld, wie Metallgeld das kosmopolitische, denn durch das 
Wort wird die Nation repräsentiert, wie durch das Metall die ge- 
samte Menschheit, — worauf wir noch zurückkommen werden. Des- 
halb ist das Papier von der größten Bedeutung für die Ausbildung 
eines nationalen, eines Staatsbewußtseins. Seit der Erfindung der 
Sprache, sagt er in den Vorlesungen »über Friedrich II.« von 1810 
(S. 281), gab es für die gesellschaftliche Organisation der Menschheit 
keine größere, als die Erfindung des Papiergeldes. Und er kann sich 
nicht genug tun in der Bewunderung dieses großartigen Mittels zur 
Befestigung des geistigen Bandes, das die Menschen in eine Nation ver- 
einigt, »zur inneren Verknüpfung und Verschränkung des vaterländi- 
schen Interesse« (El. II. 338 £.). »Die edlen Metalle, oder die völker- 
ökonomischen Bindungsmittel haben eine Wirkung auf den Charakter 
der Nationen, wie eine Universalsprache sie haben würde: sie ge- 
wöhnen den Menschen zu früh an den Glauben, daß überall, wo nur 
diese Sprache des Metallgeldes gehört werde, sein Vaterland sei. Die 
Papiergelder haben die ganz entgegengesetzte Wirkung: sie befestigen 
vielmehr, weise gebraucht, den Menschen am Boden, — wie der, welcher 
nur einer Sprache kundig ist, vom Besuche fremder Länder abge- 
neigt sein wirde (EJ, III. 170 f.). Nicht als ob dem Romantiker die 
gefährlichen Folgen der Papierwirtschaft, der Agioschwankungen ent- 
gangen wären, oder als ob er ihnen Vorschub leisten wollte; sie scheinen 
ihm aber von geringer Bedeutung zu sein im Vergleich zu dem pa- 
triotischen Nutzen des Papiergeldes 77). — 

In der Tat konnte es zur Zeit der napoleonischen Kriege für den 
deutschen Patrioten naheliegen, dem Papiergeld wohlwollend gesinnt 


Büsrh (Abhandlung von dem Geldumlauf, 2. Aufl. 1800, II. Buch, $ 14) zu 
finden; wie die Sprache »Zeichen der Begriffe«, so sei das Geld sZeichen des 
Wertes der Dinges. 

16) Vgl. z. B. El. II. 205. Theorie des Geldes, 156 f. 

”) Vgl. El. II. 337 f. 


j12 Melchior Palyi, 


zu sein. Oesterreich, seit Jena und Auerstädt die Hoffnung aller 
hatte zwar schwer unter der Papierwirtschaft zu leiden, aber 
die Existenz des arg bedrohten Habsburgerreichs schien gerade 
auch im Jahre I8og davon abzuhängen, ob es möglich sein werde, 
einen neuen Krieg »für die Freiheit Europas« mit Hilfe der Banko- 
zettel und der ungarischen Stände finanziell durchzuführen. Kein 
Wunder, wenn der patriotisch gesinnte Publizist, der obendrein dem 
österreichischen Staate auch persönlich nahestand, wenn Adam 
Müller dem Papiergeld eine große Bedeutung beilegte. »In dem gegen- 
wärtigen Zustande der Dinge«, sagt er in den »Elementen«, »werden in 
einem Lande, wo nur die erste Bedingung alles politischen Daseins, natio- 
naler Sinn und innere Verknüpfung und Verschränkung des vater- 
ländischen Interesse, stattfindet, Mangel und Schlechtheit des Geldes 
ein neues Bindungsmittel für die Nation« (II. 338). Freilich, für den 
»Augenblick«, für das Interesse aller einzelnen, das intérêt de tous, 
mag eine regelrechte Metallwährung nützlicher sein; aber für die 
Nation als ganze, für das intérĉt general, das dauernde Interesse, ist 
die »Papiercirkulation« entschieden vorzuziehen 78). Der einzelne 
wird dadurch enger an den Souverän und an die Interessen der Ge- 
meinschaft gekettet, denn die Menschen lieben, betont er immer 
wieder von neuem, was ihnen teuer zu stehen kommt. »Der Einzelne 
muß es fühlen, wie allgegenwärtig ihm der Beistand des Staates bei 
allen Beschäftigungen und den geringsten ökonomischen Prozeduren 
des Lebens ist« ?®), und dementsprechend wäre es die »größte Tor- 
heit«, wenn ein Staat »vermittels des Geldes oder einer Münzver- 
besserung oder einer Papiertilgung die Kur seiner innersten Organi- 
sation anfangen wollte« (II. 293; 339, III. 68f.). Krieg, Adel und Papier- 
geld sind zwar an sich Uebel, aber eben deshalb müssen sie dem Staate 
yeingeimpft«, sinokuliert« werden, damit sie aufhören Uebel zu sein und 
durch die Wechselwirkung mit dem »an sich Guten«, dem Frieden, dem 
Bürgerstand und dem Metall, die Harmonie, das Gleichgewicht erzeu- 
gen 8°) ;»man zähme sie, und diese reinen Uebel werden die kräftigsten 
Bindungsmittel desStaates und die sichersten Bürgschaften tür dasGlück 
jedes Einzelnen werden« (Theorie des Geldes, 163). Krieg und finan- 
zielle Not ziehen die Bevölkerung am tiefsten in Mitleidenschaft 
und sind folglich die kräftigsten Waffen zur Bekämpfung des politi- 
schen Inditferentismus, des unpatriotischen ausschließlichen Erwerbs- 
strebens ©). Heilig sollte also dem Deutschen sein Papiergeld sein, 
diese »wirkliche Realisation des in allen Herzen, wie im Boden des 
Vaterlandes, unsichtbaren National-Kapitals« (El. III. 158), »dieses 
unser schönes, fast erstes Nationaleigentum« (»Friedrich II.«, S. 276). 
In den Freiheitskriegen sah jedoch der Romantiker weniger das 
73) Vgl. El. II. 206, 340: III. 293 f. 
79) El. III. 157 f. ähnlich EI. III. ror f.; »Friedrich II.« S. 267 ff., Verm. 
Schr. I. 168 ff., und öfters. 
so) Vgl. Verm. Schr. I. 225 fi., 389 f.; Theorie des Geldes, 159 f., 163; EI. 
IlI. 156, 158. 
81) Vgl. El. I. 8, 113, 118; »Friedrich Il.« S. 14 f. usw. 


-- 


— 


Die romantische Geldtheorie, 113 


Ringen der aufstrebenden Nationalstaaten, als vielmehr den Kampf 
gegen das böse Prinzip, den »Antichrist«, denn das Aufleben der 
nationalen Idee ist für ihn — seiner Weltanschauung, der durch 
romantische Lebensstimmung so eigentümlich gefärbten Identitäts- 
philosophie gemäß — gleichbedeutend mit der Verjüngung all seiner 
Heiligtümer: der Religiosität, des Feudalismus, der mittelalterlichen 
»Galanteries und Ritterlichkeit, des gefühlsmäßigen »weiblichen« Prin- 
dps; und folglich reicht die Bedeutung des Papiergeldes weit über die 
patriotische im üblichen Sinne des Wortes hinaus. 

Der Inhalt der Menschheitsgeschichte reduziert sich für Adam 
Müller, der hierin treu den Anregungen von Novalis und 
Friedrich Schlegel folgt, auf den Streit zweier Prinzipien: 
eines männlichen und eines weiblichen Prinzips ®2). Die Liebe oder 
die Religion bildet den Inhalt des letzteren und sie war im Mittel- 
alter, dem »erweiterten, obgleich noch unvollendeten Ausbau« Christi 
bereits verwirklicht (El. III. 256). Dort waren die Individuen un- 
mittelbar durch ihren »persönlichen Charakter«, durch die Liebe ver- 
bunden; in den feudalen Dienstverhältnissen war die persönliche 
»Geldform vorhanden und erhielt das Metallgeld in seinen Schranken« 
(Th. des Geldes, S. 163). Dort war jene Einheit von Wirtschaft und 
Recht, von Nation und Religion verwirklicht, nach der zu streben 
ihm als die Aufgabe des Staatsmannes gilt 83). — Mit der Wiederbe- 
lebung der Antike und der Entdeckung Amerikas änderte sich das 
Bild; der »kalte« Verstand gelangte zur Herrschaft und »das Euro- 
päische Gesamtleben trat aus den Fugen der alten Notwendigkeit« 84). 
Drei Ereignisse waren es, die der schönen »harmonischen Abgeschlos- 
senheits des mittelalterlichen Lebens ein jähes Ende bereiteten: Re- 
zeption des römischen Rechts, Entdeckung der Seewege nach den 
beiden Indien und die Kirchenreformation. Die Renaissance der 
antiken Kultur habe das römische Recht gebracht, damit den 
der germanisch-feudalistischen Welt völlig fremden Begriff des »ab- 
soluten« Privateigentums und die »Privatisierung« aller Verhältnisse, 
die Entblößung der Gesetze und des Eigentums ihres »persönlichen«, 
mationalen« Charakters 8); der Entdeckung Amerikas folgte ein 
Gold- und Silberstrom nach Europa und damit ein Aufblühen der Er- 
werbstätigkeit, des Handels und der Industrie 88); die Reformation 
vollends löste die Geister von den herkömmlichen Schranken ®), — 


®) Vgl El. I. 144—47; »Beredsamkeit« 88, 91 f.; 230 f.; »Friedrich II.« 191, 
215f.; Briefw. 39. 
®%) Vgl. z. B. Th. d. Geldes, 179 f. 
“) El. III. 50; »Beredsamkeit« 262 f. 
8) Vgl. ElL I. 54 f., 222 ff.; »Friedrich II.« 263 f., 329. 
*) El. II. 132 f.; Verm. Schr. I. 285 ff. 
#) Ueber die Folgen der Reformation vgl. El. II, 109 ff., 114 ff., »Friedrich Ile 
66 f., Theorie des Geldes r19. — EI. II. 120: »Aus diesem Begriffe einer Privata 
religion entspringt jene geheime, fürchterliche Revolution, die unverrückten 
Schrittes über unsern Häuptern herwandelt und alle Verbindungen des Lebens 
zernagt.« : 
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. ı 8 


114 Melchior Palyi, 


die Folge sei gewesen, daß ein Zeitgeist kam, der mit allen Traditionen 
der Vergangenheit gründlich aufräumen, alle natürlichen Grund- 
lagen des geselligen Lebens künstlich rationalisieren, verstandesmäßig, 
systematisch einrichten wollte. »Daß die Völker, vonGold undrömischem 
Altertum und Besitz verführt, abfielen von dem christlichen Geiste 
der Gesetze, darin liegt das ganze Geheimnis vom Untergange alles 
Privat- und politischen Lebens« (El. III. 244). In der Folge ist dann 
der »vaterhäusliche Geist« verschwunden, »der befriedigend in die 
geheimsten Falten des Herzens drang« und mit ihm jenes sGe- 
fühl des Ganzen«, das höchste Glück des Menschen, das nur im Ver- 
bande feudaler Korporationen (Familie, Gemeinde, Staat) gedeihen 
kann; dafür hat die Aufhebung aller Schranken den allgemeinen 
»Wetteifer und Wettlaufi« der unbefriedigten Menschen gezeitigt und 
das notwendige Resultat ist die Zerstörung aller Reichtümer, die all- 
gemeine Armut (Th. d. Geldes, S. 7 ff.). Es kam das »kalkulatorische 
Jahrhundert« 88), wo der Staat »zu einer gemeinen Polizeianstalts 
herabsank »und die Kirche desgleichen« 8°), und alles Privatleben 
»nimmt dieselbe öde und gefühlslose Gestalt an« (El. III. 343). »Die hohe 
Persönlichkeit der früheren Menschen entweicht allgemach, es scheint 
sich alles, ja der Lebensmut und die Lebensfreude selbst einer kaut- 
männischen Taxe zu unterwerfen; weniges bleibt seinem freien Wachs- 
tum, das meiste der Rechentafel überlassen« 9°). »Der Anteil des 
Herzens wurde schwach, unfühlbar in der Nationalverbindung« (El. 
II. 166 f.), denn alle Beziehungen der Bürger sind auf »mechanische 
Gesetze und auf Zahlen« reduziert worden (»Friedrich II.«, S. 71 f.), 
das ganze Leben nahm eine rein kommerzielle Gestalt an (El. III. 51) 
und wurde zu einem »Chaos durcheinander schweifender ökonomi- 
scher Atome«, wo die wahren ewigen Werte durch »augenblickliche 
Bestimmungen gewisser Scheinwerte oder Preise« verdrängt werden 
(Th. d. Geldes, 98). 

Auch das Geld wurde von dem allgemeinen Verfall ergriffen: an 
Stelle des persönlichen Geldes trat nun das sächliche, das Metall, mit 
seiner zahlenmäßigen Bestimmtheit und wurde zu dem mächtigsten 
Hebel der fortschreitenden Arbeitsteilung ®t). Diese, grenzenlos 
fortgesetzt, führt zur vollkommenen Rationalisierung des Lebens 
und würdigt die Menschen zu Maschinen herab; aus ihr ist das 
»Taglöhnersystem« entstanden, das die »Bande des Herzens« zwischen 
Arbeitgeber und Arbeitnehmer zerreißt, den gegenseitigen »liebe- 


— [on 


88) El. II. 96, 343; »Friedrich IIe 241 f. 

89) El. III. 326; vgl. El. II. 167 ff., »Friedrich Il.« 21 f., 53, »Staatsanzeigen« 
II. (1817) S. 604 ff. usw. 

vo) Verm., Schriften I. 104; vgl. El. II. 85, III. 54, Verm. Schr. I. 60, 66 f. — 
Achnlich schon Burke, Betrachtungen über die franz. Revolution (Aus- 
gabe von 1794), I 204 f. (das »Jahrhundert der Rechenmeister«), 208 f., 265, 
II. 4r (die Menschen werden »nicht einmal in Ziffern, .. sondern in Zahlpfennige 
verwandelt«), usw. — Vgl. auch Novalis, Die Christenheit oder Europa 
1799). 
91) Vgl. Theorie des Geldes, 157. Ueber die folgenschweren Wirkungen 
der Arbeitsteilung: El. II. 141r., III. 25 f., 34. 


Die romantische Geldtheorie. 115 


vollen Beistand«, der aus dem Verhältnis zwischen Feudalherrn und 
Leibeigenen entspringt, aufhebt und an Stelle der idyllischen Zu- 
stände der »Natural-Prästationen« die »kalte Auseinandersetzung« 
in barem Gelde setzt ®). »Anstatt der herzlichen Verbindung des 
Meisters mit dem . . . Stande der arbeitenden Gesellen ... in der alten 
Werkstatt, steht in der neuen Manufaktur kalt, kalkulatorisch und 
auf das reine Einkommen gerichtet, ein Entrepreneur an der Spitze« °). 
»Der Mensch gilt nicht mehr durch seine Persönlichkeit, . . . sondern 
als Zahl durch seine Arbeits- und Erwerbskraft, durch die ungemessene 
und unbestimmte Begierde nach dem bloßen Mehr, nach dem bloßen 
Fort- und Weiterkommen« (»Staatsanzeigen« II. 1817, S. 606). Dieser 
sGottesdienst der Industrie und des reinen Einkommens« (EI. II. 132), 
das Streben nach dem größtmöglichen Gewinn, ist im Auge des Ro- 
mantikers, der, wie man sieht, einige Züge des homo capitalisticus be- 
reits ziemlich scharf erfaßt hat, eines der Grundübel des Zeitgeistes 9), 

»Woher diese Herabwürdigung der Menschheit? Es ist gewiß, 
daß sie nur vermittels des Geldes auszuführen war . . .«, ruft er in 
dem Aufsatze über »Das Jahrhundert der Rechenmeister« aus (Staats- 
anzeigen II. 607). Gemeint ist natürlich das Metallgeld, das Surrogat 
dieses »zersprengten Geschlechts« für den »verlorenen natürlichen 
Verkehr« (Th. d. Geldes, 97); das Papier dagegen ist auch ein »per- 
sönliches« Geld — und somit von der größten Bedeutung für die Ver- 
jüngung der Menschheit. Papiergeld contra »Kapitalismus«: so dürfte 
die These formuliert werden; nur kam es dem Romantiker im Grunde 
doch nicht auf die Bekämpfung des »Kapitalismus« an, wenigstens 
nicht in den Jahren, wo er über Papiergeld schrieb. Wenn seine Aus- 
führungen auch den Anlauf nahmen, als wollte er die ganze moderne 
Welt stürmen, so machte er damit doch erst in den 20er Jahren, gegen 
Ende seines Lebens, wirklich Ernst ®). Vorerst glaubte er noch, zu 

, Vgl. »Friedrich II.« 329 f.; Verm. Schr. I. 245 f.; Theorie des Geldes 9: 
»Die Gewerbepolizei in Beziehung auf den Landbau« (1824); Ges. Sch. I. r7z. 

#\ EI, II. 142. — Die Andeutungen Müllers über den drohenden Klas- 
senkampf und der schüchterne Versuch, denselben gegen den Liberalimus aus- 
zuspielen, wurden erst 1835 in der Schrift »Ueber das dermalige Mißverhältnis 
der Vermögenslosen oder Proletärs zu den Vermögen besitzenden Klassen der 
Sozietät in Betreff ihres Auskommens . . . seines anderen Romantikers, Franz 
von Baaders, klar formuliert. (Das Wort »Proletär« hier zum erstenmal, 
sieben Jahre vor Lorenz von Stein, in der deutschen Literatur). Einen 
kurzen Auszug aus dieser Schrift gibt Hans Reichel in »Baaders Sozie- 
tätsphilosophies ıg01, S. 57 ff. 

“) Dieses Streben shat die Familien aufgelöst, die Staaten zersplittert 
oder in große Zucht- und Arbeitsanstalten verwandelt, die Menschheit in sich 
selbst gespalten und aus der heiligen Weltgeschichte jene Anekdotensammlung 
von vermeintlichen großen Männern und Virtuosen, oder jene Produkten —, 
Industrie — und Erfindungsannalen gemacht... « (El. III. 268 f.). Statt wei- 
terer Zitaten — wohl manche der Müllerschen Wendungen sind Gemeingut der 
sozialdemokratischen und der »kulturpessimistischen« Tagesliteratur geworden 
— verweise ich noch auf folgende charakteristische Stellen: El. II. 76, 97, 121, 
142, 144, 168 Í., III. 259; »Friedrich Il.« 222; Verm. Schr. I. 63 f. 

*) 1819 ist er bereits der Ansicht, daß selbst die Papiergelder nur von 

gt 


116 Melchior Palyi, 


dem Ausbau des »dritten Zeitalters«, der. dritten »herrlichsten Stufee 
der Entwicklung, selbst die »Materialien«, die der »verkommene Zeit- 
geist« geliefert hat, als Bausteine verwerten zu können ®%); vorerst 
war er noch zu Kompromissen, in der Theorie, wie in der Praxis, gerne 
bereit; in der Praxis, indem er trotz der literarischen Feindschaft 
keine Anstrengung Scheute, um bei der Regierung des keineswegs an- 
tikapitalistisch gesinnten Hardenberg unterzukommen °), und 
in der Theorie durch vielfache Zugeständnisse an den Zeitgeist 9). 

Die dritte, höchste Stufe der menschlichen Entwicklung wird 
nicht die einfache Wiederkehr zu dem Mittelalter, zu den Zeiten der 
Vorherrschaft des persönlichen Geldes sein — das hat Müller erst 
in seinem späteren Leben vertreten, — sondern die Versöhnung der 
beiden vorangehenden Perioden in einer höheren Einheit, Versöh- 
nung des »Wortes« mit dem Metall. Der Weg freilich, der zu dieser 
»Regeneration« der Menschheit führt, ist kein leichter, er führt durch 
alle Nöte der Gegenwart, vor allem durch die finanzielle Not der 
Staaten hindurch (vgl. El. III. 244 f.). Mit dem »absoluten« Privat- 
eigentum und dem Streben nach »reinem Einkommens, mit der »Privati- 
sierung«und»Entnationalisierung«aller Verhältnisse ist ein unüberbrück- 
barer Gegensatz zwischen dem privaten und dem Staatsinteresse ent- 
standen °°). Bei der Vorherrschaft des (Metall-)Geldes, wo der »di- 
rekte Anteil der Staatsbürger an dem Gemeinwesen« aufgehört hat, 
und »ein indirekter Anteil, d. h. permanente Geldabgaben« an die Stelle 
traten, wo das Geld aus einem »Balsam zu seiner Glieder gelegent- 
licher Stärkung ... zum Blute des Staates ward« (»Vermischte Schrif- 
ten« I. S. 287), wo die Staaten »nichts weiter sind, als zufällige Sicher- 
heitsanstalten für das physische Wohlsein, denen sich, da sie Aul- 
wand erfordern, jeder Einzelne aus allen Kräften zu entziehen suchte 
(El. III. 71), kann die Menschheit nur durch eine große Erschütte- 
sekundärer Bedeutung und obendrein vielfach auch schädlich seien; nur die »per- 
sönliche Dienstbarkeite könnte das Wirtschaftsieben aufrecht erhalten (Ges. 
Schr. I. 166 í.). 

2) Vgl. z. B. El. III. 168 f., 254 f., 323 f. 

7), Vgl. S. Rahmer, op. cit., und Dombrowskys Dissertation 
(S. 7—14). Das Hauptwerk über die konservativ-romantische Opposition auf 
literarischem Gebiet gegen dieHardenbergschen Reformversuche ist dasBuch von R. 
Steig:H.v. Kleists Berliner Kämpfe (1903); lesenswert ist auch A. L e w y, Zur 
Genesis der agrarischen Ideen in Preußen (1898), während das, was C. L. Klose 
(Fürst von Hardenberg, 1851. S. 299 f.) und W. Steffens (Hardenberg und 
die ständische Opposition, 1907, S. 17, 73 f.) darüber bieten, unzulänglich ist. 

#8) So ist er noch kein prinzipieller Gegner des rationellen Landbaus (Verm. 
Schr. I., 273 f.), wie später; er ist bereit, neben Adel, Bürgertum und Geist- 
lichkeit, einen selbständigen »Handelsstande zu dulden (El. III. 57, 167, 170); 
trotz aller Vera:htung für das kapitalistische Profitstreben nimmt er dasselbe 
für den schristlichene Landwirt als etwas Selbstverständliches in Anspruch 
(El. III. 92). Ueberhaupt ist ihm die moderne Geldwirtschaft nur auf dem 
Kontinent verhaßt, in England ist er sie bereit, zu dulden, denn das sei gerade 
Englands nationale Eigenart, daß es sich zum Kontinent verhalte,. wie eine 
kommerzielle Stadt sich zum umgebenden Lande verhält (El. III. 23 ff., 29). 

») Vgl. z. B. EI. II. 121, »Friedrich II.« 269. 


Die romantische Geldtheorie. 117 


rung gerettet werden. »Dieser fürchterliche Widerspruch« — zwischen 
romantischern Staatsideal und der Wirklichkeit — »kann durch nichts 
anderes gelöst werden, . . . , als durch die tiefsten Verwicklungen der 
öffentlichen und Privatfinanzen vermittels der Papiere und gegen- 
seitigen Geldverpflichtungen, die nicht gehalten werden können, 
also zum Umstürzen jener Mauer führen müssen, welche jetzt das 
öffentliche und Privatinteresse von einander scheidet, wofür wir nur 
die Zeit sorgen zu lassen ‘brauchen, welche diese Krisis unfehlbar 
herbeiführen muß« (El. III. 71). »Der Staat gerät in eine furchtbare 
Krisis, die vernichtend, aber auch segensreich, für ihn ausschlagen 
kann: entweder wird Nationalreichtum und Nationalrecht von Grund 
aus zerstört, wie es in Frankreich der Fall war; oder die Not bindet 
das vorher geschiedene Interesse von Souverän und Volk; der, Zu- 
sammenhang aller Glieder des Staates, die Ganzheit desselben wird 
sichtbar; ein höheres Gesetz und ein höheres Kapital... zeigt sich.« 
Es zeigt sich, daß der Staat eine organische Verbindung der einzelnen 
Kräfte ist, seine schöpferische Wechselwirkung zwischen denselben« 
(El. II. 365 f.). 

Gerät nämlich der Staat einmal in einen schweren Krieg 19°), 
so vermag er seinen Bedarf mit Hilfe der üblichen Mittelchen (Ver- 
pfändung der Domänen, indirekte Steuern usw.) 1°!) nicht mehr zu 
decken. Soll nun die Nation vor dem Untergang gerettet, und gleich- 
zeitig auch der »starre Begritf« des Privateigentums unverletzt bleiben, 
so bleibt der Regierung nichts anderes übrig, als die »Schuldenmache- 
rei«, Dies Mittel ist zwar nur von geringer Bedeutung für die Wieder- 
herstellung der nationalen Idee (El. III. 152, 156), sie bedeutet aber 
immerhin die erste »Stufe der Regeneration« (El. II. 360). Die zweite 
Stufe wird erst erreicht, wenn der im langen Frieden »erstarrte Be- 
griffe vom Privateigentum durch den Krieg aufgelockert wird, in den 
Menschen die »Nationalität« erwacht; nun kann »das erste Papier- 
geld, die erste ewige Annuität ausgegeben werden«. »Es wird nun nicht 
mehr geborgt, sondern das Nationalkapital wird realisiert«; die Idee 
des Staates ist nach ihrer ökonomischen Seite hin zum Ausdruck ge- 
langt (El. II. 361; III. 158 ff.). — 

Unwillkührlich erinnert man sich hier an die Stellein Treitsch- 
kes Politik (II, Bd., 1898, S. 480), wo er dem modernen Staate 
mit beredten Worten eine große Staatsschuld empfiehlt: »Ferner sehen 
wir, .. . wie es eine Lebensfrage für den Staat ist, diese Kapitalien an 
sich zu fesseln. Denn, wenn er sich resigniert, und von seinem Kre- 
dit keinen Gebrauch macht, so treibt er sie ins Ausland und in Privat- 
geschäfte aller Art, von denen sehr viele schwindelhaft sind. Also 
tritt die überraschende Wahrheit hervor, daß um der öffentlichen 
Ordnung und Solidität willen ein Staat verpflichtet ist, eine große 
Schuld zu haben. Das führt noch weiter. Mein alter Freund Karl 
Mathy pflegte immer zu sagen: ich wünsche uns Deutschen nichts 
mehr, als eine recht starke Reichsschuld, sie würde das festeste mate- 

166) Vgl. zu dem folgenden: EI. II. 356 ff. und auch 339. 

11) Vgl. »Friedrich II.« 267, 269. 


118 Melchior Palyi, Die romantische Geldtheorie. 


rielle Band sein. Die Wahrheit, die in diesen Worten liegt, ist nicht 
zu verkennen.« Und weiter heißt es (S. 481): »Die Rente ist für den 
sparsamen Franzosen ein Band, das ihn unendlich fest an seinen 
Staat knüpft; der Staat darf gar nicht zu Grunde gehen.« 

Gemeinsam ist dann auch beiden Autoren, daB beide Englands 
Lob verkünden, weil es zuerst mit den Schuldentilgungssystemen 
gebrochen und an Stelle der langfristigen, die sewigen Annuitäten« 
eingeführt habe. Auch was Treitschke über schwindelhafte 
Privatgeschäfte sagt, findet seine Parallele bei Müller (El III. 
154 f.). Sie unterscheiden sich jedoch in einem wesentlichen Punkte, 
darin nämlich, daß Treitschke bei seinen Ausführungen stets 
an die verzinsliche Staatsschuld dachte, die von Müller, wie wir 
schon sahen, der ersten Stufe der »Regeneration« zugewiesen wird. 
Hier, bei der zweiten Stufe, schwebt ihm bereits das Papiergeld vor, 
und folgerichtig nimmt er auch noch eine dritte Stufe an, wo nämlich 
Papiergeld und Metall in eine Einheit verschmolzen, der National- 
markt mit dem Weltmarkt in ein »Gleichgewicht« getreten ist, wo 
also die Agioschwankungen aufgehört haben (EI. II. 361 f.). — 

Ich denke: eine Kritik erübrigt sich. 


(Schluß folgt im nächsten Heft.) 


119 


Gibt es ein Gesetz des Ausgleichs der Grenzerträge ? 


Kritisches und Positives zur Preistheorie. 
Von 


EDUARD KELLENBERGER. 


I. Einleitung. 


In einer Reihe von Abhandlungen !) hat Robert Lief- 
mann eine neue Theorie des Preises entwickelt, von der er be- 
hauptet, daß sie nicht seine, sondern die und überhaupt die 
erste Erklärung des Preises« sei (II. S. 465). Diese Preiser- 
klärung »setztsichausdreiGedankenreihen zusammen: 
dem allgemeinen Ertragsbegriff, dem Grenzgedanken, angewendet 
auf jenen und dem Ausgleichgedanken wieder angewendet auf 
den Grenzertrag. Von diesen sind der Ertragsgedanke noch nie, 
der Grenzgedanke sehr häufig, der Ausgleichgedanke nur sehr 
unvollkommen und rein quantitativ, beide aber noch nie auf den 
Eftragsbegriff angewendet worden. Damit ist das Neue, das ich 
geliefert habe, ganz genau bestimmt« (II. S. 407). Diese drei Ge- 
danken zu einem Satz zusammengefaßt, ergeben nach L. ein 
Gesetz des Ausgleichs der Grenzerträge, aus welchem die Preise 
der Genuß- und Kostengüter und außerdem die Entstehung der 
Einkommen und des Kapitals begriffen würden. »Ich glaube die 
Bedeutung der hier entwickelten Gedanken nicht zu überschät- 
zen, wenn ich die Meinung ausspreche, daß sie das Fundament 
für einen neuen systematischen Aufbau der ökonomischen Theo- 
nie bilden können.+ »Ich hoffe, daß auch andere Nationalökono- 
= 3) Die wichtigsten sind: Ertrag und Einkommen auf der Grundlage einer 
rein subjektiven Wertlehre, Jena 1907 (Im folgenden bezeichnet mit I.). Die 
Entstehung des Preises aus subjektiven Wertschätzungen. Grundlagen einer 


neuen Preistheorie (Archiv f. Soz. 34. Bd. 1912) (II.) und Theorie des Sparens und 
der Kapitalbildung (Jahrb. f. Gesetzgeb. und Verw. 1912) (IIT.). 


120 Eduard Kellenberger, 


men allmählich erkennen werden, was sich auf dieser Grundlage 
alles erreichen läßt und daß ich in Zukunft mehr als bisher bei der 
weitern Ausarbeitung desselben [nämlich seines Systems] unter- 
stützt werde« (III. S. 78). Es lohnt sich also, besagtes Gesetz 
einer Prüfung zu unterziehen. Bereits sind einige sehr beachtens- 
werte Kritiken der L.schen Theorie erschienen 2). Doch schneiden 
sie die im Titel dieses Aufsatzes gestellte Frage, ob wirklich ein 
Gesetz des Ausgleichs der Grenzerträge wirksam sei, nicht an. 
Mit diesem Gesetz steht oder fällt aber dessen ganzer theoreti- 
scher Ueberbau und ebenso die scharfe Kritik, die L. anderen 
Theorien angedeihen läßt. Das wichtigste positive Ergebnis un- 
serer Untersuchungen wird eine von den bisherigen Formulierun- 
gen abweichende und, wie ich glaube, zutreffendere Darstellung 
der Beziehungen sein, die zwischen den Kosten und Preisen herr- 
schen. 


II. Der Zusammenhang zwischen Nutzen und 
Kosten. 


»Wenn es das Hauptproblem der ökonomischen Theorie ist, 
zu zeigen, wie aus den subjektiven Bedarfsempfindungen ein 
sog. objektiver Tauschwert, ein Preis entsteht, so ergibt sich schon 
rein logisch, daß wir. .. von jenen Bedarfsempfindungen aus- 
gehen müssen. Diesen Ausgangspunkt richtig erkannt zu haben, 
ist das unbestreitbare Verdienst von Gossen.« Dessen Ge- 
setz der Bedürfnissättigung und Gesetz des 
Ausgleichs der Grenznutzen bildeten die Haupt- 
grundlage der ökonomischen Theorie (II. S. 19 ff.). Das letztere 
Gesetz ist bekannter unter dem Namen Gesetz des Grenz 
nutzenniveaus, wonach »jede Person ihr Einkommen 
derart verteilt, daß der Nutzen je der letzten Teilmenge aller 
konsumierten Güter gleich groß ist« 3), oder »jedes Gut in solcher 
Menge erworben wird, daß die letzterworbenen Teilmengen aller 
gleich intensive Bedürfnisregungen befriedigen« $). 


2) H. Oswalt, Der »Eriragsgedankes (Ztschr. f. Soc., N. F. 4. Jahrg.), 
C. Heyn, Nutzen und Kosten als Ausgangspunkte des menschlichen Wirt- 
schaftens (Ztschr. f. Soz. N. F. 5. Jahrg. 1914) und v. Zwiedeneck, Ueber 
den Subjektivismus in der Preislehre. Ueberlegungen im Anschluß an Liefmanns 
Preistheorie. (Archiv f. Soz. 38. Bd 1914.) 

3 Jevons, Theory of Political Economy (Third Edition) 1888, S. 139. 

¢ Schumpeter, Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen 
Nationalökonomie 1912, S. 131. 


Gibt es ein Gesetz des Ausgleichs der Grenzerträge? 121 


Nun geht L.s Auffassung, die er freilich nicht eigentlich im 
einzelnen begründet, dahin, daß das Gossensche Gesetz des Aus- 
gleichs der Grenznutzen, obwohl nicht falsch, doch nicht geeig- 
net sei, die wirtschaftlichen Erscheinungen zu erklären, sondern 
dazu einer ganz wesentlichen Umgestaltung bedürfe. Aus den 
Nutzenschätzungen allein lasse sich nämlich die Preisbildung 
nicht erklären. Wenn es bisher niemand gelungen sei, zu zeigen, 
wie aus subjektiven Bedarfsempfindungen der objektive Preis 
entstehe, so liege das daran, daß diese Ableitung eben erst mit 
dem Begriff des Ertrages möglich sei (II. S. 17 {f.). Dieser 
Ertragsbegriff sei der wichtigste Grundbegriff der ökonomischen 
Theorie. Das Wirtschaftssubjekt strebe gar nicht nach größtem 
Nutzen, wie alle bisherige Theorie gelehrt habe, sondern nach 
größtem Ertrage, d. h. größter Spannung 
zwischen Nutzen und Kosten, wieer, Liefmann, 
zum ersten Male dargetan habe. Deshalb habe er an die Stelle 
des Gesetzes vom Ausgleiche der Grenznutzen das Gesetz vo 
Ausgleich der Grenzerträge gesetzt (II. S. 25). 

In welcher Weise nach L.s Meinung der Wirtschafter seine 
Tätigkeit nach dem größtmöglichen Ertrage einstellt, zeigen die 
folgenden, wörtlich zitierten Sätze: »Dieses Gut kostet mich fak- 
tisch x Mk., ich würde äußerstenfalls x-+y Mk. dafür geben, die 
Differenz ist mein Ertrag in Geld ausgedrückt. Aber ebenso gut 
kann ich sagen: Ich kaufe mir für 2 Mk. das höchstgeschätzte 
Gut, das ich dafür erhalten kann, es gewährt mir einen bestimmten 
Nutzen, das geringst geschätzte Gut, für dessen Erwerb ich ge- 
rade noch 2 Mk. aufwenden würde, gewährt mir den und den 
Nutzen. Die Differenz ist mein Ertrag.« Im ersten Falle habe 
er, da man Nutzen nicht direkt mit Kosten vergleichen könne, 
den Nutzen auf eine Kostenformel gebracht, ihn nämlich durch 
die größten Kosten ausgedrückt, die er äußerstenfalls für das 
Gut noch aufwenden würde. Die Differenz zwischen dem höch- 
sten gedachten und dem tatsächlich gegebenen Preis sei der Er- 
trag. Im anderen Fall habe er die Kosten auf eine Nutzenformel 
gebracht und die Differenz zwischen dem tatsächlich erzielten 
Nutzen und dem geringsten, für dessen Erlangung er die Kosten 
gerade noch aufwenden würde, sei der Ertrag (II. S. 26). 

Jeder Wirtschafter verwende seine Arbeitskraft oder seinen 
Geldvorrat »so, daß die Grenzerträge, d. h. also der Ertrag, der 
mit der letzten erworbenen Quantität eines jeden Gutes erzielt 


122 Eduard Kellenberger, 


wird, für alle gleich hoch sind« (II. S. 31). »Immer also wird der 
Wirtschafter seine Bedürfnisse nicht nach ihrer absoluten Stärke, 
sondern unter Vergleich mit den Kosten befriedigen und wenn er 
sehr verschiedenartige Bedürfnisse.hat, . . . . wird er die größte 
Bedürfnisbefriedigung, die mit gleichen Kosten möglich ist, dann 
erlangen, wenn der Ertrag der letzten Teilquantität eines jeden 
Gutes, d. i. sein Grenzertrag, bei allen ungefähr gleich hoch ist 
(II. S. 33). 

Diese Behauptungen gilt es zunächst auf ihre Stichhaltigkeit 
zu prüfen. 

Es fällt auf, daß L. es wagt, die Kosten vom Nutzen abzu- 
zählen. Es muß also etwas Gemeinsames in beiden stecken. L. 
fühlt dies heraus, weshalb er betont, man könne den Nutzen nicht 
unmittelbar mit den Kosten vergleichen, sondern man müsse den 
Nutzen auf eine Kostenformel oder die Kosten auf eine Nutzen- 
formel bringen. Folglich sind nach L. die Kosten nur eine be- 
stimmte Form des Nutzens und der Nutzen ist nur eine bestimmte 
Form der Kosten. Darüber läßt sich aber wohl kaum streiten, 
daß der Nutzen das Ziel jeder Tätigkeit (oder auch Untätigkeit) 
ist und die Tätigkeit oder der Aufwand oder die Kosten nur das 
Mittel zuı Erreichung des Zieles sind. Oft freilich verschafft nicht 
das Ergebnis einer Tätigkeit Genuß, sondern die Tätig- 
keit selber. Aber auch dann wird sie nur des Genusses, des 
Nutzens wegen unternommen. Während der Zeit, in der man 
geistige oder körperliche Arbeit aufwendet, oder für die Geld- 
summe, die man ausgibt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, 
hätte man sich einen anderen Erfolg sichern können, indem man 
denselben Kostenaufwand einem anderen Genusse dienstbar ge- 
macht hätte, oder indem man sich ohne jegliche Kosten dem oft 
äußerst wohltuenden dolce far niente, dem süßen Nichtstun und 
Träumen, überlassen hätte. Kosten bedeuten somit 
immerNutzeneinbuße,also negativenNutzen. 
Indem man einen höhern Genuß erwartet, opfert man einen ge- 
ringeren. Um seine Gelüste nach Reichtum und Macht zu befrie- 
digen, opfert mancher Unternehmer, neben der angestrengten 
Tagesarbeit, die Ruhe eines vielleicht ohnehin verkürzten Schla- 
fes. Der Arbeiter, der am Montag feiert, zieht das Faulenzen 
allen anderen Genüssen vor, die ihm aus seinem Arbeitslohn er- 
wüchsen. Manche Leute opfern ihrer Eitelkeit und ihres Ehr- 
geizes willen ihr ganzes Vermögen. Der Fabrikant setzt seinen 


mas 


rt 
JA, 
JES 


har 


Gibt es ein Gesetz des Ausgleichs der Grenzerträge ? 123 


Kredit oder seine Geldmittel aufs Spiel, indem er in der oft unbe- 
gründeten Hoffnung auf Gewinn Produktionsmittel anschafft. 
Wenn sich auch der Nutzen in Kosten ausdrücken läßt, so 
nur, weil eben die Kosten Nutzen sind. Zieht jemand vom Nutzen, 
den er erwartet, die notwendigen Kosten ab, so bleibt ihm offen- 
sichtlich ein gewisser Nutzen übrig, der ihm restlos zukommt. 
Wer also nach dem größten »Ertrag«, nämlich größtem Unter- 
schied zwischen Nutzen und Kosten strebt, strebt nach dem größ- 
ten absoluten Nutzen. Das wertvolle Geschenk, das L. der Sozial- 
ökonomie in der Form des Ertragsbegriffs dargebracht haben 


‚will, entpuppt sich mithin als eine Umkleidung des alten Nutzen- 


begriffes 5). 

Das beweist eigentlich L. mit dem zitierten Beispiel selber. 
Er meint, daß man bei gleichem Arbeitsaufwand oder Preis das 
höchst geschätzte Gut kaufe, also gibt der größere absolute Wert 
oder Nutzen den Ausschlag. Denn ob man das höher oder das 
niedriger geschätzte Gut kauft, immer verliert man denselben 
Nutzen, da der Aufwand derselbe ist. Wenn er ferner versichert: 
dieses Gut kostet mich x Mk., ich würde äußerstenfalls x -+y Mk. 
dafür geben, die Differenz ist mein Ertrag in Geld ausgedrückt, 
so bedeutet dies nichts anderes als daß ich den Nutzen jenes Gutes 
auf x+y Mk. veranschlage, während ich nur x Mk. dafür geben 
muß, also nur einen Nutzen einbüße, der den x Mk. entspricht. 
Auch hier ist der absolute Nutzen der Wegweiser. Der Nutzen- 
begriff behauptet mithin seinen alten Platz als wichtigster Grund- 
begriff der Sozialökonomie ®). 

Doch gehen wir weiter. 

L. versichert, daß jedermann sein Einkommen derart ver- 
wende, daß die Grenzerträge der erworbenen Güter gleich groß 
seien. Wie hoch sie seien, das verrät uns L. durch folgende, 
auch im engeren Zusammenhang unverständliche Sätze: »Man 





¢) Dies ist auch das wesentliche Ergebnis der Kritiken von H.' Oswalt 
a. a. O. S. 299 tf. und von O. H ey n a. a. O. S. 159 ff. Der sneue« Ertragsbegriff 
ist übrigens bereits in A. M a rs h a 11 3 »Consumer’s surpluse enthalten (Princip- 
lesof Economics sth ed. 1907. S. 124). 

°} Nutzen- und Wertbegriff decken sich völlig. (Vgl. Schumpeter, 
a. a. O. S. 99 ff.). Beide, Nutzen und Wert, sind sdie Bedeutung, welche konkrete 
Güter oder Güterquantitäten für uns dadurch erlangen, daß wir in der Be- 
friedigung unserer Bedürfnisse von der Verfügung über dieselben abhängig zu 
sin uns bewußt sinde (C. Menger, Grundsätze der Volkswirtschaftslehre, 
1871, S. 78). Der Grad der abhängigen Bedürfnisregung bestimmt die Nutzen- 
oder Wertgröße eines Gutes. 


124 Eduard Kellenberger, 


kann nämlich behaupten, daß der Konsumertrag des letzten Kon- 
sumenten [jenes, der den Preis mitbestimme!].... nicht niedriger 
sein kann als der volkswirtschaftliche Grenzertrag, denn wäre 
das der Fall, so würde der betr. Wirtschafter diese Geldsumme 
eben nicht zum Ankauf von Konsumgütern verwenden, sondern 
Kapital werden lassen, womit er mindestens den volkswirtschaft- 
schaftlichen Grenzertrag erzielen wird« (II. S. 46 und 49). »Nur 
bei Wirtschaftern, die Kapital bilden, kann man behaupten, daß 
ihre Grenzkonsumerträge dem volkswirtschaftlichen Grenz- 
ertrag ungefähr gleichkommen werden« (III. S. 76). Auf diesen 


volkswirtschaftlichen Grenzertrag kommen wir weiter unten zu. 


sprechen. Hier genügt es, hinzuzufügen, daß L. darunter den 
geringsten Zins versteht, den ein Unternehmungszweig seines Er- 
achtens abwirft 7). Soviel ist also sicher für L., daB der Grenz- 
konsumertrag jedes Wirtschafters, mathematisch ausgedrückt, 
eine positive Größe ist. Daß dies ein großer Irrtum ist, 
wollen wir sogleich erweisen. 

Jedermann kauft von einem Gute in solcher Menge, bis er 
den Nutzen, den ihm eine weitere noch zu kaufende Teilquantität 
verschaffen würde, nicht mehr höher schätzt als den Nutzen, den 
ihm eine andere Verwendung des Kaufpreises gewähren würde. 
Die Hausfrau besucht mit dem Vorsatz den Obstmarkt, so und so 
viel Kirschen zu kaufen, vorausgesetzt, daß der Preis so und so 
hoch stehe. Trifft dies zu, so führt sie ihr Vorhaben aus. Häufig 
besinnt sie sich freilich eines besseren und kauft noch einige kg 
dazu. Steht der Preis höher als sie erwartete, so kauft sie etwas 
weniger, steht er niedriger, etwas mehr. In sehr vielen Fällen hat 
man allerdings nicht die Wahl zwischen einem quantitativen 
Mehr oder Weniger. Zur Erwärmung meiner Stube brauche ich 
nicht mehr oder weniger Oefen, sondern nur einen einzigen. Ich 
nehme mir aber vor, für den Ofen so und so viel Geld auszugeben. 
Steht der Preis viel höher oder viel niedriger als ich vermutete, so 
kaufe ich nun nicht keinen oder zwei Oefen, sondern einen aber 
geringerer oder besserer Qualität. Wünsche 
ich ein Haus zu kaufen, so habe ich die Wahl in der Lage, der 
Größe des Gartens, der Anzahl Zimmer, der äußeren und inneren 
Ausstattung usw. Kurzum, ich kaufe in solcher Menge oder Qua- 


?) Als erläuterndes Beispiel sei angeführt: »Man kann einen volkswirtschaft- 
lichen Grenzertrag feststellen einmal für das Leihkapital mit größter Sicherheit 
der Anlage. Er... kann bei uns auf etwa 3%4%, veranschlagt werden« 
(11. S. 438). 


© w 


Gibt es ein Gesetz des Ausgleichs der Grenzerträge ? 125 


lität von jedem Gute, bis der Nutzen, den mir die verbleibenden 
Geldstücke verschaffen würden, wenn ich mir eine zusätzliche 
Teilmenge oder eine bessere Qualität erstünde, anfängt geringer 
zu werden als der Nutzen, den mir jene Geldstücke bei anderer 
Verwendung sichern würden. Mit anderen Worten: Ich höre 
dann auf zu kaufen, wenn der Grenznutzen 
minus den Kosten, also der GrenzertragL.s, 
gleich Nullgeworden ist! Esist ganz klar: Ich ver- 
wende mein Einkommen so, daß ich damit nach meiner An- 
sicht den größten Nutzen oder, um mit L. zu sprechen, den 
größten Ertrag erziele. Das geschieht nur dann, wenn die ver- 
schiedenen Grenzbedürfnisse, die Befriedigung erlangen, gleich 
intensiv sind. 

Es hat also einen Sinn, von einem Ausgleich der Grenznutzen 
und von einer Grenznutzenebene zu sprechen, weil man, solange 
Kosten aufgewendet werden müssen, nie zur Sättigung und zum 
Grenznutzen Null gelangt; es hat aber nicht viel Sinn, von »gleich 
hohen Grenzerträgen« und von einem »Ausgleich der Grenzerträge« 
zu sprechen, wenn man eine verblüffend einfache und unzwei- 
deutige Formel zur Verfügung hat, die lautet: Die Grenzer- 
trägehaben das Bestreben, Nullzu werden! 

Greifen wir einen beliebigen Augenblick aus dem Wirtschafts- 
leben heraus, so werden wir gewahr, daß viele Leute gerade alle 
Ihre Einkäufe erledigt und jenen Betrag, den sie zur Befriedigung 
ihres Sparbedürfnisses bestimmten, zur Bank getragen haben. 
Das sind jene, deren Bedürfnisregungen sich in diesem Augen- 
blicke zu einer Ebene nivelliert haben. Dann beobachten wir 
andere Leute, die im Begriffe stehen, zum Markt und zur Spar- 
kasse zu gehen, deren Grenznutzen sich also noch nicht ausge- 
glichen haben, deren Grenzerträge noch nicht Null geworden sind. 
Und endlich werden wir auch solche Leute antreffen, die es be- 
reits bereuen, einige Augenblicke oder Stunden oder Tage zuvor 
diese oder jene Güter gekauft oder einen zu großen Betrag für 
die Zukunft bestimmt zu haben. Das sind jene, die unbesonnen 
gehandelt, die sich über ihr Einkommen oder über ihre Bedürf- 
nisse nicht genügend Rechenschaft abgelegt haben und sich nun 
enttäuscht fühlen. Auch bei diesen stehen die Grenznutzen nicht 
auf der gleichen Ebene, vielmehr sind einige Grenznutzen unter 
das Niveau hinunter gesunken, sind also einige Grenzerträge zu 
negativen Größen geworden. Wie alle übrigen Wirt- 


126 Eduard Kellenberger, 


schafter, so werden auch diese Enttäuschten in Zukunft bestrebt 
sein, ihr Einkommen derart zu verteilen, daß wieder alle ihre 
Grenzerträge gleich Null sein werden. Weit entfernt davon, p o- 
sitive Größen zu sein, sind die tatsächlichen Grenzkon- 
sumerträge im Gegenteil negative Größen. 

Wie aus den Zitaten hervorgeht, in denen L. von der Größe 
des Grenzkonsumertrages spricht, unterscheidet er sogar noch 
einen G ren z grenzkonsumertrag, nämlich den Grenzertrag des 
letzten, den Preis mitbestimmenden Konsumenten. Bloß über 
den Grenzertrag dieses. letzten Konsumenten lasse sich etwas All- 
gemeines aussagen, nicht aber von jenem aller übrigen Konsu- 
menten. Denn die Grenzkonsumerträge seien bei jedem Wirt- 
schaftssubjekt verschieden groß, untereinander nicht vergleich- 
bar und ziffernmäßig nicht feststellbar, weil sie etwas ganz Indi- 
viduelles seien (II. S. 45 und III. S. 76). Wir wissen nun im 
Gegensatz dazu, daßalle Wirtschafter bestrebt sind, ihre Grenz- 
konsumerträge auf Null hinunterzudrücken. 

Da die Kosten nichts anderes sind als negativer Nutzen, 
Nutzeneinbuße, so ist klar, daß mit zunehmendem Arbeitsaufwand 
oder steigenden Preisen immer mehr individueller Nutzen verloren 
geht oder, was dasselbe besagt, die vorhandenen Bedürfnisse 
immer weniger stark befriedigt werden. Je höher also die Kosten 
bei gegebenen Bedürfnissen sind, desto größer die Intensität der 
zuletzt befriedigten Bedürfnisregungen, d. h. desto höher die 
Grenznutzenebene, desto geringer mithin der Gesamtnutzen, der 
»Ertrag«. Steigen sämtliche Preise gleichmäßig, ohne daß mein 
Einkommen zunimmt, so kann ich meine Bedürfnisse weniger 
intensiv als bisher befriedigen. Steigt nur der Preis einer einzigen 
Ware, während mein Einkommen gleich groß bleibt, so kaufe 
ich erfahrungsgemäß nicht im selben Maße, wie der Preis der- 
selben gestiegen ist, weniger von dieser einen Ware, d. h. ich be- 
halte der Beschaffung dieser Ware nicht denselben Einkommens- 
teil vor wie vor der Preissteigerung. Erhöht sich der Fleischpreis 
von 2 Mk. auf 4 Mk., so kaufe ich nun nicht anstatt wie früher 
I kg. nur noch % kg., sondern etwas weniger als ı kg und etwas 
mehr als 1⁄4 kg, je nach der Elastizität meines Bedürfnisses. Ich 
entziehe also den übrigen Bedürfnissen einen Teil der ihrer Dek- 
kung dienenden Einkommensquote und schlage ihn zu jener Ein- 
kommensquote hinzu, die der Beschaffung von Fleisch dient. 
Sinkt im Gegenteil zum Beispiel der Brotpreis auf die Hälfte, so 


ln 


ne 


Gibt es ein Gesetz des Ausgleichs der Grenzerträge ? 127 


kaufe ich nun nicht doppelt soviel Brot wie zuvor, sondern nur 
wenig mehr als früher, weil nach der zutreffenden Beobachtung 
Ad. Smiths die Fassungskraft des menschlichen Magens be- 
schränkt ist. Was ich am Einkaufspreis erspare, verteile ich hier- 
auf unter meine übrigen Bedürfnisse, einschließlich das Sparbe- 
dürfnis (sofern ich ein solches überhaupt habe). Was heißt dies? 
Daß beim Steigen des Preises auch nur einer einzigen Ware der 
Grenzautzen diese Ware und aller übrigen Waren für mich eben- 
falls zunimmt, und daß beim Sinken des Preises der Grenznutzen 
aller von mir konsumierten Waren ebenfalls abnimmt. Je höher die 
Preise, desto höher die Grenznutzen, je tiefer die Preise, desto tiefer 
die Grenznutzen, oder mit anderen Worten: Je höher die Preise, 
desto höher unsere Wertschätzung, je tiefer die Preise, desto tiefer 
unsere Wertschätzung. Ob ich aber ein Gut kaufe, für das ich eine 
sehr hohe Wertschätzung hege, hängt nicht allein von dem Nutzen 
ab, den mir der Besitz dieses Gutes, sondern auch von dem anderen 
Nutzen, den mir eine anderweitige Verwendung des Kaufpreises ver- 
schaffen würde. Trotzdem ich also ein heftiges Verlangen nach dem 
Besitz eines kostbaren Gemäldes haben mag, verzichte ich auf 
den Kauf, weil ich jahrelang am Hungertuch nagen müßte, weil, 
mit anderen Worten, der sicherlich bedeutende Nutzen des Bil- 
des immer noch kleiner ist als der mir entgehende Gesamtnutzen. 

Jehöher die Preise, desto höher unsere 
Wertschätzung und desto geringer unsere 
Nachfrage, jetieferdie Preise,destoniedri- 
ger unsere Wertschätzung und desto grö- 
Ber unsere Nachfrage. Immer entscheidet 
der Nutzenbewußtoderunbewußt über das 
Tun und Lassen der Menschen. 

Wir sehen also, daß die aufgewendeten Kosten ‘die Intensi- 
tät meiner Bedürfnisbefriedigung und damit meiner Nachfrage 
bestimmen, wie andererseits wieder der Umfang und die Stärke 
meiner Bedürfnisse die Größe meiner Nachfrage und den Stand 
der Preise und Kosten beeinflußt. Wie aber die Höhe der Preise 
nicht allein vom Vorhandensein menschlicher Bedürfnisse ab- 
hängt, sondern auch vom natürlichen Vorkommen der Güter und 
vom Grad des Fortschrittes von Technik und Wissenschaft usw., 
so werden auch die menschlichen Bedürfnisse ihrem Umfang und 
ihrer Stärke nach nichtallein von der Höhe der Preise, sondern 


128 Eduard Kellenberger,, 


auch von allen möglichen natürlichen Tatsachen und kulturellen 
Strömungen (z. B. der Mode) bedingt. 

Entgegen diesen Ausführungen leugnet L. jeden Einfluß der 
Kosten auf den Wert (I. S. 49). »Die Stärke des Bedürfnisses, 
das uns ein Gut befriedigen soll, wird durch die Kosten, die wir 
zu seiner Erlangung aufwenden müssen, nicht im geringsten ver- 
ändert« (I. S. 56). Es ist aber doch unbestreitbar, daB es von der 
Höhe der Preise, der Kosten, abhängt, wie viel ich von einem 
Gute kaufe, wie stark also die letzte Bedürfnisregung ist, die ge- 
rade noch zur Befriedigung gelangt. 

Weiter behauptet L.: Die beschränkte Verfügbarkeit habe 
nur auf der Kostenseite Bedeutung und nicht für den Nutzen 
(II. S. 453). Die Kosten bestimmten nur die Größe des Angebotes 
und nicht die der Nachfrage (I. S. 61). »Für den Gewinn in der 
Geldwirtschaft kommen die Kosten in Betracht, nicht aber für 
den Wert und Preis« (I. S. 69). »Der Genuß, den mir der erste 
Apfel bereitet, ist immer der gleiche, einerlei, ob ich 5 oder 100 
habe, den zweitenschätze ich schon geringer, aber unabhängig von 
der vorhandenen Menge. Aber wieviel Aepfel ich mir nun wirklich 
beschaffe, wieviel Kosten ich auf sie verwende, das hängt ab von 
der auf dem Markt vorhandenen Menge... .« (II. S. 453). Diese 
Sätze widersprechen sich selbst. Wieviel ich kaufe, sagt L., hänge 
ab von der auf dem Markt vorhandenen Menge, d. h. offenbar 
von dem Marktpreis, der eine Funktion der Menge ist. Da ich 
so vielund so lange kaufe, bis der Grenznutzen der zuletzt gekauften 
Teilmenge sich dem Nutzen nähert, den mir der Kaufpreis bei 
anderweitiger Verwendung bietet, so ist mein persönlicher Grenz- 
nutzen abhängig von der Höhe des Marktpreises und damit von 
der auf dem Markt vorhandenen, veıkaufsbereiten Menge. Je 
weiter ich aber mit der Befriedigung meines Bedürfnisses gehen 
will, desto größer muß offenbar meine Nachfrage sein. Folglich 
ist die Nachfrage um so größer, je größer die auf dem Markt vor- 
handene Menge ist. Also hat die beschränkte Verfügbarkeit nicht 
nur Bedeutung für das Angebot, sondern auch für die Nachfrage. 

Es ist mithin auch falsch, wenn L. versichert, »Preisverän- 
derungen können beim Rohstoff beginnen, sie können aber nicht 
die Wertschätzungen der Konsumenten beeinflussen« (I. S. 70 
und ebenso II. S. 461) 8). 


e) L. leugnet, daß Preisveränderungen jemals in Kostenveränderungen 
ihre Ursache haben könnten. Damit vergleiche man die Antwort v. Zwiede 
necks, a. a. O, S. 55. 


Gibt es ein Gesetz des Ausgleichs der Grenzerträge? 129 


Von den Genußgütern, so will uns L. weiter belehren, schätze 
man das erste am höchsten, das letzte am niedrigsten, von den 
Kostengütern dagegen umgekehrt. Deswegen schätze man nur die 
Kostengüter nach dem geringsten Nutzen und deswegen gelte 
nur für sie das Grenznutzengesetz (II. S. 454). Das sind grobe 
Mißverständnisse. Es ist zwar ganz richtig, daß ich das erste Ko- 
stengut am niedrigsten schätze, weil mir am wenigsten Nutzen ent- 
geht. Und ebenso trifft zu, daß ich das erste Genußgut am höch- 
sten schätze, weil es mir den größten Genuß verschafft. Besitze 
ich aber einen Vorrat an Kosten- und Genußgütern, so ist schlech- 
terdings unerfindlich, warum zwar der Grenznutzen der Kosten- 
güter den Wert jeder ihrer Teilquantitäten bestimmen soll, nicht 
aber der Grenznutzen der Genußgüter den Wert jeder ihrer Teil- 
mengen. Denn die Kostengüter sind ja nur Mittel zum Zweck der 
Anschaffung von Genußgütern. Opfere ich also eine beliebige der 
gleich großen Teilmengen des Kostengutes, so geht mir der Genuß 
von so und so viel Genußgütern verloren, wie ich mir mit einer 
Teilmenge des Kostengutes verschaffen kann; mit einer zweiten 
Teilmenge des Kostengutes kann ich mir aber genau dieselbe 
Menge Genußgüter verschaffen. Durch die Opferung einer Teil- 
menge des Kostengutes geht mir also nicht etwa der größte, son- 
dern nur de: letzte, geringste Nutzen, den mir der Kauf des Ge- 
nußgutes bietet, verloren. Würde L. wirklich eine Teilmenge des 
Genußgutes nach dem höchsten und nicht nach dem geringsten 
Nutzen schätzen, so ginge er durch die Opferung der ersten Teil- 
menge des Kostengutes des größten Nutzens verlustig. Die Hin- 
gabe einer zweiten Teilmenge des Kostengutes bedeutete einen 
kleineren Verlust, weil das mit ihr zu kaufende zweite Genußgut 
nach L. einen geringeren Genuß als das erste gewähren würde. 
Entweder schätzt man demnach Kostengüter und Genußgüter 
nach ihrem Grenznutzen, oder keine von beiden Güterarten. 

Unser bisheriges Ergebnis lautet: 

Ertragisteine Nutzendifferenz. Kosten 
sind negativer Nutzen Die Grenznutzen 
haben das Bestreben, sich auszugleichen. 
DieGrenzkonsumerträge haben das Bestre- 
ben, Nullzu werden. Injedem Augenblicke 

gibteseinzelne Wirtschafter, deren Grenz- 


konsumerträge negative Größen sind. 
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. r. 9 


130 Eduard Kellenberger, 


III. Der Zusammenhang zwischen Kosten 
und Preis. 


In der isolierten Wirtschaft fallen Kosten und Preis zusam- 
men. Erst in der Erwerbswirtschaft ist Gelegenheit vorhanden, 
daß der Kostenaufwand des Produzenten vom Preis, den er für 
seine Erzeugnisse vom Konsumenten fordert und unter Umstän- 
den auch erhält, abweicht. Ebenso sind in der Genußwirtschaft 
die Kosten übereinstimmend mit dem Preise. Wie die Nutzen- 
schätzungen der Konsumenten mit den Preisen oder Kosten zu- 
sammenhängen, wissen wir aus den vorangehenden Ausführungen. 
Es giltnun, die Beziehungen aufzudecken, diezwischen den Preisen 
und Kosten herrschen. Wie sucht L. dieses Problem zu bewältigen? 

»Die einzelnen Anbieter von Produkten und Arbeitsleistun- 
gen streben natürlich auch nach möglichst großem Ertrage, den 
wir im Gegensatz zum Konsumertrag als tauschwirt- 
schaftlichen oder Erwerbsertrag bezeichnen... 
Diesen Erwerbsertrag pflegt man in Kapital- und Arbeitsertrag 
zu unterscheiden . .. Heutzutage... .. ist der Erwerbsertrag.... 
in erster Linie Kapitalertrag, während die Erwerbseinkünfte der 
Arbeitskräfte in im voraus mit ihnen vereinbarten Beträgen be- 
stehen. .. . Das Angebot der verschiedenen Güter, für die Be- 
dürfnisse von Konsumenten vorhanden sind, erfolgt in der Tausch- 
wirtschaft genau nach demselben Gesetz des Ausgleichs der 
Grenzerträge, das wir schon als für das wirtschaftliche Handeln 
des einzelnen Wirtschafters mäßgebend erkannt haben. Genau 
wie der einzelne Wirtschafter jedes Bedürfnis nur soweit befrie- ' 
digt, daß die Grenzerträge aller Güter gleich hoch sind, genau 
so handelt die Gesamtheit aller Anbieter in der Tauschwirtschaft. 
Die Produzenten stellen jedes Gut nur in der Menge her, daß der 
Grenzertrag, d. h. der Ertrag, den der teuerste noch Produzierende 
erzielt, für alle Produktionszweige ungefähr gleich hoch ist« (II. 
S. 37 ff.). Der Preis gravitiere immer nach den höchsten Kosten 
(II. S. 409 und 419 ff.). »Es ist also einfach nicht wahr, was schon 
A. Smith behauptete und was noch Lexis beifällig zitiert, 
daß der Preis der Kohlen durch die ergiebigsten Minen bestimmt 
werde... Solange... überhaupt nur mehrere Anbieter da sind, 
haben sie verschiedene Kosten und der teuerste, der noch den 
volkswirtschaftlichen Grenzertrag erzielt, bestimmt den Preis« 
(II. S. 420). Auch seies nicht etwa der snormale« oder der 


va 
Nu 
ati 


» 3 “... x- s 
Gir on, Der Pa! 
a E53 in, poas 


Gibt es ein Gesetz des Ausgleichs der Grenzerträge? 131 


durchschnittliche« Kapitalgewinn, sondern ebenfdeı 
Grenzkapitalgewinn, der den Preis bestimme (II. S. 423). »Von 
einer allgemeinen Tendenz des Ausgleichs sämtlicher Ka- 
pital- und Unternehmergewinne, vonder Ad. Wagner spricht, 
und von einem mormalen«s Kapitalgewinn, mit dem Lexis 
operiert, kann natürlich nicht die Rede sein. Es handelt sich nur 
um eine Ausgleichstendenz der Grenzerträge bei allen Un- 
temehmungszweigen, in jedem werden aber selbstverständlich 
von einzelnen Anbietern auch höhere Erträge erzielt« (III. S. 39, 
II. S. 432 und 435). »In der Verschiedenheit des Risikos ist . . . 
ein Umstand zu erblicken, der die Tendenz des Ausgleichs der 
Grenzerträge im Wirtschaftsleben verdunkelt. Da das Risiko in 
den einzelnen Unternehmungszweigen sehr verschieden ist, muß 
natürlich auch der Grenzertrag verschieden hoch sein... Für 
ihn [d. h. den volkswirtschaftlichen Grenzertrag von Unterneh- 
mungen) erhält man ein deutliches Bild aus dem durchschnitt- 
lichen®) Verhältnis des Dividendenertrages börsengängiger 
Beteiligungseffekten (Aktien) zum Kurse . . . Immerhin kann man 
sagen, daß für börsengängige Aktien der volkswirtschaftliche 
Grenzertrag je nach dem Risiko 5—64,%, beträgt. Wo größere 
Erträge in Aussicht stehen, dahin drängt sich das Anlagekapital« 
(I. S. 437 ff.). »Die Verzinsung, die solche Aktien im Verhältnis 
zum Kurse gewähren, ist nichts anderes als der ungefähre 
volkswirtschaftliche Grenzkapitalertrag . . . Der Kurs der Effek- 
ten, genauer, die Verzinsung, die der Käufer auf ihrer Grundlage 
erhält, ist zweifellos der beste Maßstab zur Feststellung der u n- 
gefähren Höhe des volkswirtschaftlichen Grenzkapitalertra- 
ges und ds durchschnittlichen Grenzkonsumertra- 
gese (III. S. 44). 

In allen diesen Sätzen wiederholt: L. bis zum Ueberdruß, 
daß immer der volkswirtschaftliche Grenzertrag die Ursache und 
damit das Erklärungsprinzip der Preishöhe sei. Das hindert ihn 
aber keineswegs, außerdem die folgenden Sätze auszusprechen: 
ıDer volkswirtschaftliche Grenzertrag, der den Konkurrenzpreis 
bestimmt, . . . ist eine Geldsumme, ein Teil des Geldeinkommens 
der tauschwirtschaftlichen Subjekte. Damit ist klar, daß dieses 
Geldeinkommen, das den Preis bestimmt, seiner Höhe nach doch 





N) Man beachte die von uns hervorgehobenen Eigensckaftswörter »durch- 
schnittliche und sungefäbre, worüber weiter unten. Auch in III. S. 61 spricht L. 
von sdurchschnittlichem« Ertrag. 

9 +% 


132 Eduard Kellenberger, 


wieder von den Preisen anderer wichtiger Bedarfsgegenstände 
abhängig sein muß, denn das Geldeinkommen des tauschwirt- 
schaftlichen Subjekts dient ja nur dazu, sich Konsumgüter damit 
zu verschaffen.... In dieser Weise hängt also der volkswiıtschaft- 
liche Grenzertrag .. . doch wieder mit anderen Preisen zusammen«e 
(II. S. 49). »Der volkswirtschaftliche Grenzertrag wird bestimmt 
. .. durch frühere Bedürfnisse, frühere Preise und den Geldwert, 
nach denen sich die Unternehmer mit ihrer Verwendung von Ko- 
sten richten« (II. S. 424). Und bei Gelegenheit der Kritik der Ver- 
teilungstheorie erklärt er ausdrücklich, daß der Preis offensicht- 
lich den Gesamtgewinn der Volkswirtschaft erst bestimme (II. 
S. 434 Anm.). Also je nachdem es ihm gerade paßt, behauptet 
L., der volkswirtschaftliche Grenzertrag bestimme den Preis, 
mit welcher Erkenntnis er überhaupt die Erklärung des Preises 
und zwar zum erstenmal gegeben habe, oder andererseits wieder, 
der Preis bestimme doch erst die Größe des volkswirtschaftlichen 
Grenzertrages. L. erklärt also den Preis dus dem Ertrage und 
den Ertrag aus dem Preise! Es ist zwar tatsächlich eine Wechsel- 
wirkung zwischen den Preisen und den Gewinnen vorhanden, 
wie wir bald sehen werden. Warum gibt aber L. diese Wechsel- 
wirkung nicht ausdrücklich zu und mit welchem ‚Rechte rügt er 
dann zu wiederholten Malen die österreichischen Theoretiker, die 
überhaupt keine Erklärung des Preises lieferten, weil sie Angebot 
und Nachfrage als gegebene Größen betrachteten, während doch 
gerade zu erklären sei, wie viel angeboten bzw. verkauft werde? 
(II. S. 36 ff. und 413 ff.). Er sieht zwar ein, »daß für die Erklä- 
rung des Preises irgend eine feste Größe gegeben sein muß« (II. 
S. 421). Nicht aber die Angebots- oder Nachfragemenge, sondern 
der volkswirtschaftliche Grenzertrag sei die gegebene Größe (II. 
S. 45). »Gegeben sind unter Umständen der privatwirtschaftliche 
Konsumertrag, sicher der tauschwirtschaftliche Grenzertiag, ins- 
besondere der Grenzkapitalertrag« (II. S. 422). Ausgerechnet 
der Kapitalzins, dessen Erklärung den Nationalökonomen seit 
jeher die größte Sorge gemacht hat, muß herhalten, um alle wirt- 
schaftlichen Erscheinungen, die Preisbildung der .Genuß- und 
Kostengüter, die Einkommens- und Kapitalbildung und die Ent- 
stehung der Krisen, zu erklären. Und hinterdrein muß L. einge- 
stehen, daß der Kapitalgewinn vom Preisstande abhängig sei. 
Man sehe sich einmal genau an, wie L. nachweisen will, warum 
man Angebot und Nachfrage nicht zu theoretischen Zwecken als 





-t 
ns 


Gibt es ein Gesetz des Ausgleichs der Grenzerträge ? 133 


gegebene Größen betrachten könne: ». . . zu erklären, wie bei tat- 
sächlich unbegrenzter, aber an Intensität der Bedürfnisse bzw. 
an Kaufkraft immer mehr abnehmender Nachfrage das Angebot 
sich stellt, warum also . . . trotzdem Ioo 000 Konsumenten ein 
Bedürfnis nach Winterröcken haben, Io ooo angeboten werden 
‚..11.S. 37). L. bringt es also fertig, im selben Satze von einer 
unbegrenzten und von einer ziemlich genau begrenzten Nach- 
frage, nämlich dem Bedarfe an Röcken von Ioo 000 Konsumen- 
ten zu sprechen, Denn sind Ioo 000 Konsumenten vor- 
handen, so obliegt es keinem Zweifel, daß nicht jeder von 
ihnen unbegrenzt viele Röcke zu tragen und zu kaufen wünscht, 
selbst wenn er sie umsonst erhielte und nicht jedermanns Bedarf 
von den mutmaßlich zustandekommenden Preisen abhinge. Ob- 
gleich unter gewöhnlichen Umständen jedermann soviel kosten- 
lose Luft zur Verfügung hat wie er will, ist jedermanns Bedarf dar- 
nach nicht unbegrenzt, sondern im Gegenteil ziemlich genau meß- 
bar. Wären Brot und Fleisch umsonst zu erhalten, so wäre der 
Bedarf doch nicht unbegrenzt, weil eben die Fassungskraft des 
menschlichen Magens beschränkt ist. Freilich schwankt der Be- 
darf nach Maßgabe einerseits der vorhandenen Preise und anderer- 
seits natürlicher Ereignisse und kultureller Strömungen. Aber 
bei gegebenen Preisen und Bedürfnissen ist der Bedarf, ebenso 
wie das Angebot, eine feste Größe und die Aufgabe deı Preistheo- 
nie besteht darin, zu untersuchen, nach welcher Richtung sich 
dieser vorhandene Preis ändert, wenn sich diese oder jene Bedin- 
gungen verschieben. Mehr kann die Theorie nieund nimmer leisten. 
Wie alle Wissenschaft, so hat es auch die Sozialökonomie mit 
zahlreichen Wechselbeziehungen ihrer Objekte zu tun. In letzter 
Linie bewegt sich ja überhaupt unser Wissen im Kreise, besteht 
aus einer Verkettung letzthin unerklärlicher Elemente. Die Auf- 
gabe der Wissenschaften kann lediglich darin bestehen, die Art 
und Weise der Verkettung darzustellen. 

Richtig an L.s Ausführungen ist einzig, daß jede Erklärung 
von einer festen Größe ausgehen müsse. An welchem Gliede der 
allgemeinen Verkettung der Tatsachen man mit der Erklärung 
beginnen will, ist lediglich eine Zweckmäßigkeitsfrage. Ein sol- 
ches Glied ist zweitellos auch deı »volkswirtschaftliche Grenz- 
ertrage. Prüfen wir also, ob mit dem Begriff des Grenzkapital- 
ertrages das Problem der Preisbildung geklärt werde. \Venn ja, 
so ist seine Zweckmäßigkeit erwiesen. 


134 Eduard Kellenberger, 


“' Suchen wir gleich die grundlegende Frage zu be- 
antworten: Stimmen die Grenzkosten plus volkswirtschaftlicher e 
Grenzertrag überhaupt und auf die Dauer mit den Preisen über- 
ein, gleichgültig, was die Ursache und was die Wirkung oder ob 
wechselseitige Beeinflussung vorhanden ist? Beträgt wirklich, Cg 
von zeitweisen Schwankungen abgesehen, der volkswirtschaftliche = 
Grenzertrag in dem einen Erwerbszweig 5%, in dem anderen 6% Br 
usw., je nach der Größe des Risikos? Die folgenden Untersuchun- } 
gen gehen nicht nur L. an, sondeın alle jene, die schon vor ihm 
behaupteten, die Preise würden durch die höchsten Kosten be- 
stimmt oder stünden wenigstens mit diesen in Uebereinstimmung. 

Diese oft geäußerten Behauptungen werden durch die fol- 
genden statistischen Uebersichten schlagend widerlegt. Das sta- 
tistische Jahrbuch des Deutschen Reichs, in welchem seit 1910 die ® 
Erwerbs- und Wirtschaftsgesellschaften, worunter besonders die 
Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien, 
eine Bearbeitung erfahren haben, gab uns die nötigen Angaben 
dazu. Diese Gesellschaften umfassen freilich nicht alle deutschen 
Unternehmungen. Es unterliegt aber nicht dem geringsten Zwei- 
fel, daß die gleichen Gesetzmäßigkeiten, die aus unseren Aufstel- 
lungen hervorgehen, auch bei den Privatunternehmungen fest- 
gestellt werden könnten, wenn das nötige Material erreichbar wäre. 


Uebersicht über einige Geschäftsergeb- 

nisse der deutschen Aktiengesellschaften 

und Kommanditgesellschaften auf Aktien 
(reinen Erwerbsgesellschaften). 


ıgıofıı | ıgııfız >. 


2] 1907/08 | 1908/09 | 1909/10. 
Zahl| % |Zahli O% [Zahl] % | 


Zahl] % [Zahl] % 


























S | überhaupt 4578. 100 45791100 | 4607100 |4680|100 4712100 
Èi mit Jahresgewinn 3906| 85,3 3688| 80,5|3821| 82,913868| 82,613936| 83,5 
£ | mit Jahresverlust 598| 13,0] 809| 17,7| 707| 15,3) 743| 15,9| 700| 14,9 
ohne Jahresgewinn u. ohne 
2) Jahresverlust 74| 1,6| 82| 1,8; 791 1,71 691 1,5} 76) 1,6 
© | Dividenden verteilende 3425 74,8 3271 71,4|3319| 72,013420| 73,113481| 73,9 
Jahresgewinn in Millionen Marklı351 1233 1366| 1473 1571 
ee in Millionen Mark 

. %, des Jahresgewinnes 71) 5,3) 119! 9,6, 781 5,0) 79| 5,4| ror] 6,4 














T dem divi-;keine Divi- 
dendenberech-| dende 
tigten Aktien-| eine Divi- 
kapital be- | dende bis 
zogen 6% ein- 
schließl. | 
| 





1545| 12,2!2084| 16,0 1902 14,111683| 12,0|1752| 12,0 





uuo u] 








%, pun xıew 


3335, 26.313485 | 26,8 3451] 25,6,3317| 23,7]3229| 22,2 


| | | | 





0 e 


Gibt es ein Gesetz des Ausgleichs der Grenzerträge? 135 


Diese Tabelle verschafft uns zunächst ein getreues Bild der 
Konjunkturschwankungen. Aus anderen Quellen wissen wir, 
daß die Konjunkturkurve im Jahre 1907 einen Kulminations- 
punkt erklommen hatte, und daß auf die Oktoberkrisis desselben 
Jahres die tiefe Depression des folgenden Jahres folgte, worauf 
die Konjunkturkurve bis zum Jahre 1912 wieder anstieg. Die Ta- 
belle bestätigt in allen ihren Rubriken dieses Auf und Ab der Kon- 
junktur. Was uns aber hier besonders angeht, ist die Tatsache, 
daß es jahrein jahraus und abgesehen von den Schwingungen des 
Wirtschaftslebens Unternehmungen gibt, die Verluste aufweisen 
(13—18% der Zahl und 5—10% des Gesamtjahresgewinnes der 
Gesellschaften), die also im Verein mit den Gesellschaften ohne 
Jahresgewinn und ohne Jahresverlust keine Dividende zu ver- 
teilen vermögen (12—16% des dividendenberechtigten Aktien- 
kapitals), und weiter solche, die nur eine Dividende von bis zu 
6% zu verteilen imstande sind (22—27% des dividendenberech- 
tigten Aktienkapitals). Zu diesen nicht oder wenig rentablen Un- 
tenehmungen treten noch Jahr für Jahr jene, die sich in der Li- 
quidation und im Konkurse befinden. Nun wäre es nicht ausge- 
schlossen, daß, da die obige Statistik die Geschäftsergebnisse a l- 
ler Gesellschaften zusammen zieht, immerhin einzelne Un- 
temehmungs zweige keine, mit Verlust oder ohne Dividenden 

arbeitenden, Betriebe aufwiesen. Die amtliche Statistik gibt aber 
die Ergebnisse von 24 verschiedenen Gewerbegruppen und inner- 
halb dieser von besonderen Gewerbezweigen. Da zeigt es sich, 
daß alle die aufgezählten Gewerbegriuppen und -zweige Jahr 
für Jahr eine, innerhalb ziemlich enger Grenzen schwankende, 
Anzahl von Unternehmungen aufweisen, die keine oder nur eine 
geringe Dividende verteilen. Die geringste Zahl von Gesellschaf- 
ten mit Verlusten und ohne Dividenden findet man, wie die näch- 
ste Tabelle zeigt, bei der Unterabteilung »Hypothekenbanken«, 
ein Beweis, daß sie die allersicherste Anlage neben gewissen Staats- 
papieren bilden. Den Geschäftsergebnissen der Hypotheken- 
banken stellen wir jene der Baumwollindustrie gegenüber, die sich 
durch sehr große Schwankungen unvorteilhaft auszeichnen. 


(Siehe Tabelle nächste Seite.) 


Unsere Uebersichten beweisen also klipp und klar, daß es 
fortwährend Unternehmungen gibt (ob immer 
dieselben, ist gleichgültig), bei denen die Produk- 


aii Men... _ 


136 Eduard Kellenberger, 


|1907/08| 1908/09! 1909/10] 910/11 | 191 1/12 





e e nn G 


























a Zahl der Ge- überhaupt 131 135 138 141 139 
ch: sellschaften mit Jahresverlust 7 35 18 49 | 65 
5 3 | Vom dividendenberechtigten Aktien- on SN 
35 | kapital bezogen keine Dividende 

mn” in % 11,3 19,1 17,9 | 26,1 | 355 
g Zahl. der Ge- überhaupt 37 37 38 38 38 
% g | sellschaften mit Jahresverlust — l I I — 
3 = | Vomdividendenberechtigten Aktien- — 

8.5 | kapital bezogen keine Dividende 

T in % 0,2 0,42 0,13 





tionskosten höher sind als die Preise ihrer 
Erzeugnisse. Diese Betriebe müssen alljährlich eine be- 
stimmte Summe, die sie anderweitigen Einkommens- oder Kredit- 
quellen entnehmen, zur Deckung ihrer Verluste heranziehen. Die 
Marktpreise, zu denen sie ihre Waren absetzen, ersetzen somit die 
Herstellungskosten nicht. Unter diesen mit Verlust arbeitenden 
Unternehmungen jedes Erwerbszweiges befindet sich offenbar 
eine, deren negativer Ertrag am größten ist. 
Folglich ist der volkswirtschaftliche Grenzer- 
trag von Jahrzu Jahr eine negative Größe. 
So wenig die höchsten Erträge in jedem Erwerbszweig über- 
einzustimmen brauchen, so wenig auch die größten Verluste. Es 
besteht keine Notwendigkeit, daß etwa diese negativen Grenz- 
erträge von Erwerbszweig zu Erwerbszweig gleich groß wären. 
Die Skala der Rendite in jedem Zweige der Volkswirtschaft reicht 
von Graden unter Nullbishinaufzu denhöchsten positiven Graden. 
Es ist nun ganz klar, daß sich kein einziger Unternehmer 
diesen negativen Grenzertrag zur Richtschnur für seine Produk- 
tion nimmt. Jeder Unternehmer rechnet darauf, überhaupt einen 
Gewinn zu erzielen und zwar einen solchen — nun, der mindestens 
daslandesübliche Maß erreicht und wenn immer möglich 
übersteigt. Ohne diese Hoffnung würde kein Betrieb errichtet. 
Daß sich die Erwartungen häufig nicht erfüllen, zeigen unsere 
Tabellen. Und wie hoch ist dieser landesübliche Gewinn, ausge- 
drückt in % des Nominalbetrages®? 5—6% unter Berücksich- 
tigung des Risikos, wie L. von seinem volkswirtschaftlichen 
Grenzertrag behauptet. Davon, daß diese Zinsfüße in Wirklich- 
keit gar keine Grenzerträge sind, scheint auch L. eine Ahnung 
zu haben, denn er spricht selber vondurchschnittlichen 
Grenzerträgen, voneinerungefähren Höhe der Grenzerträge, 


wu 





Gibt es ein Gesetz des Ausgleichs der Grenzerträge? 137 


so widersinnig es ist, eine genaue Grenze durch den Aus- 
druck Grenzertrag festzulegen und gleichzeitig die Einschränkung: 
durchschnittlich und ungefähr, hinzuzufügen. 

Wie kommt übrigens L. dazu, s e i n e Grenzerträge durch die 
Höhe der Risiken mitbestimmen zu lassen? Ist es nicht gerade 
umgekehrt? Entscheidet nicht die wirklich.e Höhe des (neg.) 
Grenzertrages in jedem Unternehmungszweig über die Größe des 
Risikos, das mit der Kapitalsanlage in diesem Zweige verbunden 
ist? Gilt nicht die Kapitalsanlage in Hypothekenbanken deshalb 
für beinahe risikofrei, weil die Verluste dieser Unternehmungen 
so gering sind? Und hält man nicht im Gegenteil das Risiko der 
Kapitalsanlage in der Baumwollindustrie für sehr groß, weil ihre 
erheblichen Verluste alljährlich wiederkehrend und stark schwan- 
kend sind? Die Höhe des für einen Erwerbszweig 
landesüblichen Zinsfußes wird bestimmt durch die 
Größe. und Veränderlichkeit des (neg.) Grenz- 
ertrages des betreffenden Erwerbszweiges!9), 

Wir wissen, daß von einer Uebereinstimmung zwischen den 
höchsten Kosten und den Preisen nicht die Rede sein kann. Nun 
wäre es ansich nicht ausgeschlossen, daß nur die Kosten der teuer- 
sten Produzenten und nicht jene der unter den günstigsten Be- 
dingungen arbeitenden Unternehmungen ausschlaggebend wä- 
ren für die Preishöhe. So behauptet denn auch L. gegenüber 
Ad. Smith und Lexis, daß die finanziell ergiebigsten Kohlen- 
gruben keinen Einfluß auf die Preishöhe der Kohle hätten. Diese 
Behauptung ist leicht zu widerlegen. Man stelle sich vor, diese 
billigsten Kohlengruben stellten ihre Betriebe und damit 
schließlich ihr- Angebot ein. Dann werden die Kohlenpreise 
sogleich steigen, obgleich sich nicht das geringste an den 
Kosten der teuersten Produzenten geändert hat. Infolge des Stei- 
gens der Kohlenpreise wird es sich nun lohnen, alte, bereits im 
Stiche gelassene und neue, abgelegene oder kohlenarme, Gruben 
auszubeuten. In diesem Falle bestimmt somit die Preishöhe die 
Größe der Produktionskosten der unergiebigsten Grube und nicht 
umgekehrt. — Oder man nehme an, man entdecke durch Zufall 
eine leicht zugängliche und technisch ergiebige Kohlengrube, die 
auszubeuten geringere Produktionskosten erfordere als die höch- 


I) In meiner Abhandlung: Vom Thesaurieren, Sparen, 
Kapitalund Zins, habe ich die Rolle des Risikos in der Erklärung des 
Kapitalzinses geschildert. (Ztschr. f. d, ges. Staatsw. 72. Jahrg. 1916, ı. Heft.) 


un 
m 


138 Eduard Kellenberger, 


sten im Kohlenbergbau vorkommenden. Das neue Angebot wird 
auf die Kohlenpreise drücken, ohne daß die höchsten Produktions- 
kosten gesunken sind. Ja, da das Hinzutreten einer neuen Grube 
die Nachfrage nach Maschinen und sonstigem Material, sowie nach 
Arbeitskräften in die Höhe treibt, so steigen die Preise der Pro- 
duktionsmittel und Arbeitskräfte, wodurch sich die Produktions- 
kosten auch des teuersten Betiiebes erhöhen. Es sinkt also der 
Preis der Kohle, obgleich die Grenzkosten der Kohlengruben 
steigen. Da in fast allen Erwerbszweigen immer wieder neue 
Betriebe auftauchen und alte verschwinden und, wie L. selbst be- 
tont, die neuen Betriebe sehr häufig mit den niedrigsten Produk- 
tionskosten arbeiten, so haben die Preise die Tendenz, sich auf die 
Dauer den niedrigsten Produktionskosten zu nähern. Diehohen Ge- 
winne die einzelneUnternehmen erzielen, werden mancheUnterneh- 
mer zu Neugründungen und Erweiterungen verlocken, wodurch sie 
dasWarenangebot vergrößern, die Preise zum Sinken bringen, und 
den Wert älterer, mit hohen Produktionskosten arbeitender Be- 
triebe vermindern oder diese letzteren Betriebe schließlich gar 
zur Aufgabe der Produktion nötigen. — Wir brauchen nur kurz 
hinzuzufügen, daß auch die Nachfrage für die Höhe der höchsten, 
noch aufzuwendenden Produktionskosten bestimmend sein kann. 

Sind somit die höchsten Pıroduktionskosten ohne Einfluß 
auf die Preishöhe? Nicht völlig, denn auch die teuersten Produ- 
zenten, jene, die mit Verlust arbeiten, bringen noch Ware auf 
den Markt und vergrößern so das Angebot. Ja, indem sie alljähr- 
lich Verluste zu decken haben, entziehen sie oder ihre Kreditgeber 
alljährlich anderen Einkommensquellen einen nicht unbedeuten- 
den Betrag, der sonst dem Konsum oder dem Sparkapital zugeflos- 
sen wäre. Dieser Entzug drückt mithin auf den Preisstand der 
Konsumgüter und damit letzthin auf die Warenpreise des betref- 
fenden Erwerbszweiges. Das ständige Vorhandensein von mit 
Verlust arbeitenden Unternehmungen übt also eine erniedrigende 
Tendenz auf die Preise aus. 

Aus dem Gesagten geht hervor: 

Augenblicklich stehen die Preise etwas 
tiefer als die höchsten Kosten, doch haben 
sie das Bestreben, sich den niedrigsten 
Kosten zu nähern), 


1) Zu einem ähnlichen, nur weniger scharf formulierten Ergebnis bin ich in 
meiner Abhandlung geiangt: Kritische Beleuchtung der mo- 


. 
EEE ia 


vs 


Ren 


Gibt es ein Gesetz des Ausgleichs der Grenzerträge ? 139 


Außerdem: Indem jeder Unternehmer das 
Bestreben hat, den höchsten Ertrag zu er- 
silen.kommteszuweinemgewissenAusgleich 
der Reingewinne. Nicht die Grenzerträge unterliegen 
einer Tendenz des Ausgleichs, sondern die Gewin ne {überhaupt 
und zwar nicht nur von einem Unternehmungszweig zum an- 
deren, sondern auch innerhalb desselben Unternehmungszweiges. 

Wir sind nun in den Stand gesetzt, einen grundlegenden Un- 
terschied, den L. vollkommen übersieht, zwischen dem Streben 
des Konsumenten und dem Streben des Produzenten zu erkennen. 
Zwar ist das Ziel beider, des Konsumenten wie des Produzenten, 
der größtmögliche Ertrag; des ersteren, weil größter Ertrag für 
ihn größten unmittelbaren Genuß bedeutet, des letzteren, weil er 
sich mittelbar mit Hilfe des größten Ertrages in Geld den größten 
Genuß verschaffen kann. Soweit herrscht also Uebereinstimmung. 
Um zum größtmöglichen Ertrag zu gelangen, muß der Konsu- 
ment darnach trachten, seine Grenzerträge zu Null werden zu 
lassen. Um den größtmöglichen Ertrag zu gewinnen, muß hin 
gegen der Produzent allen seinen Scharfsinn darauf richten, 
seinen Reingewinn über dem »normalen« zu halten. Stehen näm- 
lich die Grenzbedürfnisse des Konsumenten auf gleicher Ebene 
und möglichst tief, so heißt dies, daß alle übrigen Bedürfnisregun- 
gen ihrer Stärke nach über dieser Ebene schweben. Der Gesamt- 
nutzen eines Gutes bemißt sich also nicht an der Anzahl Teilmen- 
gen mal dem Nutzen der zuletzt konsumierten Teilmenge, son- 
dern an der Summe der Nutzen von jeder der Reihe nach konsu- 
mierten Teilmenge. Diese Summe ist um so größer, je stärker 
das Bedürfnis überhaupt ist und je weiter es befriedigt wird. 
Ganz anders verhält es sich mit dem Gesamtertrag des Produzen- 
ten. Würde er bestrebt sein, auch nur den s»normalen« und nicht 
einmal den »Grenz«kapitalertrag zu erlangen, so hieße dies, dar- 
nach trachten, den Reingewinn seines Unternehmens auf, sagen 
wir 5 oder 6%, des Nominalkapitals hinunterdrücken. Jedermann 
strebt aber nach dem höchsten und nicht nach dem niedrigsten 
Ertrag. Je näher also der Kapitalertrag dem normalen liegt, 
desto geringer ist er. Je niedriger hingegen der Grenznutzen ist, 
desto höher ist der Gesamtnutzen, der Konsumertrag. Den Kon- 
sumenten zieht es mit aller Macht zum Grenzertrag Null, der Pro- 





dernen Wert- und Preistheorie ir f. d. ges. Staatsw, 68, 
Jahrg. 1912, S. 414 ff.). 


140 Eduard Kellenberger, 


duzent hingegen meidet ängstlich schon den normalen Ertrag, 
geschweige denn den »volkswirtschaftlichen Grenzertrag«. 
Daran liegt es, daß die Unternehmungen nur unter ganz be- 
stimmten Umständen ihr Kapital, das einen höheren als den nor- 
malen Ertrag einbringt, vergrößern. Erstens einmal, wenn be- 
gründete Hoffnung besteht, daß mit der Kapitalserhöhung der zur 
Verteilung gelangende Reingewinn mehr als verhältnismäßig an- 
wachse. Ist keine Ursache zu dieser Annahme vorhanden, so hat 
der Privatunternehmer oder der Aktionär nur dann ein Interesse 
an der Betriebserweiterung, wenn er seine Ersparnisse nicht an- 
derswo gewinnbringender anlegen kann. Wirft ein Unternehmen 
einen Ertrag von 20% des Nominalkapitals ab und scheint keine 
Aussicht vorhanden zu sein, die Ersparnisse gleich gewinnreich 
und sicher anderswo unterzubringen, so steckt man sie gerne 
wieder in dasselbe Unternehmen, selbst wenn der Gewinn in Zu- 
kunft für das alte und das neue Kapital nur noch mehr oder weni- 
ger unter 20% betragen sollte. Bei Aktienunternehmungen ist 
es üblich, die neuen Aktien zu einem Kurse zu begeben, der um 
ein Geringes unter dem Marktkurse der alten Aktien liegt. Der 
Marktkurs entspricht aber ungefähr dem üblichen Ertrage der 
Unternehmung, kapitalisiert zum normalen Ertrage des betref- 
fenden Produktionszweiges. Folglich hat der Kapitalist gar kein 
besonderes Interesse daran, gerade dieses und kein anderes Unter- 
nehmen zu bevorzugen, weil eben die neuen Aktien nur den norma- 
len Zins abwerfen werden (immer vorausgesetzt, daß nicht die Aus- 
sicht aufeine höhere Rendite dieKapitalserhöhung veranlaßt habe). 
Es klingt paradox, ist aber doch wahr, daß innerhalb jedes 
Unternehmungszweiges jedes einzelne Unternehmen den normalen 
Ertrag, nicht mehr und nicht weniger, abwirft, d. h. in dem einen 
5%, in dem anderen 6% usw. je nach der Größe des Risikos. Ja, 
wonach richtet sich denn der Kapitalwert einer Unternehmung? 
Etwa nach der Größe des Nominalkapitals®? Das kann niemand 
im Ernst behaupten. Ein Unternehmen, das auf die Dauer keinen 
Gewinn abwirft, ist wertlos. Ein anderes Unternehmen, das 2%, 
auf das Nominalkapital berechnet, abwirft, hat einen wirklichen 
Wert von 40%, sofern jener Erwerbszweig normalerweise einen 
Ertrag von 5% gewährt. Die Aktien einer Gesellschaft, deren 
Leitung sich einer gesunden Bilanzierungs- und Dividendenpoli- 
tik befleißigt und seit Jahren regelmäßig eine Dividende von je 
20%, ausschüttet, werden einen Börsenkurs haben, der sicherlich 


— | 





Gibt es ein Gesetz des Ausgleichs der Grenzerträge ? 141 


nicht stark von 400%, abweicht. Also richtet sich der Kapitals- 
wert eines Unternehmens nach dem in Geld ausgedrückten Rein- 
gewinn desselben, kapitalisiert zum normalen Zinsfuß des betref- 
fenden Produktionszweiges. Folglich erzielt in der Tat jedes Un- 
ternehmen den normalen Ertrag. 

Nachdem wir uns über die Natur des »volkswirtschaftlichen 
Grenzertrages« und des »privatwirtschaftlichen Konsumertragese 
klar geworden sind, können wir auch die Frage entscheiden, ob 
L. berechtigt ist, beide einander gleichzusetzen (s. o. S. 124). Jeder 
Konsument strebt nach dem größten Ertrag, also auch nach dem 
Grenzertrag Null. Jeder Produzent strebt nach dem größten 
Ertrag, vermeidet deshalb nach Möglichkeit den volkswirtschaft- 
lichen Grenzertrag sowohl wie den normalen Ertrag. Tatsächlich 
gibt es aber jederzeit Konsumenten und Produktionszweige, deren 
Grenzerträge negative Größen sind. Allein in diesem Umstand be- 
ruht das Gemeinsame des Konsumentenertrages und des Produzen- 
tenertrages. Je weniger Einsicht die Leute haben, desto häufiger 
kommen die Konsumenten in den Fall, ihre Einkäufe zu bereuen, 
und desto größer sind die Verluste der Unternehmer. Sonst aber 
haben die beiden Erträge nicht das geringste miteinander zu tun. 

Daß der Grenzkonsumertrag der Sparer dem volkswirtschaft- 
lichen Grenzkapitalertrag gleichkomme, ist eine weitere Behaup- 
tung L.s. Als ob nicht jeder Konsument, habe er ein Sparbedürf- 
nis oder nicht, darnach strebe, die Grenzerträge zu Null werden 
zu lassen. Das Sparbedürfnis wird aber genau nach derselben 
Regel befriedigt wie jedes andere Bedürfnis. Es besteht frei- 
lich eine gewisse Beziehung zwischen dem (neg.) Grenzkapitaler- 
trag und dem Sparbedürfnis. Der Grenzkapitalertrag bestimmt 
nämlich, wie wir bereits wissen, die Größe des Risikos der Kapital- 
anlage. Dieses Risiko gibt somit die Grenze an, bis zu welcher 
die Sparer ihre Ersparnisse diesen oder jenen Produzenten zur 
Verfügung stellen. — 

Die Antwort auf die im Titel dieses Aufsatzes gestellte Frage 
lautet: 

Der Konsument untersteht einem Gesetz 
des Ausgleichs der Grenznutzen, derart, 
daß die Grenzerträge gleich Null werden. 
Beim Produzentenhingegenist kein Gesetz 
des Ausgleichs der Grenzerträge wirksam, 


142 


Belgische Arbeiterwohnungen. 
Von 


C. K. ZIMMERMANN. 


Kein besseres Symbol für das neue Belgien will mir einfallen 
als jener patriotische Aufzug, den ich einmal am Jour de l’Indepen- 
dance in den Straßen von Charleroi an mir vorüberziehen sah. Reih 
auf Reih schritten die wallonischen Männer daher, und im Takt ihrer 
Schritte scholl ein Gesang! 

»Le siècle marche . .. 
Nous ouvrons uns Epoche nouvelle .. .« 

Wenn ehedem die belgische Geschichte im Norden geboren 
worden war; wenn im 14. Jahrhundert die drei flandrischen »Zuster- 
steden« Brügge, Gent und Ypern und im 16. Jahrhundert die bra- 
bantische »Zierde der Welt«, Antwerpen, die Mittelpunkte der bel- 
gischen Betriebsamkeit gewesen waren, so sind es seit dem Ig. Jahr- 
hundert die Kohlengruben und Hüttenwerke der Wallonie, in denen 
das Herz der belgischen Gegenwart schlägt. Hier stand die Wiege 
der belgischen Wiedergeburt, der »nouvelle epoche«, von der die wal- 
lonische Hymne singt; von hier aus hielt sie ihren Einzug in das Land 
unter den Schritten Tausender von rußgeschwärzten Arbeitern; hier 
sollten zuerst jene sozialen Probleme auftauchen, die das Entstehen 
einer großen Industrie begleiten, hier Großunternehmertum und Ar- 
beiterorganisation ihre Interessenkonflikte ausfechten; von hier aus 
sollte sich das Angesicht des Landes und des Volkes erneuern. 

In der Tat: denkt man an die heutigen belgischen Industrieen, 
so sieht man zwei deutlich voneinander getrennte Wirtschaftsgebiete 
vor sich: das nördliche: das Flachland, das Land alter belgischer 
Städte und alter belgischer Industrieen (Leinen-, Woll-, Spitzen- 
industrie); das Land vorwiegender Heimarbeit; und das südliche: 
das Gebirgsland, das Land der rauchenden Schlote, der Steinbrüche, 
der Steinkohlengruben, der Hüttenwerke; das Land der modernen 
Fabrikdörfer, der Maschinenarbeit. Der nördliche Teil: im wesent- 
lichen unverändert aus einer fernen Zeit zu uns herübergerettet, 
eine Erinnerung; der südliche: fast ganz eine Neugeburt unserer 
Zeit. Wollte man die Grenze, die beide trennt, auf einer Karte aus- 


DD | GER o ey 


Belgische Arbeiterwohnungen. 143 


ziehen, so sähe man, daß sie so ziemlich mit der Sprachgrenze zwischen 
Vlamen und Wallonen zusammenfällt, mit jenem Kohlenwald, der 
schon seit frühester Zeit die natürliche Scheidewand zwischen dem 
germanischen und romanischen Volkselement Belgiens bildete. Zwar 
umschließt der wallonische Teil auch Enklaven alter Industrie: wie 
Verviers mit seiner Tuchweberei und Lüttich mit seinen Waffenschmie- 
den. Aber auch diesen Städten, auch diesen Industrieen hat das Zeit- 
alter der Technik seinen Stempel aufgedrückt. Sie wirken modern 
und sind modern. Dort und im »schwarzen Lande« von Charleroi 
und Mons, im Hennegau und in Namur ist das Zentrum der belgi- 
schen Arbeiterfrage, die mit der Wohnungsfrage aufs engste ver- 
knüpft ist; dort ist der Herd der belgischen Sozialdemokratie und der 
großen Streiks; dort auch die Wiege jener patronalen Philanthropie 
und jener gesetzgeberischen Maßnahmen, die die Arbeiterwohnungs- 
verhältnisse umzugestalten sich bemühten. 


l. Patronale Philanthropyie. 


Die patronale Philanthropie, die gleich mit Beginn des 19. Jahr- 
hunderts und der neuen Industrieen einsetzte und besonders auf dem 
Gebiete des Wohnungswesens allerlei geleistet hat, entsprang wohl 
letzten Endes denselben Beweggründen, die im 16. Jahrhundert 
die ilandrischen humanistischen Großunternehmer dazu bewogen, 
sich der Kinder der Landstreicher anzunehmen. In beiden Fällen 
läßt sich darüber streiten, ob man dem Humanismus, der Philanthropie, 
oder ob man eher dem kapitalistischen Interesse die Vaterschaft 
an jenen wohltätigen Maßnahmen zusprechen will; wie sich ja auch 
darüber streiten läßt, ob eine soziale Gesetzgebung mehr im Interesse 
der Arbeiterschaft oder mehr im Interesse des kapitalistischen Staates 
erlassen wird. 

Jedenfalls, über die Wirkungen ist man sich klar. 

Verviers ist die erste wallonische Stadt, die schon im Jahre 1808 
dieses Beispiel der Vereinigung industrieller Aktivität und patronaler 
Philanthropie bietet. Zwei hervorragende Industrielle, Simonis und 
Biolley, machten der Gemeinde Verviers den Vorschlag, an einem 
Zipfel der Stadt auf kommunalem Gebiet eine neue Straße mit \Voh- 
nungen für die bisher miserabel untergebrachten Tucharbeiter zu 
bauen. Der Mietzins sollte an die Kasse der Hospices civils abge- 
liefert werden. Das Projekt fand Anklang. Man sammelte 90 000 Frs., 
wovon 40—50 000 von den Herren Simonis und Biovlley gestiftet 
waren, und ließ 8 Häuser mit je 16 Wohnungen bauen. Diese Gebäude 
bilden 2 große Häuserblocks und werden zimmerweise vermietet. 
Sie existieren heute noch, und die Zimmer, wenn schon nicht elegant, 
sind geräumig, hoch und licht. 

Derselbe Raymond Biolley: übrigens, der bei diesem Werk be- 
teiligt ist, legte auch den Grundstein zu dem großen Arbeiterviertel 
der heutigen Pres Javais in der ehemals nach ihm benannten »Impasse 
Raymond« in Verviers. Für die Summe von 106 000 Frs. ließ er hier 


144 C.K. Zimmermann, 


zwei Reihen Häuser errichten, die durch eine Lindenallee vonein- 
ander getrennt waren. Jedes Haus hatte eine Fassade von 6 Meter 
Breite und eine Tiefe von 6,50 Meter; zu jedem gehörte ein Garten 
mit Hecke. Der Mietzins dieser Wohnungen betrug I00 bis 115 Frs, 
im Jahr. 

- Auch im Hennegau regte sich die Unternehmer-Philanthropie. 
De Gorge-Legrand, dem Besitzer der Metallfabrik Grand Hornu bei 
Mons, spricht man die Ehre zu, zuerst daran gedacht zu haben, seine 
Arbeiter menschenwürdig unterzubringen, Im Jahre 1810 errichtete 
er seine ersten Arbeitermodellwohnungen. Seine Tätigkeit erstreckte 
sich bis zum Jahre 1832. Er baute in dieser Zeit 440 Häuser und gab 
damit 2546 Seelen Wohnung. 

Nun einmal die Initiative gegeben war, folgten eine ganze Reihe 
von belgischen Industriechefs, zumal der Kohlengegend: Mariemont, 
Bascoup und Marchiennes bei Lüttich; John Cockerill in Seraing 
bei Lüttich; die Vieille Montagne in Angleur stellten ihren Arbeitern 
gute Wohnungen zur Verfügung. Hier und da ermöglichte es sogar 
der Unternehmer seinem Arbeiter, Eigentümer seines Hauses zu wer- 
den, in der Erkenntnis, daß es kinen besseren moralisch:n Stimulus 
gibt als eben das Eigentum. So errichtete die Vieille Montagne eine 
ganze Anzahl Häuser, die sie zum Selbstkostenpreis, gleichsam als 
Prämie, an ihre aktivsten Arbeiter abgab, unter der Bedingung, 
daß sie ein Viertel des Kaufpreises bar zahlten und den Rest mit einem 
Zinsaufschlag von 5 % in Raten während 8 Jahren. 

Auf diese Weise verstand es die patronale Philanthropie, ihre 
eigenen Interessen mit den Pflichten der Menschlichkeit in Einklang 
zu bringen. Die Bergwerksenquete von 1869 verzeichnet 4248 Ar- 
beiterwohnungen, die von den Ausbeutern der Minen und von den 
Metallindustriellen errichtet worden waren. 

Während in der Wallonie zugleich mit dem Aufkommen der neuen 
Industrie die Arbeitgeber daran dachten und denken mußten, durch 
ihre Fürsorge die Arbeiter (auch räumlich) an sich zu fesseln, lagen 
in den Großstädten Flanderns und Brabants, wo um dieselbe Zeit 
die Kattunspinnerei aufkam, die Verhältnisse ganz anders. Da kannte 
eine derartige Fürsorge nur eine Genter Flaclısspinnerei, »La Lieves, 
die Brotgeber hatten es eben nicht nötig, ihre Arbeiter bei sich fest- 
zuhalten; sie fanden und finden deren bis heute immer genug im stets 
wachsenden Strom der Armen in Flandern. So nahm denn hier ein 
besonderes Bauunt’ rnehmertum die Sache in die Hand, und es ent- 
standen in Gent wie in Brüssel um diese Zeit jene eng aneinanderge- 
pferchten »bataillons carres«, die in bezug auf körperliche und geistige 
Hygiene alles zu wünschen übrig lassen und bis auf den heutigen 
Tag der Gesundheitskommission zu schaffen machen. 

Straßen von 4 Meter Breite und weniger waren damals die Regel 
in Gent, wie es ein Erlaß der »meiers« aus dem Jahre 1808 hübsch 
charakterisiert, der daran erinnert, »dat het verboden is, de paarden 
binnen de stad te laten loopen, om reden dat de straaten te smal 
wareng. | 


“m = 


Belgische Arbeiterwohnungen, 145 


Wo wurden die Carrés geschaffen? Eine Reihe reicher Familien 
waren in den Krisen der Zeit untergegangen ; die Häuser, die sie bewohnt 
hatten, waren mit geräumigen Höfen, mit Hinterplätzen und Stallungen 
versehen. Diese Hinterhöfe und Stallungen machte sich nun ein ganz 
besonderes Bauunternehmertum zunutze, um für die immer zuneh- 
mende Arbeiterschaft Wohnungen zu beschaffen. (1828 gab es allein 
in den 50 Kattunspinnereien Gents 16 000 Arbeiter.) Sogar die er- 
lauchte Burg der »Graven van Vlaanderen« hatte in ihrem Hof eine 
Fabrik und Arbeiterwohnungen. Zahlreich sind auch heute noch in 
Brüssel und Gent die »beluiken«, deren Vorderhäuser die Spuren 
ehemaligen Reichtums tragen (geschnitzte Türen in Renaissance 
und Barock), während die Hinterhäuschen, deren Giebel selten höher 
als 2 Meter sind; in nichts besser als Ställe sind. So sieht iene Stadt 
in der Stadt aus: im Vorderhaus Luft, Raum, Gesundheit im Ueber- 
fuß; in den Beluiken alles, was das Leben verkürzt und vergiftet, 
Haus über Haus, Dunkelheit, Verpestung. 

Was früher in der ganzen Stadt geschah, geschah 1845 (und ge- 
schieht zum Teil bis heute) noch in den Beluiken: alle Fäulnis wurde 
mitten auf die Straße geworfen; sie ging in Gärung über und ver- 
gitete den schon so engen Raum. Zwar hatte schon im Jahre 1815 
der Gemeinderat von Gent den Beschluß gefaßt, alle 8 Tage die Straße 
kehren zu lassen, »weil«, sagt die Urkunde, »bei Regenwetter einige 
Straßen so schmutzig sind, daß der Durchgang erschwert ist und es 
«dne Schande für die Stadt ist, eine so wichtige Sache wie die Sorge 
fürs Wegswesen zu vernachlässigen«. 

Aber dergleichen »Erinnerungen« und»Beschlüsse« nützten wenig. 

Und wieder, als 1832 die Cholera in Gent gewütet und 1227 
Opfer gefordert hatte, beschloß die Stadtobrigkeit, den Kampf gegen 
die gesundheitswidrigen Zustände in den Beluiken aufzunehmen. 
Doch erst im Jahre 1838 folgte dann ein ausführlicher Feldzugsplan ; 
aber es scheint, daß ihm die Bekräftigung durch die Regierung fehlte, 
und so konnte er keinen durchgreifenden Erfolg haben. 

Im Mémoire de la Société de Médecine de Gand 1845 heißt es: 

»Gent zählt 427 Straßen und 14 372 Häuser (Kirchen und Magazine 
eingerechnet) und von diesen 14 372 Häusern sind 3586 in den Belui- 
ken. Außerdem gibt es in Gent 226 bewohnte Keller. So ist ein Viertel, 
ja ein Drittel der Bevölkerung auf einer Oberfläche zusammenge- 
pfercht, die sicher nicht größer ist als "/soostel der Stadt. Es 
wäre unmöglich, mehr Volk auf einen so kleinen Raum zusammen zu - 
drängen.« 
_ Noch eingehenderen Aufschluß über die Beschaffenheit der Genter 
Beluiken gibt eine Enquête aus dem gleichen Jahre 1845, die sich mit 
dem Enclos Batavia, einem besonders berüchtigten Arbeiterviertel 
Gents, beschäftigt: 

»L’Enclos Batavia«, heißt es in der Arbeit, »befindet sich in dem 
hochgelegenen Teil der Stadt Gent zwischen der Rue Neuve Saint- 
Pierre und der Rue de Femmes. Es hat drei Ausgänge, zwei in die 
Rue Saint Hubert und eine in die Rue des Rogers Diese Ein- 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 1. 10 


146 C, K. Zimmermann, 


gänge haben die Breite einer gewöhnlichen Tür und können leicht 
mit denen der Nachbarhäuser verwechselt werden. L’Enclos hat 
100 Meter Länge zu 30 Meter Breite, umfaßt 117 Häuser und 4 
Straßen, von denen 3 parallel und I quer laufen. Die kleinen 
Wohnungen zu beiden Seiten dieser Straßen sind so gebaut, daß 
diejenigen, die die Vorderseite der einen Straße zuwenden, mit 
dem Rücken gegen diejenigen stoßen, die ihre Vorderseite der 
nächsten Straße zukehren. Die Straßen sind 2,70 Meter breit und 
dienen als Hof; ein Abfluß fließt durch die Mitte, und Leinen zum 
Wäschetrocknen sind von hüben nach drüben gespannt. Man zählt 
6 Latrinen und 2 Pumpen zum Gebrauch für die ganze Einwohner- 
schaft. Am Ende der Querstraße befindet sich eine große Kloake,, 
wohinein alle Abflüsse und Latrinenabwässer münden. 

»Wenn wir von den 3000 qm Oberfläche 1000 qm auf die Straßen 
und die benachbarten Häuser rechnen, die nicht zum Enclos gehören, 
sowie für die Mauern, so bleiben für die 117 Häuser noch 2000 qm 
= 17 qm für jedes Haus. Diese Wohnungen bestehen gewöhnlich 
nur aus einem Raum, der als Küche und Schlafzimmer dient. Das ist 
offenbar ungenügend, und so hat denn auch die Cholera kürzlich in 
diesem Enclos allein 69 Opfer gefordert. 

»Wenn jede Haushaltung sich durchschnittlich aus 5 Personen 
zusammensetzt, so haben wir als Einwohnerzahl 585 und 3,4 qm 
pro Bewohner. | 

»Der Mietpreis dieser Wohnungen ist I,0og Franken wöchent- 
lich. Das Enclos, das einen Wert von 40000 Franken präsentiert, 
bringt also jedes Jahr 7280 Franken ein.« 

Bis hierher die Enquête über das Enclos Batavia, das erst im 
Jahre 1881 niedergelegt wurde. Aber es gibt noch heute in Gent und 
auch im Marolle-Viertel Brüssels viele Beluiken, auf die die Beschrei- 
bung paßt. 

Diese Kolonien von Hundeställen, wie ein Autor mit Recht diese 
Fieberbrutstätten bezeichnet hat, sind wie kleine Städte. Man findet 
dort Schenken und Läden und alles, was zur Existenz der unglück- 
lichen Einwohner nötig ist, so daß die Hausfrauen und die Heimarbeiter 
fast nie die Grenzen ihres Carrés überschreiten. 

Damals — im Jahre 1845 — wohnte ein Viertel, ja vielleicht ein 
Drittel der ganzen Genter Bevölkerung in solchen Beluiken, und die 
Mehrzahl der Fabrikarbeiter ruhte sich dort von 12- bis I4stündiger 
Arbeit aus. 

Was Wunder, daß eine mörderische Epidemie die andere ablöst! 
1848 fordert die Cholera in den fünf wijken Gents unter 48200 Ar- 
beitern, 2224 Tote. Diesmal greift die Regierung ein. Sie richtet 
eine Kommission zur Untersuchung der Arbeiterwohnungen ein und 
eröffnet den Gemeinden, die etwas für die Verbesserung ihrer Arbeiter- 
wohnungen tun wollen, einen Kredit. 

Von da an datiert die neue Aera der Beluiken, der allgemeine 
Kampf gegen sie. 1850 erscheint in Gent das »Reglement op het 
bouwen en op de politie der wegen van de beluiken« usw., das Vor- 


Belgische Arbeiterwohnungen. 147 


schriften über die Baukonzession, über Höhe, Breite usw. der Gebäude, 
über Abwässer, über die sanitären Einrichtungen u. dgl. trifft und 
u. a. den malerischen Satz enthält: 

»Het is verboden, in de huizen te houden varkens, konynen, 
oostindische ratten, bokken, geiten, schapen, duiven, kiekens, ganzen, 
endvogels of all ander soortgelijk gevogelte... k 
(Es ist verboten in den Häusern zu halten: Ferkel, Kaninchen, Ostindi- 
sche Ratten, Böcke, Ziegen, Schafe, Tauben, Hühner, Gänse, Enten 
und alles andere derartige Geflügel.) 

Schließlich enthält das Reglement Verordnungen betr. das Recht 
des Bürgermeisters und des Schöffenkollegiums, das Bewohnen ge- 
sundheitswidriger Wohnungen zu verbieten und das Haus mit der 
Aufschrift sonbewoonbar beluik of huis uit hoofde van ongezondheit« 
m versehen. Und am Schluß werden Belohnungen und Preise für 
die Bewohner besonders nett und sauber gehaltener Wohnungen an- 


gekündigt. 
| Il. Die Refiormbewegung. 


` Wir haben es in diesem Genter Reglement mit einer kommunalen 
Verordnung zu tun, deren Antrieb von der Regierung ausging, wäh- 
rend es bis dahin der Gesetzgeber den Gemeinden überlassen hatte, 
städtehygienische Maßnahmen zu treffen und das Bewohnen insalubrer 
Wohnungen zu verbieten. Die holländische Regierung hatte sich wohl 
für die Arkeiterklasse interessiert, hatte z.B. die Wohltätigkeits- 
verwaltungen reorganisiert und Sparkassen eingerichtet, aber sich 
nicht direkt mit den Arbeiterwohnungen beschäftigt. Die Wohnungs- 
irage erweckte das öffentliche Interesse nur wie zufällig: bei Gelegen- 
heit einer Epidemie, die besonders erschreckende Verwüstungen in 
einer Sackgasse anrichtete, — da kam man wohl in Versammlungen 
zusammen, da regte man sich ein wenig auf; man faßte Beschlüsse 
und erließ kommunale Reglements — und dann verfiel man wieder 
in Gleichmut — bis zur nächsten Epidemie. Ich will es nicht so kraß 
ausdrücken wie Desguin 1905 auf dem Congrès international des 
habitations a bon marché: »Die Cholera war ein großer offizieller 
Gesundheitsinspektor . .. und wenn sie nicht gar zu mörderisch ist, 
ist eine kleine Choleraepidemie eine wahre Wohltat für ein Land... .« 
Wohltätig ist die Wirkung der Cholera wohl nur auf die Regierung 
gewesen, die sich in solchen Augenblicken einmal ihrer Aufgabe be- 
wußt werden mußte. Aber bald wurde ihre Aufmerksamkeit wieder 
durch andere Dinge in Anspruch genommen, und dann kamen die 
großen politischen Umwälzungen, die alles absorbierten, was sich an 
humanitären Interessen noch geregt hatte. 

Gleich am Anfang der Zeit der Unabhängigkeit Belgiens im 
Jahre 1830 sollte wieder die Cholera das allgemeine Interesse des Ge- 
setzgebers und der Industriellen den Arbeitervierteln, als dem Herd 
der Krankheit, zuwenden, und von dieser Zeit datiert die offizielle 
Reformbewegung in Belgien, die durch Enquäten (von denen ich 


10 * 


148 C.K. Zimmermann, 


bereits die aus Gent 1845 anführte), die Lage der Arbeiterwohnungen 
zu erforschen und durch Einwirkung auf die kommunalen Behörden 
sie zu bessern versuchte. 

An der Spitze des Comité central de salubrité publique, das sich 
mit der Frage der Arbeiterwohnungen besonders befaßte, stand seitdem 
Jahre 1837 Ducpétiaux. Er blieb die Seele der Bewegung. Aus seinen 
Untersuchungen entnehme ich die beigefügte Statistik: 


Budget des classes ouvrières en Belgique. 


Auf 1000 Einw. Verhältnis 

Todesfälle Geburten 
In den ungesundesten Vierteln 3,14 3,66 1: 117 
In den relativ unges. Vierteln 2,68 3,18 I: LIQ 
Im Durchschnitt 2,43 3,35 1: 1,38 
In den relativ gesunden Vierteln 2,17 2,64 I: 1,22 
In den gesündesten Vierteln 1,87 2,47 I: 1,32 


"(Im letzten Fall geht mit dem Rückgang der Sterblichkeit der 
Geburtenrückgang Hand in Hand — eine Beobachtung, die nichts 
Befremdendes hat, wenn wir sie mit den allgemeinen Erfahrungen 
vergleichen.) 

Zu wirklich durchgreifenden gesetzgeberischen Maßnahmen kam 
es allerdings sobald noch nicht. Aber verschiedentlich lenkt die Re- 
gierung das Interesse der Kommunalverwaltungen auf den wichtigen 
Punkt derWohnungsfürsorge hin ; überall regen sich auch diese kommu- 
nalen Autoritäten; überall gibt es Umfragen, und die ganze Stimmung 
drängt nach einer umwälzenden Tat hin. Als allerdings Ducpetiaux 
im Jahre 1845 diese Tat in Form einer 5%igen Staatsanleihe zum 
Bau von Arbeiterwohnungen in die Welt setzen wollte, zeigte es sich, 
daß die Zeit für so radikale und einleuchtende Maßnahmen noch nicht 
reif war. Darauf erschien im Jahr 1846 in Brüssel eine Arbeit von 
Ducpétiaux unter dem Titel »Sur les habitations ouvrières et les 
moyens de les établir«. Er stellt darin die Statuten für eine Arbeiter- 
wohnungsgesellschaft auf, entwirft ein Programm für die Konstruktion 
von Häusern, gibt allgemeine Gesichtspunkte über die Notwendig- 
keit eines planmäßıgen Vorgehens bei Sanierungs- und Verschöne- 
rungsarbeiten, die er der Stadt Brüssel vorschlägt. Aber das bemer- 
kenswerte Buch ist seiner Zeit um 40 Jahre voraus. 

Allerdings sehen wir in der Zeit von 1848 bis 1856 die öffentlichen 
Gewalten die Kommunalverwaltungen wiederholt und doppelt ein- 
dringlich zur Sanierung der volkreichen Viertel, der Häuser und der 
Straßen, anhalten. 

1848 wünscht der Minister des Innern, Rogier, sogar die Bil- 
dung eines besonderen Ausschusses zu dem Zwecke, die Regierung 
über die nötigen Arbeiten und über die Forderungen der Hygiene 
in den einzelnen Gemeinden zu unterrichten. 

1849 kam dieser Ausschuß zustande in Gestalt des Conseil Supé- 
rieur d'Hygiène. Im gleichen Jahr verlangte Minister Rogier von den 





Belgische Arbeiterwohnungen. 149 


Gemeinden die Schaffung eines Spezialfonds für Sanierungsarbeiten 
und ermutigte die Gründung von Arbeiterwohnungs-Gesellschaften. 
Wie den Gemeinden, so wird auch diesen Vereinigungen finanzielle 
Unterstützung seitens der Regierung versprochen. 

Auch die Wohltätigkeitsverwaltungen (bureaux de bienfaisance) 
werden ermächtigt, einen Teil ihres Vermögens auf den Bau von Ar- 
beiterwohnungen zu verwenden; und endlich werden besondere Sau- 
berkeitsprämien: »les prix de propreté et de bonne tenue des maisons«, 
eingesetzt, die alljährlich von den Kommunen an die Familien ver- 
teilt werden sollen, die während des ganzen Jahres die meiste Sorg- 
falt auf die innere Sauberkeit ihrer Wohnung verwandt hätten. 

Ein weiterer ministerieller Erlaß aus dem Jahre 1850 beschäftigt 
sich mit der Frage der Volksbäder und sonstiger sanitärer Einrich- 
tungen, die nach der Meinung des Ministers in das Ressort der Kom- 
munalverwaltungen, Wohltätigkeitsverwaltungen und Hospizien ge- 
hören und von der Regierung nur »snach Maßgabe der ihr zur Ver- 
fügung stehenden Ressourcen« unterstützt werden können. 

Im übrigen stellt es der Minister den Gemeinden anheim, bau- 
polizeiliche Vorschriften zu erlassen oder sich an das vom Conseil 
supérieur d'hygiène ausgearbeitete vorzügliche »Reglement sur les 
constructions et la voiriee zu binden. Mehrere Gemeinden nahmen 
es auch án; aber es wäre kühn, zu behaupten, daß sie es befolgten. 

So sehen wir denn in der Mitte des vorigen Jahrhunderts schon 
dasselbe Schauspiel, das uns noch das Belgien unserer Tage bietet: 
In diesem klassischen Lande des Partikularismus scheitern die edelsten 
Absichten, die schönsten Pläne, die besten Wünsche der Regierung 
an der kommunalen Autonomie. Und noch ein anderes Charakteri- 
stikum des öffentlichen belgischen Lebens springt in die Augen: die 
belgische Bestechungserziehung. Wenigstens uns Preußen, bei denen 
ja, wie behauptet wird, auch im polizeilichen Leben »der Apfel nicht 
neben der Rutes zu liegen pflegt, berührt es immer wieder seltsam, zu 
erleben, wie der Belgier von der Mutterschürze bis zur Universität, 
ja bis ins öffentliche Leben hinein, immer wieder den einen Stimulus 
braucht: die Belohnung, den Preis, die Prämie, die Dekoration. 

Auf Wunsch des Ministers Rogier organisiert der Conseil supérieur 
dhygiene einen allgemeinen Hygienekongreß, der im Jahre 1852 
in Brüssel zusammentritt. Mit diesem Kongreß, der sich hauptsächlich 
mit der Frage der Arbeiterwohnungen beschäftigte, treten wir sozu- 
Sagen in den Advent der belgischen Arbeiterwohnungsgesetzgebung 
ein, 


HI. Die neue Gesetzgebung. 


Hatte man bisher noch nicht so recht gewußt, wie”man all die 
schönen Pläne und guten Absichten verwirklichen sollte (denn Duc- 
petiaux’ kühne Vorschläge waren, wie gesagt, ihrer Zeit voraus), so 
nahmen sie von nun ab am Vorbilde Englands und an den Arbeiten 
des Engländers Henry Roberts festere Gestalt an. 


150 C. K. Zimmermann, 


1856 tagte in Brüssel ein Wohltätigkeitskongreß (Congrès de 
bienfaisance), der sich wiederum eingehend mit der Wohnungsfrage 
beschäftigte. Es sei mir gestattet, aus der von dem anwohnenden 
Henry Roberts inspirierten Resolution dieses Kongresses ein paar 
Sätze zu zitieren: Ä 

»Der Kongreß erneuert den Wunsch, daß die Philanthropen aller 
Länder ihre Aufmerksamkeit der Verbesserung des Loses der arbeiten- 
den Klasse zuwenden unter dem dreifachen Gesichtspunkt der Er- 
ziehung zur Sparsamkeit, zur Hygiene, zur Moralität .... 

»Er empfiehlt besonders: die Schaffung von Vereinigungen 
zum Bau und zur Sanierung von Arbeiterwohnungen nach dem Vor- 
bilde der zu diesem Zweck in England, in Preußen (Berlin), in den 
Niederlanden, in Toscana, in Frankreich (besonders in Paris und Mül- 
hausen) und in anderen Ländern konstituierten Gesellschaften, deren 
Hauptzweck ein ausgesprochen philanthropischer ist und deren 
Aktionäre nur eine mäßige Dividende beanspruchen . . .« 

Am Schlusse erklärt der Kongreß, daß es für das öffentliche Leben 
von Wichtigkeit sei, daß die Arbeiter auf alle Weise aufgeklärt wer- 
den — besonders auch über alles, was die Verbesserung und die gute 
Instandhaltung ihrer Wohnungen anbelangt; ferner erklärt er, »daß 
der Unterricht der Arbeiterjugend alles einschließen müsse, was sich 
auf die Hygiene der Wohnung und der Person, auf Aufklärung über 
die Wohltaten einer guten Ventilation und die möglichen bösen Fol- 
gen der Feuchtigkeit bezieht. Er erklärt endlich, daß die Hygiene 
eine Wissenschaft ist, die jedem zugänglich ist (qui est à la portée 
de tous)«. 

Indessen gelang es allmählich auch Ducpétiaux, einen größeren 
Kreis von Privatleuten, darunter den Grafen Arrivabene und Visschers 
für den Plan einer Arbeiterwohnungsgesellschaft in seinem Sinne 
zu gewinnen. Aber der Minister des Aeußeren wollte die Statuten 
nicht genehmigen, da das Gesetz es nicht zulasse. Ducpétiaux er- 
suchte durch Vermittlung des Conseil supérieur d’hygiene um Ab- 
änderung des Gesetzestextes; aber mehrere Jahre sollten noch ver- 
streichen, ehe diese gesetzgeberische Operation vollzogen wurde. 

Statt dessen erfolgte 1858 das Gesetz über die Enteignung (ex- 
propriation par zone), dessen $ r bestimmt: 

»Wenn es für die Sanierung eines Viertels nötig ist, Straßen oder 
Sackgassen zu öffnen, erweitern, verlängern oder deren Richtung zu 
ändern, öffentliche Plätze einzurichten oder-zu vergrößern, einen 
Kanal oder Wasserlauf zu graben, vertiefen, erweitern oder auszu- 
wölben, autorisiert die Regierung, auf Anfrage des Gemeinderats 
hin (gemäß Gesetzen vom 8. Ill. 1810 und 17.1V. 1835), die Enteignung 
aller Terrains, die für den öffentlichen Weg und für die im allgemeinen 
Plan der entworfenen Arbeiten einbegriffenen Konstruktionen be- 
stimmt sind.« 

Dieses Gesetz, das durch Zusätze 1867 erweitert wurde, hat bei 
allen besten Absichten nur den Erfolg gehabt, die bestehenden Ver- 
hältnisse zu verschlimmern. Die große Enquête von 1886 hat darüber 





Belgische Arbeiterwohnungen, I5I 


erschütternde Aufschlüsse gebracht: Ueberall, besonders in Brüssel, 
wo solche Enteignungen und Niederlegungen volkreicher Viertel 
vorgenommen worden waren, hatte man nicht daran gedacht, einen 
Ersatz an billigen Wohnungen zu schaffen, und so waren die Woh- 
nungsverhältnisse infolge der Zusammendrängung der heimlos Ge- 
wordenen in den entlegenen Vierteln statt besser viel schlimmer 
geworden. 

Der belgische Gesetzgeber war eben noch nicht in der Lage, die 
ganze Tragweite seiner Maßnahmen und Aufgaben zu überblicken. 
Die Reformidee wirkte weiter in den Köpfen einzelner ; von Ducpétiaux 
dem Sozialpolitiker, sprang sie über auf Fumiere, dem Architekten, 
vom Manne der Theorie über auf den Mann der Praxis. Idee und 
Form fanden sich, und es entstand: die erste gesetzlich anerkannte 
belgische Arbeiterwohnungs-Gesellschaft in Verviers. Das Geburts- 
jahr dieser Gesellschaft war 1861; der eigentliche Akt, der ihm zum 
Leben verhalf, aber war 1859 das Erscheinen von Fumieres 
Broschüre: »Du moyen d’ameliorer le sort de l’ouvrier an lui donnant 
les facilités de devenir propriétaire d’une jolie maison avec jardin, 
sans mise premiere de fonds.« Fumiere zeichnet darin den Plan 
eines Hauses mit Gärtchen, schätzt die Kosten auf 2500 Frs. und 
macht den Arbeiter zum sofortigen Eigentümer. Der Kaufpreis soll 
durch Annuitäten von 200 Franken in 15 Jahren aufgebracht werden 
und der Inhaber von Anfang an Eigentümer seines Hauses sein. 

»Der so in das Herz des Arbeiters gepflanzte Ehrgeiz, ein ehrlich 
erworbenes Eigentum zu besitzens«, heißt es auf einer der letzten Seiten 
der Broschüre, smuß heilsame Früchte in seinem Geist und seinen 
Sitten zeitigen, ihn zum Sparen ermuntern und ihn von gefährlichen 
Ausgaben abhalten«. 

Wie ein Blitzstrahl zündete das Werkchen in den Kreisen der 
Industriellen und Philantrophen der Stadt Verviers, und im Jahre 
186r wurde die Gesellschaft, die erste der Provinz und des Landes, 
gegründet. Sie verteilt 4 % Dividende und hat bis zum Jahre 1909 
88 Häuser gebaut. Jedes Haus bedeckt eine Fläche von 40—44 qm, 
Hof und Garten 100—120 qm. Im Erdgeschoß und auf dem I. Stock 
sind je 2 Zimmer und außerdem 2 Mansarden. Der Burchschnitts- 
wert ist 4—5000 Frs. Das Terrain kostet 4—4,50 Frs. pro qm, und 
die Annuitäten schwanken zwischen 4 und 500 Frs.; außerdem ver- 
langt die Gesellschaft (alles im Widerspruch eigentlich mit dem 
Fumiereschen Plan) eine bare Anzahlung von 1200 — 1500 Frs. 
und macht es dem Arbeiter erst nach Verlauf von 17 — ı8 Jahren 
möglich, Besitzer seines Hauses zu werden. 

Es ist klar, daß nur die Elite der Arbeiterklasse den Bedingungen 
dieser Gesellschaft nachkommen kann; daher denn auch das kläg- 
liche Ergebnis. 

Indessen begünstigte die Regierung diese Anfänge einer Lösung 
der Arbeiterwohnungsfrage durch Entgegenkommen gegen die ent- 
stehenden Gesellschaften. Die Jahre 1862, 69, 7I, 73, 75 brachten 
Finanzgesetze, die den »societes ayant pour objet la construction, 


152 C. K. Zimmermann, 


lachat, la vente ou la location d’habitations destinées aux classes 
ouvrieres« weitgehende fiskalische Vergünstigungen brachten. 

Es leuchtet ein, daß die Tätigkeit der paar Gesellschaften, ebenso 
wie die der Unternehmer, immer nur einen Tropfen auf einen heißen 
Stein bedeuten konnte. Im Jahre 1885 zählte man 7 Gesellschaften, 
die im ganzen 1710 Häuser für 5547 Einwohner gebaut hatten, wäh- 
rend die von den Arbeitgebern für ihre Arbeiter erbauten Wohnungen 
im Jahre 1869 für ganz Belgien sich auf 4248 beliefen. Was will das 
aber heißen, wenn man bedenkt, daß allein beim Kohlenbergbau rund 
100 000 Arbeiter beschäftigt sind! Die allgemeine Lage war schlecht, 
hoffnungslos schlecht, und die Intelligenz unter den Arbeitern war 
und wurde sich dessen immer tiefer bewußt. Diese Erkenntnis drängte 
die Arbeiter aneinander. Aus ähnlichen Gründen, wie die, die im 
Mittelalter zur Schatfung der Zünfte der Weber und Walker gedrängt 
hatten; aus dem gleichen verworrenen Sehnen heraus, wie es im Zeit- 
alter der Renaissance das Arbeiterproletariat dem Calvinismus zuge- 
führt hatte; aus all diesen Entbehrungen und Illusionen entstand 
auch dieses Mal die Organisation. 1885 war in Brüssel die sozial- 
demokratische Arbeiterpartei, »le parti ouvrier«, gegründet worden. 
Zwar hatte schon seit den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts 
der Sozialismus in Belgien festen Fuß gefaßt; aber erst mit der straffen 
Organisation, mit Gründung des »parti ouvrier« wurde er im belgischen 
öffentlichen Leben der mächtige Faktor, der.er noch heute ist. 

Es kann nicht meine Aufgabe sein, den Wegen, Erfolgen und 
Mißerfolgen des belgischen Sozialismus nachzugehen oder zu unter- 
suchen, inwieweit auch hier die Parteischablone die ursprüngliche 
Reinheit der Idee getrübt hat. Mir ist es nur wichtig zu wissen, daß 
der große Streik von 1886, der der Regierung über die Notlage der 
Bergwerksarbeiter erst die Augen öffnete, ohne diese mächtige 
Organisation nicht möglich gewesen wäre. 

Freilich dauerte es danach noch 3 Jahre, bis das berühmte bel- 
gische Arbeiterwohnungsgseetz herauskam; aber diese drei Jahre be- 
reiteten durch die Gründung der Commission du Travail und durch 
zwei große Enqu£ten die neue Gesetzgebung vor. Und so stehen die 
Daten 1885:eGründung des parti ouvrier; 1886: der große Streik 
und die Bergwerksenquete; 1889: das Arbeiterwohnungsgesetz im 
engsten geistigen Zusammenhang. 


IV. Das Gesetz von 188ọ. 


Im Exposé des motifs dieses Gesetzes sagt der Finanzminister 
Beernaert über die vorhergehenden Jahre: »Während die Commission 
du Travail die Arbeiterwohnungsfrage zum Gegenstande ihrer aktiv- 
sten Forschungen machte, gab sich der Conseil supérieur d’hygiene 
unter Beihilfe der kommunalen Behörden und der medizinischen 
Komitees (commissions médicales) einer eingehenden Enquête über 
die Arbeiterwohnungen in den Städten und Industriezentren wie auch 
auf dem Lande hin .. « 


ar a 


j 





Belgische Arbeiterwohnungen. 153 


»ŒEs ist unmöglich«e, meint der Minister, sdie beklagenswerten 
Zustände aus den Enquêten zu ersehen, ohne zugleich die dringende 
Notwendigkeit besserer gesetzlicher Maßnahmen als der in Kraft 
stehenden einzusehen.« 

So kam denn also im Jahre 1889 jenes monumentale Arbeiter- 
wohnungsgesetz zustande, vor dessen »glücklichem Organismus«, 
vor dessen swunderbarer Konzeption« noch heute die belgischen Be- 
amten bewundernd stehen, während Männer der sozialen Praxis kopf- 
schüttelnd meinen: 

»La montagne en travail 
Accoucha d’une souris !« 
Der kreißende Berg 

Gebar eine Maus. 

Doch nehmen wir unser Urteil nicht vorweg. Betrachten wir den 
Organismus des Gesetzes. Es geht von dem plausiblen Gedanken aus, 
die Ersparnisse der mittleren Klassen der Gesellschaft, die in der 
Sparkasse angelegt sind, den Sparsamen der unteren Schicht zugute 
kommen zu lassen: so nämlich, daß die Sparkasse die bei ihr angelegten 
Gelder den Arbeiterwohnungsgesellschaften zuwendet. — Die Erspar- 
nisse der mittleren Schicht bauen der unteren sozialen Schicht den eigenen 
Herd. Zwischen diese beiden bescheidenen tritt, um der ersten die 
Garantie zu bieten, daß er von dem der zweiten gemachten Dar- 
lehn nichts verlieren wird, die wohlhabende Klasse, die einerseits 
ihre intellektuelle Hilfe bietet, um die Beziehungen zwischen Dar- 
lehnsgeber und Darlehnsnehmer herzustellen, andererseits ihre finan- 
nelle Hilfe, um die Verwirklichung zu garantieren. 

Gewiß, in der Idee ist diese Konzeption wundervoll wie ein Akt 
ausgleichender Gerechtigkeit. Aber in der Praxis hing alles von dem 
Maß der Anstrengung jedes der drei beteiligten Faktoren ab: der 
Generalsparkasse, der Arbeiterwohnungsgesellschaften und der Woh- 
nungsschutzausschüsse (Comités de Patronage). 


a) Die Wohnungsschutzausschüsse. 


Die Befugnisse der Wohnungsschutzausschüsse, mit denen sich 
$$ 1—4 des Gesetzes beschäftigen, charakterisiert M.,Melot im Ex- 
posé des motifs: 

»Die Wohnungsschutzausschüsse konzentrierten in ihren Händen 
die Sorge für die Hauptinteressen der Arbeiter ..., ihr Wirkungskreis 
greift also über die Wohnungsfrage hinaus.« 

Sie werden zunächst«, so fährt Melot fort, »die Funktionen eines 
Hygiene-Ausschusses ausüben, indem sie die Salubrität der von Ar- 
beitern bewohnten Häuser und die Hygiene der Lokalitäten, die fast 
ausschließlich von Arbeitern bewohnt werden, überwachen ($ I, B), 
und indem sie durch Ratschläge oder Berichte an die Behörde in 
der Veberwachung der Konstruktionen tatkräftig einschreiten ($ x, A). 
Sie können Ordnungs-, Sauberkeits- und Sparsamkeitsprämien aus- 
setzen und zu diesem Zweck Schenkungen und Subsidien der öffentli- 


154 C.K. Zimmermann, 


chen Gewalten entgegennehmen ($ 2); sie werden den Autoritäten 
die von ihnen als nötig erkannten Maßnahmen vorschlagen ($ 3).« 
Dieser letzte Satz ist besonders bedeutsam zur Charakterisie- 
rung der neuen Einrichtung: die Wohnungsschutzausschüsse können 
studieren, sie können vorschlagen, aber sie haben keine ausübende 
Gewalt. Der Gesetzgeber wollte die kommunale Autonomie und die 
Kompetenz der bestehenden alten Einrichtungen respektieren. 


b) Die Generalsparkasse. 


Der zweite Träger des Gesetzes ist die Generalsparkasse. Sie 
wird durch Art. 5 ermächtigt, einen Teil ihrer disponiblen Fonds zu 
Darlehen zugunsten der Konstruktion oder des Ankaufs von Arbeiter- 
wohnungen zu verwenden, nachdem sie zuvor die Ansicht des zu- 
ständigen Wohnungsschutzausschusses eingeholt hat. 

Im allgemeinen leiht die Kasse nur durch Vermittlung einer 
Arbeiterwohnungsgesellschaft. Das System der Kautionsstellung 
durch persönliche Vermittler, das anfangs auch vorgesehen war, ist 
jetzt völlig aufgegeben. Der Zinsfuß der Darlehen wurde durch ein 
Arrêté du Conseil general aus dem Jahre 1891 auf 3 % festgesetzt; 
ein Zusatz erlaubt Reduktion auf 21, % zugunsten von Gesellschaften, 
die sich einer fortwährenden Ueberwachung durch die Kassenverwal- 
tung unterwerfen, ihre Statuten von der Genehmigung der Verwal- 
tung abhängig machen und noch mehrere ähnliche Maßnahmen über 
sich ergehen lassen wollen. 

Die Gesellschatten dürfen für ihre dem Arbeiter gewährten Vor- 
schüsse keinen höheren als den durch die Kasse approbierten Zins- 
fuß verlangen. Maximalsatz ist 4 %; ein Minimalsatz ist nirgends 
festgelegt. Ueber die Höhe der Dividende bestehen Vorschriften nur 
für diejenigen Gesellschaften, die Darlehen zum reduzierten Zinsfuß 
aufnehmen. Für diese Gesellschaften setzte die Kasse die Dividen- 
denhöchstgrenze auf 3 % fest (auf 4 %, wenn alle Aktien voll einge- 
zahlt sind). 

Diesen Dispositionen gab ein Zusatz vom Jahre 189r erst die 
volle Rundung. Das Ideal des Gesetzgebers von I88gwar es, den Ar- 
beiter gleich bei der Besitznahme zum Eigentümer seines Hauses 
zu machen. Das Gesetz wendet sich an den Elitearbeiter, der schon 
einen Teil der Kaufsumme erspart hat. Natürlich bietet dieser Arbeiter 
dem Gläubiger außer der materiellen Garantie auch eine moralische. 
Ohne eine fühlbar größere Summe als seine gewöhnliche Miete zu 
zahlen, konnte dieser Arbeiter in 20 bis 21 Jahren den Rest der Kauf- 
summe zurückgezahlt haben. 

Aber es blieb in diesen Dispositionen eine Lücke: wie, wenn der 
Tod vor völliger Rückzahlung des Kapitals eintrat? Diese Lücke hat 
M. de Smet de Nayer ausfüllen wollen durch die Verordnungen, die 
heute den Art. 8 des Gesetzes bilden. 

Dieser Artikel nämlich ermächtigt die Sparkasse, Lebensver- 
sicherungsverträge abzuschließen, um die Rückzahlung der zwecks 


PER 
epin 


Belgische Arbeiterwohnungen. 155 


Konstruktion oder Ankauf eines Hauses bewilligten Darlehen in 
einer bestimmten Frist zu garantieren oder beim Tode des Ver- 
sicherten, falls dieser vor Ablauf der Frist eintritt. Die Versicherungs- 
prämie, die der Arbeiter zu zahlen hat, beträgt nach dem Tarif von 
1891 für einen 25jährigen Arbeiter bei einem rückzuzahlenden Kapital 
von 1000 Frs. = jährlich 74,16 Frs. = 7,416 % während 25 Jahren. 
Da der Zinsfuß 4 % beträgt, so stellt die Versicherung 3,416 % dar. 
Will man aber die wirkliche jährliche Mehranstrengung des Arbeiters 
feststellen, so muß man diese Summe mit der Annuität vergleichen, 
die nötig wäre, um ein Kapital von 1000 Frs. zu 4 % in 25 Jahren 
zrückzuzahlen = 64,01 Frs. Die Differenz von 10,15 Frs. (74,16 
= 64,01) = 1,015 % des entlehnten Kapitals stellt also die tatsäch- 
liche Mehranstrengung des Arbeiters dar. 

Immerhin konnte diese Versicherung lästig erscheinen. Hatte 
sie doch den Nachteil, daß der Arbeiter, der jährlich die Zinsen seines 
Kapitals plus Versicherungsprämie zahlte, seine Schuldsumme nicht 
kleiner werden sah. Die Rückzahlung des Vorschusses geschah durch 
die Versicherung bei Verfall des Kontraktes oder beim Tode des 
Versicherten. Die Gesellschaften fanden es oft schwierig, ihren Schuld- 
nern den etwas komplizierten Mechanismus dieser Operation klar 
zu machen. 

Daher erfand die Sparkasse eine neue Versicherungskombination. 
Der Entlehner zahlt durch konstante Annuitäten das ihm von der 
Gesellschaft gewährte Darlehn zurück. Gegen Zahlung einer einzigen 
Prämie, die von der Gesellschaft vorgeschossen und im Kapital in- 
korporiert wird, deckt dagegen die Versicherungskasse den beim Tode 
des Schuldners etwa noch stehenden Saldo des Darlehns. Dieser neue 
Tarif, Tarif VII genannt, wurde 1904 dem Gesetze angegliedert. 

Nehmen wir das Beispiel von oben: Darlehen 1000 Frs.; Dauer 
25 Jahre; Alter 25 Jahre; so wäre die jährlich zu zahlende Summe 
nach den neuen Bedingungen 72,89 Frs. (statt 74,16 Frs.); die Mehr- 
anstrengung des Arbeiters betrüge also nur noch 8,97 Frs. = 0,897% 
des Kapitals. 

Aber nicht nur für den Arbeiter, auch für die Wohnungsgesell- 
schaften ist der neue Tarif von Vorteil: das mechanische Spiel der 
Amortisation führt ihnen Ressourcen zu, die es ihnen erlauben, die 
Höhe und Häufigkeit ihrer Anleihen bei der Sparkasse zu vermindern. 
Vorzüge bietet das neue System auch in bezug auf die durchsichtige 
Klarheit der Buchführung, Wie es N. Hankar, der Generaldirektor 
der Sparkasse, sagte: 

sLa société preteuse trouvera donc dans l'adoption du système 
proposé des avantages appréciables: grande simplicité de ses opé- 
rations sans nulle atteinte portée à sa puissance d’action.« 

Die Lebensversicherung ist nicht obligatorisch, aber sie ist die 
Regel. Sind doch die Tarife der Gesellschaften heute so eingerich- 
= daß der Arbeiter nur noch die Operation mit Versicherung 

ennt, 


156 C.K. Zimmermann, 


c) Die Wohnungsgesellschaften. 


Nachdem wir so die den Schutzausschüssen und der General- 
sparkasse durch das Gesetz zugedachte Rolle näher betrachtet haben, 
wenden wir uns dem dritten wichtigen Träger des Gesetzes, den 
Wohnungsgesellschaften, zu. Sie sind entweder Kreditgesellschaften 
oder Konstruktionsgesellschaften. Erstere sind bedeutend in der 
Ueberzahl, ihre Klienten werden sofort Eigentümer und können 
selbst den Bauplatz aussuchen und die Bauart bestimmen. Doch 
müssen sie wenigstens !/,, des Wertes des Immobils bar anzahlen 
und außerdem die verschiedenen Kosten (Grund- und Gebäudesteuer, 
Notarkosten) selber tragen. Viele Arbeiter können das nicht. Ihnen 
helfen die Konstruktionsgesellschaften. Sie vermieten Häuser, mit 
dem Versprechen, sie den Mietern zu verkaufen und erleichtern ihnen 
so den Erwerb des !/iọ-Wertes (die gezahlte Miete wird als Baran- 
zahlung angesehen), mit dem sie sich an eine Kreditgesellschaft wenden 
können. Besonders in den großen Industriezentren sind diese Kon- 
struktionsgesellschaften am Platze. 

Was den Charakter der Gesellschaften anbetrifft, so unterscheidet 
man sociétés anonymes und sociétés coopératives. Die ersteren räu- 
men den wohlhabenden Klassen einen gewissen Einfluß ein, benützen 
die Mitwirkung derer, die das Geschick des Arbeiters verbessern 
möchten und glauben so an der Annäherung der sozialen Schichten 
zu arbeiten. Die sociétés coopératives dagegen entwickeln die Initia- 
tive des Arbeiters und arbeiten dadurch unmittelbarer an seiner 
intellektuellen und moralischen Hebung. 

Während die Sparkasse fordert, daß der Arbeiter wenigstens 
1/0 des Wertes des hypothekierten Immobils besitze, haben die Ge- 
sellschaften die Tendenz, mehr zu verlangen, und viele schießen nur 
noch ho oder ®/ıo, einige sogar nur !/,der Hypothekargarantie vor. 

Ueber die Persönlichkeit der Kunden der Gesellschaft stellt 
die Sparkasse Vorschriften nur auf, wenn es sich um den Erwerb 
eines schon gebauten Arbeiterhauses handelt: In diesem Falle darf 
der Erwerber nur ein Arbeiter oder eine »einem Arbeiter ähnliche 
Person« (Briefträger, Bahnschaffner) sein. Soll das Haus erst gebaut 
werden, so ist die Persönlichkeit des Darlehnsnehmers belanglos; 
es genügt, daß das zu bauende Haus dazu bestimmt ist, ihm als Wohn- 
haus zu dienen. 

Ueber die Dauer der Kontrakte gibt es keine bindende Bestim- 
mung. Die Regel ist jetzt 20—25 Jahre. 


d) Die fiskalischen Vergünstigungen. 


Damit hätte ich die Betrachtung des belgischen Arbeiterwoh- 
nungsgesetzes zum Abschluß gebracht — bis auf einen letzten wich- 
tigen Punkt: die fiskalischen Vergünstigungen, die es unter bestimm- 
ten Voraussetzungen für die von Arbeitern bewohnten Häuser vor- 


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Belgische Arbeiterwohnungen. 157 


sieht. Im einzelnen bestehen diese Vergünstigungen in der Ermäßi- 
gung der Registergebühren bei der Grundbucheintragung und in der 
Befreiung von der Grund- und Gebäudesteuer und allen analogen 
Provinzial- und Kommunalsteuern. 

Auch eine ganze Reihe mancherorts gebräuchlicher weiteren 
steuerlichen Entlastungen der kleinen Hauseigentümer (wie Befreiung 
von den kommunalen Bau-, Kanal-, StraBenbausteuern, oder Vorzugs- 
tarife für das Abonnement aufs Wasser) entspringen der Initiative 
des Gesetzes, wenn sie auch nicht in seinem Wortlaute einbegriffen 
sind. Liest man doch im Ministerialzirkular von 1889: »Es ist Sache 
der Gemeinden, diese gesetzlichen Vergünstigungen zu erweitern ... 
Die Regierung wird alle w iteren Maßnahmen in diesem Sinne zu- 
lassen . 


V. Die Entwicklung des belgischen Wohnungs- 
wesens auf Grund des Gesetzes von Iß8ß8g. 


Das also ist im großen und ganzen der »glückliche Organismus«, 
die swunderbare Konzeptione des belgischen Arbeiterwohnungs- 
gesetzes vom Jahre 1889: Die Ersparnisse der mittleren Klassen 
der Gesellschaft, die in der Sparkasse angelegt sind, fließen durch 
die Arbeiterwohnungsgesellschaften den Sparsamen in der unteren 
Schicht des Volkes zu und bauen ihnen den eigenen Herd, während 


in den Wohnungsschutzausschüssen die Elite — Männer der Praxis 


und Männer der Wissenschaft, Beamte, Arbeiter und Architekten — 
durch finanzielle und geistige Hilfe das große Werk fördern. 

Wenn man zu den eigentlichen Arbeitern die Handwerker, Werk- 
meister, Briefträger und kleinen Beamten hinzuzählt, die etwa 15 % 
der Klienten der Kreditgesellschaften ausmachen, so kann man schät- 
zen, daß in den Jahren 1890—1908 die Zahl der kleinen Hauseigen- 
tümer in Belgien um ca. 85—90 000 gewachsen ist — gewiß ein ganz 
tespektabler Erfolg des Gesetzes. Und man versteht den berechtigten 
Stolz, mit dem Delvaux de Fenffe, der Gouverneur der Provinz Lüttich, 
bervorhebt, daß »niemals in einem Lande in so kurzer Zeit ein solches 
Resultat erzielt worden« sei. 

Daß man andererseits auch den schmerzlichen Spott berechtigt 
finden kann, mit dem ein Mann der sozialen Praxis, wie Cuylits in 
Brüssel, dieses Gesetz mit jenem kreißenden Fabelberge des Alter- 
tums vergleicht, dem es nach all seinen großen Vorkehrungen schließ- 
lich doch nur gelingt, »ridiculus mus« hervorzubringen — daß, meine 
ich, auch diese Skepsis berechtigt erscheinen kann, davon werden 
wir im Laufe unserer Untersuchung noch zu reden haben. Nur an- 
deuten möchte ich es an dieser Stelle, um einer allzu kritiklosen Auf- 
nahme der großen Zahlen und scheinbar großen sozialen Werte vor- 
zubeugen, die uns beim Ueberschauen der Entwicklung des belgi- 
schen Wohnungswesens auf Grund des Gesetzes von 1889 blendend 
in die Augen springen. 


158 C.K. Zimmermann, 


a) Unmitelbare Wirkungen des Gesetzes. 


Nach dem Jahresbericht von IgI2 hatdie Generalsparkasse von dem 
Inkrafttreten des Gesetzes am 9. August 1889 bis zum 31. Dezember 
19I2 im ganzen 103 267 317 Franken Vorschüsse gewährt, und so 
die Konstruktion oder den Erwerb von ungefähr 57500 Arbeiter- 
häusern ermöglicht. 

Die Zahl der Arbeiterwohnungsgesellschaften, deren es in jedem 
Bezirk eine oder mehrere gibt, belief sich am 31. Dezember Igı2 auf 
176; davon hatten 131 Kreditgesellschaften bei der Sparkasse einen 
Kredit von 85 175 114,53 Franken und 36 Konstruktionsgesellschaften 
enien Kredit von 3985 471,19 Franken in Anspruch genommen. 

Von 57 500 Häusern, die seit 1890 durch Vermittlung der Spar- 
kasse gebaut wurden, sind 57 130 durch die Wohnungsgesellschaften 
errichtet; die übrigen verdanken ihre Entstehung dem Eingreifen 
der Kommunen, Hospizien oder Wohltätigkeitsbüros, die durch das 
Gesetz ebenfalls ermächtigt sind, die Hilfe der Sparkasse für diesen 
Zweck in Anspruch zu nehmen. Von dieser Ermächtigung haben die 
öffentlichen Körperschaften allerdings nur in den seltensten Fällen 
Gebrauch gemacht. Im allgemeinen unterstützen sie das Werk in der 
Weise, daß sie Aktionäre der Arbeiterwohnungsgesellschaften werden. 
Nur eine Gemeinde, St. Gilles-lez-Bruxelles, konstruiert selbst Viel- 
wohnungshäuser. 

Die Hilfe des Staates besteht hauptsächlich in den fiskalischen 
Vergünstigungen. Nach den (vielleicht unvollständigen) Angaben 
belief sich das Aktienkapital aller öffentlichen Körperschaften bei 
den Arbeiterwohnungseesellschaften (bis 1908) auf 5 625 250 Franken; 
die Summe der Abgaben, auf die der Staat zugunsten der Arbeiter- 
wohnungen verzichtete, belief sich für die Jahre I8go—ıg06 auf 
28 504 842,76 Franken; davon stellen 23 437 488,40 Franken den 
Steuererlaß für 195 136 (im Jahre 1907) von der Grund- und Gebäude- 
steuer befreiten Arbeiterwohnungen dar. Heute präsentieren die 
jährlichen Steuererlasse des Staates eine Summe von mehr als 3 Mil- 
lionen Franken. Außerdem gewährt der Staat verschiedene Subsidien, 
so im Jahre 1909 den Arbeiterwohnungsschutzausschüssen 35 494,58 
Franken, dem Verein zur Verbesserung der Arbeiterwohnungen in 
Brüssel 3000 Franken und verschiedenen ähnlichen Veranstaltungen 
weitere 2665 Franken, also in Summa 4I 159,58 Franken. 

In analoger Weise wirken die Provinzen durch steuerliche Ver- 
günstigungen, die man auf rund 2!/, Millionen Franken im Jahre 
veranschlagt hat, und durch Subsidien besonders an die Wohnungs- 
schutzausschüsse. So finden sich im Budget für ıgıo in den einzelnen 
belgischen Provinzen diese Posten: 

Antwerpen: 4500 Franken Zuschußan die Wohnungsschutzausschüsse. 
Brabant: gooo Franken Zuschuß an die Schutzausschüsse ; 
500 Franken an die Arbeiterwohnungsgesellschaften ; 
500 Franken für den nationalen Wohnungskongreß in 
Brüssel 1gIo bei Gelegenheit der Weltausstellung. 


nn mn 


Belgische Arbeiterwohnungen. 159 


Westflandern: 1000 Franken ZuschuB an die Schutzausschüsse. 

Ostflandern: 1000 Franken als Prämie für solche Personen, die mit 
einer Wohnungsgesellschaft einen Kontrakt mit Le- 
bensversicherung abgeschlossen haben. 

Was nun die Wohnungsschutzausschüsse selber angeht, deren 
es heute in Belgien 56 gibt, so erscheint es ganz unmöglich, ihr Arbeits- 
feld mit ein paar scharfen Zügen fest zu umreißen. Ihre Tätigkeit 
ist außerordentlich vielseitig: sie manifestiert sich in Vorträgen, in 
der Beratung der Arbeiter und der Verwaltungen, in der Veröffent- 
lichung von Propagandabroschüren, in der jährlichen Herausgabe 
eines Jahresberichts über die Entwicklung der Arbeiterwohnungen 
ihres Bereiches usw. Obwohl das Gesetz ihnen keine eigene Gewalt 
beilegt, sind sie dennoch ein wichtiger Faktor im sozialen Leben 
Belgiens und werden von der Regierung in allen Wohnungsangelegen- 
heiten zu Rate gezogen. 

Nimmt man zu alledem noch die weitgehende Wohnungsfür- 
sorge vieler industriellen Unternehmungen in Belgien, die sich teils 
im Bau von Häusern für die eigenen Arbeiter, teils in der Gewährung 
von niedrig verzinsten Darlehen zu Bauzwecken und teils in der Unter- 
stützung der Arbeiterwohnungsgesellschatten äußert, so gewinnt 
man leicht den Eindruck, als sei in Belgien eigentlich im großen und 
ganzen die Wohnungsfrage gelöst. Auch von einer flüchtigen Reise 
durch das Land nimmt man unbedingt den Eindruck mit, daß in 
Belgien auch in den Städten das Ideal des Kleinhauses, des Ein- 
Familienhauses, verwirklicht ist. Bestätigt findet man diesen Eindruck 
scheinbar in der Wohnungsstatistik — soweit von einer solchen in 
Belgien die Rede sein kann. So betrug nach dem Annuiare Sanitaire 
für 1912 die Zahl der Bewohner pro 100 Häuser in ganz Belgien im 
Jahre 1900 = 503, in Jahre 1910 = 483; die Zahl der Haushaltungen 
pro 100 Häuser im Jahre 1900 = I17;im Jahre I9I0 = IQ. Mit andern 
Worten: nach der Statistik scheint es, daß in Belgien das Durch- 
schnittshaus von ı Familie zu 5 Personen bewohnt ist. Auch das Ver- 
hältnis zwischen Lohn und Miete scheint nicht ungünstig. Nach der 
Tabelle von Kaempf in der Zeitschrift Soziale Kultur, worin er die 
Lebenshaltung der Arbeiterschaft in den Hauptindustriestaaten ver- 
gleicht, schneidet Belgien nicht schlecht ab. Kaempf nimmt Eng- 
land als Einheit und errechnet u.a. für Deutschland eine Lohnhöhe 
von 0,83, für Belgien von 0,63; dagegen betragen in Deutschland die 
Mietkosten für eine Wohnung von 2 Zimmern (immer England als 
Einheit angesehen) 1,23, in Belgien jedoch nur 0,74. Der deutsche 
Arbeiter wird von seinem absolut höheren Lohn also im allgemeinen 
eine absolut und relativ höhere Miete zahlen müssen als der bel- 
gische Arbeiter. Aber auch der belgische Arbeiter verwendet mindestens 
20% seines Einkommens für seine Wohnung. 


b) Kritikam Gesetze von 1889. 


Nach alledem wird es in Erstaunen setzen, wenn ich etwas 


160 C. K. Zimmermann, 


unvermittelt behaupte, daß die belgischen Arbeiterwohnungsverhält- 
nisse schlecht sind. Die Statistik gibt eben Durchschnitte; und wenn 
es wahr ist, daß in Belgien die wohlhabenden und mittleren Volks- 
schichten gut und preiswert wohnen und die unteren Volksklassen 
schlecht und teuer, so bringt die Statistik dieses Mißverhältnis auf 
eine mittlere Basis: so also, als wohnte das ganze Volk ziemlich gut 
und ziemlich preiswert. Und doch haben Durchschnitte weniger Be- 
deutung als Extreme. Und doch ist es wahr, daß %, der belgischen 
Arbeiter nicht im geringsten daran denken können, sich die Vorteile 
des Gesetzes von 1889 zunutze zu machen; daß 82 % aller belgischen 
Arbeiter unzulängliche Wohnungen haben und sie in umgekehrtem 
Verhältnis zu ihrem Wert bezahlen; daß von 36 747 belgischen Arbei- 
terhaushaltungen 13 733 — mit 50 000 Personen — in einem einzigen 
Zimmer unter den allerunhygienischsten Verhältnissen vegetieren 
müssen; daß in Brüssel z. B. 49 % aller Familien überhaupt auf 
2 Zimmern leben, und daß in dieser Stadt 62,16 % aller Arbeiter- 
wohnungen einzimmerig sind. 

Diese ärmsten der Armen sollte man ins Auge fassen, wenn man 
von den Wohnungsverhältnissen eines Landes spricht; ihre Lage erst 
gibt den Maßstab zur Beurteilung der sozialen Lage eines Volkes; 
die Besserung, die ihrem Lose zutcil wird allein ist der Wertmesser 
eines sozialen Gesetzes. Und an diesem Maßstab gemessen, schrumpfen 
trotz der großen Worte, der großen Zahlen und der großen, anerkennens- 
werten Bemühungen die Wirkungen des Gesetzes von 188g auf ein 
Minimum zusammen. Dreiviertel der belgischen Arbeiter leben von der 
Hand in den Mund und können nicht daran denken, sich die Vorteile 
des Gesetzes zunutze zumachen. Wem also hilft esim Grunde? Denen, 
die 4 oder 500 Franken haben erben oder sparen können; denen, die 
einen Lohn von 4 bıs 5 Franken haben ; denen, die ihr festes Auskommen 
haben; mit einem Wort: den Besitzenden unter dem Proletariat. In 
diesem Sinne ist es wohl verständlich, wenn ein Mann d'r Praxis, 
wie Cuylits, den gesetzgeberischen Apparat und sein Produkt mit 
jenem antiken Berg vergleicht, der eine lächerliche Maus gebar. »So- 
lange man es nicht verstehen wird«, ruft er bitter aus, »daß das Ge- 
schäft eine Sache für sıch ist und das soziale Interesse eine andere 
Sache .. .!« Und dann bringt er den alten Vorschlag, den schon 
Ducpétiaux im Anfang des vorigen Jahrhunderts brachte: Der Staat 
solle die Regelung der Frage in die Hand nehmen; der Staat soll 
seinen Arbeitern Wohnung schaffen ..... »C’est foul« sagten mir die 
meisten Belgier, mit denen ich über Cuylits’ Broschüre »La maison 
à bon marche« sprach. Aechnlich, wie man im Anfang des vorigen 
Jahrhunderts Ducpétiaux für einen sozialen Charlatan gehalten hat. 
Aber schließlich sind die, die das Unmögliche wollen, die geistigen 
Väter derer, die das Mögliche vollbringen. 

Drei Kategorien von Arbeitern sind es, so führt Cuylits aus, 
die das Gesetz von I88g nicht erreicht: 

I. die, deren Lohn 3—4 Franken beträgt; 

2. die, deren Lohn 2—3 Franken beträgt; 


PERF 


m ne >. 


Belgische Arbeiterwohnungen. 16r 


3. die, deren Lohn weniger als 2 Franken beträgt. 

Die erste Kategorie wohnt in einem, zwei oder drei Zimmern, 
je nach der Anzahl der unterzubringenden Betten. Diese Zimmer 
sind ziemlich hygienisch in bezug auf Luft und Licht; eine ziemlich 
anständige Treppe führt zu ihnen empor, und der Abort ist ziemlich 
dezent. Aber der Preis ist zu hoch — selten weniger als 20 % des 
Einkommens. Infolgedessen ist der Raum auf ein Minimum beschränkt. 
Die Küche dient meist zugleich als Schlafzimmer. »Man trete hinein 
in em solches Zimmer an einem Wintermorgen, wenn alles dicht ver- 
schlossen ist aus Furcht vor Kälte und aus Mangel an Bettdecken — 
und man wird verstehen, warum es unter den armen Leuten r0 mal 
so viel Schwindsüchtige gibt, als unter den reichen « so sagt Cuylits 
in seiner Broschüre. Und weiter ruft er aus: »Wenn man verdaut, 
wenn man schläft, wenn man niederkommt, wenn man das ganze 
volle animalische Leben wie ein Lappländer in einem Minimum von 
Raum über sich ergehen läßt, der vom menschlichen Schweiß geheizt 
wird — s> hat man viel Chancen, sich die Sauberkeit und die Hygiene 
und die Moralität der Lappländer anzugewöhnen . . .« 

Viel schlimmer noch ist die zweite Kategorie von Arbeitern 
daran, deren Tageslohn 2—3 Franken beträgt. Ihre miserablen Woh- 
nungen öffnen sich gewöhnlich nach einem dunklenHinterhof zu, vondem 
üble Düfte aufsteigen; die Decke ist niedrig, das Licht spärlich, die 
Wände feucht — es ist das Carré in all seiner abschreckenden Häß- 
lichkeit. Dabei beträgt die Monatsmiete durchschnittlich 18 Franken. 
Es ist die Erfahrung, die man überall, auch in Deutschland, macht: 
je weniger die Wohnung wert ist, desto teurer wird sie vermietet; 
je ärmer der Mieter ist, desto mehr muß er zahlen. Ein Haus, für 
welches ein Bürger 800 Franken Miete bezahlt, dasselbe Haus kostet 
einem Arbeiter zu dem Preis, zu dem er sein einziges Zimmer bezahlt, 
1440 Franken (= 20 X 6x 12), wenn das Haus aus sechs Zimmern be- 
steht und man 20 Franken als Durchschnittsmiete für ein schönes 
Zimmer im ersten Stock annimmt. Worauserhellt, daß es bedeutend 
Sparsamer ist, in einem Palast zu wohnen als in einem Loch. 

Das bekommt auch die letzte Kategorie von Arbeitern zu fühlen, 
deren Tageslohn unter 2 Franken bleibt. Diese Elenden bewohnen 
Mansarden oder Keller, unnennbare und unbeschreibliche Dinge, 
für die das Wort Loch ein Euphemismus ist. 

Was ich in dieser Art besonders charakteristisch gefunden habe«, 
erzählt Cuylits in seiner Broschüre, »ist ein gewisses Kellerloch in 
Molenbeek, das drei verschiedenen Familien als Unterkunft diente. 
Ein Kreidestrich auf dem Boden grenzte die respektiven Domänen 
gegeneinander ab. Doch erwies sich die Grenze als recht prekär — 
konnte man doch nicht mit Sicherheit feststellen, wer der verant- 
wortliche Autor des letzten Babys war, das in diesem Kaninchenloch 
geboren worden war. Donnerwetter ja — wenn es kalt war, so schlief 
man halt zusammen, Männlein und Weiblein, in einem Etwas, das 
man Bett nannte... Ein poetisches und symbolisches Detail: 
unter diesem Bett hatte man einen Kaninchenstall angelegt . . .« 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 1. | H 


162 C. K. Zimmermann, 


c) Die Arbeiterwohnungen in Brüssel. 


Man erschrickt, wenn man dergleichen liest, und möchte diese 
Dinge gern ins Reich der Fabel verweisen. Und doch gibt es das; 
und doch habe ich selber die petites soeurs des pauvres auf ihren 
Gängen durch das Brüsseler Marolle-Viertel begleitet und habe diese 
Bilder des grauenvollsten Elends mit eigenen Augen gesehen. Oben 
das sonnige, reiche, moderne Brüssel: der Park, Rue Royale, Place 
Royale, Musée Royale, der protzige Justizpalast, der größte der Welt 
und ein architektonisches Mal von unserer Zeiten Schande; unten 
in der Tiefe die Unterstadt Marolle, das Whitechapel Brüssels: ein 
unheimliches Gewirr von vielverzweigten Sackgassen, die alle unter- 
einander in geheimer Verbindung stehen, und die ungefähr alles be- 
herbergen, was durchArmut und Verderben heruntergekommen ist. Wenn 
man an einem nebligen Wintertag an der Seite der Armenschwester 
durch dieses gefährliche Viertel schreitet, dann ist es, als wenn durch 
die dunklen Gassenhöhlen das grinsende Verbrechen schliche; und 
wenn man tastend eine der wankenden, krachenden Treppen hinauf- 
steigt, so schlägt einem der Dunst des Elends entgegen, und aus der 
knurrenden Dämmerung der Wohnungen scheinen sich drohende 
Spukgestalten loszulösen. 

Diese Höhlen des Lasters und des Schmutzes sind der Herd der 
Seuchen und der Revolutionen. Wie etwas Dämonisches kauert diese 
Unterstadt des Elendes zu Füßen der opulenten Brüsseler Ober- 
stadt, zu Füßen des Justizpalastes, als sei sie jeden Augenblick bereit, 
die tausend Gefahren auszuspeien, die sich in ihr verbergen. Und die 
Oberstadt ahnt, wer da zu ihren Füßen liegt. In den letzten 10 Jahren 
hat man es versucht, eine Besserung anzustreben, und eine der ersten 
Regierungstaten des jungen Königs Albert war es, daß er die alten 
Quartiere des 18. Jahrhunderts abreißen ließ. Daß diese humanitäre 
Tat zugleich eine künstlerische Untat war, über die sich ein Rodin 
bitter beklagen konnte, — das gehört in ein anderes Kapitel. Auch in 
der Marolle hat man ganze Häuserviertel niedergelegt und eine schär- 
fere Kontrolle ausgeübt. Der Sumpf ist vielleicht räumlich etwas klei- 
ner geworden; aber dafür ist er nur um so tiefer; denn die Heimlosen 
drängen sich auf dem kleiner gewordenen Raum desto enger zusammen. 
Wer einmal in der Marolle daheim ist, der kann nicht mehr ins bürger- 
liche Leben, in einen der Brüsseler Vororte, zurück; er ist auf diese 
Löcher angewiesen, weil ihm nirgendwo sonst für ihn erschwingliche 
Wohnungen geboten werden und man auch bisher bei allem guten 
Willen bei Enteignungs- und Niederlegungsarbeiten nicht daran ge- 
dacht hat, Ersatz zu schaffen. Negative Maßnahmen allein nützen 
nichts. 

Positiv Gutes dagegen ist dank der Bemühungen der Wohnungs- 
schutzausschüsse in einigen der Arbeitervororte Brüssels geleistet 
worden: in Anderlecht, Forest, Saint Gilles und Uccle. Das größte 
Hindernis des Fortschrittes ist hier wie anderorts die absolute In- 


|. 


. [ern 





Belgische Arbeiterwohnungen. 163 


differenz des belgischen Arbeiters und seiner Familie gegenüber einem 
relativen Wohnungskomfort, der sich auch mit der Armut verein- 
baren ließe, Aber es ist wahr, was Arnould in seinen »Nouveaux élé- 
ments d'hygiène« vom belgischen Arbeiter sagt: »Der durchschnitt- 
liche Arbeiter ist unsauber sowohl was seine Person, wie auch was 
seine Wohnung anbelangt ; er weiß sich weder ordentlich zu ernähren, 
noch irgendwelche Ersparnisse zu machen; eine große Zahl huldigen 
alkoholischen Exzessen, die zwar nicht anhaltend sind, aber doch 
am Sonntag und Montag regelmäßig wiederkehren.« 

Diesen Eindruck der allgemeinen — und auch offiziellen — In- 
differenz in puncto Sauberkeit hat man vielleicht am stärksten, wenn 
man durch die alten Straßen Löwens geht. Wer den heißen Sommer 
ıgıı in Löwen verlebte, wird sein Leben lang daran zurückdenken: 
an das entsetzliche Straßenpflaster; an den bei Regentagen infolge 
der schlüpfrigen Abfälle völlig ungangbaren Markt; an die primi- 
tivsten aller sanitären Vorrichtungen, die mit einer verblüffenden 
Selbstverständlichkeit an Stellen angebracht waren, wo sie geeignet 
waren, aller Augen auf sich zu ziehen, an Straßenecken und sogar 
an der Fassade des Petersdomes; und vor allem an jene Löwener 
Düfte, die man nie wieder vergessen kann, wenn man sie einmal recht 
tief eingesogen hat: an jene unheimliche Mischung von Düften, die | 
aus der von tausend Abwässern und Abfällen verschmutzten Dyle 
und aus dem Kanal aufsteigen und über der Stadt liegen wie eine 
brütende Wolke. 

Dem Belgier aber ist das alles anscheinend selbstverständlich. 
In den Beluiken Gents, in den Arbeitervorstädten Lüttichs — überall 
fand ich ähnliche Zustände von »Natürlichkeit«. Ein gutes Beispiel 
sind die Brüsseler Vorstadtgemeinden St. Gilles, Anderlecht, Forest 
und Uccle, wo ein großer Teil der Brüsseler Arbeiter wohnt, die so 
den Vorteil der billigeren, mehr ländlichen Miete mit dem anderen ver- 
binden, in der Nähe ihrer Arbeitsstätte zu wohnen, zu der die Brüsseler 
Trams sie für 10 cents befördern. So kommt es denn, daß in diesen 
Gemeinden die Bevölkerung sehr dicht, ja, am dichtesten im ganzen 
Lande ist. Die Wohnungen sind in der Mehrzahl keine Mietskasernen, 
sondern kleine Häuser für ein oder zwei Familien. Viele davon sind 
in den letzten Jahren gebaut und für eine Durchschnittsmiete von 
300 Franken im Jahr zu haben. Immerhin ist das schon eine Summe, 
die darauf schließen läßt, daß man es in den vier Vorstadtgemeinden 
mit besseren Arbeitern zu tun hat. In Uccle und Anderlecht, wo die 
Teffains noch am billigsten sind, kostet ein Grundstück heute selten 
weniger als 2000 Franken, so daß ein Arbeiter, der selber bauen lassen 
will, über wenigstens 6000 Franken verfügen muß. In Forest werden 
wegen des steigenden Bodenwertes heute kaum noch Arbeiterhäuser 
gebaut; es wird mehr und mehr bürgerlich in Konstruktion und Be- 
völkerung; denn selbst die Miete der großen Miethäuser — deren 
es, wie gesagt, nur wenige gibt — ist für das Budget eines einfachen 
Arbeiters zu hoch. 

Trotzdem wir also in den vier Brüsseler Vorstädten ganz offenbar 

E Sa 


164 C. K. Zimmermann, 


mit dem Elitearbeiter zu tun haben, ist der Habitus der Gemeinden 
schändlich. Keine Dachtraufe, keine Gosse ; selten anständiges Straßen- 
pflaster; selten ein Mülleimer; selten einmal Straßenreinigung. Müll- 
haufen liegen vor den Häusern; Müllhaufen liegen im Grunde jeder 
Sackgasse, werden von jedem Regenguß fortgeschwemmt und ver- 
sto} fen dann die schon so spärlichen Abflußkanäle ; Müll- und Schutt- 
ablagerungen finden sich an den Böschungen der Senne und der vielen 
schmutzigen Bäche, die die Kolonien durchfließen und die Abwässer 
der Fabriken und der Haushaltungen in sich aufnehmen und so zu 
offenen, pestilent riechenden Kloaken werden. Diese Bäche und die 
Trinkwasserbrunnen sind die Brutstätten tausender von Krankh:its- 
keimen, die Träger der Cholera und des Typhus, die die Gemeinden 
oft furchtbar heimgesucht haben. So kamen von den 4031 Fällen 
von Cholera in Brüssel im Jahre 1866 auf Uccle allein 1041 Fälle; 
und erst im September-Oktober IgIO wütete wieder eine Typhus- 
epidemie dort, die aus der Stadt eingeschleppt worden war. Die Ex- 
kremente des Kranken waren auf den Misthaufen geworfen worden, 
von dem bei Regenwetter Rinnsale in einen Brunnen sickerten, sod aß 
alle, die von dem Wasser tranken, erkrankten. Solche Brunnenver- 
giftungen sind keine Seltenheiten in den Gemeinden; denn in vielen 
Fällen befinden sich die Aborte in nächster Nähe der Pumpe, so daß 
die Flüssigkeiten durch den Boden filtrieren und sich vermischen. 
Was diese Aborte selber betrifft, so sind sie — mit wenigen rühm- 
lichen Ausnahmen — nach dem Ausspruch eines Mitgliedes des Woh- 
nungsausschusses »de nature de compromettre la sureté publiques. 
Viele von ihnen sind Ruinen, einfache Löcher in der Erde, von ein m 
wurmstichigen Brett überdeckt — ohne Deckel — ohne Tür — im 
allgemeinen ganz unbeschreibliche Dinge. 

Zwar ist in jeder der vier Gemeinden ein Comité d'hygiène et 
de salubrité publique« eingesetzt worden, das dem Schöffenkollegium 
seine Berichte vorlegt, und im allgemeinen kommt der Gemeinde- 
vorstand diesen Reklamationen entgegen. Hier und da werden neue 
Kloaken angelegt und da und dort neue Straßenpflasterungen vor- 
gesehen. Baupolizeiliche Verordnungen werden erlassen — und auch 
wohl zuweilen befolgt, wie die funkclnagelneuen Türen verschiedener 
Aborte beweisen. Im Falle einer Epidemie werden die Häuser des- 
infiziert und das gesundheitsschädlich scheinende Wasser analysiert 
und zuweilen werden sozar Enteignungen vorgenommen — mit dem 
schon anderweitig beobachteten Erfolg allerdings, daß den obdachlos 
gewordenen Familien nichts anderes übrig bleibt, als in die Ach 
übrigen, schon ohnehin insalubren und dicht bevölkerten Carrés zu 
verziehen, die infolgedessen an furchtbarer Uebervölkerung leiden. 


d) Die Arbeiterwohnungen in Gent. 


Immerhin sind in diesen Brüsseler Arbeitervorstädten die Woh- 
nungsverhältnisse im großen und ganzen noch erträglich zu nennen, 
wenn man sie z.B. mit den Genter Beluiken vergleicht. Gent gilt 


-~ 


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Belgische Arbeiterwohnungen. 165 


noch heute als die Stadt, in der die Arb-iter am allerschlechtesten 
wohnen. Noch heute gibt es in Gent gegen 600 Beluiken mit über 7000 
Häusern, die zum großen Teil aus der Zeit stammen, in der diese 
Kolonien aufkamen; und sie sind natürlich seit den Enquêten von. 
1845 nicht besser geworden. Zwar hat seit 1899 ihre Zahl sich um 729 
vermindert, aber noch heute wohnen von der ganzen rund 164 000 
Seelen zählenden Einwohnerschaft Gents über 27000 d.h. 16 % 
in den Beluiken. 

Die Beluiken sind einer der malerischen Reize der Stadt, und es 
gibt unter ihnen sehr schöne Wohnungen; es gibt aber andererseits 
— und diese sind in der Mehrzahl — auch sehr schlechte, sehr bau- 
fällige Beluiken, in denen es durchs offene Pfannendach den Bewohnern 
ins Bett regnet. Doch dank der Bemühungen des Genter Wohnungs- 
ausschusses werden diese Ruinen allmählich zu Kuriositäten. Da- 
gegen stagnieren noch immer Schmutzlachen vor den Türen, noch 
immer lassen die sanitären Einrichtungen, was Reinlichkeit, Hygiene 
und Anständigkeit angeht, alles zu wünschen übrig; noch immer 
hat man die Tendenz, den Beluiken die schon so mäßige Luftzufuhr 
durch das Aufführen hoher Mauern abzusperren; und was an Luft 
noch hineindrängt, ist zum Teil furchtbar verpestet — so in einem 
Falle durch einen Bach, wohinein all der faule und stinkende Abfall 
des Operationssaales eines Krankenhauses geworfen wurde. 

Wandert man durch den ältesten Teil der Stadt, der zwischen 
Schelde und Leie eingeschlossen liegt und die größte der 26 Inseln 
ist, aus denen früher die Stadt bestand, so findet man ncch g Beluiken 
mit 36 Häusern und 113 Bewohnern. Von den g können 5 als schlecht 
bezeichnet werden. Sie alle stammen noch aus der ersten Zeit, in der 
die Beluiken aufkamen. Mit Ausnahme eines einzigen haben sie alle 
einen Zugang von I m Breite. Das eine Beluik mit offenem Straßen- 
weg liegt im »Spaanisch Gasthuisstraatje« und gehörte zu den Ge- 
bäuden, die im 16. Jahrhundert als Hospital für spanische Soldaten 
und im 18. Jahrhundert als Soldatengefängnis dienten. 

Wandern wir dann weiter nach den Hafenwerken zu, so fällt es 
uns auf, daß man in viele Häuser ein bis zwei Stufen hinabsteigen 
muß. Dieser Stadtteil bestand früher aus 16 Inselchen, die haupt- 
sächlich von der alten Leie und der Schiffgracht gebildet wurden 
und oft unter Ueberschwemmungen zu leiden hatten. Darum wurden 
auf Ratsbeschluß im Jahre 1842 hier eine ganze Reihe von Straßen 
aufgehöht. In den Urkunden aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts 
vird dieser Stadtteil als einer der drei ungesundesten bezeichnet — 
und man kann wohl sagen, daß er es bisher geblieben ist, obgleich 
man seit 1889 mit ernstlichen Sanierungsarbeiten begonnen hat 
und die auf Grund der baupolizeilichen Vorschriften errichteten 
neuen Arbeiterwohnungen geräumig, luftig und sehr gut sind. Immer- 
hin gibt es aber auch hier noch 186 Beluiken, und von diesen sind 
112 mit 1016 Häusern schlecht, und auch die guten werden durch 
einen schlechten Zugang schlecht gemacht. Sie werden fast aus- 
schließlich von den Arbeitern eines großen Mühlenwerkes bewohnt. 


166 C. K. Zimmermann, 


Das Auge des Reisenden freilich kann diesen alten, malerisch 
mörderischen Beluiken nicht böse sein. Besonders ist es eins, das 
älteste der ganzen Stadt, das sogenannte Alyns-Hospital, ein Re- 
naissancebau, den man bei all seiner der Hygiene hohnsprechenden 
Bauart im Stadtbilde Gents nicht missen möchte. Es ist ein Block 
von I6 Häusern. Vier adelige Geschlechter boten hier früher bedürf- 
tigen Familien Unterkunft. Nach der französischen Revolution wurde 
es Eigentum der »Burgerlijke Godshuizen« und diente als eine Art Kon- 
vent für bejahrte Frauen. 

Ganz anderer Art sind die schlechten Beluiken in der Nordwest- 
ecke der Stadt, bei der ehemaligen Brugsche Poort. Dieser ganze 
Bezirk lag früher im Gebiet der Marschen vor dem Stadttor und wurde 
erst gegen 1870 eingemeindet. Luft und Licht gibt es im Gegensatz 
zu den Beluiken der Altstadt hier also in Hülle und Fülle, da fast alle 
124 Beluiken im freien Felde liegen. Aber die Wohnungen sind bau- 
fällig und verwahrlost, die meisten von ihnen waren früher boerderijen 
= Bauernhöfe, darunter einige ausdem 17. Jahrhundert. Die Scheunen 
und Stallungen wurden später in Wohnhäuser verwandelt, die auch 
leicht Mieter fanden, weil bei jedem Häuschen sich ein bischen Grund 
befand, auf dem man Gemüse und die nötigen »Patatten« anbauen 
konnte. 

Es wäre, wie gesagt, ein großer Verlust für das malerische Gent, 
wenn diese Beluiken verschwinden sollten.  Sozialpolitische und 
künstlerische Empfindungen widerstreiten sich, wenn man durch die 
alten Straßen geht. Aber die sozialpslitischen tragen entschieden 
den Sieg davon, wenn man in die Wohnungen selber eintritt, zumal 
wenn man weiß, daß heute nur guter Wille dazu gehört, um ein künst- 
lerisches Aequivalent an die Stelle des Niedergelegten zu setzen. 
»Wapenen wij ons«, so mahnt der Berichterstatter des Genter Woh- 
nungsschutzausschusses seine Begleiter bei dem gleichen Vorhaben, 
»met eene sterke dosis gemoedsterkte en kracht tegen de onangename 
prikkelingen van het reukorgaan, en halen wij en goeden vooraad 
versche lucht in de longen, om tegen alle mogelijke en onmogelijke 
genren en dampen bestand de zijn!« (Wappnen wir uns mit einer 
starken Dosis Gemütsstärke und Kraft gegen die unangenehmen 
Reizungen des Riechorgans, und nehmen wir einen großen Vorrat 
frischer Luft in der Lunge mit, um gegen alle möglichen und unmög- 
lichen Düfte und Ausdünstungen gefeit zu sein.) Und dann treten 
wir hinein in jene Küchen, die zugleich Schlafzimmer und Wohnzimmer 
sind, und wir verstehen, warum der Typhus in den Beluiken Gents 
so reiche Ernten hält. 

In 2221 Familien schlafen Eltern und Kinder in demselben Zimmer; 
in 1094 Familien (= 22 % aller Familien in den Beluiken) schlafen 
Knaben und Mädchen in demselben Zimmer, und von der Gesamt- 
zahl von 4516 Kindern ist die Zahl dar mehr als 12 Jahre alten ver- 
schiedengeschlechtlichen, die in demselben Zimmer schlafen = 24 %- 

Diese furchtbaren Zustände, deren Bild die untenstehenden 
Tabellen noch vervollständigen, sind Grund genug, gegen die Genter 


Belgische Arbeiterwohnungen. 167 


Beluiken mit aller Macht zu Felde zu ziehen — oder vielmehr gegen 
jene Regierung, der es bis heute nicht gelungen ist, wirklich durch- 
schlagende wohnungspolitische Maßnahmen zu ergreifen — weder 
in Brüssel und Gent als auch in Lüttich oder in den großen Industrie- 
zntren des Südens, oder an irgend einer anderen Stelle im ganzen 
Lande, wo es sich um den belgischen Durchschnittsarbeiter handelt. 
Dem Elitearbeiter, wie gesagt, ist geholfen, aber für das eigentliche 
Proletariat bleibt noch alles zu tun. 
Tabelle der Zahl der Zimmer, die eine Familie bewohnt. 


Tabelle der Zahl der Zimmer die eine Familie bewohnt. 









Besonders. 
Häuser bestehend aus 7i 2 Zimmern im | Große ee 
I Zimmer im Unterhaus T Immer Unterhaus |Häuser Zimmer 


























. !Mans. | 1 Zimmer’ ı Z. oben ._ |22.ob. 
ralen y iZi Zobeni Mans, 2 Zim. +3 il E Z. 2. 2. 
In d. guten SS ss N Re se ER I ER ap Ir ze arte Se 
Beluiken | 22 148 | 2124 | 994. 23 | 100 | 7 | 77 | 4 
In den ver-' | | 
besser- | 74 | 74 | 816 | 301 | 6 | — — | 2I | I 
baren ı- —— 
In den | 184 | 166 | 565 | IF: A ae | = | = | 62 | 7 
schlechten i , 
ı. Klasse = Schlafzimmer von 20 cbm Rauminhalt: 
2. Klasse = = „ 20—30 , > 
3. Klasse = „ » 3040 , ” 
4. Klasse = „ » 40—50 9, „ 
5. Klasse = „ » +50 „ s. 
A. Schlafzimmer = Küchen. 
B. Schlafzimmer über der Küche (in Mansarde u. dgl.) 
C. Schlafzimmer auf dem Stockwerk. 
D. Es ist außerdem noch ein Zimmer vorhanden. 
E. Es sind außerdem noch zwei Zimmer vorhanden. 
A B C D E 
1. Klasse 217 208 392 44 27 
2. Klasse 196 47 1533 490 261 
3. Klasse 94 = 1307 597 796 
4. Klasse 30 118 154 114 43 
5. Klasse 17 = 134 37 4 


VI. Schluß. 


So ist denn dieses soziale Problem, wie jedes Problem, interessant 
an Sich und seine Lösung des Schweißes der Edlen wert. Interessanter 
erscheint es dadurch, daß es unser Auge mit zwingender Gewalt auf 
die Wohnungsfrage des eigenen Landes vergleichend hinlenkt und in 
uns die Ueberzeugung verstärkt, wie viel auch bei uns noch zu tun übrig 
bleibt. Indiesem Sinne war und ist die belgische Arbeiterwohnungsfrage 
fürunsimmer ein Appell an das eigene soziale Gewissen. Ein höchstes In- 
teresse aber erhält dieses Problem in dem Gedanken an unsere gegenwär- 
tigen politischen Zustände. Es wäre natürlich müßig, jetzt schon Ver- 


168 C. K. Zimmermann, Belgische Arbeiterwohnungen, 


mutungen anzustellen über die Grenzverschiebungen beim kommen- 
den Friedensschluß. Immerhin darf es nicht unerlaubt sein, schon 
heute die ja vollkommen unverbindliche Frage aufzuwerfen, ob eine 
Einbeziehung Belgiens in den deutschen Reichsverwaltungsbezirk 
nicht gerade vom Standpunkt der Völkerfreiheit aus zu begrüßen wäre. 
Denn was hat es mit der sogenannten Freiheit der Völker im Grunde 
auf sich? Wenn ich heute davon überzeugt wäre, daß Rußland der Welt 
die relativ reife und reine Kultur zu bring:n hätte, die Deutschland 
heute in der Tat besitzt, und in Deutschland Zustände herr-chten, 
wie sie in der Tat nur Rußland kennt, so würde ich keinen Augen- 
blick darüber trauern, wenn die russische Dampfwalze über ganz 
Westeuropa hinginge und man von ganz Europa nur noch als von 
einem großen heiligen Rußland sprechen könnte. Des nationalen 
Chauvinismus also wird mich wohl niemand zeihen, wenn ich 
andererseits behaupte, daB es für die Belgier ein humanitärer 
Segen wäre, wenn die deutschen Barbaren die Neuordnung ihrer 
sozialen Zustände fürs erste in die Hand nähmen — natürlich in der 
stillen Voraussetzung, daß Deutschland selbst nicht aufhört, unter 
dem Druck einer machtvollen Sozialdemokratie an seiner sozialen 
Kultur rastlos zu arbeiten. — Den Anfang dieser Neuordnung haben 
die Barbaren ja bereits gemacht, indem sie in Belgien die deutsche 
Arbeiterschutzgesetzgebung in Kraft treten ließen. Für die Vor- 
teile dieser Gesetzgebung zeigt das belgische Arbeiterproletariat 
allerdings vorläufig noch wenig Verständnis, weil es durch jahrhunderte- 
lange Gewöhnung an das Elend indifferent geworden ist. Die Ursachen 
dieser Indifferenz waren, wie ich besonders in dem ersten noch unver- 
öffentlichten Teil dieser Arbeit nachzuweisen versucht habe: die ka- 
pitalistische Ausbeutung im Bunde mit der geistigen. Das belgische 
Volk könnte demnach von einem Anschluß an den deutschen Staats- 
verband nur dann gewinnen, wenn dieser deutsche Staatsverband 
nicht nur Belgien, sondern auch das besiegt, was in seinem eigenen 
Innern belgisch ist. 

Was für Probleme — vor allen Dingen auch Wohnungsprobleme 
— Belgien im Frieden an seine Verwaltung (heiße sie, wie sie wolle) 
stellen wird, ist noch nicht abzusehen. Aber vor allen Dingen wird es 
wieder die eine große Forderung sein, die Lage des Proletariats zu 
verbessern. Und diese Forderung hat die Regierung des autonomen 
Belgiens nicht verstanden. 


169 


Die Genossenschaftsbewegung in Rußland *). 
Von 


L. PUMPIANSKY. 


Einleitung. — Vorgeschichte, — Politisch-rechtliche Lage. — Kreditge- 
tossenschaften — Produzentengenossenschaften. — Konsumgenossenschaften., 
— Andere Genossenschaftsformen. — Die innere Einheit der Genossenschafts- 
bewegung, — Schluß, 


Einleitung. 


„ Die russische Genossenschaftsbewegung ist ein Kind der letzten 
Jahre, in gewissem Sinne ein Kind der stürmischen Revolutionsjahre 
1905—7, welche die seit Jahrzehnten schlummernden potentiellen 
Volkskräfte entfesselt und die latente Schöpfungsenergie der Massen 
in schnelle Bewegung versetzt haben. Während aber das russische 
Proletariat, als Vorkämpfer und Träger der Revolution die Glanzperi- 
ode seiner Bewegung in der Revolutionszeit erlebt hat, und die wüten- 
den Hiebe der Reaktion auf seinem Rücken am fühlbarsten waren, so 
daß die Arbeiterbewegung gegenwärtig nur mit den größten Opfern 
und Anstrengungen für elementare Lebensbedingungen zu kämpfen 
hat und sich nur langsam entwickelt, hat das russische Bauerntum 
sich an der Revolution in viel geringerem Maße und in weniger be- 
wußter Weise beteiligt und die Niederlage der Revolution war da- 
her für die Bauernschaft mit keinen so unheilvollen Folgen verbunden. 
Im Gegenteil waren die Folgen der Revolution der Bauernschaft gün- 
stig: einmal wurde sie etwas entlastet, da die Ablösungsgelder für die 
Bauernbefreiung aufgehoben worden sind. Zweitens wurden durch 
das Gesetz über die Aufteilung der Gemeinde, trotz der zahlreichen Män- 
gel desselben, neue Entwicklungsmöglichkeiten für die Bauern ge- 
schaffen, drittens, und das ist besonders wichtig, ist die Bauernschaft 
zur sozialen Tatkraft erweckt worden, die sich verhältnismäßig frei 
entwickeln konnte, da die Formen, in die sie umgesetzt wurde, keinen 
revolutionären Anstrich hatten. 

Der Aufschwung der Selbsthilfebewegung, in welche die Bauern- 
schaft in den Jahren 1908—1913 eingetreten, ist ganz außerordentlich. 
Die Genossenschaftsbewegung, die vierzig Jahre in unbedeutendem Um- 
Diese Abhandlung lief schon vor Kriegsausbruch bei der Redaktion ein, 
konnte jedoch infolge Raummangels bisher nicht veröffentlicht werden. (A. d. R.) 


170 L. Pumpiansky, 


fange ein trauriges Dasein geführt hat, istin fünf Jahren zu einer ver- 
schiedenartigen vielgestaltigen sozialen Bewegung emporgewachsen und 
das nur dank der vorwärtsdrängenden Bauernschaft. Denn seit Jahren 
ist die moderne Genossenschaft von andern Klassen in geringem Um- 
fange gepflegt worden ; Beamte, Offiziere und Fabrikarbeiter hatten ihre 
. Konsumvereine, Landwirte und Großgrundbesitzer pflegten die Roh- 
stoff-, Absatz- und einzelne andere Formen der Landwirtschaftsgenossen- 
schaften ; kritisch betrachtet waren diese Genossenschaften nur in sehr 
bedingtem Sinne genossenschaftlich betrieben und zu einer sozialen 
Bewegung konnten sie sich nicht emporschwingen. In den letzten 
Jahren hat sich das Bild vollkommen verändert; die Genossenschaft 
wurde auf die Tagesordnung der Bauernbewegung gestellt und hat einen 
Enthusiasmus hervorgerufen, der nicht vorauszusehen war. Alle 
möglichen Formen der Genossenschaft sind 
von den Bauern ergriffen worden. Gründungen 
von Kreditvereinen, Konsumvereinen, Land- 
wirtschaftsvereinen, Rohstoff-, Absatz-Mol- 
kereigenossenschaften folgten zu Tausenden, 
die Mitgliederzahl wuchs in Millionen, und 
die Genossenschaftsbewegung wurde zu einer 
Bauernbewegung par excellence, wenn auch die 
andern sozialen Elemente in den genossenschaftlichen Handel mit 
einbegriffen, in einzelnen Fällen sogar an die Spitze gestellt wur- 
den. In ein paar Jahren ist die Anzahl der russischen Genossen- 
schaften von 4000 auf 25 000 gestiegen, die Mitgliederzahl erreichte 
über 8 Millionen und die Umsätze viele Hunderte Millionen Rubel. 
Eine genossenschaftliche Presse ist emporgeschossen, die gegenwärtig 
aus 30 Wochenblättern besteht. Die Regierung und die Zemstvos neh- 
men an der Bewegung teil. 

Die Genossenschaftsbewegung befindet sich gegenwärtig 
auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung, auf dem 
.Gipfelpunkt der Periode des stürmischen Anlaufs, den sie nach der 
Revolution genommen hat, sie strebt und drängt immer weiter, aber 
bei weitem nicht alles befindet sich in der Bewegung in einem gesun- 
den Zustande, innere Krankheiten von größerer und geringerer 
Bedeutung haften an dem innerlich noch nicht erstarkten Körper 
und da dasunnatürlich schnelle Wachstum für die Heilung der inneren 
Schwäche wenig Gelegenheit bietet, werden sich manche schlimme 
Folgen in der nächsten Zukunft zeigen müssen, die der Bewegung gro- 
Ben Schaden zufügen können. 

Es ist eine schwierige Aufgabe, eine Bewegung, die sich in dem an- 
gedeuteten Entwicklungsstadium befindet, objektiv zur Darstellung 
zu bringen, noch schwieriger wird die Aufgabe, wenn man mit einer 
russischen Bewegung dieser Art zu tun hat, da auf dem Riesengebiete 
des russischen Reiches mit einer 160 Millionen zählenden Bevölke- 
rung ein Ueberblick der gesamten Bewegung wegen der Mannigfaltig- 
keit und Verschiedenheit der Entwicklungsbedingungen höchst er- 
schwert und das vorhandene Material einerseits außerordentlich um- 


= v. 5 p he > 


-r -— 


Die Genossenschaftsbewegung in Rußland. I7I 


fangreich, andererseits wenig genau und zuverlässig, besonders im 
statistischen Teile, erscheint. Es soll aber im folgenden wegen der 
großen sozialen und wirtschaftlichen Bedeutung, die die gegenwär- 
tige Genossenschaftsbewegung hat, ein Versuch gemacht werden, sie 
möglichst wissenschaftlich zu behandeln. 


Die Vorgeschichte der modernen Genossen- 
schaftsbewegung. 


Das Genossenschaftswesen als solches ist dem russischen Bauern 
mcht nur nicht fremd, sondern für die vor- und frühkapitalistische 
Epoche seiner Existenz charakteristisch. Das alte Agrar- und Steuer- 
system beruhte auf der Organisation der Bauernschaft in Gemeinden, 
die genossenschaftlich eingerichtet und mit genossenschaftlichem 
Geiste, einer für Alle, Alle für Einen erfüllt waren. Der russische ‚‚Mir‘“ 
ist auch in der deutschen Literatur ausreichend behandelt worden, 
und es ist nicht unsere Aufgabe, ihn in diesem Artikel zu schildern; 
wichtig erscheint uns nur, daß der Genossenschaftsgedanke seit Jahr- 
hunderten im vorkapitalistischen Rußland lebte. Und zwar äußerte 
er sich nicht nur in der Agrarverfassung, sondern in verschiedenen 
Formen industrieller Betätigung der Volksmasse: in den Transport-, 
den Handels-, den Salzgewinner-, in den Handwerker- und sogar den 
Bettlergenossenschaften oder „Artels“, die im Süden Rußlands stark 
verbreitet waren. Dieses alte Genossenschaftswesen, das im Grunde 
des vorkapitalistischen wirtschaftlichen Lebens Rußlands lag, hat 
sich bis zur zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts erhalten und exi- 
stiert auch heute in rudimentärer Form in einzelnen Gegenden. 

Aber schon in der frühkapitalistischen Periode hat der Zersetz- 
ungsprozeß der alten Genossenschaft sein Werk verrichtet. Die Ge- 
meinde hat ihren genossenschaftlichen Charakter verloren, die Aus- 
beutung des armen Bauern durch den Reichen ist an Stelle des genos- 
senschaftlichen Waltens getreten, die Artels haben die Gleichberech- 
tigkeit ihrer Mitglieder preisgegeben und sind von einzelnen Unter- 
nehmern geknechtet worden, der Aelteste der Artel, der früher prin- 
ceps inter pares war, wurde zum Herrn und Arbeitgeber und die Ge- 
nossenschafter wurden zu seinen Arbeitern, an Stelle der Genossen- 
schaftartel hat sich der Arbeiter-Gruppenakkord entwickelt. 

Während aber das Wesen der alten Genossenschaft im Kerne 
ausgerottet wurde, erhielten sich die alten Formen, wenn auch mit 
anderem Inhalte erfüllt, nahezu bis zur Gegenwart und erweckten bei 
vielen träumerisch gestimmten russischen Intellektuellen die Idee, 
man könnte diese Formen dazu ausnutzen, um sie mit kommunisti- 
schem oder kollektivistischem Geiste zu erfüllen, ohne den Zersetz- 
nn bis zu seinen logischen Konsequenzen fortschreiten zu 

n, 

Die Gesetze der wirtschaftlichen Entwicklung können aber nicht 
abgeändert werden. Und je stärker der moderne Kapitalismus wurde, 
desto weiter in die Vergangenheit wurde die alte Genossenschaft zu- 


172 L. Pumpiansky, 


rückgedrängt, um der unabhängigen Einzelwirtschaft und dem un- 
abhängig wirtschaftenden Individuum die Bahn zu ebnen. Und heute 
ist Rußland schon ein Land des selbständigen Bauerntums, wenn auch 
zahlreiche Ueberreste der vorkapitalistischen Epoche noch nicht 
ausgerottet sind. 

Für das Verständnis der modernen Genossenschaftsbewegung der 
russischen Bauern ist aber von Wichtigkeit hervorzuheben, daß der 
Genossenschaftsgeist der alten Zeit die rus- 
sische Bauernschaft noch nicht verlassen hat 
und in der bäuerlichen Psychologie, wenn auch getrübt durch den in- 
dividualistischen Geist der Epoche, fortlebt. Andererseits, daß die 
verspätete Herrschaft des Kapitalismus dem 
russischen Bauern die moderne Genossen- 
schaftsbewegung, die die Lage der europäischen Landwirte 
im Kapitalismus erheblich verbessert hat, aufzwingt,um ihn 
auf dem Weltmarkte konkurrenzfähig zu ma- 
chen. Diese zwei Momente sind die entscheidenden Faktoren des 
Aufblühens der modernen Genossenschaftsbewegungen in Rußland. 
Im weiteren werden wir sehen, wie die sozialen und kulturellen Miß- 
stände, die der noch nicht geschulten Bauernmasse eigen sind, den po- 
sitiven Faktoren entgegenwirken, und wie man sie zu überwinden ver- 
sucht. 

Jetzt wollen wir die Vorgeschichte der modernen Genossen- 
schaftsbewegung skizzieren, von den direkten Vorgängen der heutigen 
Genossenschaften sprechen, die, wie gesagt nicht von Bauern, sondern 
von anderen Volksklassen entwickelt und gepflegt wurden. Die Anre- 
gungen und Gedanken des Genossenschaftswesens wurden dabei aus 
dem Auslande, namentlich aus Deutschland genommen. 

Unter direktem Einfluß von Schultze-Delitzsch entstand 1865 
der erste russische Konsumverein in Riga, gleich darauf in Reval und 
in St. Petersburg und in den 3 Jahren 1867—70 wurden 61 Vereine in 
verschiedenen Städten Rußlands eröffnet ; die Träger dieser Bewegung 
waren einmal Kleinbürger, zweitens Fabrikanten und Fabrikarbeiter. 
Bis 1868 haben ausschließlich Kleinbürger die Idee der Konsumver- 
eine ergriffen, nach 1868 entstanden in zahlreichen Fällen Arbeiter- 
konsumvereine, die aber von den Fabrikherrn gänzlich abhängig wa- 
ren und mehr zur Ausbeutung als zur Unterstützung der Arbeiter dien- 
ten. Von der Hälfte der zoer Jahre bis zum Jahre 1891 bleibt die 
Konsumvereinsbewegung nahezu stagnierend. Das Hungerjahr 189r, 
in dem der Roggenpreis um 109%, stieg, hat zu neuen Konsumverein- 
gründungen angeregt und in der Tat entstehen in den fünf Jahren 
1892—7: 305 Vereine, während in den vorhergehenden 17 Jahren 
nur 157 Konsumvereine gegründet wurden. Der erste Kongreß der 
Konsumvereine fand in Nishnij-Nowgorod im Jahre 1896 statt und hat 
zwei wichtige Folgen für die Fortentwicklung der Bewegung gehabt: 
einmal wurde ein Normalstatut für Konsumvereine ausgearbeitet, das 
von der Regierung im nächsten Jahre bestätigt wurde (siehe unten); 
zweitens entstand in Moskau eine Großeinkaufsgesellschaft, der »Mos- 


oe wS AA z 
= m nn raa. earo 
| ——— 


Die Genossenschaftsbewegung in Rußland. 173 


kauer Verbande. Beide Ereignisse wirkten fördernd auf die Konsum- 
vereine und die Weiterentwicklung vollzog sich in einem schnelleren 
Tempo. Einen neuen und energischen Anstoß erhielt die Bewegung in 
der letzten Phase der Revolution, da die Konsumvereinsidee unter den 
Fabrikarbeitern populär wurde und zahlreiche unabhängige Kon- 
sumvereine von den Arbeitern gegründet wurden, die die Genossen- 
schaft auf festeren inneren prinzipiellen Boden zu stellen versuchten 
und die führende Rolle in die Hände nahmen. Leider sind aber viele 
Arbeiterkonsumvereine mit dem Niedergang der Revolution zugrunde 
gegangen und die materielle Bedeutung der Arbeiterkonsumvereine 
in der gesamten Bewegung wurde erheblich verringert, wenn auch der 
geistige Einfluß der Arbeitergenossenschaften wegen der größeren 
Intelligenz ihrer Träger und Führer vorläufig bis zu einem gewissen 
Grade erhalten blieb. Nach I906—7 erscheint die Bauernmasse auf 
dem Gebiete der Konsumvereine und hebt die Bewegung wenigstens 
quantitativ auf ein hohes Niveau, in fünf Jahren entsteht ein Netz von 
Konsumvereinen im ganzen Lande und das Gründungsfieber hat noch 
nicht ausgetobt; anstatt der 1172 Konsumvereine, die im Jahre 1906 
vorhanden waren, existierten I9I2 schon 5000 Vereine, die über 
ı Million Mitglieder zählten und in ihrer überwiegenden Mehrzahl in 
Dörfern wirkten. | 

Wenden wir uns zur Vorgeschichte der Kreditgenossenschaften, 
so stoßen wir auf dieselben Entwicklungsphasen, die wir bei den Kon- 
sumvereinen konstatiert haben. Die Anregung kam ebenfalls von 
Schultze-Delitzsch in den 60er Jahren und wurde teilweise von reichen 
Grundbesitzern, teilweise von kleinen Landwirten ausgenutzt. Die 
Kreditgenossenschaftsidee wurde von den jungen Zemstvos wohl- 
wollend betrachtet und die ersten Gründungen wurden von den Lo- 
kalverwaltungen reichlich finanziert. Das Resultat der ersten Begei- 
sterungsepoche waren 966 Spar- und Darlehenskassen, diein den Jahren 
1971—77 gegründet wurden, jedoch in wenigen Jahren zugrunde ge- 
gangen sind. Die Mißernten, die wirtschaftliche und kulturelle Armut 
der Bevölkerung, die unordentliche Geschäftsführung waren die wich- 
tigsten Ursachen des frühzeitigen Endes der Kreditgenossenschaften 
der 70er Jahre. Die Analogie mit der Vorgeschichte der Konsumver- 
eine geht weiter. Die 8oer Jahre, die Jahre der tiefsten Reaktion im 
russischen sozial-politischen Leben, bilden eine Periode des Stillstands 
der kreditgenossenschaftlichen Entwicklung. Erst in den goer Jahren 
beginnt sich die Genossenschaftsbewegung neu zu beleben. Hier und 
da werden Spar- und Darlehenskassen gegründet und ein neuer Typus 
der Kreditgenossenschaft wird erfunden, der sich späterhin zum 
russischen Typus entwickelt und eine sehr große Verbreitung findet. 
Seit der Mitte der goer Jahre nimmt die Regierung an der Weiter- 
bildung des Kreditgenossenschaftswesens teil und arbeitet ein Gesetz 
aus, das die Grundlage eines zu fördernden Kreditvereinstypus ent- 
hält. Als Grundform wird die Raiffeisensche landwirtschaftliche Ge- 
nossenschaft genommen, als’ Modifikation werden keine materiellen 
Opfer, keine Geschäftsanteile von den Mitgliedern gefordert, dagegen 


174 L. Pumpiansky, 


wird die Staatsbank verpflichtet, den neuen Kreditvereinen das nötige 
Grundkapital in Form von langfristigen Anleihen zur Verfügung zu 
stellen. Auf das Wesen dieser Kreditvereine werden wir im weiteren 
zu sprechen kommen. Die neue Kreditgenossenschaftsform findet all- 
mählich Anerkennung, aber die Gründung von Vereinen vollzieht sich 
in einem langsamen Tempo. Von 1897 bis 1903 wurden nur 386 Kredit- 
vereine bewilligt, von denen nur 306 eröffnet wurden. In den nächsten 
Jahren beschleunigt sich das Gründungstempo: im Jahre 1905 exi- 
stieren schon 537 Kreditvereine und 894 Spar- und Darlehenskassen 
mit insgesamt 514 000 Mitgliedern. 

Nach der Revolution tritt die Bewegung in ihre gegenwärtige 
Phase ein. Unsichere Versuche, langsame Entwicklung, die Gemischt- 
heit des sozialen Bestandes der Mitgliedermasse, all diese Elemente 
die die Vorgeschichte der Kreditgenossenschaft charakterisierten, ver- 
schwinden jetzt. Die Kreditgenossenschaften werden von der Bauern- 
schaft als sozial-wirtschaftliches Bedürfnis anerkannt und mit rasender 
Geschwindigkeit gegründet, ausgebaut und zu einer Bewegung großen 
Stils erhoben. In 8 Jahren, 1905—13 wächst die Zahl der Kreditvereine 
von 537 auf 8000, der Spar- und Darlehenskassen von 894 auf 3000 
mit insgesamt 7 000 000 Mitgliedern. 

Wenn wir uns in die Vorgeschichte der Molkereigenossenschaften 
oder der landwirtschaftlichen Vereine mit kulturellen Zwecken ver- 
tiefen, so finden wir, daß auch diese Formen der Genossenschaftsbe- 
wegung, in den 60 er Jahren angeregt, in den 70er größtenteils erfolg- 
los ins Leben gerufen, in den 80 er Jahren verworfen und seit den goer 
bis zur Revolution langsam entwickelt wurden, um dann nach der 
Revolution mächtig sich zu entfalten und mit voller Wucht die Ge- 
schichte der modernen Genossenschaftsbewegung zu eröffnen. 

Behalten wir die wirtschaftliche und sozial-politische Geschichte 
Rußlands in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts im Auge, 
dann wird uns das Schicksaal der Genossenschaftsbewegung in jener 
Epoche begreiflicher, da die von uns angedeuteten Pha- 
sender genossenschaftlichen Entwicklung mit 
den Phasen der modern kapitalistischen Ent- 
wicklung Rußlands zusammenfallen. Die Bauern- 
befreiung, die die Bedingungen für den Kapitalismus schuf, schuf auch 
die Möglichkeiten der Genossenschaftsbewegung auf dem Lande. Die 
entfesselten sozialen Kräfte, die Intelligenz des Volkes richteten ihre 
Energie nach verschiedenen Richtungen hin, die alle nur einem Ziele 
der wirtschaftlichen und kulturellen Hebung des Volkes dienten. Das 
industrielle Gründungsfieber, der beginnende Kampf für politische 
Rechte, die Bewegung der ‚Narodniki‘, um nur die wichtigsten For- 
men der sozialen Betätigung jener Zeit zu nennen, fallen in die auf die 
Bauernbefreiung folgenden zwei Jahrzehnte und die Genossenschafts- 
gründungen haben ihre Rolle in diesem sozialen Aufschwung gespielt; 
ein kleiner Teil des zum sozialen Denken angeregten Bürgertums hat 
seine Kräfte der Genossenschaftsidee gewidmet. Mit dem Zusammen- 
bruch dieser ersten wirtschaftlichen und sozial-politischen Anstren- 


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Die Genossenschaftsbewegung in Rußland. 175 


gungen im neuen Rußland, mit dem Erstarken des erz-reaktionären 
Regimes der 80er Jahre, mit der Enttäuschung der gebildeten Klas- 
sen, die in den 60-und 70er Jahren sich aus Illusionen Kartenhäuser 
gebaut hatten, dieohne Schwierigkeit fortgeblasen werden konnten, wird 
auch die Genossenschaftsbewegung lahmgelegt, um dann in der Epo- 
che eines neuen kapitalistischen Aufschwungs in den go er Jahren neu 
begonnen zu werden und unter dem Schutz des vorwärtsmarschieren- 
den industriellen und kulturellen Fortschritts des Landes sich langsam 
zu entwickeln, bis die sozial-wirtschaftliche Krise zu Beginn unseres 
Jahrhunderts schließlich freiere Bahnen der Selbstbetätigung des Vol- 
kes eröffnen und die Bedingungen einer großzügigen kapitalistischen 
Evolution und somit auch eine Genossenschaftsbewegung im modernen 
Sinne schaffen sollte. 

Der Schilderung dieser modernen Genossenschaftsbewegung Ruß- 
lands werden wir die nächsten Seiten widmen. 


Die politisch-rechtliche Lage. 


Obgleich die Regierung die Genossenschaftsbewegung nicht nur 
duldet, sondern wie im Falle der Kreditvereine sogar fördert, ist doch 
die politischrechtliche Lage der Genossenschaften den allgemeinen po- 
litischen Verhältnissen Rußlands unterworfen, mit andern Worten 
leidet sie unter dem wohlbekannten Regime der russischen po- 
litischen Mißwirtschaft. Ein Genossenschaftsgesetz ist in Rußland 
nicht vorhanden, eine jede Form der Genossenschaft wirkt gemäß 
speziellen von der Regierung bestätigten Normalstatuten, die die 
Rechte und Tätigkeit der resp. Genossenschaftsform in Details zu 
reglementieren suchen und streng befolgt werden müssen. 

Die Normalstatuten erscheinen als eine merkliche Verbesserung 
der rechtlichen Verhältnisse der Genossenschaften, da früher jede neue 
Genossenschaft sich ein Statut auszuarbeiten hatte, das vom Minister 
bestätigt werden mußte, was mit einem langjährigen Warten verbunden 
war. Um dem aus dem Wege zu gehen hat der Konsumvereinstag 
1806 ein Normalstatut für Konsumvereine ausgearbeitet, das im 
nächsten Jahre die Bestätigung bekam und bis heute als Gesetz 
für Konsumvereine existiert. Zwei Jahre früher wurde das Normal- 
statut für Kreditgenossenschaften veröffentlicht, das durch das Ge- 
setz vom 7. Juni 1904 erweitert worden ist und IQIO weiter ergänzt wur- 
de. Besondere Normalstatuten sind für landwirtschaftliche Bezugs- 
und Absatzgenossenschaften (1898), für Molkereigenossenschaften 
u.s.w. vorhanden. Um den rechtlichen Wirrwarr, der durch die Menge 
verschiedener Normalstatute entsteht, noch zu verschlimmern, sind 
die verschiedenen Formen der Genossenschaf 
ten keiner bestimmten Behörde unterworfen, 
sondern unter verschiedene Ministerien und 
Verwaltungen verteilt; so unterstehen die Konsumvereine 
dem Ministerium des Innern, die Kreditgenossenschaften der Haupt- 
verwaltung des Kleinkredits, die zum Finanzministerium gehört, die 


176 L. Pumpiansky. 


landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften dem Ackerbaumini- 
sterium usw. Dabei ist ein jeder Gouverneur berechtigt, die Gründung 
der Genossenschaft zu verbieten oder eine wirkende Genossenschaft 
auf eigenen Befehl zu schließen. Für die Gründung eines Genossen- 
schaftsverbandes ist die Erlaubnis des Ministers erforderlich ; nur in 
letzter Zeit wurde ein Normalstatut für Kreditverbände bestätigt, so 
daß für diese Verbände der Weg zur Genehmigung etwas verkürzt ist. 

Es ist selbstverständlich, daß die Genossenschaftsbewegung mit 
allen Kräften an der Arbeit ist, das rechtliche Chaos, in dem es sich be- 
findet, zu beseitigen und sich ein allgemeines Genossenschaftsgesetz zu 
erobern. Der erste allrussische Genossenschaftstag in Moskau (1908) 
beschäftigte sich mit dieser Frage, der Kreditgenossenschaftstag in 
St. Petersburg (IgII) hat einen Gesetzentwurf angenommen und der 
zweite Genossenschaftstag in Kieff (1913) hat ihn in etwas veränderter 
Form sanktioniert; bis er aber in Regierungskreisen ein williges Ohr 
finden wird, wird man wahrscheinlich lange warten müssen, da die g e- 
genwärtigenrechtlichenVerhältnisseeinelogi- 
sche Folge der konsequent betriebenen Bevor- 
mundungspolitik darstellen. 

In der Tat behält sich die Regierung vor, selbst oder durch die 
Zemstvos, die jetzt zum Gehorsam gezwungen sind, die Genossenschaf- 
ten zu finanzieren; den Genossenschaften wird sogar durch das Gesetz 
von I904 verboten, das Grundkapital von Privatleuten zu verschaft- 
fen, dagegen haben sich die Genossenschaften der 
Kontrolle der Regierung zu fügen und den For- 
derungen der Verwaltungen zu gehorchen. In- 
spektoren der Regierung sind mit großen Befugnissen versehen nicht 
nur in bezug auf die Geschäftsführung der Genossenschaft, sondern 
auch auf den Mitgliederbestand der Vorstände; die Zemstvos öffnen 
den Genossenschaften einen Kredit öfters unter der Bedingung, daß ein 
unliebsames Vorstandsmitglied beseitigt wird, oder irgend ein 
Vertrag unter der Kontrolle der Zemstvoverwaltung abgeschlossen 
wird und dergl. mehr. Der geringste Verdacht setzt den ganzen Regie- 
rungsapparat gegen die Genossenschaften in Bewegung ; so wurde 1909 
in das Normalstatut der Kreditgenossenschaften eine Klausel einge- 
fügt, daß die Hauptverwaltung des Kleinkredits die genannten Genos- 
senschaften zu schließen berechtigt ist, falls die Mitglieder oder die 
Tätigkeit der Genossenschaften ihr politisch unzuverlässig erscheinen 
sollte; ein Zirkulär des Ministers des Innern aus demselben Jahre 
schreibt allen Gouverneuren und Kreditinspektoren vor, sorgfältig dar- 
auf zu achten, daß die Gelder nicht für Revolutionszwecke ausgegeben 
werden, in anderen Fällen wird befohlen, daß die Tätigkeit der Kon- 
sumvereine überwacht werde und dann folgen Haussuchungen in ver- 
schiedenen Genossenschaften: Atteste der Vorstandsmitglieder, Schlie- 
Bung derGenossenschaften, Nicht-Bewilligung neuerGründungsgesuche 
usw. Freilich hat diese Verfolgungspolitik in den letzten drei Jahren 
nachgelassen und direkte Eingriffe aus politischen Rücksichten finden 
nur selten statt, aberdie Beobachtung, der Verdacht 


Die Genossenschaftsbewegung in Rußland. 177 


und die größtmögliche Bevormundung bil 
den auch jetzt noch die Grundzüge der Regie- 
rungspolitik gegenüberden Genossenschaften, 
obgleich die Genossenschaften alles mögliche 
tun, um jeden politischen Verdacht unmöglich 
zu machenundsich einigerBewegungsfreiheit 
inden Augen der Regierung würdig zu zeigen, 

Im scheinbaren Widerspruch mit den angeführten Tatsachen 
steht das Streben der Regierung und der Zemstvos möglichst viele Ge- 
nossenschaften, namentlich Kreditvereine und Produktionsgenos- 
senschaften ins Leben zu rufen, doch erklärt sich der Widerspruch 
daraus, daß die Regierung sich des großen wirtschaftlichen Wertes der 
Genossenschaften bewußt ist. So kommt sie dem ausgesprochenen 
Bedürfnis der Bauernmasse, Genossenschaften zu gründen, entgegen 
und zieht es vor, die Bewegung selbst in der Hand zu halten, anstatt 
sie der Selbstbetätigung des Volkes und besonders der Führung der 
»verdächtigen« Intellektuellen anzuvertrauen. 

Aus den geschilderten Verhältnissen ergibt sich, daß einmal das 
russische Genossenschaftswesen sich ineiner rechtlich und po- 
litisch eingeengten Atmosphäre entwickelt, was, wie 
wir noch sehen werden, bei den einzelnen Genossenschaftsformen sich 
in verschiedener Weise, stets aber negativ äußert und zweitens, daß 
die Bewegung, namentlich die Kreditgenossenschaftsbewegung, die die 
Hauptrolle spielt, von den Regierungsorganen beherrscht wird und 
der Selbstbetätigung und Selbstverwaltung 
der Genossenschaften enge Grenzen gezogen 
sind. Bei dem niedrigen Bildungsgrade und der allgemeinen kultu- 
rellen Schwäche der Bauernmasse ist aber die genossenschaftliche Er- 
ziehung, die am besten durch Selbstbetätigung der Mitglieder erreicht 
werden kann, von der größten Wichtigkeit. Die Bevormundungspoli- 
tik reduziert die kulturelle Genossenschaftsarbeit auf ein Minimum und 
anstatt das genossenschaftliche Selbstbewußtsein der Masse zu kulti- 
vieren, erniedrigt und korrumpiert es dasselbe. Die Genossenschafts- 
presse ist von Klagen erfüllt, daß die Bauern ihre Genossenschaft nicht 
genossenschaftlich betrachten, sondern in ihr ein Instrument erblicken, 
das aus St. Petersburg Geld zum Verleihen ins Dorf auspumpt, auch 
bei Konsumvereinen und Produktivgenossenschaften kommt der 
Eigennutz viel stärker als das Genossenschaftsbewußtsein zum Vor- 

schein. Die politisch rechtliche Lage des russi- 
schen Genossenschaftswesens ist im Zusam- 
menhangmitdem niedrigen kulturellenStande 
der Bevölkerung dafür verantwortlich, daß 
die Genossenschaftsbewegung bei einem außer- 
ordentlichen quantitativen Aufschwung qua- 
litatıv rückständig erscheint und bei genos- 
senschaftlicher Form nur wenig genossen- 
schaftlichen Inhalt aufzuweisen imstande ist. 


Aschivw für Sosialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 1. 12 


178 ' - L. Pumpiansky, 


Dieser innere Wiederspruch erweckt Befürchtungen für die Zukunft der 
Bewegung. 


Die Kreditgenossenschaften. 


Der Dorfwucher hat in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhun- 

derts eine große Rolle im wirtschaftlichen Leben RußBlands gespielt; 
er repräsentierte das bäuerliche Kapital, welches in die kapitalistische 
Volkswirtschaft noch keinen Weg gefunden hatte und zur Ausbeutung 
des geldarmen Bauers, zur Proletarisierung desselben und zur Zerstörung 
der alten bäuerlichen Interessengemeinschaft verwendet wurde. Die 
russischen Schriftsteller, namentlich Glieb Yspensky, haben in farbi- 
gen Tönen den Dorfwucherer an der Arbeit geschildert. 
; Beim ersten Erwachen der Bauernschaft, sobald die Landwirt- 
schaft in den Kreislauf des modernen Kapitalismus miteinbezogen 
wurde, wurde die Beseitigung des Dorfwuchers, der 
für sein Geld 80—100 % Zinsen verlangte, zur Tagesfrage. Die Kre- 
ditgenossenschaft sollte die Frage lösen. 

Wie gesagt, ist die Kreditgenossenschaft in Rußland durch zwei 
Typen vertreten. Die älteste Form ist de Spar- und Dar- 
lehenskasse, die neuere ist der Kreditverein. Die 
Spar- und Darlehenskassen haben den Vorzug 
größerer Unabhängigkeit, setzen aber einen gewissen 
materiellen Wohlstand der Bauernschaft voraus, da sie ıhr Grundka- 
pital aus Beiträgen resp. Anteilen der Mitglieder zu bilden haben. Bei 
der Armut des russischen Bauern ist die Ausführung dieser Bedingung 
sehr erschwert und verzögert die Entwicklung der Genossenschaften 
dieses Typus. Wo aber solche Genossenschaften entstehen, stehen sie 
auf verhältnismäßig festem Boden, sie akkumulieren ein großes Kapi- 
tal und wirken erfolgreich. Die Dorfwucherer werden bald gezwungen 
ihre Feindschaft gegenüber der Spar- und Darlehenskasse zu dämpfen 
und einerseits den Zinsfuß erheblich zu erniedrigen, andererseits ihre 
Gelder der Kasse als Deposite zuzuführen. Nichtseltenkommt 
es aber vor, daßdie Wucherer, als Mitglieder 
der Genossenschaft, den genossenschaftlichen 
Geist korrumpieren und die Spar- und Darle- 
henskasse, anstatt die geldbedürftigen Mit- 
glieder möglichst billig zu bedienen, selbst 
zum gemilderten Wucherer wird. In den Spar- und 
Darlehenskassen, bei denen die Höhe der Dividenden per Anteil nicht 
begrenzt ist, erreichen die Dividenten die Höhe von 15—18 nnd sogar 
24%; im Jahre 1913 ist sogar ein Fall bekannt geworden, wo 72°%, 
ausgezahlt wurden; anstatt der Kreditgenossenschaft entwickelt sich 
öfters eine Dorfbank. Besonders ist der Spar- und Darlehenstypusın 
den Östseeprovinzen verbreitet, aber auch in den meisten anderen 
Provinzen finden wir ihn in größerer oder geringerer Menge zerstreut. 

Vorherrschend und entwicklungsfähig ist 
aber der Kreditvereintypus. Er erfordrt keine An- 


Die Genossenschaftsbewegung in Rußland. I 79 


teile und kennt keine Dividenden. Zur Gründung eines 
Kreditvereins ist nur die Erlaubnis des Gouverneurs 
und die Bewilligung seitens der Staatsbank oder 
des Zemstvo eines Grundkapitals, dasgewöhn- 
lich I000—3000 Rubel groß ist, notwendig; nach dem Gesetz 
von I9IO wurden 20 Millionen Rubel der Sparkassengelder für kre- 
ditgenossenschaftliche Zwecke bewilligt, die durch die Hauptverwal- 
tung des Kleinkredits den Kreditvereinen zugeführt werden. Die 
Abhängigkeit von der Regierung unterscheidet diesen 
Typus vom Raiffeisenschen; weitere Unterscheidungsmerkmale des 
russischen Kreditvereintypus bildendie Größe des Wirkungs- 
gebietes und die Menge der Mitglieder. Während 
Raitieisen den kleinen Dorfverein für die geeigneteste Form der Kre- 
ditgenossenschaft hielt, erstreckt der russische Kreditverein seine Tä- 
tigkeit auf ein größeres Gebiet und zählt gewöhnlich mehrere Hunderte 
von Mitgliedern, weil die wirtschaftliche Schwäche der einzelnen Bau- 
ernwirtschaften die Leistungsfähigkeit des kleinen Dorfvereins er- 
heblich beeinträchtigt. Die russische Erfahrung lehrt, daß die Kredit- 
vereine finanziell gut fundiert sind, wenn sie zirka 500 Mitglieder zäh- 
len und daß nur Kreditvereine mit 1000 und mehr Mitgliedern sich 
durch intensive Tätigkeit und durch Ausbildung von produktivgenos- 
senschaftlichen Operationen auszeichnen. Zugleich führt aber 
dieVernachlässigung des Raiffeisenschen Prin- 
zips zu zahlreichen Mißbräuchen. Der große Kre- 
ditverein ist nicht imstande, genaue Kenntnis über die Lebensfüh- 
rung der einzelnen Mitglieder zu haben, was bei der Verleihung von 
Geldern von eminenter Wichtigkeit ist; die Verantwortlichkeit der 
Vorstandsmitglieder ist bei einem großen Verein viel bedeutender und 
bei dem niedrigen Stande der genossenschaftlichen Schulung der rus- 
sischen Genossenschaften sind einmal die Vorstandsmitglie- 
der seitens der Mitglieder, die Geld nötig ha- 
ben, allerlei Versuchungen resp. Bestechun- 
gen ausgesetzt, und zweitens wegen Mangels einer 
sorgfältigen gegenseitigen Kontrolle der Ge- 
nossenschaften wird die Genossenschaft häu- 
fig zu unproduktiven Zwecken ausgenutzt und 
die Kreditnehmer geraten dadurch nur in neue Schwierigkeiten. Dem 
wird dadurch nicht geholfen, daß das Normalstatut der Kreditver- 
eine die Größe der Darlehen an jedes Mitglied mit 300 Rubeln be- 
schränkt. Im Gegenteil erscheint diese Bestimmung für die Vereine 
höchst schädlich, da die gegenwärtige landwirtschaftliche Technik 
größere Ausgaben auf einmal erfordert, für die der Kreditverein zweck- 
entsprechend die Mittel aufbringen sollte; durch die 300 Rubel-Be- 
schränkung wird der Kreditverein in produktiver Kreditgewährung 
beeinträchtigt und zu unproduktiven Darlehen angeregt. 

Zu weiteren Mißbräuchen gibt eine unsystematische 
Gründungvoneiner Menge vonKreditvereinen Veranlas- 


sung, ander die Regierung und die Zemstvos teil- 
12 


180 L. Pumpiansky, 


nehmen. Inden letzten 5 Jahren hat in diesen Kreisen eine Genos- 
senschaftsmode geherrscht, die Hunderte und ab:r Hunderte Kredit- 
vereine zur Welt gebracht hat. Es ist keine Seltenheit, heute in einem 
landwirtschaftlichen Bezirk zwei Zemstvokassen, eine Bezirks-Spar- 
und Darlehenskasse und 2 Kreditvereine zu finden, die alle, trotz der 
ursprünglichen Idee, daß die Zemstvokassen nur als Zentralkassen für 
die Genossenschaften wirken sollten, den Bauern des Bezirks zur Ver- 
fügung stehen. Die Wirkungssphären sind nicht bestimmt, die Kontrolle 
der Verschuldung fehlt und es konemt oft vor, daß ein und derselbe 
Bauer in mehreren Kreditinstituten ein Darlehen bekommt. Dadurch 
wird der Wert der solidarischen Haftung, die auch beschränkt sein 
kann, sowie des Verbots der Kreditgewährung über das Zehnfache 
des Grundkapitals hinaus, stark verringert. 

Je populärer die Kreditvereine werden, je größer die Mitglieder- 
zahl wird, je mehr Vertrauen und somit auch Spareinlagen und Depo- 
siten, die Kreditvereine von Genossen und Nichtgenossen an sich heran- 
ziehen, desto dringlicher wird die Notwendigkeit 
in der Kreditgenossenschaft Ordnung zu schaf- 
fen. Es finden in den meisten Provinzen und insbesondere in den 
südrussischen Gouvernements, wo sich die Kreditvereine am zahlreich- 
sten und mächtigsten entfaltet haben, häufige Kreistage statt, die die 
Frage zu lösen versuchen. Dabei geht aber die Tätigkeit der verschie- 
denen an der Bewegung beteiligten Elemente auseinander. Die 
Zemstvos möchten die Kreditvereine dem Ein- 
fluß ihrer Zentralkassen unterstellen, wogegen 
sich die Regierungsinspektoren nicht ohne Grund sträuben, da sie mit 
Recht in den Zentralkassen der Zemstvos ein kreditverteuerndes und 
mit den Kreditvereinen konkurrierendes Institut erblicken. Einmal 
fordern die Zemstvos einen verhältnismäßig hohen Zins, zweitens 
ziehen sie an sich die Ersparnisse heran, die sonst den Kreditvereinen 
zufließen würden (was von den Zemstvos geleugnet wird) und drittens 
gewähren sie den einzelnen Bauern Kredit, wodurch sie ihr Zentral- 
kassenwesen leugnen. Der letzte Grund ist am treffendsten. Die Re- 
gierungsvertreter in den Kreditvereinen ver 
teidigen die Organisationder Kreditvereinein 
Kreisverbände, die als Kreiszentralkassen fungieren sollen; 
derartige Kreisverbände sind in den letzten zwei Jahren in II Pro- 
vinzen entstanden und eine Reihe von Gesuchen sind aus verschiedenen 
Kreisen eingereicht worden. Als Mittelglied zwischen dem einzelnen 
Verein und dem Kreisverein sind kleinere Rayonverbände erwünscht, 
die die lokale Tätigkeit der Kreditvereine zu regulieren haben. Der- 
artige Kleinverbände sind in einzelnen Gegenden entstanden. Als Krone 
des ganzen Kreditvereinsystems ist von den Regierungsgenossenschaf- 
tern eine Föderation der Verbände in Form einer Zentralbank ange- 
strebt, daher kommt ihr Widerwillen und ihre Opposition gegen die von 
einer dritten Seite kommende Lösung des Organisationsproblems der 
Kreditgenossenschaftsbewegung, gegen de Moskauer Volks- 
bank, die vor zwei Jahren als genossenschaft- 


ahars; 


Die Genossenschaftsbewegung in Rußland. 181 


liches Zentralinstitut entstanden ist und zu glei- 
cher Zeit als Geldausgleichstelle, als Warenvermittler und als Bankier, 
das letztere namentlich für Konsumvereine, tätig sein möchte. Auf den 
Kampf der erwähnten Richtungen werden wir noch im weiteren zu 
sprechen kommen. Hier seinur erwähnt, daß,wie wichtig auch 
dieOrganisationsausbildungist, sie die die Kre- 
ditgenossenschaft gefährdenden Erscheinun- 
gen, wie die Konkurrenz der verschiedenen 
Kreditgenossenschaften miteinander, die Miß- 
bräuche, diewegen zu großer Tätigkeitskreise 
imeinen wegen NichtabgrenzungderWirkungs- 
sphären in anderen Fällen entstehen, sowie 
die Mißbräuche, diewegen Mangelsan genossen- 
schaftlichem Verantwortlichkeitsgefühl sei 
tens der Mitglieder und Vorstände bemerkbar 
sind, nicht ausrotten kann. 

Und wenn man das Bild des kolossalen Aufschwungs der Kredit- 
genossenschaftsbewegung von St. Petersburg bis Vladivostok, vom 
Norden bis zum Süden, in den entferntesten Nesten und selbst in den 
schwer bewegbaren Zentralprovinzen Rußlands sich vor Augen hält, 
wenn man die Berichte der Genossenschaftstage der verschiedenen 
Provinzen liest und die enthusiastischen Mitteilungen über Hunderte 
von neueröffneten Kreditvereinen, über das Vertrauen, das die Be- 
völkerung der Genossenschaften zeigt, indem es die Ersparnisse den 
Kreditvereinen zuführt, so daß die Depositen die Höhe von 50—70 % 
des genossenschaftlichen Betriebskapitals erreichen, dann wird man 
sich der Verantwortung der führenden Genossenschafter und der Not- 
wendigkeit der ernsten Arbeit an der Gesundung, der Heilung und 
Kräftigung aller bei einer neuen und so schnell emporgeblühten Be- 
wegung unausbleiblichen Defekte bewußt. Denn bei einer spontan und 
feuerwerkartig zustande gekommenen Massenbewegung ist stets die 
Gefahr vorhanden, daß die schwachen Punkte, wenn sie nicht recht- 
zeitig geheilt werden, bei der ersten von außen kommenden Gefahr 
für die gesamte Bewegung verhängnisvoll werden. 

Wenden wir uns nun der praktischen Tätigkeit der Kreditgenos- 
senschaften zu, Die genossenschaftliche Initiative stammt 
inder überwiegenden Mehrzahl der Fälle von 
der Dorfintelligenz und den Beamten. Volksschullehrer, 
Pfarrer und ihre Gehilfen einerseits, Zemstvo und Regierungsinspek- 
toren, Agronomen, Statistiker andererseits sind gewöhnlich die geisti- 
gen Urheber und Leiter der Bewegung, doch hat sich in den letzten 
Jahren auch ein erhebliches Kontingent von Bau- 
ern herausgebildet, die sich an die Spitze der lokalen Kreditvereine 
stellen, neue Vereine organisieren und leiten. Die Vorstandsäm- 
ter, die in Rußland, im Gegensatz zur Raiffeisenschen Lehre, b e- 
zahlt werden, sind fast ausschließlich von Bauern besetzt. 

Sind einmal die Schwierigkeiten, die mit der Gründung des Ver- 
eins verbunden, überwunden: das Statut bewilligt, die Intriguen und 


182 | L. Pumpiansky, 


- 


Hindernisse seitens der Dorfwucherer beseitigt, ein Grundkapital von 
der Staatsbank erhalten, dann beginnt die praktische Tätigkeit des 
Vereins als Kreditinstituts. In einem gemieteten oder vom Zemstvo, 
resp. der Regierung dem Verein zur Verfügung gestellten Lokal, 
in der letzten Zeit in eigenen Häusern, finden die Versammlungen des 
Vorstandes statt, wo die zwei wichtigsten Operationen der Kreditge- 
nossenschaften, die Annahme von Depositen und die Verleihung der 
Gelder ausgeführt werden. 

Entsprechend der Geldteuerung auf dem Lande ist auch der 
Zinsfuß bei den Kreditvereinen recht hoch. 
Für Deposite wird 6—8 % gezahlt, für Darlehen 10—12 %, gefordert. 
Im Vergleich mit den von den Wucherern erhobenen Zinsen erscheint 
der Kreditvereinszinsfuß den Bauern als eine Wohltat und sie bestür- 
men den Kreditverein mit Gesuchen, aber auch Depositen fließen den 
Vereinen reichlich zu; es hatten die Kreditvereine in 1909 19 Millio- 
nen Rubel = 53% ihres Kapitals, in ıgro 28 Millionen = 55 %, in 
ıgıı 55 Millionen = 67 %, gegenwärtig über 100 Millionen Rubel aus 
Depositen. Es wachsen die Depositen, es wächst das Kapital und der 
Kreditverein ıst ımstande, die Gesuche der Landleute zu befriedi- 
gen. Das Streben der Genossenschaftsvorstände ist dahin gerichtet, 
die Gelder zu produktiven Zwecken zu verleihen, dabei, wie erwähnt, 
finden aber zahlreiche Abweichungen statt, die häufig sich als Mib- 
bräuche des genossenschaftlichen Kredits erweisen. 

Da der Zusammenhang zwischen den Mitgliedern und der Genos- 
senschait nur ım Prozeß des Geldnehmens und Zurückzahlens besteht, 
höhere genossenschaftliche Zwecke oder wenigstens ein festeres Bin- 
dungselement fehlt, so stellt die Genossenschaftstätig- 
keit ein fortlaufendes Schaffen von Mitglie- 
dernundZurückstoßenderselben dar, dennesist 
eine weitverbreitete Vorstellung unter den 
Bauern, daß die Beziehung mit der Genossen- 
schaft sich nur darin äußert, daß der Bauer 
beim Verein Geld borgt: mit der Rückzahlung hält er sich 
nicht mehr für einen Genossenschafter. Dadurch wird der Kreditver- 
ein einer Privatbank gleichgestellt und die Rolle des Vorstands wird 
höchst verantwortlich, von den Mitgliedern wenig kontrolliert und 
daher willkürlich. Die angedeutete Vorstellung der Bauern wird zum 
Teil durch ihre Unwissenheit über die Haftung, der sie ausgesetzt sind, 
genährt. Es kommt oft vor, daß cin Bauer nur dann der Verantwor- 
wortung, die auf ihm, als dem Mitglied des Kreditvereins, liegt, bewußt 
wird, wenn sein Vermögen ex«kultiert wird. An einem p- aktischen Ver- 
ständnis und einer ernsten Teilnahme der Bauern an der Geschäfts- 
führung des Vereins fehlt es in den meisten Fällen und die ganze Arbeit 
liegt auf den Schultern des Vorstandes und einiger denkender Land- 
leute. 

Die meisten Darlehen sind kurzfristig, nur 
zirka 1 dergewährten ist langfristig, da aber di: 
Landwirtschaft größtenteils langfristigen Kredit erfordert, so werden 


Die Genossenschaftsbewegung in Rußland. 183 


die Genossenschaften genötigt ihre Anleihen immer wieder zu erneuern 
und in Zahlungsterminen sich an den Wucherer zu wenden, um der 
Genossenschaft das geliehene Geld zu bezahlen, bis die Genossenschaft 
eine neue Summe demselben Genossenschafter gewähren wird. So hat 
das Vorwiegen des kurzfristigen Kredits zur Folge, daß der Wuche- 
rer durch die Genossenschaft in gewissen Fäl- 
lengenährt wird, was den Zielen der Genossenschaften keines- 
wegs entsprechen kann. Nach dem Zwecke der Kreditgewährung be- 
trachtet, werden die genossenschaftlichen Gelder für die Anschaffung 
yon lebendem Inventar, für die Landpacht, für den Kauf von Waren, 
die zum Verkauf bestimmt sind, für unproduktive Zwecke, für Woh- 
nungsbauten, für Beschaffung der Rohstoffe, die in der bäuerlichen 
Hausindustrie verarbeitet werden, in kleineren Summen für Landan- 
schallung, Schuldenzahlung, Futter, Dünger usw. verliehen. 

Die Mannigfaltigkeit der bäuerlichen Bedürfnisse und die stür- 
mische Entwicklung der Genossenschaftsbewegung drängen die Kre- 
ditzenossenschaft, ihren Wirkungskreis zu erweitern und den Ankauf 
landwirtschaftlicher Bedarfsartikel, sowie den Verkauf landwirtschaft- 
licher Erzeugnisse für ihre Mitglieder zu übernehmen. Und obgleich 
das Gesetz von I9go4 den Kreditgenossenschaften derartige Operationen 
nur mit einem Spezialkapital, das aus Extrazahlungen der Mit- 
glieder oder aus Summen, die speziell für diese Zwecke den Genossen- 
schaften seitens der Behörden zur Verfügung gestellt würden, zusam- 
mengebracht werden soll, zu unternehmen gestattet, entwickelt sıch 
die Warenvermittlungstätigkeit der Kreditirenossenschaften in den 
letzten Jahren mit großer Geschwindigkeit. Besonders große 
Verbreitung hat der Ankauf von landwirt- 
schaftlichen Maschinen, von Baumaterialien, 
vonSamen, von Dünger usw.durch die Kreditver- 
eine resp. Spar- und Darlehenskassen gefun- 
den. Einzelne Kreditgenossenschaften organisieren den Absatz 
der landwirtschaftlichen Produkte ihrer Mitglieder, so ist z. B. be- 
kannt, daß die Dzengelwsche Spar- und Darlehenskasse, die als muster- 
haft nicht nur für das Kiever Gouvernement, sondern für Rußland aner- 
kannt wird, die Rüben, welche von ihren Mitgliedern angebaut werden, 
an 2 Zuckerfabriken verkauft und im Jahre Igro schon über eine 
Million Pud Rüben abgesetzt hat. Die Warenvermittlungstätigkeit 
der Kreditgenossenschaften hat einen Anstoß durch die Gründung 
von Kreisverbänden bekommen, da das Normalstäatut den letzteren 
den Ankauf von Waren für die Genossenschaften und den Verkauf der 
Produkte der Genossenschaften gestattet und die Warenvermittlung 
durch einen Verband stets mit größerem Erfolg betrieben werden kann. 
5o kommt es, daB dieZentralisationsbewegung der 
Kreditgenossenschaften, die große Fortschritte in 
den 3 letzten Jahren gemacht hat, eine kolos- 


sale Ausdehnung der Warenvermittlungsope- 


rationen der Kreditgenossenschaften mitsich 
brachte. Ja die Kreisverbände der Kreditgenossenschaften ver- 


184 L. Pumpiansky, 


suchten sogar die Vermittlung der persönlichen Gebrauchsartikel zu 
übernehmen, doch wurde ihnen seitens der Hauptverwaltung des Klein- 
kredits dieser Eingriff in die Tätigkeit der Konsumvereine verboten. 
Wir sehen, daß die Kreisverbände der Kreditgenossenschaften die 
Tendenz haben, ihren Wirkungskreis auf verschiedenste Gebiete der 
Genossenschaftsarbeiten auszudehnen, was aber auch bei den andern 
Genossenschaftsformen zu beobachten sein wird. 

Speziell muß die Rolle der Kreditgenossenschaf-. 
ten im Getreidehandel betont werden. Wie bekannt, ist 
der Getreidehandel eine der wichtigsten Branchen des russischen wirt- 
schaftlichen Lebens und seine ungenügende Organisation ist im höch- 
ten Grade schädlich sowohl für den Produzenten, wie für Rußlands 
Interessen auf dem Weltmarkte. Vor 2 Jahren wurde die Aufmerk- 
samkeit der Regierung sowie der Genossenschaften auf die Mißstände, 
die im russischen Getreidehandel herrschen, gerichtet und von beiden 
Seiten wurde eine energische Arbeit zur Sanierung des Getreidehan- 
dels unternommen. Die Staatsbank baut große Kornhäuser 
in den 8 Provinzen des Volgarayons und finanziert die Kre- 
ditgenossenschaften, die kleinere Kornhäuser 
bauen, Getreidelagerung und Lombardierung 
organisieren, sowie einen genossenschaftli- 
lichen Getreideabsatz versuchen. Während im Jahre 
I909 die Staatsbank den Kreditgenossenschaften für Getreideopera- 
tionszwecke einen Kredit von zirka 3 Millionen eröffnet hatte, der unter 
267 Kreditvereinen und Ig Spar- und Darlehenskassen verteilt wurde, 
gewährte die Staatsbank in 1912 einen Kredit von r9 Millionen Rubel 
an 1478 Kreditvereine und 2,6 Millionen an 166 Spar- und Darlehens- 
kassen. Diese Ziffern zeigen, welch große Hoffnungen die Regierung 
auf die kreditgenossenschaftliche Tätigkeit in der genannten Richtung 
setzt. 

Die Kreditgenossenschaften konnten aber den eröffneten Kredit 
im Jahre 1912 nicht voll ausnutzen und machten nur von zirka g Mil- 
lionen Rubel Gebrauch und 112 Genossenschaften erhielten Anleihen 
in der Höhe von 374 000 Rubel für Kornhausbauten. Die Tätigkeit 
der Kreditgenossenschaften im Getreidehandel besteht vorwiegend 
aus der Lagerung und Lombardierung des Getreides. Zirka 1000 Kre- 
ditgenossenschaften haben eigene Kornhäuser, von denen aber die 
Mehrzahl roch primitiv ist, 3/, der Kornhäuser sind Holzbauten und 
der Rest Steinbauten; in vielen Fällen sind die Dächer mit Löchern 
besät, das Getreide wird auf den Boden geschüttet usw. Verhältnis- 
mäßig gut sind die Kornhäuser in den Gouvernements Cherson, Ufa, 
Bessarabien, wo die Kreditgenossenschaften stärker und besser orga- 
nisiert sind, eingerichtet, Die Lombardierung wird von einer noch 
größeren Zahl betrieben, wobei gewöhnlich 75%, des Marktpreises den 
Bauern ausgezahlt wird, auch übernimmt die Genossenschaft auf 
Wunsch des Bauers den Verkauf des gelagerten Getreides. Genossen- 
schaftlicher Getreideabsatz ist noch in seinen allerersten Entwick- 
lungsstadien. Die gesamte Getreidehandelsorganisation der Genossen- 


Die Genossenschaftsbewegung in Rußland. 185 


schaften ist zwar groß angelegt, aber noch zu jung und noch zu wenig 
ausgebildet, um praktische Folgen von größerer Tragweite zu zeitigen 
und weitere Schlüsse über ihre Tendenzen zu gestatten. 

Die Kreditgenossenschaftsbewegung ist tief ins wirtschaftliche 
Leben der russischen Landwirte eingedrungen, sie hat einen erfolg- 
reichen Angriff auf den Dorfwucher gemacht, sie hat einen energischen 
Feldzug gegen den Zwischenhandel im Bezug von landwirtschaftlichen 
Bedarfsartikeln und im Verkauf von landwirtschaftlichen Erzeugnissen 
eröffnet, sie macht ernste Anstrengungen um den Getreidehandel zu 
sanieren, kurz die Kreditgenossenschaft ist bestrebt, 
den Landwirt als Produzenten zu heben und 
von der Masse der ihn umstrickenden Ausbeu- 
ter zu befreien. Doch wirkt sie nicht allein auf diesem Gebiete, 
einmal sind spezielle landwirtschaftliche Bezugs- und Absatzgenossen- 
schaften mit analogen Zwecken an der Arbeit und zweitens sind die 
zur hohen Blüte gelangten Molkereigenossenschaften, die auf ihrem 
Gebiet Großes geleistet haben, zu nennen. Wir wollen nun, um nicht 
die Genossenschaft als Faktor der wirtschaftlichen Hebung des land- 
wirtschaftlichen Produzenten zu verlassen, die erwähnten Genossen- 
schaftsformen von der Konsumvereinsbewegung betrachten. 


Produzentengenossenschaften. 


Die sogenannten dandwirtschaftlichen Genos- 
senschaften«, unter welchem Namen in Rußland allerlei Pro- 
duzentengenossenschaften in der Landwirtschaft bekannt sind, sind 
mm Tel mit landwirtschaftlichen Vereinen, die 
allgemeine, die landwirtschaftliche Kultur 
fördernde Zwecke haben und manchmal zu Zentralver- 
bänden sich entwickeln, verbunden, zum Teil haben sie eine selbstän- 
dige Geschichte. Es kommt vor, daß ein landwirtschaftlicher Verein 
sich in eine Produzentengenossenschaft umwandelt oder eine Produ- 
zentengenossenschaft ins Leben ruft, in anderen Fällen entstehen der- 
artige Genossenschaften selbständig. Bekannt sind Produzentenge- 
nossenschaften verschiedenster Art, so z. B. Flachsverarbeitung, Ver- 
arbeitung und Verkauf von Gemüse, Kartoffelmehl-, Viehzucht-, Bie- 
nenzucht-, Samenabsatz-, Fisch-, Honig-, Eierabsatzgenossenschaften 
u. de. mehr. Aber diese Produzentengenossen- 
schaften sind nur im Entstehen begriffen und 
haben gegenwärtig viel mehr eine potenzielle 
als eine praktische Bedeutung. Im ganzen gibt es 
einige Hunderte dieser Genossenschaften, äie sich mit verschiedenen 
landwirtschaftlichen Produkten befassen; die geringe Entwicklung der 
Produzentengenossenschaften erklärt zum Teil das ausgesprochene 
Streben der Kreditgenossenschaften, die Rolle der Produzentenge- 
nossenschaften zu übernehmen. Eine Ausnahme von dem Gesagten 
bilden die Molkereigenossenschaften, die in den letzten 5 Jahren ganz 


186 © L. Pumpiansky, 


Hervorragendes geleistet haben und eine eingehendere Schilderung 
verdienen. | 

Westsibirien ist das Land der Molkereige- 
nossenschaften. Die fruchtbaren Fluren Westsibiriens sind 
gut geeignet für Viehzucht; der Mangel an Kapital und Transport- 
mitteln war aber lange ein Hindernis zur Entwicklung der Viehwirt- 
schaft; nach der Vollendung des Baus der sibirischen Bahn beginnt 
der Aufschwung der Milchwirtschaft in Westsibirien, der bald zu 
einem Molkereigenossenschaftsfieber wird. Die Industrie fällt in die 

Hände der Zwischenhändler, Molkereifabrikanten und Exporteure. 
Genossenschaften entsteben seit 1890 hier und da, spielen aber bis in 
den Anfang unseres Jahrhunderts gar keine Rolle. 

Erst im Jahre 1902 wird im landwirtschaft- 
lichen Verein in Kurgan (Westsibirien) die Frage 
der Hebung und Förderung der sibirischen 
Milchwirtschaft aufgeworfen und durch ein Mitglied 
des Vereins, A. Balakschin, dem Jandwirtschaftlichen Ministerium 
in St. Petersburg ans Herz gelegt. Die Lösung der Frage wird in Mol- 
kereigenossenschaften gefunden und die nächsten Jahre bringen zirka 
200 Molkereissenossenschaften in der Provinz Tobolsk zur Welt. Die 
genossenschäitliche Idee findet in Westsibirien eine sehr herzliche 
Aufnahme. Von einem Dorfe zum andern schreitet sie fort und macht 
immer neue Eroberungen. Trotz der heftigen Opposition seitens der 
Privatkapitalisten gelingt es den Butterariels ihr Dasein erfolg- 
reich zu beliaupien. Die Zahl der Genossenschaften 
wächst, und Hunderte von neuen Artels werden 
gegründet, bis dic Privatfabrıkanten aus der 
Tobolskprovınz nahezu vollständig und aus 
der Tomskprovınzzum größern Teil verdrängt 
werden. Die sibirischen Molkereigenossenschaften sind mit den 
neuesten technischen Vervollkommnungen in der Butterproduktion 
versorgt und auch organisatorisch stehen sie, dank der außerordent- 
lich energischen und sachkundigen Tätigkeit des erwähnten A. Ba- 
lakschin, aul der Höhe. Von großer Bedeutung ist das von den sibiri- 
schen Molkereigenossenschaften gepfleste Prinzip, resp. die an die Mit- 
glieder gerichtete Forderung, daß ihre gesamte Milch der Genossen- 
schaft zugetührt werde Dieser Milchlicferungszwang 
hat sich für die Genossenschaften sehr wohl 
tätig erwiesen, besonders in der Atmosphäre 
eines erbitterten Kampfes mit den Privatbut- 
terproduzenten. 

Įm Jahre 1908 zählte man rund 800 Molke’eigenossenschaften 
in Wesisibiiien mit 120 000 Mitgliedern, 700 000 Kühen und einem 
Jahresumsatz von I6 Millionen Rubel, heute sind über 2000 Molke- 

reigenossenschäften an der Arbeit und ihre Mitgliederzahl und iht 
Umsatz ist entsprechend emporgewachsen. 

Nachdem die Molkerergenossenschaften in Westsibirien die Pro- 
dukiion erobert, gingen sie zur Beseitigung der Ausbeu- 


Die Genossenschaftsbewegung in Rußland. 187 


tung seitens der Exportfirmen und der Kaufleute. 
Zu diesem Zwecke wurde im Jahre 1908 in Kurgan der Ver- 
band der sibirischen Butterproduktionsar- 
tels gegründet, an dem sich zunächst nur I2 Genossenschaften 
beteiligten. An der Spitze des Verbandes stand Balakschin, der dem 
jungen Verband einen Erfolg zu sichern wußte; in der Tat sind die 
Verdienste Balakschins in der Organisation des genossenschaftlichen 
Butterabsatzes aus Sibirien sehr groß. 

Der Verband besteht gegenwärtig aus 600 Butterproduktions- 
artels, hat ıı Niederlassungen in den größten Handelspunkten West- 
sibiriens, seit IgIO hat er eine Filiale in Berlin und ein Abkommen 
mit der Nationalbank und seit Dezember 1912 funktioniert in Lon- 
don die »Union of the Liberian Co-operative Associations, Std.«, mit 
einem Kapital von £ 105 000, die den Absatz der landwirtschaftlichen 
Produkte, die von den russischen Genossenschaften erzeugt werden, 
ın Großbritannien und auf dem Kontinent Europas sich zur Aufgabe 
gestellt hat. Der Verband der sibirischen Butterproduktionsartels 
verkauft durch die Union seine Butter nach England. Das Resultat 
dieser Organisatıonsarbeit der Molkereigenossenschaften ist das Ver- 
drängen der Exportfirmen aus Sibirien; während in 1908 r6 
Exportfirmen in Westsibirien tätig waren, 
hielten in 1913 nur 8 Firmen stand. Der Verband hat 
ein eigenes Haus in Kurgan, hat eine Buchdruckerei, einige Dampfer, 
die er anzuschaffen gezwungen wurde, da die Exportlirmen die Damp- 
feryesellschaften bewogen haben, die Verbandswaren mit einem 
höhern Ausnahms-Frachtpreis zu belasten, um die Konkurrenz des 
Verbands auf diesem Wege zu brechen; der Verband hat auch sein 
eigenes Wochenblatt, die »Volkszeitung« die in Kurgan heraus- 
gegeben wird. 

-Der Verband der sibirischen Butterproduk- 
tionsartels hat in den letzten Jahren seine Tätirkeit auf die 
Beschaffung von Lebensmitteln für seine Mitzlieder erweitert, er hat 
mehrere Hunderte Läden erölfnet und reprä- 
sentiert ihnen gegenüber eine Großeinkaufs- 
gesellschaft mit einem Umsatz von zırka I 
Million Rubel. Der Aufschwung der Molkereigenossenschaiten 
in Westsibirien hat auch zu andern Genossenschaftsgründungen An- 
1aß gegeben und ungefähr 1000 Kreditvereine und Spar- und Darle- 
henskassen sind neuerdings entstanden, die schon das Warenvermitt- 
lun:s- und das Getreidelombardierungsgeschäft in Angriff genommen 

haben. 

Weniger imposant, aber ebenfalls erfolgreich haben sich die Mo l- 
kereigenossenschaften in cinigen Zentralprovinzen, na- 
mentlich im Gouvernement Moskau entwickelt; größere Be- 
deutung wegen ihres Exportcharakters haben 
sie im nördlichen Gouvernement Vologda ge- 
wonnen. Auch hier ist ihre technische und wirtschaftliche Orga- 
nısation zu loben; sie bilden aber in Vologda nicht das beherrschende 


188 L. Pumpiansky, 


genossenschaftliche Element, sondern gliedern sich mit den andern 
Formen der Genossenschaftsbewegung unter der Leitung der nörd- 
lichen genossenschaftlichen Zentrale des Vologda-Vereins für Land- 
wirtschaft, der besondere Aufmerksamkeit der Entwicklung und Stär- 
kung der Molkereigenossenschaften geschenkt hat. Vor kurzem haben 
die Vologda-Genossenschaften mit der Londoner Union ein Ueberein- 
kommen getroffen zwecks Verkaufs ihrer Butter nach London. 

Die Molkereigenossenschaften sind inRuß- 
land das wirtschaftlich am besten fundierte 
genossenschaftliche Element, und wenn auch in den 
sibirischen Artels manche innere Reibungen zwischen den Mitgliedern, 
die mehr kapitalistisch und denen die mehr genossenschaftlich ge- 
stimmt sind, vorhanden sind, hält doch die stramme Organisation und 
das bewußte wirtschaftliche Interesse die Artels kräftig zusammen 
und drängt sie zur weitern Ausdehnung ihrer Tätigkeit und zu neuen 
Eroberungen, die momentan, wie erwähnt, auf konsumgenossenschaft- 
lichem Gebiete liegen. Wir wollen uns nun der Untersuchung der Kon- 
sumvereine zuwenden. 


. > 


Konsumgenossenschaften, 


Die genossenschaftliche Organisation der russischen Konsumen- 
ten nimmt in der gesamten russischen Genossenschaftsbewegung eine 
besondere Stellung ein. Wie die früher dargestellten Genossenschafts- 
typen trägt auch sie gegenwärtig einen bäuerlichen Charak- 
ter, insofern die überwiegende Mehrzahl der Ge- 
nossenschaftenundGenossenschafterdemDortfe 
resp. dem Bauerntum angehört. Die in 1907 einge- 
setzte Teuerung hat die erwachte Selbstbetätigungslust der Bauern 
zur Gründung von Konsumvereinen gedrängt und die Konsumvereins- 
bewegung als eine bäuerliche Bewegung gestaltet. Wie stark das Kon- 
eumvereinsgründungsfieber war, wird uns an dem Beispiel der Kon- 
sumvereine im Kiever Gouvernement klar werden. Während in der 
Periode 1888—1906 nur 37 Konsumvereine in der genannten Provinz 
gegründet wurden, entfielen auf die folgenden Jahre: 

in Igo7 142 Gründungen 

in 1908 177 P 

in IGOQ IOO P 

in IQI0 I05 T 
'Es ist aber für die Konsumvereinsbewegung charakteristisch, daB in 
ihrauch nichtbäuerliche Elemente erfolgreich 
auftreten und trotz der quantitativen Vor- 
herrschaft der bäuerlichen Vereine, die füh- 
renden Kräfte, die geistige, intellektuelle 
Energie anderen sozialen Schichten entnom 
men werden. Es spielen nämlich in der Konsumvereinsbewegung 
außer den bäuerlichen Dorfvereinen städtische Vereine der Arbeiter 
und gemischter Bevölkerungselemente eine Rolle. Und zwar geben 


Die Genossenschaftsbewegung in Rußland. 189 


die unabhängigen Arbeitervereine trotz ihrer 
materiellen Schwäche der Bewegung einen ge- 
wissenAnstrich,der sie von den anderen rein 
bäuerlichen Formen unterscheidet. 

Wie an anderer Stelle schon erwähnt wurde, sind die Fabrik- 
arbeiter im Jahre 1907 mit groBer Wucht auf dem Gebiete der Konsum- 
vereinsbewegung aufgetreten, mußten aber in kurzer Zeit unter dem 
Drucke innerer und äußerer Angriffe sich zurückziehen und hinter- 
ließen eine Reihe von schwachen Vereinen und recht viele intellek- 
tuele Genossenschaften, die sich dem Konsumvereinswesen gewid- 
met haben. Einige Arbeiterkonsumvereine, die die kritischen Reak- 
tionsjahre 1908—9 überstanden haben, gelangten in den nächsten Jah- 
ten zu hoher Blüte, so hat z. B. der Konsumverein der Arbeiter der 
russisch-belgischen metallurgischen Gesellschaft in Enakievs nach 
einem Schwanken in den Jahren 1908—9, seine Mitgliederzahl von 
825 (in 1909) auf 5862 in 1912 emporgebracht, sein Kapital hat 100 000 
Rubel und sein Umsatz über ı Million Rubel erreicht, der Verein hat 
3eigene Bäckereien, eine Schuh- und Kleiderfabrik, eine eigene Fleisch- 
handlung, eine billige Restauration, eine groBe Bibliothek und einen 
Fonds für Erziehung begabter Kinder der Mitglieder. Zahlreiche Ver- 
eine der Fabrikarbeiter führen jedoch bis jetzt ein unsicheres Dasein. 

Die Arbeiterkonsumvereine erscheinen in 
den meisten Fällen als Träger der genossen- 
schaftlichen Propaganda, als Urheber und 
Leiter der verschiedenen kulturellen und Bil- 
dungstätigkeitder Genossenschaften, alsEin- 
berufer und Führer der Kongresseund Organi- 
satorender Verbände. 

Die kleinbürgerlichen, Beamten- usw. Konsumvereine sind eben- 
falls als eine genossenschaftliche Kraft aufgetreten und bewegten 
sich in vielen Fällen in derselben Richtung wie die -Arbeitervereine, 
5o ist die Begründung des Moskauer Verbandes der Konsumvereine 
im Jahre 1896 den Vertretern der kleinbürgerlichen Konsumvereins- 
bewegung zu verdanken. Der Verband, der als Großeinkaufsgesell- 
schaft tätig ist, hat sich aber erst seit 1907 mächtig entfaltet, seit der 
Zit als die Arbeiterelemente und ihre Führer die Bewegung belebt 
haben. Während der Verband im Jahre 1906 nur 149 Vereine als Mit- 
glieder zählte und einen Umsatz von nur 290 760 Rubel machte, ver- 
einigte er in 1912 765 Vereine, erreichte einen Umsatz von über 6 
Millionen Rubel und hat eine sehr bedeutende Propagandaarbeit 
verrichtet. 

Die Konsumvereinsbewegung ist somit gegenwärtig noch eine 
sozialgemischteBewegung, in der die verschie-. 
denenElementenicht imVerhältniszuihrer ma- 
teriellenStärke,sondern ihrergenossenschaft- 
lichen Tatkraft und Aufklärung die führende 
Rolle spielen. Diese Lage der Dinge wird aber im Prozeß der 
Erstarkung des bäuerlichen Genossenschaftswesens in ihren Grund- 


190 L. Pumpiansky, 


lagen gefährdet. Die bäuerlichen Konsumvereine 
bilden mit jedem Jahre einen größeren Be- 
standteil im Moskauer Verbande und bereiten da- 
mit die Veränderung des Charakters der Großeinkaufsgesellschaft 
vor, andrerseits treten die neu erstandenen Vereine 
in den verschiedenen Gebieten Rußlands näher 
aneinander heran. Sie vereinigen sich zu Lo- 
kalverbänden, die dem altrussischen Mos 
kauer Verband Opposition machen, und drittens 
sucht derein bäuerliche Kreditgenossenschaft 
den Einfluß auf die bäuerlichen Konsumver- 
cine den Moskauer Genossenschaftern,die die 

städtische, insbesondere die Arbeiterkon- 
sumvereinsbewegung vertreten, zu entziehen. 
Indessen sind aber auch die Modan an der Arbeit: sie sind bestrebt, 
ihre Hegemonie auf die gesaınte Konsumvereinsbewegung zu €r- 
strecken und sich eine cinflußreiche Stellung in der gesamten russischen 
Genossenschaftsbewegung zu sichern. Die Moskauer Volksbank, die 
als zentrales genossenschaftliches Kreditinstitut gedacht ist, ist für 
die Konsumvereine von größter Bedeutung und steht unter gewissem 
Einfluß der Moskauer Großcinkaufsgesellschaft. Es spielt sıch 
somit ın der Konsumvereinsbewegung und 
durch sie auch in der gesamten Bewegung ein 
innerer Kampf verschiedener an der Bewe- 
gung beteiligtersozialer Kräfte ab,ein Kampf, 
der von beiden Seiten mit immer wachsender 
Erbitterung geführt wird. Die städtischen 
resp. Arbeıtergenossenschafter haben ihre 
Positionen in den Zentralinstituten der Be- 
wegungbefestigt;siestehensomit ander Spitze 
und suchen von oben herab die Bewegung un- 
ter ıhr Dach zu sammeln und werden daher 
von den Gegnern »Zentralisten« genannt, die 
De Genossenschafter sind aber in 
Massen zerstreut, sie sammeln allmählich ihre 
Kräfte und drängen von unten zur Organisa- 
tion ihrer Bewegung durch lokale Verbands 
geründungen und werden daher »Föderalisten« 
genannt. Auf den Kampf dieser Richtungen werden wir noch 
zurückkommen, jetzt müssen wir die praktische Arbeit der Konsum- 
vereine unter die Lupe nehmen. 

Die Praxis des russischen Konsumvereinswesens ist ebenso man- 
nirfaliig wie die Konsumvereinstypen. Die ländlichen Dorfvereine 
sind sowohl nach der Mitgliederzahl wie nach den Umsätzen bedeu- 
tend kleiner als die bürgerlichen und die Arbeitervereine. Ein Dorf 
verein hat durchschnittlich gegen 125 Mitglieder, wobei die Schwan- 
kungen der Mitgliederzahl zwischen 80 und 250 sich bewegen; in den 
anderen Konsumvereinsgruppen beträgt die durchschnittliche Mitglie- 


En e = nn U a A nn = Su U E E el VS 


Die Genossenschaftsbewegung in Rußland. 191 


derzahl 450 und erreicht in vielen Fällen die Höhe von mehreren Tau- 
senden. Auch die Kaufkraft der Mitglieder der verschiedenen Kon- 
sumvereinstypen ist bei weitem nicht gleich, so kauft ein Mitglied 
der ländlichen Bauernvereine durchschnittlich ım Verein Waren für 90 
Rubel per annum ein, in den städtischen unabhängigen Arbeiterver- 
einen nur für 73 Rubel; in den städtischen bürgerlichen dagegen für 
138 und in den Arbeitervereinen, die in entlegenen Orten als Fa- 
prikvereine gegründet sind, für 159, in den Konsumvereinen, die von 
Eisenbahnbeamten und Arbeitern organisiert wurden, sogar für 187 
Rubel. 

Der Wohlstand der Mitglieder und die Konkurrenz der Händler 
sind die wichtigsten Faktoren, die die Größe des Einkaufs im Verein 
bestimmen. Die russischen Konsumvereine sind 
heute noch nicht imstande, mit einem starken 
Privathändler zu kämpfen, sie behaupten ihr Dasein 
nur da, wo sie mit schwachen Gegnern zu tun haben, wo keine scharfe 
Konkurrenz auftritt. Die Eisenbahner- und Fabrikvereine sind vor 
einer Privatkonkurrenz verhütet, ihre Mitglieder haben wenig Gele- 
legenlieit, wo anders ihren Bedarf zu decken und kaufen daher für 
größere Summen in der Genossenschaft ein; die Konkurrenz wird größer 
im Dorfe, wo die Dorfhändler seit Jahrzehnten sich eingenistet haben, 
Ihre Kundschaft gut kennen und ihren Bedarf sowie ihren Geschmack 
zu befriedigen wissen, am schwierigsten ist es aber für die städtischen 
Arbeitervereine, die Arbeiterkonsumenten den sie von allen Seiten be- 
stürmenden Privathändlern zu entreißen. Die Armut der Ar- 
beiter und Bauern bildet ein Hindernis zur 
Ansammlung eines konkurrenzfähigen Kapi- 
tals; während in den bürgerlichen Vereinen das durcl;scihnittliche 
Guthaben 20 Rubel beträgt, beträgt es in den Arbeiterverceinen bloß 
7,79 Rubel, in den bäuerlichen ist es 17,95 Rubel groß, es nelimen aber 
nur wohlhabende Bauern an der Genossenschaftsbewerung teil, die 
Bauernmasse erscheint größtenteils nur als Käufer. Wenn nun ein 
Kapital vorhanden ist, dann treten geschäftliche Schwie- 
Tigkeiten auf: was soll angeschafft werden und woher soll der 
Verein seine Waren beziehen; die meisten kleinen Vereine begnügen 
sich mit dem Ankauf von den notwendigsten Lebensmitteln, die verhält- 
nısmäßig schnell umgesetzt werden können, nur die reicheren Vereine 
vermitteln Schuh- und Kleiderwaren ; es kommt aber sehr häufig vor, 
daß die Einkaufskalkulation verfehlt war und der Verein erleidet einen 
Verlust; üblich ist es, dßdieKonsumvereinedie Waren 
aus zweiten und dritten Händen zu Preisen, 
die höher sind, als die, welche von den Privat- 
händlern gezahlt werden, anschaffen. Wenn man 
noch dazu in Betracht zieht, daßdie Buchführung in zahl- 
reichen Fällen von unerfahrenen Geschäfts- 
führern verpfuscht wird urd daß mit Unerfahrenheit 
recht häufig Unehrlichkeit verbunden ist, so wird 
man der schlimmen Verhältnisse bewußt, in 


192 L. Pumpiansky, 


denen die Praxis der russischen Konsumver- 
eine verläuft. 

Aber das größte Uebel der russischen Kon- 
sumvereine ist ihre Vernachlässigungderwich- 
tigsten Rochdaler Prinzipien. Die russischen Kon- 
sumvereine verkaufen an Nichtmitglieder und geben Kredit, anstatt 
nur an Mitglieder und für Bargeld zu verkaufen. Und zwar ist diese 
Praxis so tief in das russische Konsumvereinswesen eingedrungen, 
daß eine Heilung nur mit den größten Schwierigkeiten stattfinden 
könnte. Der Verkauf an Nichtmitglieder macht 
4% des gesamten Konsumvereinverkaufs, in 
den ländlichen Vereinen sogar 52,8 % aus. 59,8%, des gesam- 
ten genossenschaftlichen Verkaufes geschieht 
nicht gegen Bargeld; in den ländlichen Vereinen ist das 
Verhältnis günstiger, nur 20 %, wird nicht gegen Bargeld verkauft, 
dafür sind aber die Preise sehr verbilligt. Die Verschuldung der Mit- 
glieder beträgt im Verhältnis zu ihrem Guthaben in den bürgerlichen 
Vereinen 60 %,, in den Fabrikvereinen 125,4 %, in den bäuerlichen 
Vereinen 31 % und in den unabhängigen Arbeitervereinen 24%. Da- 
her ist auch der Preisaufschlag in den russischen 
Kreditvereinen 13% hoch, während er in Deutschland 
und in der Schweiz bloß 2 % beträgt. Die russischen Konsumvereine 
sind nicht imstande, die Waren den Konsumenten bedeutend zu ver- 
bessern und zu verbilligen, sie haben sich denselben Verhältnissen zu 
unterwerfen, die von den Privathändlern ausgenutzt werden. 

Der Verkauf an Nichtmitglieder ist zwar für 
das Bestehen der russischen Konsumvereine vorteilhaft, er wirkt 
aber im höchsten Grade demoralisierend auf 
den genossenschaftlichen Charakter der Ver- 
eine. Die Mitglieder des Vereins bereichern sich auf Kosten der 
Nichtmitglieder, die im Verein einkaufen; anstatt einer Genossen- 
schaft entsteht somit eine Handelsgesellschaft. Das genossenschaft- 
liche Bewußtsein ist in der russischen Volksmasse noch so wenig ent- 
wickelt, daß derartige Auswüchse mit großer Leichtigkeit vorkom- 
men können. Wenn aber der genossenschaftliche Geist in einem Kon- 
sumverein nicht vorhanden, dann verliert das Unternehmen ein ge- 
nossenschaftliches Interesse, es handelt sich nunmehr nur um die 
Auschüttung der Dividende; für genossenschaftliche 
und kulturelle Zwecke wird so wenig wie mög- 
lich gesorgt; die russischen Konsumvereine spenden für kul- 
turelle und unterstützende Zweke weniger als 2 % ihrer Profite. 
= Eine weitere Konsequenz der Vernachlässigung genossenschaft- 
licher Prinzipien ist das Verhältnis der Konsumvereine zu ihren Ar- 
beitern und Angestellten. Klagen auf schlechte Behandlung, auf 
schlechte Entlohnung usw. sind in sehr vielen Konsumvereinen und 
auch in den unabhängigen Arbeitervereinen laut geworden. Die Lö- 
sung dieser wunden Frage wird um so schwieriger, je mehr sich die 


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Die Genossenschaftsbewegung in Rußland. 193 


Genossenschaften mit kapitalistischem, provitjägerischem Geiste er- 
füllen. 

Wie wir sehen, ist die russische Konsumvereinsbewegung in ihren 
Grundlagen sehr unsicher und vom genossenschaftlichen Standpunkte 
aus betrachtet sehr anfechtbar. Das Streben aller genos- 
senschaftlich gesinnten Elemente ist auf die 
Gesundung und Reformierung der Bewegung 
gerichtet. In der Tat kann die gegenwärtige Lage der Konsum- 
vereine nur zu einer weiteren Ausartung der Bewegung führen. 

Die Reform muß sich sowohl auf das praktische Wirken, wie auf 
die genossenschaftliche Aufklärung beziehen. Die Prinzipien der 
Rochdaler Pioniere, Verkauf nur an Mitglieder und nur gegen Bar- 
zahlung, wird den Konsumvereinlern immer wieder empfohlen; die 
Durchführung derselben ist aber in den russischen Verhältnissen von 
heute wegen der Armut der Bevölkerung und des Mangels an genos- 
senschaftlicher Schulung sehr erschwert. Leichter ist die Beseitigung 
der schlechten Geschäftsführung und diesem Ziele sind die genossen- 
schaftlichen Bemühungen und Kräfte gegenwärtig gewidmet. 

Einmal müssen die Leiter der Konsumvereine mit den notwendi- 
gen Elementen der Buchführung, mit dem notwendigen Rüstzeug 
kaufmännischer Tätigkeit bekannt gemacht werden; was mit Hilfe 
von besonderen genossenschaftlichen Kursen, 
von einer diesen Fragen gewidmeten Literatur, vonwandern- 
denInstruktoren, zu erreichen versucht wird. Die in den 
verschiedenen Provinzen tagenden Versammlungen der Vertreter der 
Konsumvereine befassen sich ernst mit dieser Frage und tun alles 
mögliche, um praktische Genossenschafter, gute Konsumvereinleiter 
zu schaffen. Die Aufgabe ist aber bei dem Stande der kulturellen 
Entwicklung der russischen Volksmasse und selbst ihrer besten Ver- 
treter keine leichte. 

Zweitens muß der Einkauf der ,verschiedenen 
Konsumvereine konzentriert werden, um die 
Zwischenhändler auszuschalten und die Waren aus erster und bester 
Quelle zu billigsten Preisen anzuschaffen. Das kann nur durch Groß- 
einkaufsgesellschaften erreicht werden. 

Trotz der Hindernisse, die der Konzentration der genossen- 
schaftlichen Tätigkeit seitens der Regierung stets vorgehalten wur- 
den, fehlt es an Versuchen, den Einkauf der Konsumvereine zu orga- 
nisieren, nicht. Esgelang zunächst dm Moskauer Verbande, 
praktischen Boden zu betreten und sein Dasein zu behaupten. Wie 
an anderer Stelle erwähnt, hat der Moskauer Verband sich in den 
letzten Jahren stark entwickelt und bedient gegenwärtig über 750 
Vereine mit über 200 000 Mitgliedern und einem Umsatz von 50 Mil- 
lionen Rubel; diese Vereine sind aber zur Hälfte städtische Vereine 
und der Umsatz des Verbandes ist nur 6 Millionen Rubel groß. Trotz 
der kolossalen Entfaltung der Moskauer Großeinkaufsgesellschaft, trotz 
zahlreicher erfolgreicher Operationen derselben kann sie nur als An- 
fang der Organisation des Großeinkaufs betrachtet werden. Das ist 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 1. 13 


194 L. Pumpiansky, 


auch die Ansicht des Moskauer Verbandes, der mit allerKraft 
bemüht ist, seine Tätigkeit auszudehnen und 
zu befestigen. Die Politik des Moskauer Verbandes geht da- 
hin, Niederlassungen in den wichtigen Punkten 
der Konsumvereinsbewegung, sowie in den 
wichtigsten Handelszentren zu gründen Im 
Jahre ıgıı hat der Moskauer Verband Filialen in Rostoff a. D., in 
Kiev und in Belaja Zerkoff eröffnet. In Kiev hat der Verband die 
Tätigkeit des Kiever Verbandes, der sein Leben frühzeitig, wegen 
Mangels an Kapital und wegen schlechter Geschäftsführung zu be- 
endigen hatte, übernommen. Die Filialen arbeiten verhältnismäßig 
erfolgreich, im Jahre 1912 hatte die Kiever Filiale einen Umsatz von 
400 000 Rubel, die Rostover von 600 000 Rubel und die Nieder- 
lassung in Belaja Zerkoff 200 000 Rubel. Im nächsten Jahre ist 
der Umsatz der Filialen noch bedeutend größer geworden, besonders 
bei der Rostover Niederlassung, die die Konsumvereine eines großen 
Rayons mit Wurstwaren, Weizenmehl, Tabak, Makaroni, Wein usw. 
versorgt. 

Parallel der Tätigkeit des Moskauer Ver- 
bandes entstehen und entwickeln sich Provin- 
zialverbände in verschiedenen Teilen Rub- 
lands. Es wirken gegenwärtig der Permer Verband, der Uralver- 
band und der Verband Südrußlands; eine Reihe anderer Verbände, 
unter denen der St. Petersburger Verband zu nennen ist, sind im Ent- 
stehen begriffen. Diese Verbände sind von Lokalvereinen der resp. 
Provinzen ins Leben gerufen worden und vertreten die ländlichen und 
zum Teil die Fabrikvereine. Um die Tätigkeit dieser Verbände zu 
erleichtern, wird jetzt die Idee kleiner Verbände ener- 
gisch vertreten, die durch die Provinzialverbände die Produkte be- 
ziehen und sie dann unter den einzelnen Vereinen zur Verteilung brin- 
gen würden; diese kleinen Bezirksvereine könnten die Tätigkeit der 
Provinzialverbände planmäßiger und erfolgreicher machen und keine 
großen Extrakosten erfordern. Derartige Kleinverbände 
sind schon im Südwesten Rußlands erprobt 
worden und finden auch in manchen andernGe- 
genden Aufnahme. 

Während also die Organisation des Einkaufs schnelle Fortschritte 
macht, stößt sie auf ein schwer überwindbares Hinder- 
uis, sobald es zur Frage der Zentralorganisa- 
tion für Rußland kommt. Wir haben schon auf das innere 
Wesen des Konfliktes der Zentralisten und Föderalisten die Aufmerk- 
samkeit gerichtet, wir haben oben gezeigt, wie die Organisationsar- 
beit von zwei Seiten ausgeführt wird. Wären keine innere 
Reibungen vorhanden, so müßte die Organisa- 
tionsarbeit beider Elemente zum Ausbau eines Organisa- 
tionssystems führen. Die Provinzialverbände würden ihre 
Tätigkeit dem Moskauer Verbande koordinieren und der Moskauer 
Verband würde seine Arbeit von den Provinzialverbänden abhängig 


Die Genossenschaftsbewegung in Rußland. 195 


machen. Gegenwärtig stehen außer allgemeinen, 
prinzipiellen Bedenken, manche praktische 
Bedenken der Vereinheitlichung des Organi- 
sationsbaus auf dem Wege. Die Provinzialverbände 
bezweifeln die Zweckmäßigkeit der Uebergabe ihrer Kapitalien an den 
Moskauer Verband, sowie die Zweckmäßigkeit der Existenz einer 
Zentralorganisation; sie wünschen ihre finanzielle und organisatori- 
sche Selbständigkeit aufrecht zu erhalten und den Großeinkauf 
den verschiedenen Provinzialverbänden je nach dem Standort des resp. 
Marktes, zu überlassen; so könnte der Kiever Verband den Groß- 
einkauf von Zucker, der Moskauer von Textilwaren und Tee, der 
St. Petersburger von Kolonialwaren usw. übernehmen. Diese Be- 
denken mögen manches für sich haben, sie tragen aber einen theore- 
tischen Charakter, solange die Provinzialverbände sich noch im An- 
fangsstadium ihrer Entwicklung befinden und in den meisten Pro- 
vinzen noch gar nicht vorhanden sind. Indessen erwecken sie eine 
feindliche Stimmung unter den Provinzialverbänden gegenüber dem 
Moskauer Verbande, besonders bei Neugründungen von Niederlas- 
sungen, die vom Standpunkt der Föderalisten nicht nötig, bestenfalls 
nur bis zur Gründung der resp. Provinzialverbände einen Sinn haben 
können. | 

Im gegenwärtigen Entwicklungsstadium sind die Reibungen 
zwischen den Zentralisten und Föderalisten von geringer Bedeutung, 
sie rufen aber die Befürchtung hervor, daß die Mißverständnisse, Spal- 
tungen und Feindseligkeiten der provinzialen und Moskauer Führer 
im Zusammenhang mit dem sozialen Widerspruch, der der Bewegung 
anhaftet, die Kompromißversuche in der nächsten Zukunft schwierig 
machen, resp. zum Scheitern führen können. 

Drittens steht auf der Tagesordnung der 
Konsumvereinsbewegung die Genossenschafts- 
propaganda, die genossenschaftliche Aufklöä- 
rungderMassen. DieseAufgabe ist von eminen- 
ter Bedeutung. Nichts tut der russischen Genossenschafts- 
bewegung so weh, wie der rasende Mangel an genossenschaftlichem 
Bewußtsein. Die Idee ist ganz oberflächlich aufgenommen, ein großer 
Vorrat von sozialer Energie ist investiert worden zum Schaffen der 
Formen der Genossenschaftsbewegung und wenn diese Formen nicht 
mit genossenschaftlichem Geiste erfüllt werden, dann droht ihnen 
eine Ausartung oder ein Zusammenbruch. Die Führer der Genossen- 
schaftsbewegung sind dessen bewußt und eine rege Aufklärungsarbeit 
geht auf der ganzen Linie vor sich. In den verschiedensten Teilen 
Rußlands, überall, wo das Genossenschaftswesen sich eingewurzelt 
hat, entstehen genossenschaftliche Zeitschriften, finden Tagungen 
statt, werden Vorträge gehalten soweit die Verwaltungsbehörden es 
zulassen. Der Moskauer Verband steht an der Spitze der Propaganda- 
arbeit. Seit 1903 gibt er ein Wochenblatt »Der Verband der Konsu- 
mentene heraus; seit 1907 wirkt das Moskauer »Sekretariat«, das sich 
mit der Aufklärungsarbeit, der Herausgabe von populären Broschü- 

a 


196 L. Pumpiansky, 


ren, der Ausarbeitung der Theorie des Genossenschaftswesens, der 
Sammlung und Veröffentlichung statistischer Materialien beschäftigt: 
Die Literatur über das Genossenschaftswesen wächst mit großer Ge- 
schwindigkeit und ist schon jetzt sehr bedeutend. Es gibt wohl keine 
andere sozialpolitische Frage, die soviel Bücher, Broschüren, Zeit- 
schriften in den letzten 5 Jahren angeregt hat, wie die Genossenschafts- 
frage. Es muß aber erwähnt werden, daß, wie es bis jetzt in Rußland 
üblich war, diese Genossenschaftsliteratur von Intellektuellen, Ge- 
lehrten, Journalisten, nicht von den praktischen Genossenschaftern 
geschaffen wird und daher häufig dem niedrigen kulturellen Verständ- 
nis der Masse gegenüber viel zu schwierig und nicht genug volkstüm- 
lich erscheint. 

Neben der schriftlichen Propaganda sei auch die mündliche er- 
wähnt, die in der Aussendung von Instruktoren und der Vorbereitung 
der genossenschaftlich gebildeten Kräfte besteht. Die Volksuniver- 
sität von Schaniovsky in Moskau hat spezielle genossenschaftliche 
Kurse veranstaltet, an denen die Praktiker der Bewegung von den 
besten russischen Kennern des Genossenschaftswesens unterrichtet 
werden. Es fehlt uns leider das Material, um die tatsächlichen Erfolge 
dieser Aufklärungsbestrebungen näher charakterisieren zu können; 
die_geringe Verbreitung der genossenschaftlichen Presse könnte aber 
als Beleg einer schwachen Aufnahme der genossenschaftlichen Ge- 
danken dienen. In der Tat ist es eine Sisyphusarbeit, den Genossen- 
schaftsgeist in die russische Konsumvereinsbewegung einzuimpfen, 
solange die Masse der Genossenschafter von selbst Symptome eines 
mehr genossenschaftlichen Denkens nicht aufweist und solange die 
politischen Verhältnisse so drückend wirken. 

Nach den genannten Richtungen hin bewegt sich die Reform- 
arbeit auf dem Gebiete des russischen Konsumvereinswesens, das, 
wie wir gesehen, noch mehr als die früher dargestellten Genossen- 
schaftsformen, vom genossenschaftlichen Standpunkte betrachtet, 
erhebliche Fehltritte aufzuweisen hat. Besser ist es mit der 
westsibirischen Konsumvereinsbewegung be- 
stellt, die sich in allerletzter Zeit stark entwickelt hat. Die sibiri- 
schen Konsumvereine sind von den Molkereigenossenschaften, den 
»Butterartels« geschaffen worden und stehen in engem Zusammen- 
hange mit der Organisation und den Prinzipien der letzteren. So ist 
z.B. der Kaufzwang in den Konsumvereinen eingeführt ähnlich 
dem Lieferungszwang in den Artels; die Kreditgewährung verliert 
in Westsibirien ihren unheilvollen Charakter, da die Konsumenten 
der Vereine Lieferanten der Molkereigenossenschaften sind und der 
Kredit im Konsumverein nur eine Form des Warenaustau- 
sches darstellt; ‚schließlich gehören die westsibirischen Vereine 
dem Verbande der sibirischen Butterproduzen- 
ten, der direkt mit dem Moskauer Verbande ar- 
beitet und somit die Vereine in die Lage versetzt, die notwendi- 
gen Lebensmittel möglichst gut und billig zu verschaffen. Diese Um- 
stände gewähren den sibirischen Konsumvereinen ein besser fundier- 


Die Genossenschaftsbewegung in Rußland, 197 


tes, ein sichereres Dasein, eine hoffinungsvollere Zukunft, trotz der 
außerordentlichen Bekämpfung, die ihnen seitens der sibirischen 
Händler zuteil geworden ist. 


Andere Genossenschaftsformen. 


Die oben geschilderten Gencossenschaftsformen sind die wichtig- 
sten und allein maßgebenden Elemente der russischen Genossenschafts- 
bewegung ; es wäre aber falsch, sie als die einzigen Aeußerungen der Be- 
wegung hinzustellen, daeseine Anzahl von verschie- 
denen anderen Formen gibt, die als Genossen- 
schaften betrachtet werden müssen oder jeden- 
falls mit dem Genossenschaltswesen eng verknüpft sind. Es wären 
hier die landwirtschaftlichen Vereine, die sich 
außer allgemeiner landwirtschaftlicher Zwecke mit der Förderung 
der Genossenschaften befassen, in erster Linie zu nennen. Die loka- 
len landwirtschaftlichen Vereine sind in einigen Provinzen, wie z. B. 
in Poltava zu Pionieren des Genossenschaftswesens geworden und 
haben zahlreiche Kredit- und Konsumvereine ins Leben gerufen. Ob- 
gleich die Zahl der landwirtschaftlichen Vereine stark emporgewach- 
sen ist und gegenwärtig über 3000 beträgt, hat sich die Rolle der land- 
wirtschaftlichen Vereine in der Genossenschaftsbewegung verringert 
und die Vereine wurden allmählich zu reinen landwirtschaftlichen 
Bildungs- resp. Propagandainstituten, da die verschiedenen Arten der 
Genossenschaftspraxis von den verschiedenen anderen Formen auf- 
genommen und gepflegt werden. Es wären weiterhin die Hand- 
werkergenossenschaften näher zu betrachten, die be- 
sonders unter Hutmachern, Schuhmachern, Schustern und Kellnern 
sich entwickelt haben; sie sind aber sowohl quantitativ wie qualita- 
tiv noch ganz unbedeutend und spielen in der gesamten Bewegung 
keine Rolle. Von größerem Interesse sind die Kustariartels, 
die Genossenschaften der verschiedene Hausarbeiten und kunstge- 
werbliche Arbeiten verrichtenden Bauern, die einer unmenschlichen 
Ausbeutung seitens der Zwischenhändler ausgesetzt sind. Die Hebung 
der wirtschaftlichen Lage der Kustari ist in den letzten Jahren sowohl 
von der Regierung, wie von der Oeffentlichkeit angestrebt und geför- 
dert worden; als Mittel derselben wurde die Gründung von Kustari- 
artels anerkannt. Bis 1908 waren zahlreiche Gründungsversuche er- 
folglos und nahezu alle derzeit begonnenen Genossenschaften der 
Kustari sind zugrunde gegangen. Die Verhältnisse änderten sich nach 
1908, da die Provinzialzemstvos in den Kreisen, wo das Kustariwesen 
verbreitet war, besonders im Moskauer Gouvernement, einen kurz- und 
langfristigen Kredit den Kustariartels eröffneten und eine Kontrolle und 
Instruierung der Artels organisierten. Die Genossenschaften der Ku- 
stari entwirkelten sich demnach bedeutend erfolgreicher und die Mos- 
kauer Provinz allein zählt über 25 Artels, die 18 verschiedene Gewerbe- 
zweige vertreten. Selbstverständlich bilden diese Genossenschaften 


198) L. Pumpiansky, 


im Vergleich mit den Konsum-Kredit- oder Molkereigenossenschaften 
eine quantité négligeable. 

In diesem Zusammenhang möchten wir hervorheben, daß un- 
sere Darstellung nur der russischen Genossenschaftsbewegung, der 
Bewegung, die sowohl organisatorisch wie geschichtlich ein Ganzes 
ausmacht, gewidmet ist; die Genossenschaftsbewegungen 
inFinnland, inPolen, zumTeilsogarin den nord- 
westlichen und den Ostseeprovinzen haben 
ihre besonderen Geschichten und Merkmale, 
- die wir aber in diesem Artikel nicht aufnehmen 
konnten, um das schon an sich sehr bunte und vielförmige Bild 
der russischen Genossenschaftsbewegung nicht noch mehr zu ver- 
tuschen. 


Die innere Einheit der Genossenschafts- 
bewegung. 


Aus methodologischen Rücksichten haben wir die verschiede- 
nen Formen der russischen Genossenschaftsbewegung einzeln ge- 
schildert, wir suchten aber bei jeder Gelegenheit den Zusammenhang, 
der im Leben zwischen den Genossenschaftsformen existiert, zu be- 
tonen. In Wirklichkeit sind die verschiedenen 
Genossenschaften geschichtlich, persönlich 
und häufig praktisch miteinander verbunden. 
Der genossenschaftliche Aufschwung hat in den letzten 5 Jahren alle 
Formen ins Leben gerufen und zwar nicht immer in derselben Reihen- 
folge, so sind z. B. in dem Gouvernement Poltava 
landwirtschaftliche Vereine zunächst ent- 
standen, die dann die Kredit- und späterhin mit vereinten 
Kräften die Konsumvereine zur Welt brachten, im Gouverne- 
ment Charkov waren Kreditgenossenschaften 
die ersten und förderten die Entwicklung der anderen Formen, 
in den südwestlichen Gouvernements spielten 
die Konsumvereine und in Westsibirien die 
Molkereigenossenschafteneine ähnliche Rolle. 
Wo nur eine Genossenschaftsform entstand, da waren schon auch 
andere potenziell enthalten, da die tätigen Genossenschaften ihrer 
Gründungslust durch Eröffnung anderer Genossenschaftsarten Luft 
machten. Dieselben Leute, die an der Spitze des 
Kreditvereins stehen, sind gewöhnlich Leiter 
des Konsumvereins und die Mitglieder des einen Vereins 
sind gezwungen worden, am anderen teilzunehmen, so daß dieselben 
3 oder 5 enthusiastischen Genossenschafter die Gründer und Führer 
aller genossenschaftlichen Organisationen im Dorie und auch die 
Mitglieder in zahlreichen Fällen dieselben sind. Oft wird aber auch 
die Tätigkeit der verschiedenen Genossenschaftsformen in manchen 
Beziehungen voneinander abhängig gemacht, die sibirischen Kon- 
sumvereine sind den Butterartels unterworfen; die Kreditvereine ver- 


neun. 


neun 


Die Genossenschaftsbewegung in Rußland. 199 


leihen oft Geld an die Konsumvereine, oder umgekehrt sie leihen 
ihren Mitgliedern Lebensmittel, die sie vom Konsumverein beziehen ; 
iandwirtschaftliche Vereine, wie z. B. der Vologda-Verein eröffnen 
Handelsabteilungen, die als GroßBeinkaufs oder Bezugs- resp. Absatz- 
genossenschaften wirken; nicht selten kommen Uebergriffe der ein- 
zelnen Genossenschaftsformen in die gegenseitige Kompetenz vor. 
Wir sahen wie die kreditgenossenschaftlichen Verbände ihre Tätigkeit 
auf Absatz- und Bezugsoperationen, sogar auf Konsumvereinsopera- 
tionen erstreckten, wie der Verband der sibirischen Butterartels unter 
seinem Flügel die verschiedenen Genossenschaftsformen sammelt, 
der landwirtschaftliche Verein Vologda analoge Tendenzen zeigt 
und schließlich, wie die Regierung, die Zemstvo und die privaten Ge- 
nossenschaften in einem Durcheinander an der Bewegung sich be- 
tätigen. 

Die innere Einheit der Bewegung ist noch 
vorhanden, die Differenzierungslinien sind 
noch nicht gefunden, die verschiedenen an der 
Bewegung beteiligten sozialen Kräfte sind 
noch ihrer Interessen nicht genügend bewußt, 
um ihren besonderen Geist und Charakter in 
der Genossenschaftsbewegung durchführen zu 
wollen und die gesamte russische Bewegung 
steht noch, wenn auch aufschwacher, unsich« 
ter, oberflächlicher Grundlage, in geschlos- 
senen Reihen da. 

In größter Geschlossenheit trat die Genos- 
senschaftsbewegung aufdem ersten russischen 
Genossenschaftstage in 1908 auf, der die besten ge- 
nossenschaftlichen Kräfte vor der Oeffentlichkeit musterte und die 
innere Einheit der Bewegung in Wort und Tat zum Ausdruck brachte. 
Vor 1908 sind zwar viele lokale Genossenschaftstage abgehalten worden, 
sie trugen aber stets einen rein lokalen und gewöhnlich einen speziellen 
Charakter, da sie den Interessen der Kreditgenossenschaft oder der 
Konsumvereine irgend einer Provinz gewidmet waren. Im April 1908 
fand der allrussische Genossenschaftstag in Moskau statt, auf dem 
800 Genossenschafter die verschiedenen Formen der Bewegung ver- 
traten. Die übergroße Mehrheit war in den Händen der Konsum- und 
Kreditvereine und zwar gehörte die Hälfte der Genossenschaften, die 
ihre Vertreter entsandten, der Konsumgenossenschaft an, was zum 
Teil als Folge der großen Verdienste, der Initiative und Berufungs- 
arbeit des Moskauer Verbandes der Konsumenten erschien. Der Kon- 
greß proklamierte die Grundprinzipien der Bewegung und ermahnte 
die verschiedenen Genossenschaftsformen zum Bewußtsein der höhe- 
ren Einheit der Genossenschaftsbewegung und somit zum Bewußt- 
sein des inneren Zusammenhangs, der zwischen den verschiedenen 
Formen besteht resp. bestehen soll; er hat die Gründung 
einesallrussischen genossenschaftlichen Kre- 
ditinstituts angeregt, der dann in Form der Moskauer 


200 L. Pumpiansky, 


Volksbank entstanden ist, er hat auf dieNotwendigkeit 
der Vereinheitlichung der Gesetzgebung über 
Genossenschaftenresp. der Ausarbeitung eines 
Genossenschaftsgesetzes hingewiesen undhat 
versucht, die Frage der Gründung eines Ver- 
bandes der Konsumvereine auf die Tagesord- 
nung zu stellen, was aber von der Regierungs- 
behörde verboten wurde. 

Nach dem ersten Kongresse entstehen im Prozesse des 
kolossalen Wachstums der einzelnen Genossen- 
schaftsformen und der allmählichen Vertie- 
fung des genossenschaftlichen Interesses die 
ersten Meinungsverschiedenheiten, die der inne- 
ren Einheit der Bewegung einen Todesstoß bereiten. Die Meinungs- 
verschiedenheiten zwischen dem Süden und dem Nor- 
den, die wir als Kampf zwischen den »Föderalisten« und »Zentralisten« 
an einigen Stellen skizziert daben, haben in den letzten 5 Jahren eine 
bedeutende Schärfe erreicht undbildeten auf dem zweiten 
allrussischen Tage im August 1913 den entschei- 
denden Faktor. Es handelt sich dabei um ein Ringen 
um die Hegemonie zwischen der Kredit-und der 
Konsumgenossenschaft oder,noch andersaus- 
gedrückt, zwischen den bäuerlichen Genossen- 
schaftenundden nicht bäuerlichen, die inden 
Konsumvereinen, namentlich im Moskauer 
Verbande ihren Sitz haben und einen Einfluß 
ausüben. Die Kreditvereinler oder Föderalisten eröffneten auf 
dem zweiten Tage, der in ihrem Stammsitz in Kiev stattfand, eine At- 
tacke gegen die Moskauer Volksbank und protestierten gegen das Er- 
öffnen seitens der Bank von Niederlassungen in den Orten, wo die 
Verbände der Kreditvereine entstehen, gegen eine Erhöhung des Ka- 
pitals der Bank von ı Million auf 2 Millionen Rubel usw. Die Unter- 
lage dieser Proteste war die Unzufriedenheit, daß die Volksbank, wel- 
che 60,5 % ihres Kapitals von den Kreditvereinen erhalten, den Kon- 
sumvereinen zu große Dienste leistet und unter dem Einfluß von Leu- 
ten steht, die nicht der Kreditgenossenschaftsbewegung entnommen 
sind. Auch gegen den Moskauer Verband der Konsumenten wurde 
von den Föderalisten scharf polemisirt und an Stelle der Ausbreitung 
der Tätigkeit des Moskauer Verbandes über das ganze Land mit Hilfe 
von Niederlassungen und Vereinbarungen, die Gründung von lokalen 
Verbänden, die sich dann zum allrussischen Verbande vereinigen 
konnten, gefordert. Trotzdem aber in Kiev die Kreditgenossenschaf- 
ter mehr als die Hälfte der Delegierten bildeten und eine Sektion von 
700—800 Mitgliedern vorstellten, während die Vertreter der Konsum- 
vereine nur 300—400 und die anderen Formen der Genossenschaft 
etwa 100 zählten, gelang es dem Kongresse, der Opposition der Süd- 
russen die Spitze zu brechen und vorläufig die Schärfe der Gegensätze 
zu dämpfen und die innere Einheit zu bewahren, die sich 


! 





Die Genossenschaftsbewegung in Rußland. 201 


besonders drastisch in der Annahme eines Entwurfes 
desGenossenschaftsgesetzes, in der Ausarbei- 
tungeines Statuts des Ausschusses der Genos- 
senschaftstage, in der Annahme eines Projek- 
tes des allrussischen genossenschaftlichen 
Bildungsinstituts ausarückte. 

Die Einheit der Genossenschaftsbewegung ist vorläufig bewahrt, 
aber die Elemente, die den Sprengstoff der Einheit in sich bergen, sind 
an der Arbeit und das Auseinandergehen der in der Bewegung zeit- 
veilig vereinigen sozialen Kräfte ist nur eine Frage der Zeit. 


Schluß. 


Wir haben gesehen, wie viele wunde Punkte an der so stürmisch 
und so imposant emporgewachsenen russischen Genossenschaftsbe- 
wegung zu beachten sind. Wir haben die schwachen Seiten der Be- 
wegung besonders nachdrücklich hervorgehoben, da sie uns folgen- 
schwer erscheinen und die Zukunft der Genossenschaft in Rußland 
von der Ueberwindung dieser dunklen Seiten der Bewegung abhängt. 
Vielleicht ist dadurch das farbige Bild des Siegeszugs der Genossen- 
schaftsbewegung etwas getrübt worden, dafür sind aber die absehba- 
sen Entwicklungstendenzen klarer angedeutet. 

Wie auch immer sich die innere Entwicklung der russischen Ge- 
nossenschaftsbewegung entfalten mag, mag sie zu einer Krisis, zu Ent- 
täuschungen, zum Auseinandergehen oder zu weiteren Eroberungen, 
zur Gesundung und Kräftigung führen, die Rolle der Genossenschafts- 
bewegung in der post-revolutionären wirtschaftlichen und sozialen 
Geschichte Rußlands ist von übergroßer Bedeutung: sie hat die wirt- 
schaftliche Leistungsfähigkeit der russischen Landwirte stark geho- 
ben, sie hat die Bauernmasse zum Denken, zum Handeln, zur sozialen 
Tätigkeit fortdauernd angeregt. Außerdem hat sie die Samen des 
Genossenschaftswesens so tief gesät, daß, was auch das Schicksal der 
heutigen Genossenschaften sein wird, die Genossenschaftsbewegung 
nicht mehr aus dem russischen Dorfe, aus der russischen Landwirt- 
schaft ausgemerzt werden kann und zweifellos mit der Zeit eine wirt- 
schaftliche und sozialpolitische Kraft ersten Ranges vorstellen wird. 


202 


Hinauf mit den Bankraten ! 
Eine Entgegnung. 


Von 
WALTHER FEDERN. 


Im dritten Heft des 41. Bandes dieses Archivs hat Herr Professor 
Knut Wicksell in temperamentvoller Weise die Mahnung an 
die für die Währung der europäischen Staaten verantwortlichen Kreise 
gerichtet, die Zinsfußschraube anzuziehen, sie eventuell bis auf 15 % 
hinaufzuwinden, um der Entwertung des Geldes Einhalt zu tun. Unbe- 
greiflich, geradezu komisch erscheint es ihm, daß in dieser furcht- 
baren Tragödie des Weltkrieges alle Staaten wie durch gemeinsame 
Vereinbarung die Ergebnisse jahrhundertelanger Gedankenarbeit, 
das mühsam errichtete System des allgemeinen Goldstandards, bzw. 
Goldwechsel-Standards über den Haufen geworfen und überdies auf 
den Regulator der Diskontschraube verzichtet haben. Es ist keine 
dankbare Aufgabe für mich, einem hochgeschätzten Gelehrten, der 
gerade die Erforschung der Zusammenhänge zwischen Zinsfuß und 
Preisen zu einer seiner Lebensaufgaben gemacht hat, entgegenzu- 
treten, auseinanderzusetzen, daß das Mittel, das er vorschlägt, nicht 
nur unwirksam, sondern schädlich wäre, darzulegen, daß das, was für 
normale Zeiten gilt, für die außergewöhnlichen Zeiten des Weltkrieges 
gewiß nicht anwendbar ist. Die Aufgabe ist umso undankbarer, als 
ich nicht mit dem Rüstzeug der durchdringenden Kenntnis der theo-. 
retischen Literatur auftreten kann, sondern nur mit dem des prak- 
tischen Wirtschaftspolitikers, dessen Argumente Professor Wicksell 
bereits verworfen hat. Zu anderen Zeiten als der, wo die Menschheit 
toll geworden zu sein scheint, könnte ich mich vielleicht darauf be- 
rufen, daß das, was in allen Ländern ohne gemeinsame Verabredung 
geschehen ist, doch kaum alsreine Gedankenlosigkeit hingestellt wer- 
den dürfte, sondern auch gegenüber der herrschenden Lehre der Be- 
achtung wert erscheinen müßte, daß es der Untersuchung bedürfte, 
ob denn die für die Währung ihrer Länder verantwortlichen Faktoren, 
die den schweren Schaden der Geldentwertung (um bei diesem meiner 
Ansicht nach allerdings an der Oberfläche haftenden Ausdruck zu 


Hinauf mit den Bankraten ! 203 


verbleiben) durchaus nicht verkennen und sich Mühe geben ihr abzu- 
helfen, überhaupt die Möglichkeit haben, das ihnen empfohlene, 
ihnen ja von altersher wohlbekannte, zu Beginn des Krieges sogar 
versuchte Rezept anzuwenden. 

Ich will nun, den Ausführungen des Professor Wicksell 
folgend, die Unwirksamkeit und Unmöglichkeit seiner Vorschläge 
darzulegen versuchen: l 

»Wenn am Anfang des Krieges irgend ein Schlaukopf auf die Idee 
gekommen wäre, man solle ein spezielles Kriegspfund, bzw. Kriegs- 
meter einführen, die an Gewicht oder Länge nur die Hälfte von den 
sonst üblichen Maßeinheiten betragen sollten, um so die Vorräte 
von Lebensmitteln, Textilstoffen usw. ausgiebiger zu gestalten, so 
würde sicher alle Welt dies als kompletten Unsinn erklärt haben. 
Allein dieses Unsinns oder jedenfalls eines ganz analogen haben sich 
tatsächlich mit Ausnahme von England sämtliche Länder Europas, 
kriegführende oder neutrale auf dem Gebiet des Geldwesens in rüh- 
render Eintracht schuldig gemacht. Schließlich handelt es sich ja 
auch in diesem Fall nur um einen Maßstab, nämlich des Tauschwerts 
von Waren und Leistungen. Kann es denn von irgend einem Nutzen 
gewesen sein, diesen Maßstab, statt überall gleichförmig jetzt mehr 
von Ort zu Ort veränderlich und schwankend zu gestalten, sowie 
überhaupt seine Größe um ein Drittel bzw. um die Hälfte herab- 
zusetzen ?« 

Handelt es sich wirklich um einen analogen Maßstab und haben 
die Regierungen, die Leiter der Notenbanken dessen Veränderung 
aktiv oder durch ihre Unterlassungen bewirkt ? Ich meine, das haben 
die Ereignisse ohne Hinzutun und gegen den Willen’der Verantwort- 
lichen unvermeidbar verursacht. Und es handelt sich gar nicht um 
einen analogen Maßstab. . Das theoretisch auseinanderzusetzen würde 
allerdings den Rahmen dieses Aufsatzes weit überschreiten. Das 
Geld ist nicht ein Maßstab wie der Meter, es ist vor allem kein unver- 
änderlicher Maßstab. — Das Geld zeigt ein Wertverhältnis zwischen 
den einzelnen Gütern und Dienstentlohnungen an, deren Preise durch 
besondere Umstände beeinflußt werden, und mit den Schwankungen 
dieser Preise muß auch das in dem Anzeiger sich ausdrückende Wert- 
verhältnis der Güter zu ihm selbst sich verändern. Professor Wicksell 
meint, diese Veränderung wäre nicht eingetreten, wenn die Noten- 
banken de Einlösung der Noten in Gold aufrecht 
gehalten hätten, wenn sie die Thesaurierung des Goldes und seinen 
Abfluß ins Ausland nicht verhindert hätten. Obwohl dıs gewiß nicht 
zutrifft, stimme ich Wicksell insofern zu, als er mit Leroy Beau- 
lieu sagt, daß es »für die einzelnen Länder nur ein Vorteil gewe- 
sen wäre, wenn sie das Gold für die Bezahlung ausländischer 
Waren hinausgelassen hätten, zumal das Gold ausgerechnet die 
einzige Substanz bildet, die im Krieg nicht verbraucht wird.s 
Auch ich halte die Politik jener Staaten, die über große Geldvorräte 
verfügen und lieber das Agio wachsen lassen, als daß sie Gold zur Be- 
zahlung von Auslandschulden hergeben, für verfehlt, für einen Aus- 


204 Walther Federn, 


fluß einer falschen Geldtheorie und einer jahrhundertelangen Gewöh- 
nung, das Gold als ein Ding von besonderem Wert anzusehen und daher 
auf die statutenmäßige Notendeckung mehr Gewicht zu legen als 
auf die Aufrechterhaltung der Wechselkursparität. Und doch hätte 
auch ich, wenn ich mich an eine verantwortliche Stelle versetzt denken 
darf, mich vielleicht nicht entschlossen, sagen wir das letzte Gold- 
stück ins Ausland zu senden, weil die Imponderabilien der tiefwurzeln- 
den Vorurteile Berücksichtigung erheischen. Aber davon abgesehen, 
Professor Wicksell braucht sich nur die gegenwärtigen Außen- 
handelsziffern der einzelnen kriegführenden Staaten anzusehen, um 
zu erkennen, daB auch die mit Gold gesättigten Länder selbst bei voll- 
ständiger Hingabe ihres Goldes ans Ausland kaum imstande gewesen 
wären, ihre Wechselkurse vır Entwertung zu bewahren. 

Und er hätte auch die Verhältnisse der Gold empfangenden Länder 
berücksichtigen müssen, umsomehr als er in dem Lande lebt, das zuerst 
von allen die übermäßige Goldeinfuhr, die sich durch das neueGläubiger- 
verhältnis des Landes ergab, als unerwünscht zurückwies. Das, was 
Schweden, und ihm folgend die beiden anderen nordischen Staaten 
getan, hätten zweifellos auch die Vereinigten Staaten von Nordamerika 
und selbst die südamerikanischen Staaten tun müssen, wenn die »ko- 
lossalen Goldschätze Europas« sich über sie ergossen hätten. Denn 
wenn sie dies nicht getan hätten, hätten sie nur riskiert — falls Pro-- 
fessor Wicksells Meinung zutrifft, daß das Sinken der Kaufkraft 
des Geldes mit dem Einsperren des Goldes zusammenhängt — den 
kriegführenden Staaten einen Teil dieses Kriegschadens abzunehmen. 
Sie hätten die Wirkungen der Inflation — wenn ich die von mir nur 
bedingt als zutreffend anerkannten Zusammenhänge hier als gegeben 
ansehen soll — von den kriegführenden Staaten noch mehr über- 
nommen, als sie es ohnedies tun mußten. Denn die Inflationswir- 
kungen gehen nicht nur vom Papiergeld aus, sondern auch vom Gold 
und das Gold erleidet im Krieg zwar eine geringere, aber eine ähnliche 
Entwertung wie das Papiergeld. Professor Wicksell hat dies 
nicht übersehen, denn an späterer Stelle seines Aufsatzes im Zusammen- 
hang mit der Zinsfußpolitik weist er darauf hin. Hier unterläßt er es 
die Schlußfolgerungen daraus zu ziehen. Die neutralen Staaten, 
welche die kriegführenden mit Waren versorgen, haben allerdings 
günstige Wechselkurse; unter der Teuerung, unter der Entwertung 
ihres Geldes, obwohl ihre Banknoten ja sehr gut gedeckt sind, leiden 
sie nicht viel weniger als die anderen, auch das Gold hat an Wert gegen- 
über den Waren eingebüßt, weil es im Krieg nicht verbraucht, ja man 
könnte fast sagen, nicht gebraucht wird. 

Und nun zu dem Hauptthema des Artikels. »Wenn die Staaten 
die gesetzmäßige Notendeckung als das Palladium betrachtet haben — 
manche von ihnen haben auch dasnicht getan, nicht tun können — swes- 
halb denn nicht zu dem Mittel greifen, das bisher stets dazu diente, 
sowohl die intervalutarischen Verhältnisse zu regeln wie auch (wenn- 
gleich leider, wie gesagt, in ungenügender Weise) um allzu großen 
Veränderungen in dem allgemeinen Stand der Warenpreise zu steuern; 


... 





Hinauf mit den Bankra ten ! 205 


ih meine de Diskontschraube.« Professor Wicksell 
bespricht nun zunächst die Wirkungen der Diskontschraube auf die 
Wechselkurse Er führt zutreffend aus, daß eine Diskonter- 
höhung unter gewöhnlichen Umständen stets — ich würde meinen, 
oft — in der Richtung einer Valutaverbesserung wirkt. Und das gelte 
auch für den Krieg, wo die kriegführenden Staaten zwar viel mehr 
Waren einführen müssen, als sie ausführen können, wo aber, wenn das 
Land weder mit Waren noch mit Gold zahlen kann oder will, es selbst- 
verständlich mit Schuldverschreibungen auf längere oder kürzere 
Zeit, also eigentlich mit dem Export von Wertpapieren zahlt. Auch 
hier bin ich in der Lage, Professor Wicksell bis zu einem gewissen 
Punkt zuzustimmen. Lange bevor die deutschen und die österreichi- 
schen Devisenzentralen ins Leben gerufen waren, habe ich in der von 
mir herausgegebenen Zeitschrift eine derartige Organisation gefordert 
udden Standpunkt vertreten, daß die Steigerung der Devisenpreise!) — 
über ein gewisses Niveau — keine neuen Devisen mehr bringt, also 
keine Erleichterung schafft, nur die Folge des desorganisierten Marktes 
ist, in dem eine ständige, dringende Nachfrage zögerndem Angebot 
gegenübersteht. Aber erst von einem gewissen Niveau an, das ziffern- 
mäßig nicht feststellbar ist. Und das übersieht Professor Wicksell. 
Die Zinsfußpolitik im Frieden kann Valutaschwankungen verhindern, 
weil es sich, wenigstens in der Regel, bei den Kreditbedürfnissen ans 
Ausland nur um kurzfristige Schulden zur Ausgleichung 
der nicht übereinstimmenden Import- und Exportperioden handelt. 
Wo langfristiger Kredit verlangt wird, geschieht es in der Regel zu 
produktiven Zwecken in anderen Formen als dem kurzfristigen Wech- 
selkredit; durch Wertpapierexport, Beteiligung an Aktiengesell- 
schaften usw. Die Zinsfußerhöhung hat also den Zweck, daß die 
ausländischen Warengläubiger oder die Banken, denen sie ihre Forde- 
nungen zediert haben, diese nicht sofort geltend machen, was Gold- 
export zur Folge hätte, sondern eine Zeitlang damit warten, bis der 
Ausgleich durch die Warenausfuhr oder andere Elemente der Zah- 
lungsbilanz möglich ist. Jetzt aber ist von einem solchen Ausgleich, 
wenigstens während der Dauer des Krieges und wohl noch einige Zeit 
damach, nicht die Rede. Die Handelsbilanz kennt sozusagen nur mehr 
eine Seiteund die Kreditforderungen schwellen ungeheuer an. Was 
Wunder, daß sie zögernd gewährt werden, da muß nachgeholfen 
werden, damit alles, was zur definitiven Begleichung der Schulden 
dienen kann, außer Landes gehe. Waren können es nicht sein, also 
langfristige Schuldverpflichtungen, fremde Wertpapiere usw. Diese 
zu verkaufen hat man aber im Krieg, der die Sicherheit der eigenen 
Wertpapiere bedroht, die der Neutralen unberührt läßt, wenig Ver- 
anlassung. Die Zinsfuß-Schraube wäre dabei wenig wirksam, denn die 
Besitzer brauchen kein Geld, sie finden auch niemanden, der, wenn sie 
sich der Wertpapiere entledigen wollten, um von dem hohen Dar- 
lehenszinsfuß Nutzen zu ziehen, ihnen das Geld abnehmen würde, außer 


1) Der Oesterreichische Volkswirt. Vgl. unter anderem: »Die Devisenpreise« 
No. 3 VIII, vom 6. Okt. 1915. 


206 Walther Federn, 


dem Staat und dem leihen sie ohnedies große Summen, alles wollen 
sie dem Staat auch zum höchsten Zinsfuß nicht leihen — doch davon 
wird später eingehender die Rede sein. — Das Mittel, um sie zum Ver- 
kauf zu bewegen, ist der Mehrwert, den sie dabei in ihrem Geld durch 
das Agio erzielen. Der Export ausländischer Wertpapiere ist denn auch 
durch das Agio in allen kriegführenden Staaten, die große Bestände 
daran besitzen, mächtig angeregt worden, wo kein hohes Agio besteht, 
wie in England, mußte die Regierung mit douce violence den Export 
fördern, in Frankreich gelingt auch das trotz des Agios nur in geringem 
Maß, weil die französischen Kapitalisten so geartet sind, daß sie zwar 
ihr Leben, aber nicht ihr Geld dem Staat im Krieg zur Verfügung 
stellen. 

Aber was sollte ein Staat tun, der keinen nennenswerten Besitz 
an auswärtigen Wertpapieren hat? Da wäre nach Profesor Wick- 
sell der hohe Zinsfuß besonders wirksam, der dazu zwingen würde, 
die eigenen Wertpapiere so billig herzugeben, daß das neutrale Aus- 
land sie kaufen würde. Er meint, wenn die Rate auf 15 % erhöht 
worden wäre, so wären die Wertpapiere um zwei Drittel, also auf ein 
Drittel ihres wahren Wertes gesunken »und zu diesem Kurs glaube ich 
garantieren zu können, daß die meisten derselben nicht nur im neu- 
tralen Ausland, sondern auf Umwegen oder Schleichwegen sogar im 
Feindesland hätten Käufer finden können, auch ohne irgendwelche Ver- 
billigung der österreichischen Valuta«. Praktisch — meint Professor 
Wicksell — wäre die Verbilligung nicht so stark gewesen, viel- 
leicht nur um ein Drittel, aber das hätte hingereicht, um der Ver- 
schlechterung unserer Valuta gänzlich vorzubeugen. Von den Folgen, 
die ein solcher Kurssturz im Lande selbst gehabt hätte, spreche ich 
später. Sie allein hätten hingereicht, um das Ausland vom Kauf unserer 
oder irgend eines Landes Wertpapiere, dem ähnliches zugemutet 
würde, abzuhalten. Aber glaubt Professor Wicksell wirklich, 
daß Schweden z. B. russische oder österreichisch-ungarische oder auch 
deutsche Wertpapiere zu Kursen, die 8 oder 10% oder gar noch höhere 
Verzinsung geboten hätten, in großen Mengen aufgenommen hätte ? 
Würde nicht gerade eine solche Verzinsung, vielleicht mit Ausnahme 
einiger waghalsiger Spekulanten, die große Menge der Kapitalisten 
geradezu abgeschreckt haben, weil sie sich mit Recht sagen würden, wie 
muß es in einem Staat aussehen, der 8oder 10% Zinsen zahlen muß, und 
wie soll dieser Staat diese Zinsen während und gar nach dem Krieg 
zahlen? Herr Professor Wicksell sagt allerdings nicht ohne eine 
gewisse Berechtigung, daß er ja in den hohen Warenpreisen und dem 
Agio viel mehr zahlt, aber die große Menge hat von diesen Zusammen- 
hängen — soweit sie überhaupt bestehen —keine Ahnung, sie halten 
sich an äußerliche, jedem geläufige Erscheinungen, und so wenig ein 
solider Kapitalist einem Kaufmann, der bereit ist 10 % Zinsen zu 
zahlen, Geld leihen würde, so wenig würden sie einem Staat, der auf 
solcher Basis Schuldtitres ausgeben würde, sie abnehmen. Ich möchte 
Herrn Professor Wicksell empfehlen eine Umfrage bei den Banken 
seiner Heimat zu machen, um zu erfahren, ob sie glauben, solche 


N 
i 


shes 





Hinauf mit den Bankraten! 207 


Titres in großen Mengen — und wie groß sie sein müßten, zeigen die 
Ziffern der Handelsbilanzen — absetzen zu können. Dabei sehe ich 
gänzlich ab von jenen Hemmungen, denen speziell die Zentralstaaten 
im neutralen Ausland so vielfach begegnen, den Antipathien, der 
Kontrolle Englands usw. 

Professor Wicksell übersieht dabei noch einen gewichtigen 
Umstand seiner eigenen Argumentation, nämlich den, daß der reale 
Kapitalzins — um die von der Theorie anerkannte Formulierung 
beizubehalten — nicht nur in den kriegführenden Staaten, sondern 
auch in den neutralen im argen Mißverhältnis zu den Bankraten 
steht. Auch in diesen Staaten ist die durchschnittliche Höhe des 
Agios, welches die »Gegenwartsware heutzutage der Zukunftsware 
gegenüber trägt«, ganz wesentlich gestiegen, und wenn die krieg- 
führenden Staaten nach seinem Vorschlage einen Zinsfuß von 15 % 
halten sollten, so müßten auch die Neutralen ihn, wenn auch nicht 
ganzso hoch, aber doch sagen wir auf 10—12 % hinaufsetzen und damit 
würde — vorausgesetzt, daß eine solche Zinsrate irgend wirksam 
werden würde — die Verlockung, hochverzinsliche Wertpapiere der 
kriegführenden Staaten zu erwerben, vollständig schwinden. Auch 
der 15 %ige Bankzinsfuß würde das Schicksal, das hohe Zinssätze 
im Frieden nur zu oft erleiden, teilen, er würde die Notenbanken der 
anderen Staaten zur Erhöhung ihrer Diskontsätze zwingen, aber an 
den gegenseitigen Kreditverhältnissen nichts ändern. 

Soweit über die Wirksamkeit der Zinsfußerhöhung auf die De- 
visenpreise und nun zu dem ungleich wichtigeren Thema, den Mög- 
lichkeiten des Anziehens der Zinsfußschraube in solchem Ausmaß 
selbst und ihren Rückwirkungen auf das Inland und die Waren- 
preise. Knut Wicksell läßt sich auf die Frage, inwieweit 
der vermehrte Notenumlauf der Grund oder vielmehr die Folge der 
Preissteigerung gewesen sei, nicht ein, weder das eine noch das andere 
sei der Fall, die Teuerung und die Vermehrung der umlaufenden Noten 
sind beide als Folge des allzubilligen Kredits, welche von den Noten- 
banken bewilligt werden, zu betrachten, der sich dem Staat gegen- 
über geradezu zur tatsächlichen Unentgeltlichkeit der Darlehen stei- 
gert wie in Frankreich und zum Teil auch in Oesterreich-Ungarn (x %). 
Auch ich will auf diese Frage hier nicht weiter eingehen, ich habe sie 
in einer vor mehr als Jahresfrist veröffentlichten Broschüre 2) be- 
handelt, der ich nichts hinzuzufügen habe, außer daß infolge der da- 
mals nicht erwarteten langen Dauer des Krieges die Folgen, welche 
ich aus dem Ersatz von Vorräten durch Zahlungsmittel für die Zeit 
nach dem Kriege vorhergesagt habe, zum erheblichen Teil bereits 
im Krieg eingetreten sind. Aber diese Wirkungen sind nicht durch 
den zu billigen Kredit eingetreten, sondern dadurch, daß 
überhaupt Kredit zu Konsumzwecken in unge- 
beuren Mengen in allen kriegführenden Staaten in Anspruch genommen 
wird. Daß Zahlungsmittel nicht kurzfristig, zu Produktions- und 





’) Krieg und Währung. Wien, Manz. 


208 Walther Federn, 


Umschlagszwecken, sondern langfristig zu Verbrauchszwecken in 
Anspruch genommen werden, das ist das ungesunde, freilich im Krieg 
unvermeidliche. Daß die Zahlungsmittel nicht mehr an die im Um- 
lauf befindlichen Güter gebunden, sondern völlig losgelöst von ihnen 
sie ersetzt haben, das bringt jene Wirkungen hervor, die man als 
Inflationswirkungen bezeichnet. Mit der Umlaufsgeschwindigkeit 
des Geldes und mit dem System der Girierungen, durch das Professor 
Wicksell die fehlende Menge des Geldes ersetzen will, hat das 
gar nichts zu tun. Nirgends fehlt es an Zahlungsmitteln, es hat daran 
kaum in den ersten Paniktagen gefehlt, weil überall sofort mit Kriegs- 
beginn ungeheure Mengen zusätzlicher Banknoten in Umlauf kamen, 
die nicht nur die gesteigerten Bedürfnisse der Armeen, sondern auch 
die Thesaurierungsbedürfnisse befriedigt haben. Und von den vielen 
Irrlehren der Geldtheorien ist die von dem Einfluß der Umlaufsge- 
schwindigkeit des Geldes auf seinen Wert eine der falschesten. Im 
modernen Kreditgeldsystem läuft das Geld genau so rasch um wie 
die Güter, zu deren Zahlung man sie braucht. Denn das Geld wird im 
Frieden im Wege des Güterumlaufs, zum Zwecke des Güterumlaufs 
geschaffen und in Umlauf gesetzt. Und der Unterschied im Krieg 
ist nur wie gesagt, daß das Geld nicht mehr zum Zwecke des Güter- 
umlaufs geschaffen wird, sondern um die Güter aus dem Umlauf zu 
ziehen, um sie zu ersetzen. Und darauf sind alle die Folgen der Zah- 
lungsmittelvermehrung zurückzuführen, nicht darauf, ob der Kredit 
billig oder teuer gewährt wird. Teurer Kredit würde den Bedarf des 
nahezu einzigen Kreditwerbers im Kriege, des Staates, nicht im ge- 
ringsten einschränken, ebensowenig wie es die teuren Warenpreise 
vermögen, denn seine Bedürfnisse sind gebieterisch, und nur wenn 
ein oder alle Staaten die wirtschaftlichen Schäden des Krieges höher 
gewertet hätten als die Erreichung der Kriegsziele, hätte der Kredit- 
bedarf des Staates eine Verringerung erfahren können. Dann hätten 
die betreffenden Staaten aber eben auch den Krieg nicht begonnen 
oder früher beendet. 

Wenn die Verteuerung des Kredits nicht den Staat zur Aufgabe 
des Krieges hätte veranlassen können, so hätte sie auch an seinen 
Folgen auf die Devisenkurse und die Warenpreise nichts ändern können. 
Die Beendigung des Krieges ist aber nicht der Zweck, den Professor 
Wicksell mit der Hinaufschraubung der Bankraten erreichen 
will oder für erreichbar hält. Und da dies nicht der Fall ist, so hätte 
die Befolgung seiner Maßnahmen nur die einzige Folge gehabt, daß 
der Staat die Ausgaben in den Warenpreisen und Löhnungen nicht 
billiger, aber um den hohen Zins entsprechend teurer gedeckt hätte, 
daß die Allgemeinheit, die durch die hohen Warenpreise an die Eigner 
der Vorräte so schwer belastet wird, überdies noch zugunsten des 
Noteninstituts drückende Opfer hätte auf sich nehmen müssen. Und 
wer hätte das zu veranlassen wagen können und zu welchem Zweck? 

Wie denkt sich Professor Wicksell denn eigentlich die 
Zinsfußerhöhung ? Im Frieden wird die Zinsfuß-Schraube angezogen, 
wenn man Kreditansprüche, die man für übermäßig und ungesund 


Hinauf mit den Bankraten! 209 


hält, abwehren will. Der hohe Zinsfuß soll die Produzenten, Waren- 
und Eifektenspekulanten durch die Erhöhung ihrer Zinslasten, also 
die Verminderung der Rentabilität ihrer Unternehmungen abhalten, 
den reichlich bei der Notenbank und bei anderen Banken in An- 
spruch genommenen Kredit noch zu vermehren, sie zur Verminderung 
ihrer Kreditansprüche zwingen. Die Zinsfußerhöhung kann also über- 
- haupt nur wirksam werden, wenn großer Kreditbedarf ist, wenn eben 
die Marktzinssätze nahe an der Bankrate sich halten und mit der 
Erhöhung der Bankrate gesteigert würden. Ist dies nicht der Fall. 
so ist die hohe Bankrate wie eine Fahne auf einsamem Berzgipfel, die 
kein Mensch sieht und beachtet. Und das wäre unvermeidlich ihr 
Los, wenn jetzt eine solche Zinsfußerhöhung auf einmal oder all- 
mählich durchgeführt werden würde. In Oesterreich-Ungarn ist ja 
nicht einmal die 5%ige Bankrate effektiv. Der Marktdiskont be- 
trägt ziemlich nominell 2 %. Der einzige, der den Kredit der Noten- 
bank in Anspruch nimmt, der Staat, kümmert sich nicht um Rentabili- 
tät und Verteuerung, abgesehen davon, daß er von der Zinsfußer- 
höhung den geringsten Teil zahlen würde, denn auch ohne Rückersatz 
der Notensteuer und abgesehen von den normalen Steuern partizipiert 
der Staat in den meisten Ländern in starkem Maß an hohen Gewinnen 
der Notenbank, in Oesterreich-Ungarn zu drei Vierteln. Die hohe 
Bankrate wäre nichts als eine komplizierte, privatrechtliche Verein- 
barung zwischen Regierung und Notenbank, genau so, wie es die 1% ige 
Verzinsung der bei der Bank aufgenommenen Vorschüsse durch Ver- 
zicht auf die Notensteuer ist. Professor Wicksell sehe sich doch 
die Ausweise der kontinentalen Notenbanken einmalan. Was gibt es 
denn noch für Schuldner der Notenbank außer dem Staat? In Oester- 
reich-Ungarn — das Geheimnis können wir verraten — verschwin- 
dende Ziffern. In Frankreich noch etwa I % Milliarden Franken Mora- 
torıumswechsel und deren Schuldner, die ihren alten Verpflichtungen 
nicht nachkommen können, die keine neuen Unternehmungen machen, 
will Professor Wicksell durch einen Wucherzinsfuß ganz ruinieren ? 

Allerdings, die anderen Banken könnten ja auch mit dem Zinsfuß 
hinaufgehen, ihren Schuldnern 16 % belasten, ihren Einlegern 14 % 
vergüten. Die Banken schwimmen in Geld, sie wissen sich seiner 
nicht zu erwehren, glaubt er ernstlich, daß sie den unwillkommenen, 
sich zudrängenden Einlegern 14 % vergüten würden, nur damit diese 
keine Kriegsanleihen zeichnen oder damit der Staat genötigt wird, 
den Kriegsanleihezeichnern — im großen und ganzen jenen Kreisen, 
die sich durch Warenlieferungen im Kriege bereichert haben — durch 
Erhöhung der Verzinsung der Kriegsanleihen ihren Gewinn noch 
ungeheuer zu steigern? Und wer sind die Schuldner der Banken ? 
Erstens jene, die Kriegsanleihe gezeichiset haben und dazu Kredit 
in Anspruch nehmen. Was wäre geändert? Sie würden ihre Aktiv- 
zinsen ebenso erhöht sehen wie ihre Passivzinsen. Und zweitens, 
jene, die mit aller Anspannung ihrer Kräfte das zur Versorgung der 
Armee erforderliche Kriegsmaterial herstellen und das sollte billiger 
werden, wenn die Erzeuger statt 6 % Zinsen 16 % zahlen müßten ? 

Arch. für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 1. 14 


2IOo Walther Federn, 


Man braucht also den Gedanken des Herrn Professor Wicksell 
nur zu Ende zu denken, um seinen Widersinn zu erfassen. Warum 
steigen denn die Warenpreise? Weil Produktion und Zufuhr zurück- 
bleiben hinter dem Bedarf. Seit wann soll Zinsfußerhöhung denn 
eine unmittelbare Steigerung der Produktion zur Folge haben? Sie 
erfolgt ja zur Einschränkung der Unternehmungslust. Oder kann 
man glauben, daß nach zweijährigem Krieg noch so große spekulativ - 
zurückgehaltene und belehnte Warenvorräte vorhanden sind, daß sie 
durch hohe Zinsen hervorgelockt, einen merkbaren Preisrückgang 
bewirken könnten ? Mit dem Zinsfuß hat das Preisniveau im Krieg 
nur insoweit zu tun, als hohe Zinsen die Produktionskosten und daher 
die Forderungen der Warenerzeuger und Besitzer steigern würden. 
Wie wenig die Warenpreise im Krieg mit Zinsfuß u. dgl. zu tun haben, 
. das zeigen ja die Höchstpreise, die die Regierungen festgesetzt und 
auch überall durchgesetzt haben, wo sie die Produktion und Vorräte 
durch entsprechende organisatorische Maßregeln vollständig kontrol- 
lieren konnten. 

Nun könnte man meinen, daß eine frühere Hinaufsetzung der 
Bankraten zu Beginn oder bald nach Beginn des Krieges die angestreb- 
ten Wirkungen tatsächlich erzielt hätte. Da müssen wir zwischen der 
ersten Panikzeit und der einige Wochen später eingetretenen Beruhi- 
gung unterscheiden. In der ersten Panikzeit wurden wirklich trotz 
der allgemeinen Geschäftsstockung große Kreditansprüche an die 
Privatbanken und von diesen und direkt vom Publikum an die Noten- 
bank gestellt. Die Zinssätze waren damals hoch. In England vorüber- 
gehend bis IO %, in Oesterreich-Ungam 8%, in den anderen 
Staaten 6 %. Sie haben die Kreditansprüche nicht abgewehrt. Viel- 
leicht hätten noch höhere Zinssätze die Anforderungen zu Thesau- 
rierungszwecken vermindert, aber diese sind ja, wie Professor Wick- 
sell selbst hervorhebt, nicht die bedenklichen. Thesaurierte Bank- 
noten machen keineGeschäfte und nur durch Geschäfte können Inflations- 
wirkungen eintreten. Die anderen Ansprüche waren unvermeidlich 
zur Zahlung von Löhnung, von Schulden, zum Ankauf der dringend- 
sten Materialien und Lebensmittel. Es ist heute schwer zu sagen, wie 
eine 15 %ige Bankrate damals, wo sie effektiv hätte werden können, 
auf die ganze Wirtschaft gewirkt hätte. Aber eines ist sicher, die 
Panik hätte sie ins ungemessene gesteigert. Ein großer Teil der auf- 
rechtgebliebenen Geschäftsleute wäre zu Fall gekommen, die Kurse 
der Effekten wären ins Bodenloe gefallen, und da sie die Deckung 
eines großen Teiles der Einlagen in Sparkassen und Banken bilden, 
wären wahrscheinlich auch zahlreiche Kreditinstitute insolvent ge- 
worden. Was die erfreuliche und für die Ueberwindung der Anfangs- 
krise entscheidende Ueberraschung des Krieges gewesen ist, die Festig- 
keit unseres Kreditsystems, sie wäre ins Wanken geraten, zusammen- 
gebrochen und das hätte den Eintritt jenes Zustandes unmöglich ge- 
macht, welchen wir als den Normalzustand der Kriegswirtschaft be- 
zeichnen können und der so rasch nach Kriegsausbruch eingesetzt 
hat, in dem Handel und Verkehr sich wieder belebt haben, die Pro- 


vr 


a 


Hinauf mit den Bankraten! 211 


duktion mit allen Kräften für den Kriegsbedarf sich umgeschaltet, 
der Arbeitsmarkt sich wieder gefüllt hat, der Staat mit seinen Kredit- 
ansprüchen nicht mehr zur Notenbank gehen mußte, sondern sie bei 
den privaten Kapitalisten decken konnte. Und das alles hätte der 
Staat selbst durch die Zinsfußschraube verhindern sollen? Er hätte 
der Theorie zuliebe Selbstmord begehen sollen ? 

Und in jenem zweiten Stadium, wo die Hände sich wieder zu regen 
begannen, die Fabriken wieder arbeiteten, das Vertrauen wieder- 
kehrte? Wenn damals die Zinsfußschraube angezogen worden wäre, 
so wäre sie zunächst nur jenen fühlbar geworden, die so wie die Schuld- 
ner der Moratoriumswechsel in Frankreich noch nicht in der Lage 
waren ihre Verpflichtungen zu erfüllen, die erst zur Umschaltung auf 
Kriegsbedarf sich einrichten mußten. Sie hätte diese Umschaltung 
gehemmt ? Aber da der Bedarf des Staates gebieterisch gewesen wäre, 
wäre auch dieses Hindernis überwunden worden, nur schwerer und 
langsamer und mit Opfern für den Staat, der seine Bedürfnisse teurer 
gedeckt hätte, und mit Opfern an Existenzen, die an den hohen Zins- 
sätzen früher zugrunde gegangen wären, als sie die Umschaltung durch- 
führen hätten können. Die Maßnahme wäre dann von Tag zu Tag 
weniger wirksam geworden, denn die Ueberfülle der Zahlungsmittel 
und die Aufzehrung der Vorräte hätte die Einlagen zu den Banken 
getrieben und diese hätten ihre Schulden an die Notenbank getilgt, 
die Kreditzinssätze herabgesetzt, um die Plazierung der Kriegsanleihen 
zu erleichtern, die sie von der Ueberfülle der Einlagen zum Teil befreien. 
Die Notenbank selbst hätte ihre Rate herabsetzen müssen, weil sie 
mit den wirklichen Zinsfußverhältnissen im Markt nicht mehr in 
Einklang gestanden wäre, genau so wie sie es bei uns mit der 8 %igen 
Bankrate nach einigen Wochen tatsächlich tun mußte. 

So sieht es mit der Wirkung der Zinsfuß-Schraube im Krieg aus; 
sie kann die Devisenpreise nicht beeinflussen, denn deren Steigerung 
ist die Wirkung der übermäßigen Nachfrage nach Konsumkredit im 
Ausland und ihrer Steigerung konnte erst entgegengewirkt werden, 
als der Staat organisatorische Maßnahmen traf, um der preissteigern- 
den Wirkung der stetigen Nachfrage nach ausländischem Kredit 
im engen Markt entgegenzuarbeiten. Sie kann die Preissteigerung 
der Waren im Inland nicht verhindern, denn sie ist die Folge der 
Knappheit der Waren, deren Produktion und Zufuhr mit dem Bedarf 
nicht Schritt halten kann. Auch hier können nur organisatorische 
Maßnahmen des Staates der Preissteigerung Einhalt tun. Und wenn 
Professor Wicksell meint, daß diese Preissteigerung vorüber- 
gehen wird, so hoffen wir alle, daß die gegenwärtigen Notstandspreise 
mit dem Aufhören ihrer Ursache, der Wertzerstörung und der Ent- 
ziehung eines großen Teiles der produktiven Arbeiter zurückgehen 
werden, daß sie aber jemals auf den alten Stand zurückgehen werden, 
halte ich für ausgeschlossen. Denn die Teuerung hat ihre sozialen 
Wirkungen geübt. Sie hat das Wertverhältnis der Waren zueinander 
und zu den Dienstleistungen, das das Geld — das, wie gesagt, nie ein 
unveränderlicher Maßstab ist, auch wenn es ans Gold geknüpft ist, 

14 * 


212 Walther Federn, Hinauf mit den Bankraten! 


denn auch dieses ändert seinen Wert — im wesentlichen anzeigt, 
dauernd verschoben. Die Löhne sind gestiegen, die Gehalte sind er- 
hcht worden und das bleibt, wenn auch das Gleichgewicht der Preise 
auf gegen die Zeit vor dem Krieg erhöhter Basis erst noch hergestellt 
werden muß. Wie sich die Wechselkurse im Frieden wieder einrenken 
werden, ist eine andere Frage, die hier nicht beantwortet werden 
kann. Der Glaube des Profesor Wicksell, daß alle Wertver- 
schiebungen durch die Zinsfuß-Schraube hätten verhütet werden 
können, ist nur dadurch zu erklären, daß er die Verhältnisse und Ge- 
setze der Friedenswirtschaft unbedenklich auf die Kriegswirtschaft 
überträgt. Sie gelten aber für diese schon deshalb nicht, weil die 
ganze Kriegswirtschaft nicht die höchste Wirtschaftlichkeit zum Ziel 
hat, sondern ein außerwirtschaftliches Ziel anstrebt und weil damit 
zusammenhängend ein fundamentaler Unterschied zwischen der Geld- 
schöpfung im Krieg und im Frieden besteht. Diesen Unterschied, 
den ich — ich weiß nicht, ob ich der erste bin — mit den Worten 
formuliert habe: Produktions- oder Umschlaggeld und Konsumgeld, 
haben die herrschenden Theorien nicht präzis genug festgelegt und 
daher nicht genügend beachtet. Ob sie nun Metallisten oder Inflatio- 
nisten sind (auch solche gibt es ja), ob sie der Quantitätstheorie oder 
der Currencytheorie huldigen oder ob sie auf der Grenzwertlehre fußen, 
sie alle beachten das Wesentliche der Geldorganisation nicht. Ein Geld- 
wesen Kann nur gesund sein, die Kaufkraft des Geldes nur stabil 
bleiben, wenn neues Geld, das ist Kredit, nur zu Zwecken der Waren- 
produktion und des Warenumschlages, äußerstenfalls bis sie zum letzten 
Konsumenten gelangen, geschaffen wird, es muß krank werden, seine 
Kaufkraft muß abnehmen, wenn neues Geld, Kredit in Anspruch 
genommen wird, um Waren, die aus der Zirkulation in den Konsum 
überführt werden, bezahlen zu können. Hält man diesen grundlegenden 
Unterschied fest, dann begreift man leicht, warum die Zinsfußschraube 
im Frieden, wo im wesentlichen im Wege des Produktions- und Um- 
schlagkredits Geld geschaffen wird, wirksam ist: die Verteuerung 
des Kredits hemmt die Produktion und Spekulation, insbesondere auch 
die Erweiterung der Produktionsmittel. Im Krieg aber, wo sich der 
gewaltige Konsument, der Staat, dieZahlungsmittel schafft und sie in 
ungeheurem Maße vermehrt, würde sich die Zinsfußschraube ins 
Leere winden. Die Schraubenmutter, der Zahlungsmittelumlauf, 
ist zu weit. 


213 


LITERATUR. 


Die Politik der Vereinigten Staaten in bezug auf indi- 
viduelle und Verkehrsmittelmonopole. 


Von 


EUGEN v. PHILIPPOVICH. 


Zwei Schriften von Amerikanern über die im Titel angegebene 
Probleme geben uns Aufschluß über diese Politik !). Der Erstge- 
nannte ist Professor an der Columbia-Universität in New York, der 
Zweite an der Harvard-Universität. Letzterer ist Mitglied der Inter- 
state Commerce Commission und seine ganze wissenschaftliche 
Tätigkeit ist auf die Bekämpfung der Monopolpolitik gerichtet. Die 
Politik wird in den Vereinigten Staaten durch drei Organe bestimmt: 
Durch den Kongreß, die Volksvertretung und den Senat, wel- 
che die Gesetze machen; 2. durch die Exekutive, d. h. die 
innere Verwaltung: Anwendung der Gesetze und Vorschläge an den 
Kongreß; 3. durch dn Obersten Gerichtshof, der über 
die Auslegung der Gesetze entscheidet. Das Werk von Knauth 
will ohne Parteinahme die Politik der verschiedenen Regierungen 
in den Vereinigten Staaten gegenüber den Monopolen darstellen. 
Da Präsident Wilson, der als Gouverneur in New Yersey sehr 
scharfe Gesetze gegen Monopolbildungen ins Leben rief, als Präsi- 
dent der Vereinigten Staaten nichts in dieser Richtung getan hat, 
schließt das Werk Knauths mit dem Jahre 1912 ab. Ä 

Sein Inhalt ist folgender: r. Die Entwicklung der Monopolpolitik;; 
2. die Geschichte der gegen die Trusts gerichteten Gesetzgebung im 
Kongreß; 3. Ansichten und Politik der Leiter der Verwaltung vom 
Präsidenten Harrison I889—1899 angefangen bis zum Präsidenten 
Taft 1900—1913; 4. die Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes; 
5. eine Prüfung der Regierungspolitik. 

Die erste Bewegung gegen die Bildung industrieller Monopole 
in den Vereinigten Staaten wird hervorgerufen durch die Bildung des 


1) Knauth, The Policy of the United States towards Industrial Monopoly, 
NewYork Columbia University 1914 und Ripley, Railway Problems, eine 
Sammlung von Aufsätzen vom Herausgeber und ı5 andern Autoren, New York 
1907. 


214 Eugen Philippovich, 


Standard Oil Trusts 1882?). Ihm folgten wenige Jahre 
später die Industrien zur Erzeugung von Zucker, Baumwollöl, 
Whisky und Bier. Verkaufsvereinigungen waren um diese Zeit über- 
haupt in der Industrie des Landes üblich. Schon 1884 hat ein Herr 
H. W. Lloyd versichert, alle Industrien des Landes wären von solchen 
Vereinigungen beherrscht. 1888 wird in dem Bericht einer Kommission 
des Senates (Herrenhauses) erklärt: »Die Zahl der Vereinigungen 
und Trusts, welche in diesem Lande gebildet werden, wirken alar- 
mierend, sie sehen aus wie Moloche von Monopolen, Ungeheuer von 
Trusts.« Im August desselben Jahres wird eine Klage vor dem Staats- 
gerichtshof in New York erhoben gegen einen Zuckertrust, die nach 
zwei Jahren Verhandlung zur Auflösung der Gesellschaft führt. Von 
dieser Zeit ab wird der Kampf gegen die Monopole von den politi- 
schen Parteien aufgenommen. Die beiden, abwechselnd herrschenden 
Parteien der Union, die Republikaner, wie die Demokraten, wenden 
sich mit Energie gegen solche Vereinigungen, welche »unseren Mit- 
bürgern die Vorteile einer natürlichen Konkurrenz rauben.« Die 
Präsidenten beginnen sich mit der Frage der Bekämpfung der Mono- 
pole zu beschäftigen. Präsident Harrison (1889—1893) ver- 
langte in einer Botschaft an den Kongreß eine Gesetzgebung zur Ver- 
nichtung der Monopole. Sein Nachfolger Cleveland (1897) for- 
derte direkt eine Gesetzgebung zur Vernichtung der Monopole. Hier 
war die Folge die Einsetzung eines Ausschusses, welche die Lage unter- 
suchen und Bericht erstatten sollte. In Frage kamen die Standard 
Oil Co. (Compagnie), die Sugar Rafineries Co., der Cotton-Seed-Oil 
Trust, der Whisky- und der Beef-Trust. Aber der Ausschuß hatte 
keine genügende Macht, er konnte die Besitzer nicht vernehmen, 
sie nicht vereidigen, keine Einsicht in ihre Bücher nehmen. Die Folge 
war der Antrag des Senators Sherman am 4. XII. 1889, dem 
Kongreß einen Gesetzentwurf vorzulegen, indem »für ungesetzlich 
erklärt werden Trusts, Vereinigungen zur Einschränkung des Handels 
und der Produktion«. Nach vielen Beratungen wurde endlich am 
2. VII. 1890 das Shermangesetz beschlossen, das den Titel 
führte: ein Gesetz, Handel und Verkehr gegen ungesetzliche Beschrän- 
kungen und Monopole zu schützen. Im Unterhaus wurde das Gesetz 
mit 242 gegen 85 nicht Stimmende, im Senat einstimmig angenommen. 


Nun ruht aber die Gesetzgebung durch ein Jahrzehnt. Nur 1894 wurde 
eine Bestimmung in ein Zollgesetz aufgenommen, die besagt: »Jede Vereini- 
gung, Verschwörung, Vertrustung, Verträge oder Uebereinkommen werden 
hiemit als im Gegensatz stehend zur öffentlichen Ordnung, ungesetzlich und 
hinfällig, wenn sie von 2 oder mehreren Personen beschlossen worden sind, welche 
entweder Interessen an der Einfuhr von Waren aus fremden Ländern haben oder 
wenn eine solche Vereinigung, Konspiration, Vertrustung, Verbindung oder 


2) Trust heißt eigentlich: Uebergabe von Teilhaberschaften z. B. Aktien 
eines bestimmten Unternehmens an gewisse Personen, denen man vertraut, 
(daber Trustees), welche darüber eine Bescheinigung ausstellen. Diese 
Kombination wurde anfangs der goer Jahre für ungesetzlich erklärt und seither 

‚wird der Name für alle große Vereinigungen gebraucht, die zum Monopol führen. 


or 


Die Politik d. Ver. Staaten in bez. auf individuelle u. Verkehrsmittelmonopole. 215 


vertragsmäßige Zusammenschließung die Absicht hat, den gesetzlich berech- 
tigten Handel oder den freien Wettbewerb zu beschränken oder die Markt- 
preise zu erhöhen in irgend einem Teil der Vereinigten Staaten von irgendwel- 
chen Waren oder von solchen, die eingeführt werden oder eingeführt werden 
sollen oder von irgendeinem Gewerbe, welche solche Waren einführen oder die 
Absicht dazu haben. Jede Person, welche diesen Bestimmungen zuwider handelt, 
ist schuldig eines Vergehens und kann von irgendeinem Gerichtshof der Ver- 
einigten Staaten zu einer Geldstrafe von mindestens 100 Dollars und höchstens 
sooo Dollars verurteilt werden. Die gleiche Strafe tıifft jene, welche Verein- 
barungen treffen, um den Handel innerhalb der Staaten der Union auf solche 
Weise zu beherrschen.e »Jedes Vermögen, das unter den im Vorhergehenden 
erwähnten Bedingungen durch irgendeinen Vertrag oder an einer Zusammen- 
legung teilnimmt und von einem Gebiete der Vereinigten Staaten in ein anderes 
übertragen wird, verfällt zugunsten der Vereinigten Staaten.s 


-t Wie stark die Bewegung gegen die Bildung der Monopole war, 
kann man daraus ersehen, daß von 1888/89 bis zum Jahre 1899/01 
nicht weniger als 71 Gesetzesvorschläge und II Resolutionen teils 
im Senat, teils im Unterhaus zur Vorlage kamen. Unter dem Präsi- 
dentenMcKinley 1899 beschloß das Unterhaus 189 Resolutionen 
zur Abänderung der Verfassung, wodurch dem Unterhaus größere 
Macht über die Trusts gegeben worden wäre. Die wesentliche Reso- 
lution ging mit allerdings nicht großer Majorität dahin, daß die Ver- 
fassung es gestatte, daß die Macht des Kongresses die Frage des 
Monopols direkt regle und über alle Staaten in dieser Richtung ver- 
fügen könne, ohne diese zu hindern, es selbst zu tun. 

Zwischen den Parteien bestanden allerdings Gegensätze. Die 
Republikaner waren der Meinung, daß gesetzliche Vorschriften un- 
fähig seien, die Bildung von Trusts zu verhindern; die Demokraten 
waren anderer Meinung. Die Republikaner erklärten, daß kein Zu- 
sammenhang zwischen Trusts und hohen Zolltarifen bestehe, wäh- 
rend die Demokraten erklärten, daß gerade letztere jene Trusts ge- 
schaffen haben. Die Republikaner geben zu, daß der Kongreß sich 
mit der Monopolfrage beschäftigen solle, die Demokraten aber wollten 
zugleich Eingriffe der Einzelstaaten. Die Republikaner wollten nur 
regulieren, die Demokraten erklärten, alle Monopole müßten als 
Solche ungesetzlich sein und sollten absolut verboten sein. Die über 
die Vorschläge gefaßten Beschlüsse haben zwar nicht die Mehrheit 
von % erhalten, aber die Demokraten hatten doch die absolute 
Mehrheit. 

Nach vielen Kämpfen wurde im Juli 1900 ein Gesetz veröffent 
icht, welches alle vereinigten Unternehmungen 
alsmonopolistisch erklärte, dieihre Geschäfte 
so führen, daß sie jede Konkurrenz zerstören 
und darauf ausgehen, in allen Staaten Kon- 
kurrenzunternehmungen ins Leben zu rufen, 
Der Kongreß hat das Recht, den zwischen- 
staatlichen Handel zu regulieren. Infolge dieses 
Gesetzes wurde am 14. II. 1903 das Bureau ofCorporation 
gegründet, als Teil eines neuen Departements der Regierung: De- 


216 Eugen Philippovich, 


partement of Commerce and Labour. An die 
Spitze dieses Bureaus wurde ein Commissioner gestellt, der 
folgende Rechte hat: Die Macht und die Autorität unter der Leitung 
und Kontrolle des Staatssekretärs für Handel und Arbeit, verstän- 
dige Untersuchungen über die Organisation, das Verfahren und die 
Verwaltung von irgendeiner Korporation und Aktiengesellschaft 
oder anderen inkorporierten Gesellschaften, welche Handel zwi- 
schen den Staaten betreiben und mit dem Auslande, mit Ausnahme 
der Common Carriers, welche einem Gesetz vom 4. II. 1887 unter- 
stehen, vorzunehmen und alle Informationen und Tatsachen fest- 
stellen, welche der Präsident der Vereinigten Staaten ihn zu erheben 
ermächtigt, um dem Kongreß Vorschläge zu machen für eine Ge- 
setzgebung zur Regelung des Zwischenhandels und dem Präsidenten 
Tatsachen zu berichten, welche dieser von Zeit zu Zeit verlangt. 
Seine Mitteilungen werden nach dem Willen des Präsidenten ver- 
öffentlicht werden. Die Macht des Commissioners und seine Autorität 
soll dieselbe sein in bezug auf Korporationen und Aktiengesellschaften 
und irgendwelche Verbindungen, die seiner Untersuchung unterworfen 
sind, die von der Interstate Commerce Commission vorgesehen sind. 
Er hat das Recht unter Strafandrohung und das Recht, die Anwesen- 
heit und die Aussagen von Zeugen, sowie die Vorlage von Urkunden 
und Beweismitteln zu verlangen und die Aussagen der Befragten 
unter Eid zu nehmen. Alle diese Verpflichtungen erstrecken sich 
auch auf alle Personen, welche als Zeugen geeignet erscheinen oder 
dokumentarische Aussagen vornehmen. Es soll ferner die Aufgabe 
und die Pflicht dieses Amtes sein unter der Leitung des Sekretärs 
für Handel und Arbeit, zu verlangen, sammeln, veröffentlichen und 
für nützbare Informationen über Korporationen zu sorgen, welche 
innerhalb der Vereinigten Staaten zwischenstaatlichen Handel oder 
mit dem Auslande Handel treiben, mit eingeschlossen die Versiche- 
rungsgesellschaften und alle jene Aufgaben erfüllen, welche ihm weiter- 
hin durch Gesetz übertragen werden. 

Durch einige Jahre war diese Gründung von nicht großer Be- 
deutung. Aber auf dem 58. und 59. Kongreß in den Jahren 1903—1907 
wurde eine Reihe von Resolutionen eingebracht, spezielle Fragen 
zu untersuchen. So z.B. gewisse Eisenbahnverwaltungen betr., 
Klagen auf Grund des Sherman-Gesetzes, Vereinigungen von Kohlen- 
und Petroleumstransportwegen, der Holztransport. 1909 beschloß 
der Senat, den Zuckertrust einer Untersuchung zu unter- 
werfen. Aber im ganzen haben weder der Präsident Harrison 1889 
bis 1893, noch Präsident Cleveland 1893—1897 sich mit der Trust- 
frage beschäftigt bis auf die letzte Botschaft des letzteren Präsidenten 
im Dezember 1896. Sein Generalstaatsanwalt Mr. Richard Olmy 
drückte sich über die Gesetzgebung folgendermaßen aus: sie ist nicht 
ausreichend, um gegen die Kapitalvereinigungen, welche ganze Zweige 
der Industrie kontrollieren, vorzugehen. Erstens, weil das Gesetz 
nur vom zwischenstaatlichen Verkehr spricht und daher 
ausschließt die ungeheure Menge von Geschäften innerhalb 


Die Politik d. Ver. Staaten in bez. auf individuelle u. Verkehrsmittelmonopole, 2 17 


der einzelnen Staaten. Zweitens, weil jedes Eigentum ein 
Monopol sei und ebenso jede Teilhaberschaft an einer Be- 
schränkung des Handels, so daß die Richter ganz verschiedene Ent- 
scheidungen treffen. Ebenso urteilt ein anderer Richter: Vereini- 
gungen und Monopole, obwohl sie wider das Gesctz handeln, die 
Preise für ihre Aktionäre festsetzen, können durch das gegebene 
Gesetz nicht erreicht werden, weil sie keinen zwischen- 
staatlichen Verkehr treiben. Nach seiner Ansicht kann 
das Sherman-Gesetz nicht angewendet werden I. auf solche Unter- 
nehmungen, bei denen der zwischenstaatliche Verkehr nicht direkter 
und unmittelbarer Zweck ist, sondern nur vereinzelt vorkommt; 
2. ist aus dem Gesetz nicht mit Klarheit zu entnehmen, was mit dem 
Worte Monopol gemeint ist, wie es anzuwenden ist, auf den Versuch 
zu monopolisieren, auf Verträge, Verbindungen und Vereinigungen 
in der Beschränkung von Handel und Verkehr. Das muß klargestellt 
werden. 3. Das Gesetz verlangt zwangsweise Bestrafung und Ein- 
vernahme der führenden Angestellten, der Verwalter und Agenten, 
nicht der untergeordneten Personen. Weiters sollen die Käufer oder 
die Vereinigungen von Konkurrenzunternehmungen prima freien 
Beweis für das Vorhandensein eines Monopols bilden. 4. Die gegen- 
wärtige Gewalt des Justizministers ist nicht ausreichend, um aus- 
reichende Untersuchungen vorzunehmen. Man muß feststellen: 
»Die Pflicht der Feststellung von Gesetzesverletzungen und die Be- 
weisführung darüber sollte einem anderen Departement oder Bureau 
überwiesen werden, welches die Macht hat, Zeugen zu ver- 
nehmen. r 

Ebenso hat Präsident Cleveland in seiner Botschaft 
an den Kongreß im Dezember 1896 darauf Bezug genommen, daß 
es bedauerlich sei, daß sich solche Monopole bilden, daß aber die 
bisherigen Gesetze ungenügend seien wegen der Schwierigkeit der 
politischen Verfassung der Union. Die Bundesregierung ist macht- 
los, solche Unternehmungen in den einzelnen Staaten zu kontrollieren. 
Er hatte allerdings in seiner letzten Botschaft Dezember 1900 erklärt: 
Einschränkungen solcher Vereinigungen, welche ungesetzlich sind 
und der Bundesgesetzgebung unterliegen, sollten sofort vom Kon- 
greß beschlossen werden. Mc Kinley hat keinen Einfluß auf die 
Bewegung gegen die Trusts genommen. Erst in seiner Zuschrift an 
den Kongreß vom 29. VII. 1899 machte er auf die vorhandene Zahl 
von Industriellen - Vereinigungen aufmerksam. Präsident Roose- 
velt beschäftigte sich erst am Ende des vierten Jahres seiner Re- 
gierung mit der Frage und erklärte in seiner Botschaft an den Kongreß, 
das Bureau of Corporations habe die Pflicht und die 
Macht, die kommerziellen und industriellen Interessen der Nation 
zu vertreten. Es sei nicht dazu da, einzuschränken und zu kontrol- 
lieren, sondern exakte und authentische Informa- 
tionen zu sichern, welche den Kongreß in die Lase versetzen, 
Gesetze durchzuführen oder in die Lage bringen, Ergänzungsgesetze 
zu schaffen, wenn es notwendig befunden werden sollte, zum Zwecke, 


218 Eugen Philippovich, 


die Wenigen zu verhindern, Privilegien auf Kosten der vermin- 
derten Geschäftsgelegenheiten der Vielen zu erhalten. In der 
nächsten Botschaft Dezember 1904 erklärt er: »Große Korporationen 
sind nötig und nur Männer von großer und singulärer geistigen Kraft 
können solche Korporationen mit Erfolg verwalten und solche Menschen 
müssen einen großen Lohn beziehen. Aber diese großen Korpora- 
tionen sollten verwaltet werden mit gerechter Rücksicht auf das 
Interesse der gesamten Oeffentlichkeit. Soweit dies unter den bis- 
herigen Gesetzen geschehen kann, muß es geschehen. Wenn diese 
Gesetze nicht genügen, so müssen neue geschaffen werden.« Schärfer 
drückt er sich 1905 aus: »Ja, es ist wahr, daß dort, wo Regierungs- 
beschränkung oder Ueberwachung nicht besteht, einige Ausnahme- 
menschen ihre Energien nicht auf dem Wege des Gemeinwohles, 
sondern auf Wege leiten, welche gegen das Gemeinwohl gerichtet 
sind. Die Vermögen, welche durch korporative Organisation geschaffen 
werden, sind so groß und verschaffen jenen, welche sie besitzen, eine 
solche Macht, daß es notwendig ist, der Regierung, welche die Be- 
völkerung als Ganzes vertritt, eine effektive Macht der Ueberwachung 
der Korporationen zu geben. ... Die Erfahrung hat uns gelehrt, 
daß eine Regelung und. Ueberwachung dieser großen Korporationen 
durch die Einzelstaatsverwaltungen keinen Wert hat. Eine solche 
Regulierung und Ueberwachung kann wirkungsvoll nur durch eine 
souveräne Macht geschehen, deren Rechtsprechung ebensoviel Macht 
hat wie die Korporationen — das ist durch die nationale Re- 
gierung.« Ebenso spricht er in seiner Zuschrift an den Kongreß 
im Jahre 1907: »Das Anti-Trustgesetz soll nicht zurückgenommen 
werden, aber es muß wirkungsvoller gemacht werden und mehr in 
Harmonie stehen mit den tatsächlichen Zuständen. Es soll dahin 
abgeändert werden, daß es nur jene Verbindungen verbietet, welche 
der allgemeinen Oeffentlichkeit schaden, so daß eine große Ueber- 
wachungsgewalt der Regierung über diese großen Konzerne im Inter- 
esse des Zwischenverkehres notwendig ist. Diese Vorschrift sollte 
begleitet sein von der Verpflichtung für Zwangsveröffentlichung 
der Bilanzen und Unterwerfung einer Einsichtnahme in die Bücher 
und Papiere durch Inspektioren öffentlichen Charakters. Der Kon- 
greß hat die Macht, Korporationen den zwischenstaatlichen Handel 
zu gestatten, doch kann eine Bundesbehörde prüfen, ob die Ver- 
einigung dem Bundesgesetz entspricht.oder nicht.« Am 25. III. 1908 
wiederholt Roosevelt in einer Zuschrift an den Kongreß die unmittel- 
bare Notwendigkeit das Sherman-Gesetz abzuändern, eine Erklärung, 
die er Igog wiederholt. »Wir haben zwei Arten von Feinden: solche, 
welche scheinbar im Gegensatz zueinander stehen, in Wirk- 
lichkeit Alliierte in der Bekämpfung einer guten Lösung des Pro- 
blemes sind. Hieher gehören zunächst die ganz großen Korporations- 
männer und die extremen Individualisten unter den Geschäftsleuten, 
welche merkwürdigerweise glauben, daß es unregulierte Geschäfts- 
unternehmungen gibt. Das sind die Plutokraten. Sodann gehören 
hieher diejenigen, welche blind gegenüber den ökonomischen Er- 


Die Politik d. Ver. Staaten in bez. auf individuelle u. Verkehrsmittelmonopole. 219 


scheinungen unserer Zeit an die Möglichkeit einer Unterdrückung 
statt einer Regulierung der Korporationen glauben und die Macht 
der Eisenbahnen beklagen, in einem Atem auch die Anwendung der 
Bundesgewalt, welche allein die Eisenbahnenverwaltung regeln 
kann.« Roosevelt kommt sum Schluß zu dem Ergebnis, daß not- 
wendig sei seine Regelung der zwischenstaatlichen Korporationen 
durch die nationale Regierung, die eine einfache Methode der Buch- 
führung, ihre Oeffentlichkeit und die Ueberwachung der Ausgabe 
von Schuldscheinen und die Unterdrückung von Rabatten und von 
besonderen Privilegierungen verfügen mußte«. Der Generalstaats- 
anwalt Bonaparte fügte hinzu, daß es notwendig sei, dem Kongresse 
mitzuteilen, wie groB die Schwierigkeiten seien, die bestehenden Ge- 
setze mit Erfolg durchzusetzen, so daß neue Gesetze notwendig seien. 

Der Nachfolger Roosevelts Präsident Taft hat in der Bot- 
schaft an den Kongreß vom 7. II. 1910 eine ganz andere Stellung 
eingenommen. Die Vereinigung von Unternehmungen hätte große 
Vorteile: x. die Möglichkeit großer Ersparungen, 2. die Beschrän- 
kung eines übertriebenen Wettbewerbes von konkurrierenden Ver- 
einigungen, endlich 3. die Möglichkeit, sich ein Monopol zu sichern 
und damit Preise und Frachtraten vollständig zu beherrschen. Aller- 
dings sollten diese vereinigten Korporationen, deren Bildung er direkt 
empfiehlt, einer Ueberwachung durch die Regierung unterworfen 
sein; was sie an Obligationen ausgeben, muß geprüft und kontrolliert 
werden; sie müßten in regelmäßigen Zeiträumen Bericht erstatten 
und sie dürfen nicht ohne Erlaubnis der Regierung Aktien anderer 
Gesellschaften besitzen. Der General-Anwalt legte auch tatsächlich 
einen diese Grundsätze entwickelnden Gesetzentwurf dem Kongreß 
vor. In der nächstjährigen Botschaft an den Kongreß wiederholte 
Taft seinen Vorschlag unter besonderer Berufung darauf, daß nach 
dem Bericht des Bureau of Corporation über die Holzindustrie, 
diese Industrie nur mehr in wenigen Händen sei. Im Jahre ıgıı 
waren vom Obersten Gerichtshof mehreren Klagen gegen Truste: 
die Standard Oil Co., Tobacco-Trust, welche ihre Auflösung forderten, 
stattgegeben worden. Dies veranlaßte den Präsidenten Taft IgıL, 
weitere Maßregeln durch Ergänzung der Gesetzgebung gegen Mono- 
pole zu verlangen. In seinem letzten Bericht vom Dezember 1913 
scheint er aber anzunehmen, daß die Shermanakte genüge, denn die 
Bundesgerichte hätten in der letzten Zeit durch viele Entscheidungen 
die Ausschreitung wirtschaftlicher Gewalt verhindert. In der Periode 
seiner Verwaltung waren vom Obersten Gericht unter Klage nach 
dem Shermangesetz 64 Vergleiche, 43 schwebende Klagen und eine 
Verurteilung erfolgt. | 

Der Verfasser des besprochenen Buches gibt uns nun im 4. Ka- 
pitel auf 87 Seiten die Darstellung von 37 Streitfällen vor dem Ober- 
sten Gerichtshof. Im ganzen fanden in den 37 Streitfällen 23 Verur- 
teilungen statt. 4I Klagen waren zur Zeit des Erscheinens des Buches 
von Herre Knauth noch anhängig. Das Gesamturteil des Verfassers 
ist nicht günstig. Er faßt es zusammen in die Worte: »Ein Studium 


220 Eugen Philippovich, 


der Politik der Regierung inbezug auf Monopole führt zu keinen 
befriedigenden Ergebnissen.« Er spricht es direkt aus, daß wenn 
auch der Oberste Gerichtshof sich bemüht, zu einer einheitlichen 
Auffassung zu kommen, die Aeußerungen der jeweiligen Regierungen 
sich in einem »konfusen Zustand« befinden. Die Gründe dafür findet 
er in dem Schwanken ihrer Ansicht darüber, ob der Kongreß das 
Monopol als solches beseitigen will oder nur einzelne Akte bestrafen 
will. Auch der Oberste Gerichtshof schwanke in seinen Urteilen. 
Immer spiele die — für die einheitliche Rechtsregulierung in den 
Vereinigten Staaten so bedeutsame — Frage eine Rolle, ob es sich 
um einen zwischenstaatlichen Verkehr oder um einen 
Monopolakt innerhalb eines Staates handelt. Der Gerichts- 
hof sei einfach gezwungen worden, seine erste Auffassung als prak- 
tisch nicht durchführbar aufzugeben, daß gewisse Hand- 
lungen und Praktiken an sich zu untersagen 
sind. Denn das Gesetz sagt: »jeder Vertrag oder jede Vereini- 
gung in der Form eines Trusts oder einer anderen Verabredung zur 
Beschränkung des Handels und Verkehrs unter den ver- 
schiedenen Staaten oder fremden Völkern« ist unter- 
sagt. 

Im ganzen hat sich die Entwicklung so vollzogen, daß in dem 
Jahrzehnte 1890—I900 der zwischenstaatliche Verkehr immer stär- 
ker geworden ist. Alle Redner im Senat stimmen immer über das 
Uebel der Einschränkung des Handels und die Bildung von Mono- 
polen überein. Aber der Oberste Gerichtshof urteilt nicht 
nach der Frage, ob das öffentliche Wohl leide! 
Der Kongreß hätte aussprechen müssen, daß alle Vereinbarungen 
zur Beschränkung von Handel und Verkehr, gleichgültig, ob solche 
Uebereinkommen vernünftig sind oder nicht, zu verbieten sind. Aber 
die Haltung der Regierung sei negativ. Sie hat nie eine positive 
Stellung zu Preisfestsetzungen eingenommen und seit dem Gesetz 
von 1890 haben die Präsidenten wohl geredet aber nichts getan. Die 
Exekutive sei indolent und der Oberste Gerichtshof, obwohl er immer 
größeres Verständnis für das Ökonomische Problem zeigt, ist wegen 
der Begrenzung seines Rechtes nicht imstande, zur Begrenzung 
der Monopole etwas zu tun. 

Welchen Mißerfolg die Monopolpolitik gegenüber der Korpo- 
ration gehabt hat, zeigt eine Erhebung des Bureau of Corporation 
in Washington, Es hat für das Ende des Jahres 1914 festgestellt, 
daß von ı2 Banken und Bankiınstituten bzw. von ihren Inhabern 
und deren Direktoren 180 folgende Stellungen bekleiden: 385 Direk- 
torstellen in 41 Banken und Trustgesellschaften mit einem Gesamt- 
kapital von 3832 Millionen Dollars und Depositen im Betrage von 
2834 Millionen Dollars; ferner 50 Direktorstellen in II Versiche- 
rungsgesellschaiten, welche über ein Aktienkapital von 2—6 Mil- 
lionen Dollars verfügen, 155 Direktorstellen in 31 Eisenbahnunter- 
nehmungen mit einem Gesamtkapital von 12 193 Millionen Dollars 
und von einer Ausdehnung ın der Länge von 271 120 Kilometern, 


Die Politik d. Ver. Staaten in bez. auf individuelle u. Verkehrsmittelmonopole. 221 


6 Direktorstellen in 2 Expreßgesellschaften und 4 in einer Dampf- 
schiffahrtsgesellschaft mit einem Gesamtkapital von 245 und einem 
Bruttoertrag von 07 Millionen Dollars, 98 Direktionsstellen in 19 
Korporationen von Öffentlicher Nützlichkeit (Wasser-, Licht-, Kraft- 
versorgung) mit einem Gesamtkapital von 2826 Millionen und einem 
Bruttoertrag von 428 Millionen Dollars. Im ganzen haben daher die 
180 Firmeninhaber und ihre Direktoren der 18 Banken 746 Direktor- 
stellen in 134 Korporationen mit einem Gesamtkapital von 25 325 
Millionen Dollars = 101400 Millionen Mark, ungefähr ein Drittel 
des amerikanischen Volksvermögen). 

Anders steht es mit der Kontrolle der Eisenbahnen. 
Hier ist viel geleistet worden und der zweite zitierte Autor, Professor 
Reply, sah seine Lebensaufgabe darin, gegen die Monopolpolitik der 
Eisenbahnverwaltungen zu kämpfen. Für seine Ansicht charakte- 
ristisch sind seine einleitenden \Vorte zu dem Bande von Aufsätzen: 
Œs gibt wohl nichts, was tadelnswerter ist in der ökonomischen 
Geschichte der Vereinigten Ptaaten, als der Betrug am Staate und 
an den unschuldigen Leuten, die Gelder in Eisenbahnaktien anlegten, 
durch die Gesellschaften, welche Eisenbahnen gründeten; dazu ge- 
hört auch die skrupellose Handhabung der Bahntarife durch Rocke- 
feller und seine Genossen, um die Konkurrenz mit der Standard 
Oil Company zu zerstören« »Rabatte und differentielle 
Behandlung sind nicht Angelegenheiten der Geschichte, sondern 
von Bedeutung in der Gegenwart.« »Am stärksten traten solche Be- 
günstigungen in der Aufschwingungsperiode nach 1897 hervor. Die 
günstigen Ernten wurden von den organisierten Landwirten 
benützt, damit die Eisenbahnleitungen ihnen geheime Begünsti- 
gungen in den Frachtraten gewähren, welche den unabhängi- 
gen Produzenten verweigert wurden. So ging es fort, bis endlich 
durch das Gesetz vom 14. Februar 1903 das Bureau of Corpo- 
tration ins Leben gerufen wurde. 

- Diese Untersuchungsorganisation ist eine Abteilung in der Zen- 
tralstelle für Handel und Arbeit. An die- Spitze wird ein C o m- 
missioner of Corporation und ein Stellvertreter für 
Ihn gestellt. Dieser hat die Autorität und die Macht, unter Leitung 
und Aufsicht des Staatssekretärs für Handel und Arbeit verständige 
Untersuchungen zu veranstalten in bezug auf die Organisation, 
das Verfahren und die Verwaltung der Geschäfte irgend einer 
Korporation, sei es eine Aktiengesellschaft oder eine Korporation, 
die auf der Vereinigung von Unternehmungen besteht und Geschäfte 
in verschiedenen Staaten und mit dem Ausland macht. Der Commis- 
sioner ist berechtigt, solche Auskünfte und Tatsachen zu sammeln, 
welche den Präsidenten der Vereinigten Staaten in die Lage ver- 
setzen, dem Kongreß Gesetzesvorschläge zur Regelung von solchem 
Handel zu machen. Ferner wird er dem Präsidenten von Zeit zu Zeit 
jene Tatsachen berichten, welche dieser zu erfahren wünscht. Der 
Commissioner wird den Korporationen gegenüber dieselbe Macht 
und Autorität haben, wie sie der »Interstate Commerce Commission« 


222 Eugen Philippovich, 


zugestanden worden ist, insbesondere das Recht, unter Strafandro- 
hung das Herankommen und die Aussagen von Zeugen zu verlangen. 
sowie die Vorlage von Urkunden, Briefen und anderen dokumentari- 
schen Beweisstücken anzuordnen und den Eid der Aussagenden 
abzunehmen. Es ist ferner die Aufgabe des Büros, unter der Leitung 
des Staatssekretärs für Handel und Arbeit zu sammeln, zusammen- 
zustellen, zu veröffentlichen und für das Bekanntwerden von nütz- 
lichen Informationen betreffend die Korporationen zu sorgen, welche 
zwischen den Vereinigten Staaten und fremden Ländern oder zwi- 
schenstaatlichen Verkehr innerhalb der Union betreiben, die Ver- 
sicherungsgesellschaften eingeschlossen. 

Noch im selben Jahr 1903 wurde durch die sog. Elkins- 
Bill das Interstate Commerce Gesetz verschärft, indem ihm ein 
größeres Strafrecht gegenüber den Eisenbahngesellschaften verliehen 
wurde, weil diese ungleiche Tarife einhoben und in Abhängigkeit 
standen von den Produktionskartellen. Verschiedene Untersuchungen 
der Interstate Commerce Commission seit 1904 haben bis dahin 
unentdeckte, sehr verwickelte Methoden aufgedeckt, dem Monopol- 
gesetz zu entgehen. Ein besonders beliebter Fall ist der Gebrauch, 
daB räumlich begrenzte Eisenbahnen, welche einem der 
Verfrächter gehören, einen unverhältnismäßig großen 
Anteilan der Gesamtfracht erhalten. Der International 
Salt Co., der United Staates Steel Corporation und der Internatio- 
nalen Harvester Co. (Getreideschneidemaschinen - Gesellschaft) ist 
nachgewiesen worden, daß sie diesen Schwindel betreiben. Eine andere 
Methode, welche besonders den großen Minneapolis-Mühlen-Be- 
sitzern nützte, indem sie für Getreide und Mehl Rabatte sicherte, war 
der sog. »Mitternacht-Tarif« — ein sehr niedriger öffentlich kund- 
gemachter Tarif, der aber nur für einen Tag Geltung hatte, 
zum Gebrauch für die Verfrächter, die bereits im vorhinein von dem 
Tarife wußten. Ein Mißbrauch des Pennsylvanian-Eisenbahnsystems, 
Kohlenwägen nur zugunsten der großen Versender zu benützen, sei 
erst vor kurzem entdeckt worden. Die nachträgliche Rückzahlung 
an die großen Verfrächter von ihren nach dem normalen Tarif ge- 
zahlten Warenversendungspreisen ist auch erst in der letzten Zeit 
bekannt geworden. Sowohl eine große Zuckerfabrik, wie eine Heiz- 
material- und Eisenunternehmung in Collorado sind deshalb vom 
Bundesgericht bestraft worden. Das Meisterstück aber hat die 
Standard Oil Co. geliefert. 1906 hat der Commissioner of Corpo- 
rations festgestellt, daß sie mit allen Eisenbahnen Verträge mit Vor- 
zugstarifen besaß. Herr Reply erklärt, daß ein solches Verfahren, 
das amtlich festgestellt wurde, ein leider großes Beispiel dafür sei, 
welchen Mangel an Geschäftsmoral die in dieser Zeit in den Vereinig- 
ten Staaten Lebenden sehen müssen. 

Solches Pooling oder Verabredungen zwischen Verfrächtern 
zur Hintanhaltung einer Konkurrenz war ein ganz gewöhnliches 
Geschäftsmittel bis zum Interstate Commerce Act 1887. Die Ge- 
richtshöfe haben auch den Anti-Trust-Act von 1890 als anwendbar 





Die Politik d. Ver. Staaten in bez. auf individuelle u. Verkehrsmittelmonopole. 223 


gegen solche Eisenbahnverträge erklärt. Seither sind solche Vor- 
gänge unmöglich geworden. Eine der vollkommensten Ausbildungen 
eines Eisenbahnmonopols hatte die Southern Railway- 
Association geschaffen. Sie stellte eine Verbindung von Chi- 
cago nach Kalifornien her, ihr Geschäft war anfangs nicht sehr er- 
tragsreich. Es bildeten sich aber trotzdem noch mehr Eisenbahn- 
gesellschaften, welche eigentlich unnötig waren. Durch die infolge 
ihrer Konkurrenz ausgebrochenen Tarifunterbieteungn wurden sämt- 
liche Eisenbahnen ertragslos. Dieser Zustand führte zu der oben 
genannten Gemeinschaft von Eisenbahnen. Nach mehreren Jahren 
war es dem Leiter einer dieser Bahnen, der die wirtschaftliche und 
Verkehrslage der ost-südlichen Gebiete der Vereinigten Staaten aus- 
nützte, gelungen, die bisher konkurrierenden Bahnen in einer Ge- 
sellschaft zu vereinigen. Der Zweck dieser Gesellschaft wurde 
folgendermaßen charakterisiert: Jede Linie im Süden der Flüsse 
Ohio und Potamac und östlich vom Mississippi kann Mitglied der 
»Assoclation« werden. Jede Dampfschiffgesellschaft, welche diese 
Eisenbahnlinien mit Boston, Providence, New York, Philadelphia 
oder Baltimore verbinden konnte, konnte in die Vereinigung ein- 
treten. Der Zweck dieser Vereinigung war, die allen schädliche Kon- 
kurrenz zu beseitigen. Um dies zu erreichen, wurden jährliche Be- 
rufungen von Vertretern der in der Vereinigung verbundenen Gesell- 
schaften abgehalten. Diese Vertreter wählten den Präsidenten, 
einen permanenten General-Commissioner, einen Sekretär und Auditor 
(Leiter der Buchführung), ein Schiedsgericht und einen Verwaltungs- 
ausschuß, Dieser entschied über die Aufnahme neuer Mitglieder 
und erledigte alle Angelegenheiten, die nicht in den Aufgabenkreis 
des General-Commissioners fielen. Alle Beschlüsse brauchten ?/; 
Mehrheit. 

Der Commissioner hatte die allgemeine Verwaltung zu führen, 
mußte aber in allen delikaten Angelegenheiten, deren Behandlung 
ihm schwierig erschien, dem Verwaltungsausschuß oder der Ver- 
waltung der in Frage stehenden Bahnen berichten. Alle seine Ver- 
fügungen, Berichte, Statistiken, Vorschläge wurden vereint mit den 
Protokollen über Vereinbarungen und Ausschußsitzungen durch 
Zirkularschreiben den vereinigten Bahnverwaltungen mitgeteilt. In 
24 Bänden fand man diese Berichte bei der Kontrolle vereinigt. 
Da diese Form der Verwaltung zu schwerfällig wurde, erhielt das 
Exekutiv-Komitee das Recht, über alle die vereinigten Bahnen be- 
führenden Angelegenheiten rechtlicher Natur zu entscheiden. Es 
wurde aber Stimmeneinheitlichkeit verlangt. Der Exekutiv-Aus- 
schuß konnte auch Unterausschüsse bilden, so war ein wichtiger 
die »Tarifraten-Kommissione. Auch hier war Stimmeneinhelligkeit 
notwendig. Schließlich ergaben sich aber doch Schwierigkeiten, sie 
zu erreichen und man ließ endlich ein Schiedsgericht ent- 
scheiden. 

Die Vereinigung scheint trotzdem manchmal nicht funktioniert 
zu haben. Die Verrechnung und Verteilung von Einnahmen an Ver- 


~ 


224 Eugen Philippovich, 


frachtungen, an denen verschiedene der vereinigten Bahnen betei- 
ligt waren, machten Schwierigkeiten. Man kam endlich im Juni 
1877 zu dem Beschlusse, daß 20 % von den Bruttoeinnahmen aus dem 
Pool unterliegenden Geschäften bei der Zentralstelle zu hinterlegen 
seien. Zehn Jahre später konnte der Commissioner in seinem Jahres- 
bericht aussprechen, daß seit 1877 alle Bilanzüberschüsse eingezahlt 
worden waren und daß die vereinbarten Tarife aufrechterhalten 
wurden mit Ausnahme des Monats von 14. Februar bis 15. März 
1878, in welchem ein Ratenkrieg zwischen den vereinigten Bahnen 
ausgebrochen war. 

Dieses Pool ordnete nicht die Verfrachtungen der Vereinigten 
Bahnen im Geschäft nach dem Westen. Da infolgedessen durch die 
Konkurrenz die Frachtraten immer ermäßigt und ungleich wurden, 
was das Publikum in ebenso große Verlegenheiten setzte, wie die 
Bahnen, wurde 1886 eine andere Organisation der Süd-Bahnen ein- 
gerichtet: »Associated Roads of Kentucky, Alabama and Tennessee« 
und nun wurde auch nach dem Osten unter Pool-Vorschriften ver- 
frachtet. 1887 vereinigte sich die neue Organisation mit der Southern 
Railway und Steamship Association. Zuerst war in diesen Verein- 
barungen nur der Tarif für Warensendungen geregelt worden. Im 
Jahre 1885 wurde der Commissioner beauftragt, einen Plan für Unter- 
werfung des Passagiergeschäftes unter die Kontrolle der Assoziation 
vorzulegen. Im November wurde er angenommen. 

Der Commissioner und der Auditor hatten über die vollzogenen 
Geschäfte Buch zu führen. Täglich mußten daher die entsprechenden 
Beamten der einzelnen verbundenen Bahnen dem Commissioner 
Kopien der im gemeinschaftlichen Geschäft zurückgelegten Wege- 
längen mit den Einnahmen daraus vorlegen. Das erforderte 1889 
einen Kostenaufwand von 5r 000 Dollars. Ferner waren entsprechend 
der oben hervorgehobenen Bestimmung in der Bank zur Verfügung 
für den Commissioner die 20 % der Einnahme aus dem Geschäft 
einzuzahlen. Die monatlıch zu legenden Rechnungen sind in g Üeber- 
sichten eingeteilt). A zeigte die \Warenbewegung während eines 
Monates von den östlichen Städten nach allen Richtungen; die 
Linie, Warenmenge in Pfund und Zahlung, Vergütung für die Ver- 
frachtung und Reinertrag zur Verteilung, prozentuelles Verhältnis 








3) Folgendes ist des Commissioners Tafel A für den Oktober 1882 NewYorker 
Handel betreffend: Die Zablen beziehen sich von oben nach unten auf 5 vetr- 
einigte Eisenbahnsysteme in 1000 Dollar: 





Brutto Brutto- Kost Brutto- 9% für Rein- General-Comi- 
Gewicht Einnahmen Osten Einnahme die Linie Einnahme missioners 20%, 
149687 1045.85 209.17 836.68 57.5 I 029.69 207.55 

18 800 181.85 30.37 145.48 17.0 304.43 34.18 
149 332 971.94 194.39 275.55 17.0 304.43 194.12 

2 205 22.11 4-42 17.09 5.I 91.33 4 34 

2 280 16.70 3.34 13.36 3.4 60.88 3.34 
322 304 2238.45 447.69 1790.70 100%, I 790.76 437.62 


Die Politik d. Ver. Staaten in bez. auf individuelle u, Verkehrsmittelmonopole. 225 


und die Summe für Ueberweisung an den Commissioner. Die Tafel 
B gab eine gleichartige Information für die zwei vorausgegangenen 
Monate, so daß die Bahnverwaltungen ihre Frachtmengen vergleichen 
konnten. Die Tafeln C und D gaben Spezialnachweisungen über das 
Baumwollgeschäft.. E und F zeigten die Bruttoeinnahmen und Bi- 
lanzen für jeden Ort und alle Orte zusammen, für Waren im allge- 
meinen und Baumwolle im besonderen. G zeigte die Bruttoeinnahme 
und die Bilanz für alle Waren und Baumwolle vereinigt, für alle 
örtlichen Punkte und die bare Summe, die jeden Monat beim Commis- 
sioner deponiert wurde. H gab Auskunft über Baumwolle und andere 
Waren, getrennt und vereint in zwei vorausgegangenen Monaten. Diese 
Rechnungen konnte der Commissioner nicht ohne Einsicht in die 
Buchhaltung der Beteiligten ausführen. Dieses Recht war ihm ver- 
liehen. Die Eisenbahnen verweigerten aber manchmal diese Einsicht, 
so 1886 die Alabama Great Southern Road. Die Beamten der Bahn 
weigerten die Einsicht. Die Eisenbahnverwaltung wurde milde be- 
handelt von dem Obersten Ausschuß. Anders in früheren Jahren 
1883 und 1885. Im ersteren Jahre handelte es sich um Rabatte, 
welche für gepreßte Baumwolle von Eisenbahn- und Schiffverwaltung 
für den Transport zu den atlantischen Häfen gewährt wurden, im 
Jahre 1885 handelte es sich um einen gleichen Fall der Nashville, 
Chattanooga and St. Louis Eisenbahn. 

Die Aufgabe des Commissioners war, unter anderem die von der 
Vereinigung beschlossenen Tarife bei den beteiligteh Eisenbahnver- 
waltungen durchzusetzen. Praktisch kamen doch Unregelmäßig- 
keiten vor. . Waren wurden oft falsch klassifiziert oder es wurden 
geringere Gewichte angegeben. Die Verfrachtenden machten dort 
falsche Angaben, wo die Eisenbahnbeamten nicht in der Lage waren, 
die Qualität der Ware und ihre Tarifklasse festzustellen. Manchmal 
waren die Eisenbahnbeamten im Einverständnis mit den Vertretern 
der Verfrächter, falsche Angaben zu machen. Natürlich durch Be- 
stechung. So mußte dem Commissioner die Erlaubnis gegeben werden, 
zwei Inspektoren als Hilfsbeamte anzustellen für Feststellung von 
Gewicht und Qualität der Waren. 

Eine zweite wichtige Macht der Maschinerie dieser Assoziation 
lag bei dem Exekutiv-Ausschuß und dem Tarifbe- 
stimmungs-Ausschuß. Die Aufgabe des letzteren, im 
Range unter dem Exekutiv-Ausschuß stehenden Ausschusses war 
I. die Verteilung der Geschäfte, für welche Tarife festgestellt wurden, 
2. die Verschiedenheiten zwischen verschiedenen Städten, 3. die 
Klassifizierung der Frachten nach der Höhe der Tarife. Sobald ein- 
mal eine bestimmte Frachtrate gegenüber konkurrierenden Bahnen 
beschlossen war, mußte eine Verteilung der Verfrachtungsmenge 
auf die beteiligten Bahnen erfolgen. Diese waren natürlich nicht 
gleich ausgestattet und die am besten ausgestatteten würden die 
Mehrheit der Verfrachtung erhalten. Um nun zu verhindern, daß 
die minder leistungsfähigen Bahnen den Tarif unterbieten, mußte 
man ihnen einen gewissen Prozentanteil an dem Geschäfte sichern. 


Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. ı. 15 


226 Eugen Philippovich, 


So waren in den ersten Jahren des Bestandes der Assoziation acht 
Frachtorte geschieden worden, wobei man die Verfrachtungen der 
beteiligten Bahnen im vorausgegangenen Jahr zugrunde legte. So 
war vom Pool geordnet — der Amerikaner sagt: war gepoolt — im 
Jahre 1886 das Handelsgeschäft von 15 Orten. Die Zahl der am Pool 
beteiligten Bahnen war z.B. bei einer Stadt Atlanta von 5 auf 12 
gestiegen. Ueber solche Verteilung wurde seitens der zusammen- 
geschlossenen Eisenbahnverwaltungen immer gestritten. 

Ein anderer Streitpunkt war die Klassifikation der 
Waren und daher der Frachtraten. 1886 hatte die Assoziation 
rund 1250 Waren geschieden. Beeinflußt wurde die Klassifikation 
natürlich auch durch die Nähe der Städte, in welche zu verfrachten 
war. So wurde vom Süden aus eine gleiche Tarifierung für große 
Städte, trotz verschiedener Entfernung durchgeführt, z. B. wurden 
Philadelphia, Boston, New York gleichgestellt. Mit jeder neuen Eisen- 
bahn vermehrten sich die Vereinbarungen. Von Wichtigkeit ist das 
Verhalten des Pools gegenüber außenstehenden Eisenbahnen. Im 
Dezember 1876 wurde beschlossen, diesen Eisenbahnverwaltungen 
zu erklären, daß, wenn sie sich nicht der »Association«e anschließen, 
ihnen keine durchgehenden Tarife berechnet werden würden. Da- 
durch hätten natürlich deren Verfrächter nicht nach der Länge der 
Entfernung billigere, sondern zwei aneinander anstoßende höhere 
Raten zu bezahlen. Solche Eisenbahnen wurden von den Kartellanten 
boykottiert. Der Erfolg warrasch. Die Chesapeake und Ohiolinie dehnte 
sich bis zur Ostküste und eine zweite Westlinie dehnte sich ebenfalls nach 
dem Osten aus. Sie konkurrierten mit niedrigeren Frachttarifen, wurden 
aber sofort von der »Association«durch starke Herabsetzung ihrer Tarife 
nach Boston, New York und anderen Häfen konkurriert. Binnen drei 
Wochen war der Anschluß der konkurrierenden Linien erfolgt. 

Der Verfasser vorstehender Mitteilungen über die Eisenbahn- 
pools, Herr Hudson, schließt seine Abhandlung mit dem Hinweis, 
daß eine Konkurrenz doch immer wieder entstehe, weil jede Linie 
so viel Fracht und Personenverkehr als möglich haben möchte. Die 
Frachttarife sind zweifellos in der Zeit von 1875—1887 gesunken. 
Beispiele, welche der Verfasser gibt, sind folgende. Die Frachtraten 
für 100 Pfund in Cents waren von den Städten im Osten bis Atlanta 
am I. Januar jedes Jahres von Boston, New York, Philadelphia 176 
bis II4, 140—98, 1IO—86, 90— 73, 80—60, 70—49, in den angeführten 
6 Frachtklassen. Aber die Frage steht offen, ob sie diese Höhe haben 
müßten? Auch kamen immer noch viele Uebervorteilungen bei der 
Klassifikation der Waren nach dem Frachtarif vor. Ein solcher Fall 
wurde am 2I. November Igor zugunsten eines Fell-Händlers 
entschieden, da die Eisenbahnen die Frachtkosten nicht nach 
den Qualitäten der Felle, sondern ganz äußerlich nach 
den Quantitäten unter Zugrundelegung erst- 
klassiger Felle die Tarife feststellten. 

Die größten Verletzungen der Gleichheit in der Behandlung 
der Waren-Versender lag in der Erhöhung der Tarife für Strecken, 


Die Politik d. Ver, Staaten in bez. auf individuelle u. Verkehrsmittelmonopole. 22 7 


für die es keine Konkurenz gab, gegenüber den Tarifen zwischen 
weiter entfernten Stationen mit mehreren Bahnverbindungen. Der 
Oberste Gerichtshof hatte auch in solchen Fällen einzugreifen, in 
welchen Bevorzugungen bestimmter Häfen eintraten oder Bevor- 
zugungen bestimmter Städte. Eine Entscheidung darüber erfolgte 
am 15. April 1893 zuungunsten der Savannah, Florida and Western 
Railway und der Ocean Steam Company, ferner der Savannah, Florida 
and Western Railway and Merchants and Uniers Transportation 
Company. Weiters kam eine Georgia Central Railway in Betracht, 
die mit den beiden vorgenannten Dampfschiff- und Miners-Transport- 
Gesellschaften in Verbindung stand. Diese Gesellschaften haben 
Tarifunterschiede zugunsten zweier Städte Montgomery und Columbus 
und zum Schaden einer Stadt Troy eingeführt, obwohl die Verfrachtun- 
gen der letzteren Stadt größer waren. Aber sie hatten hier keine Konkur- 
renz inden Verkehrswegen. Einanderer Fall, der zuungunsten der Eisen- 
bahnen am 27. März 1899 entschieden wurde, erfolgte auf Grund einer 
Klage der Händler-Vereinigung in der Stadt Dawson im Staate Georgia. 
Die Klage ging dahin, daß die in Frage kommenden zurzeit in Kraft ste- 
henden Frachttarife von New York, Cincinnati, Ohio, Nashvilleund Chat- 
tanooga (im StaateTennesee, New Orlians (Lousiana) nach Eufala (Ala- 
bama) und Georgetown, Americus und Albany (ebenda) im Vergleich mit 
jenen von der Stadt Dawson nach den genannten Städten niedri- 
ger sind, als die für Frachten von der Stadt Dawson. Die Bahnen 
wurden durch die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes gezwungen, 
die Benachteiligung der Stadt Dawson aufzugeben. 

Eine besondere Rolle spielte die Frage, ob bei Verfrachtungen 
über längere Strecken geringere Einheitstarife gefordert werden 
dürfen, als bei einem Transport über kürzere Strecken. Es ist diese 
Frage durch Section 4 des Gesetzes zum Zwecke der Regelung des 
Handels von Jahre 1887 und durch eine spätere Ergänzung durch 
die Hepurn-Bill vom 1906 gesetzlich geregelt worden. Eine 
besondere Entscheidung gegen die Eisenbahnen erfolgte am 29. No- 
vember 1899. Die Verwaltung der Stadt St. Cloud 
welche an einer Eisenbahnlinie liegt, die von Minneapolis und St. Paul, 
weiter nach Brainer im Norden und nach Duluth führt. St. Cloud 
liegt 76 Meilen nördlich von St. Paul. Der Frachtenverkehr zwischen 
Duluth und St. Paul führt über St. Cloud. Die Frachtkosten waren 
aber niedriger in der Richtung von St. Paul nach Duluth als in um- 
gekehrter Richtung. Ebenso sind sie aber in umgekehrter Richtung 
niedriger von Duluth nach St. Paul, als von Duluth nach St. Cloud. 
Die zwei verschiedenen Frachttarife beziehen sich auf Mehl in der 
Richtung St. Paul nach Minneapolis und auf Kohle von Duluth ab. 
Dabei hatte die Bahnverwaltung aber keine direkten Tarife für Ver- 
sendung von Mehl und Kohle von St. Cloud nach NewYork, wohl 
aber von St. Paul und zwar 21.5 Cents für r00 Pfund. Wer von St. 
Cloud diese Waren absendet, mußte den Lokalsatz von I2 Cents 
nach Duluth und von dort nach New York 16.5 Cents, also 28.5 Cents 
zahlen. In diesem Falle wurde die Eisenbahn verurteilt. 

15* 


228 Eugen Philippovich, 


Andere interessante Entscheidungen erfolgten über Vereinba- 
rungen betreffend Tarife für Wasser- oder Eisenbahnfracht auf kon- 
kurrierenden Verkehrsanstalten. So zwei zu Ungunsten der Eisen- 
bahnen erfolgende Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes vom 
17. II. 1900 und 12. III. 1904. In dem ersten Fall handelt es sich um 
Frachttarife an eine Stadt Danville von nördlichen und östlichen 
Städten aus; ferner um die Transportkosten für Zucker, Melasse, 
Reis und Kaffee von New Orleans nach Danville; drittens um solche 
von mehreren westlich gelegenen Orten nach Danville; endlich um 
Transportkosten für Tabak von Danville nach den westlichen Kon- 
sumplätzen. Es konkurrierten Verkehrsmittel zu Wasser und Eisen- 
bahnen, aber sie vereinigten sich alle, um die Konkurrenz zu ver- 
meiden. Die Klage behauptete, daß Frachten nach Danville höher 
angesetzt wurden, als darüber hinausgehende Versendungen. Die 
Gerichtsentscheidung gibt zu, daß die von den Klägern zu tragenden 
Frachtkosten ungewöhnlich hoch und drückend seien. Sie hätten 
klar bewiesen, welche Verluste sie durch diese übertriebenen (obno- 
xions) Tarife erlitten haben. Der Gerichtshof hat in seiner eingehend 
begründeten Entscheidung sein Urteil dahin zusammengefaßt, daß 
sie erst am 3I. Dezember 1900 gefällt werden wird. Die Bahnver- 
waltungen hatten sich bereit erklärt, die Tarife abzuändern zugunsten 
der Stadt. Sollte dies in dem angegebenen Zeitraum nicht geschehen, 
so werde die Entscheidung zuungunsten der Bahnen gefällt werden. 

In dem zweiten, Chattanooga-Fall handelte es sich 
um die Benachteiligung der Stadt Chattanooga durch die Eisenbahn- 
verwaltungen der Linien, welche Boston, Providence, New York, Balti- 
more, Philadelphia und Baltimore mit Chattanooga und Nashville 
verbinden, bzw. durch die direkten Linien nach Chattanooga und 
via Chattanooga nach Nashville und durch die Linien via Cincinnati 
nach Chattanooga und via Cincinnati nach Nashville. Die Klage 
bezog sich auf drei Benachteiligungen: I. die für Warensendungen 
nach Chattanooga festgesetzten Tarife seien ungerecht, unverständ- 
lich und im Gegensatz zu Art. I des oben erwähnten Gesetzes; 2. die 
Frachtkosten nach Chattanooga sind höher, als die für dieselben 
Waren, welche durch diesen Ort nach dem 151 Meilen weiter liegenden 
Nashville geführt werden; 3. diese Verbilligung der Warenzufuhr für den 
letzteren Ort ist für die klagende Stadt aus dem Grunde schädlich, weil 
die beiden Städte mit ihren Produkten konkurrieren. Es liege also eine 
Verletzung des Gesetzes zur Regelung des Handels vor. Inder Tat wurde 
der Klägerin Recht gegeben und die Eisenbahn wurde verurteilt. 

Ein anderer Klagefall wurde zwar als berechtigt angesehen, 
doch seien weitere Verhandlungen nötig. Er betraf eine Klage der 
Stadt St. Louis, die auf dem Wege vom Osten nach der Pazifi- 
schen Seeküste liegt. Die Tarife für Verfrachtung vom Osten nach 
St. Louis seien höher, als die für Verfrachtung über St. Louishinaus an die 
Pazific-Küste, also auf demselben Weg, aberin umgekehrter Richtung. 

Professor Reply ist der Meinung, daß man in bezug 
auf die Frage der Frachtraten verschiedene örtliche Gebiete 


Die Politik d. Ver. Staaten in bez. auf individuelle u. Verkehrsmittelmonopole. 229 


bzw. Eisenbahnverbände in den Vereinigten Staaten unterscheiden 
müsse. Er teilt die Eisenbahnen in drei Gruppen: das Gebiet der 
Trunk-Linien, die Süd-Staaten und die Transkontinentalbahnen. 
Das Trunk-Linie-System umfaßt hauptsächlich den 
Eisenbahnenkomplex, der Chicago als Mittelpunkt batund nach dem 
Osten und zum Teil nach den mittelamerikanischen Gebieten ver- 
frachtet. Der Verfasser ist der Ansicht, daß auf diesem Eisenbahn- 
gebiet die Tarife nicht nur am einfachsten, sondern am gerechtesten 
geregelt seien. Dagegen zeige das System der südlichen Eisenbahnen, 
wie die oben angeführten, vom Obersten Gerichtshof entschiedenen 
Fälle beweisen, eine absolute Willkür in den Verfügungen der die 
Eisenbahnen verwaltenden Persönlichkeiten. Hier sind häufige Ver- 
letzungen des fundamentalsten Grundsatzes der Gerechtigkeit vor- 
gekommen, so daß die Regierung einschreiten mußte. In der dritten 
Verfrachtungsorganisation, in der transkontinentalen, 
erblickt Professor Reply noch manche Mängel, vor allem die starke 
Bevorzugung der großen Städte gegenüber den Mittelstädten, sowie 
den Kampf der an einer einzigen Eisenbahnlinie liegenden kleineren 
Städte und Ortschaften gegen willkürliche Tarifbehandlung. 

In besondern Aufsätzen werden noch die Abänderungen an dem 
Interstate Commerce Law, ferner die Grundsätze der Bildung von 
Frachttarifen und einige andere technische Fragen behandelt. Uns 
kann nur die Erweiterung der Kontrollrechte der Union interessieren. 
Wir haben bereits oben die Elkins-Akte von 1903 besprochen, 
welches Gesetz die Macht des Bureau of Corporation erweitert. Eine 
weitere Ausgestaltung erfolgte durch de Hepurn-Bill vom 
28. August 1905. Dieses Gesetz unterwarf auch neue Verkehrsein- 
richtungen der staatlichen Kontrolle: Expreßgesellschaften, die 
Röhrenleitungorganisation für die Abtransportierung des Rohöls 
von den Gruben, sodann Schiffahrtsgesellschaften. Von besonderer 
Bedeutung ist die Erweiterung der Macht des Bureau of Corporatiön 
durch die gesetzliche Verpflichtung der Eisenbahnverwaltungen, 
Berichte über Kosten, Einnahmen, Auslagen usw., kurz über ihre 
ganze Buchführung auf Verlangen zu erstatten. Die Kommission 
kann die Art der Buchführung vorschreiben, kann jederzeit in die 
Bücher Einsicht nehmen oder Fachleute ermächtigen, die Prüfung 
vorzunehmen. Diese Verpflichtungen sind unter Strafe zu erfüllen 
von den Eisenbahnverwaltungen. Jeder Bahnbeamte, der die Unter- 
suchungen der Kommission in die Irre führen will, unterliegt einer 
Geld- oder Gefängnisstrafe. Die Gerichte haben in dieser Hinsicht 
die Korporation zu unterstützen. Dadurch wurde erreicht, daß die 
Eisenbahnen, wenn sie auch Privaten gehören, doch eine öffentliche 
Organisation wurden und der öffentlichen Kontrolle unterworfen 
sind. Endlich ging man soweit, daß durch ein Bundesgesetz vom 
Jahre 1913 beschlossen wurde, den reellen Wert aller Eisenbahnen 
und Verfrachtungsunternehmungen festzustellen, um die Grund- 
lage zu gewinnen für eine Feststellung gerechter Tarife. 


230 


Grundriss der Sozialökonomik )). 


Von 
ADOLF WEBER. 


Es hat einen besonderen Reiz, die einzelnen Abschnitte des neuen 
Grundrisses der Sozialökonomik ?2) mit entsprechenden Teilen des 
Schönbergschen Handbuches zu vergleichen. Die Unterschiede hin- 
sichtlich des Wie und des Was der Abhandlungen sind überraschend 
groß. Das empfindet man im besonderen Maße, wenn man vergleicht, 
wie das Kreditbankwesen im Handbuche durch Adelf Wagner und im 
G.d.S. durch Schulze-Gaevernitz und Jaffe zur Darstellung gelangt. 
Ueber die »Credit mobilier Banken«, die »Kreditbanken im engeren 
Sinne«, um Adolf Wagners Ausdrücke zu gebrauchen, hatte dieser 
auch in der letzten Auflage des Handbuches (1896) im wesentlichen 
nur den Tenor seines Urteils mitzuteilen: »Die praktische Bedeutung 
dieser Banken ist gegenwärtig sehr groß aber nicht unbedingt ersprieB- 
lich«; im übrigen beschäftigt es sich so gut wie ausschließlich mit den 
Notenbanken. Diese sind jetzt im G.d.S. aus der Abteilung 
Bankwesen (im 3. Buch) herausgenommen, sie sollen gewissermaßen 
als Ergänzung zur Lehre vom Geld und Kreditwesen im zweiten Buche 
ihre Erledigung finden. Im vorliegenden Teile findet man lediglich 
einige kurz orientierenden Bemerkungen über die Notenbanken. Das 
Werturteil Adolf Wagners ist entscheidend von sozialpolitischen Er- 
wägungen beeinflußt. Schulze-Gaevernitz betont dagegen — und wir 
Jüngeren stimmen ihm darin, soweit wir uns von Schulfesseln los- 
machen konnten, wohl alle zu —, daß die Erfüllung der Interessen 
der sozialen Gerechtigkeit von der Erfüllung einer Vorbedingung ab- 
hängt, von einem letzten Wertmaßstab, von der wirtschaftlichen und 
politischen Macht und Sicherheit der deutschen Nation. Und mit Rück- 
sicht auf diesen letzten Wertmaßstab bejaht er im Gegensatz zu Adolf 


1) V. Abteilung, II. Teil. Bankwesen. Bearbeitet von G. v. SchulzeGae- 
vernitz, E. Jaffe. Tübingen 1905. Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). 
X und 231 Seiten. 

2) Die Besprechung der II. und VI. Abteilung von Eugen v. Philippovich 
im Archiv, Bd. 39, S. 8ıg ff. 


Grundriß der Sozialökonomik. 231 


Wagner »die großkapitalistische und industriestaatliche Tätigkeit 
unserer Banken, ohne welche wir längst von der angelsächsischen 
Welt überholt wären«. Auch das kann man für den Werdegang unserer 
Wissenschaft in jüngerer Zeit charakteristisch nennen: Bis zur Wende 
des Jahrhunderts wußten wir von den ausländischen Banken mit 
Notenausgabe im wesentlichen nur das, was die alten englischen 
Enqueten und Schriften, insbesondere aus Anlaß des Streites um die 
Banking und Currencytheorie, uns überliefert hatten, und von den 
Banken ohne Notenausgabe garnichts. Jetzt dagegen kann Edgar Jaffe, 
gestützt auf ausreichende Einzeluntersuchungen, und zwar haupt- 
sächlich von deutschen Autoren, ein lebendiges, abgerundetes Bild 
auch von dem englischen, dem amerikanischen, dem französischen 
Bankwesen bieten. | 

Weitaus den größten Teil des Raumes (189 Seiten) nimmt Schulze- 
Gaevemitz für seine Abhandlung über das deutsche Kreditbank- 
wesen in Anspruch. Seine Disposition schließt sich der üblich ge- 
wordenen Stoffeinteilung an: Begriffliches und Geschichtliches, Ge- 
schäfte der Banken (reguläre und irreguläre), Bankenaufbau. Er 
will »die Organisation der deutschen Kreditbank nach ihren privat- 
wirtschaftlichen wie volkswirtschaftlichen Wesenheiten umreißen«, 
wobei er betont, daß man zwischen privatwirtschaftlichen Zwecken 
und volkswirtschaftlichen Funktionen scharf unterscheiden müsse, 
etwas, was nebenbei bemerkt, als Grundsatz für den Volkswirt 
eine Selbstverständlichkeit sein sollte, jedenfalls darf man es nicht 
einen Grundsatz nennen, der, wie der Verfasser meint, Hans Schönitz 
zu verdanken sei. Aber ich glaube, daßesdeshalb, weilder Gegensatz 
zwischen der privatwirtschaftlichen und volkswirtschaftlichen Betrach- 
tungsweise so groß ist, sehr schwer sein wird, in derselben Arbeit gleichzei- 
tig den Bedürfnissen der Privatwirtschaftslehre und derVolkswirtschafts- 
lehre genügend Rechnung zu tragen. Nicht als wenn nun eine feste Linie 
pedantisch zu ziehen wäre, der Volkswirt muß schon die wichtigsten 
privatwirtschaftlichen Einzelheiten kennen, und der Privatwirt wird 
zuweilen über sein enges Gebiet hinausblicken müssen, um nicht in 
die Irre zu gehen. Aber derjenige, der volkswirtschaftlich zu denken 
gewohnt ist, wird für die privatwirtschaftlichen »Wesenheiten« nicht 
den rechten Blick haben und umgekehrt. Das ist eine Regel, die viel- 
leicht Ausnahmen zuläßt; aber ob die neueste Arbeit von Schulze- 
Gaevernitz unbedenklich zu diesen Ausnahmen wird gezählt werden 
dürfen? Der klare volkswirtschaftliche Denker, der auch die Privat- 
wirtschaft des Bankwesens durch eigene praktische Tätigkeit gründ- 
lich kennen zu lernen bemüht war, bringt im besonderen Maße die 
Vorbedingungen mit, um zwei Herren gleichzeitig dienen zu können; 
und doch meldet F. Schmidt, der Vertreter der Privatwirtschafts- 
lehre an der Universität Frankfurt in seinem beachtenswerten Referat 
über das vorliegende Buch in der Zeitschrift für Sozialwissenschaft 
I9I16 (Seite 20ọ ff.) eine große Anzahl von privatwirtschaftlichen 
Mißverständnissen, Lücken, Bedenken an, und als Volkswirt will es 
mir scheinen, daß die Klarheit der Gliederung des Stoffes gerade da- 


232 Adolf Weber, 


durch, daß zuviel Gewicht gelegt wurde auf die etwas schablonenhaft 
gewordene Trennung zwischen privatwirtschaftlicher und volkswirt- 
schaftlicher Beurteilung nicht gewonnen hat. Da die wohlverstandenen 
dauernden privatwirtschaftlichen Interessen in sehr weitem 
Umfange mit den volkswirtschaftlichen Interessen harmonieren, 
ist die Zuweisung des Stoffes in die privatwirtschaftlichen oder volks- 
wirtschaftlichen Abteilungen manchmal nicht ohne Willkür und Zwang 
möglich. Um ein Beispiel zu nennen: Als privatwirtschaft- 
lichen Sollsatz bezeichnet Verfasser den Kampf der Banken gegen 
die Borgwirtschaft durch Erziehung der kleineren und mittleren Kun- 
den zur bankmäßigen Zahlung. (Seite 54.) Wenige Seiten vorher 
(Seite 47) bucht er unter der Ueberschrift »Volkswirtschaft- 
liche Beurteilung der Depositen«: die Erziehung zu prompter 
Zahlung durch das System bankmäßiger Zahlung. Dergleichen muß 
doch namentlich auf den Anfänger, der gleich auf der ersten Seite 
des Buches gelesen hat, daß man die volkswirtschaftliche und privat- 
wirtschaftliche Beurteilung möglichst scharf auseinander halten müsse, 
verwirrend wirken. 

Ein anderer Umstand, der den Wert des Buches als Wegweiser 
für den Lernenden empfindlich beeinträchtigen wird, ist die Art der 
Literaturangabe. Einige 100 Bücher, Zeitschriften, Zeitungsaufsätze 
werden ohne jede Auswahl genannt. Privatwirtschaftliche, volks- 
wirtschaftliche, juristische Literatur, reife allgemein anerkannte 
Werke neben Doktordissertationen, die nicht über dem Durchschnitt 
stehen und Eintagsbroschüren werden ohne jede Charakterisierung 
in den Anmerkungen unter dem Text erwähnt, anderseits bleibt 
manche wertvolle Arbeit ungenannt. 

Aber das alles sind vorwiegend Fragen der äußeren Anordnung, 
die zwar für den Lehrzweck des Buches von Bedeutung sind, die aber 
mit seinem wissenschaftlichen Werte nichts zu tun haben. Wie steht 
es damit? Schulze-Gaevernitz schließt seine Abhandlung mit dem 
Satze: »Die letzte Frage unseres Bankwesens, die seiner innersten 
Zusammenhänge, die Frage seines Aufstieges und seines Verfalles 
ist eine Weltanschauungsfrage.« Beim ersten Durchblättern des 
Buches blieb mein Blick auf diesem Satze besonders haften und ich 
muß gestehen, daß ich daraufhin Schlimmes für das nähere Studium 
des Buches fürchtete; für die Aufdeckung der komplizierten Zusammen- 
hänge, in die unsere Banken hineingestellt sind, scheint mir die Philo- 
sophie ein wenig geeigneter Wegweiser zu sein.. Aber die Befürch- 
tungen erwiesen sich in der Hauptsache als grundlos. Mit nüchterner 
Sachlichkeit bemüht sich Schulze-Gaevernitz durchweg, den wirt- 
schaftlichen Erscheinungen nachzugehen. Da, wo er seine wissen- 
schaftlichen Ueberlegungen in seine Weltauffassung ausmünden läßt, 
geschieht esohne Aufdringlichkeit, so daß man diese Zugabe als will- 
kommene Belebung der Darstellungen bezeichnen kann. 

Von zusammenfassenden Darstellungen, wie sie hier geboten 
werden, wird man im allgemeinen keine neuen wissenschaftlichen 
Ergebnisse verlangen; die wird man auch in der hier in Frage stehenden 


Grundriß der Sozialökonomik. 233 


Darstellung kaum finden. Aber durch die selbständige Art, wie der 
Verfasser zu den Ergebnissen der Forschung Stellung nimmt, bietet 
er auch dem kundigen Fachmann reiche Anregung, selbst da, wo dieser 
Widerspruch erheben muß. 

Ein solcher Widerspruch wird sich nun freilich häufig einstellen. 
Schon gleich die Umgrenzung des Begriffes »Bank«, von der Schulze- 
Gaevernitz ausgeht, wird wenig Beifall finden: »Aller Wirtschafts- 
historie zum Trotz müssen wir kühn genug sein Begriffe zu bilden, 
welche für die Gegenwart allein gelten, dies gilt auch vom Begriffe 
der Bank.« Ist aber nicht die Gefahr groß, daß diese Kühnheit die 
Wissenschaft den Zufälligkeiten des Tages ausliefertt? Aber nicht 
das ist mein Hauptbedenken. Bedenklicher finde ich das Ergebnis 
der neuen Bemühungen um den Begriff Bank. Seitdem Hildebrand 
das aktive und passive Kreditgeschäft in ihrer wechselseitigen Er- 
gänzung scharf gegenüber gestellt habe, bestehe für uns, so führt 
der Verfasser aus, das Wesen der Bank in Kreditvermittlung. Keine 
Bankgeschäfte seien daher Geld und Edelmetallhandel, das Aufbe- 
wahrungsgeschäft, der Effekteneigenhandel der Bank, derartige Ge- 
schäfte könne man nur »bankmäßige Nebengeschäftese nennen, wäh- 
rend z. B. Eigenspekulation in Effekten als ein »bankwidriges« Ge- 
schäft bezeichnet werden müsse. Sollte das wirklich der. Begriff Bank 
sein, »der für die. Gegenwart gilt«? Ich möchte demgegenüber vor 
wie nach mit Schäffle und neuerdings mit Liefmann daran festhalten, 
daß das Wesen der modernen Bank ausmacht »der Handel 
in Nutzungen, des vertretbaren beweglichen 
Kapitals; sei es, daß solche Nutzungen durch Kredit 
der Herstellung und Zirkulation von Brauchlichkeiten, oder, daß sie 
der Darstellung und Vergeltung des Geldwertes veräußerter Brauch- 
lichkeiten in der Zahlung gewidmet sind«. Nicht unerwähnt darf 
aber hier bleiben, daß Schulze-Gaevernitz für seine, wie ich glaube, all 
zu enge Begriffsbestimmung schon einen, allerdings ziemlich ober- 
flächlichen Vormann gehabt hat, den Amerikaner Dunbar, der in 
seinen Chapters on the Theory and History of Banking die Bank de- 
finiert als’ein Institut, das Kredit gewährt und Depositen in Emptang 
nimmt. | 
Daß Schulze-Gaevernitz das Wesen der Bank ausschließlich in 
ihrer Kreditvermittlung sieht, muß um so mehr wundern, wenn man 
hört, daß er folgende überraschende These aufstellt: »Unsere Kredit- 
banken können beliebig Zahlungsmittel schaffen, es lauern hier alle 
jene Krisengefahren, welche man einst den Notenbanken vorwarf.e 
(Seite 148/49.) Dieser Satz ist aber nicht nur bedenklich, weil er zu 
den grundlegenden Orientierungen über das Wesen der Bank nicht 
recht zu stimmen scheint, sondern mehr noch deshalb, weil in ihm 
eine Anschauung ausgesprochen wird, die ich für theoretisch, ins- 
besondere aber auch für praktisch sehr gefährlich halte. Auf einer 
der ersten Seiten des Buches (Seite 13) wird mit vollem Recht ausge- 
führt, daß es der glänzenden Entwickelung des deutschen Bank- 


234 Adolf Weber, 


wesens zugute gekommen sei, daß man zwar den Notenbanken nicht 
aber den übrigen Kreditbanken den Grundsatz der bankmäßigen 
Deckung aufgezwungen habe. Wie ist das mit der oben erwähnten 
These zu vereinigen ? Können nicht die Gegner der freien Entwicklung 
unserer Kreditbanken sagen, daß dann, wenn die Kreditbank beliebig 
Zahlungsmittel schaffen könne, daher denselben Gefahren ausgesetzt 
sei wie die Notenbanken, der Zwang, der für diese recht sei, für jene 
billig sein müsse, um so mehr weil es sich bei dem Schaffen von Zah- 
lungsmitteln durch die Kreditbanken nicht um ein planmäßiges Ein- 
greifen einer die gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse überschauen- 
den Zentralbank, sondern um ein dezentralisiertes Vorgehen zahl- 
reicher Privatwirtschaften handelt? Um kritisch Stellung zu nehmen 
zu der grundlegenden theoretischen Ansicht, müßte man die Geld- 
und Kredittheorie des Verfassers kennen. Die hier und da in der Arbeit 
zerstreuten Bemerkungen genügen nicht, um sich ein klares Bild 
davon zu machen. Es will mir aber scheinen, daß Folgendes übersehen 
wurde: Die ungedeckte Banknote schafft bewußt Forderungs- 
rechte gewissermaßen aus dem Nichts, um sie anstelle des Bargeldes 
zu Umlaufsmitteln zu machen. Der Scheck, das wichtigste Zahlungs- 
mittel, das in Verbindung mit dem Giro- und Clearingverkehr für die 
Kreditbanken in Frage kommt, macht demgegenüber lediglich bereits 
bestehende Forderungsrechte fähig, der Zahlungsausgleichung zu 
dienen. 

Bedenklich scheinen mir auch die Zukunftsideen, denen Schulze- 
Gaevernitz Raum gibt. Er glaubt an das, wie er meint, geniale Wort 
St. Simons: »Die heutige Anarchie in der Produktion, die der Tat- 
sache entspringt, daß sich die ökonomischen Beziehungen ohne ein- 
heitliche Regelung abwickeln, muß einer Organisation der Produktion 
weichen .... Eine Zentralverwaltungsbehörde, die von erhöhtem 
Standpunkt aus das weite Gebiet der sozialen Oekonomie zu über- 
blicken vermag, wird diese in einer der Gesamtheit dienlichen Weise 
regulieren und die Produktionsmittel den geeigneten Händen über- 
weisen, namentlich wird sie für eine ständige Harmonie zwischen 
Produktion und Konsumtion sorgen. Es gibt Institutionen, die eine 
gewisse Organisation der wirtschaftlichen Arbeit in ihren Aufgaben- 
kreis einbezogen haben: Die Banken.« Wiesich Schulze-Gaever- 
nitz den Weg zur Verwirklichung dieses Wortes, seiner Ansicht nach 
zur Verwirklichung eines Marxismus, der nur in der Form anders ist, 
als Marx sich ihn vorstellte, denkt, läßt sich aus den folgenden Aus- 
führungen wenigstens ahnen. Eine Zusammenschmelzung unserer 
Bankwelt zu einem Ganzen unter öffentlich-rechtlicher Spitze (Reichs- 
bank) schwebt ihm vor, ein Monopol mit gemeinwirtschaftlicher Rege- 
lung. Vielleicht ist folgender Satz charakteristisch für dieses Zu- 
kunftsgebilde: »Die Reichsbank kann es nicht zulassen, daß eine 
unserer Großbanken etwa durch Streik auch nur eine Woche lang 
lahmgelegt wird. Sie hat schon so vielfach in das private Bankwesen 
eingegriffen, daß vielleicht einmal die Angestelltenrage ebenfalls 
ihrer Beaufsichtigung unterfallen könnte.« Die Gefahren dieses 


aa aN 


Grundriß der Sozialökonomik. 235 


Planes verkennt der Verfasser wohl nicht, er macht wenigstens 
hinter diese sozialpolitische Möglichkeit ein Fragezeichen. Mir will 
es scheinen, daB derartige mit den verlockenden Worten St. Sfmons 
geschilderten Ziele keine zweckmäßigere Organisation bedeuten wür- 
den, sondern mehr Verknöcherung, Schablonisierung, ein Karten- und 
Markensystem übertragen auf die Produktion, eine Einschnürung der 
Kreditorganisation in spanische Stiefel, etwas, wovor der Verf ısser 
an anderer Stelle (S. 184) in Uebereinstimmung mit Havenstein 
warnt. 

Derartigen Bedenken gegenüber möchte ich aber doch fest- 
stellen, daß ich in den weitaus meisten Ergebnissen mit Schulze- 
Gaevernitz vollständig einig bin, manchmal auch da, wo er von anderer 
Seite aut Widerspruch stoßen wird. Ich bin immer den Uebertreibungen 
Damaschkes und seiner Gefolgsleute mit der nötigen Entschiedenheit 
entgegengetreten, insbesondere habe ich auch die sogenannte Boden- 
spekulationstheorie als irrig bekämpft, aber trotzdem bin ich mit 
Schulze-Gaevernitz ganz einverstanden, wenn er fordert, daß der Satz: 
»Bodenspekulation ist bankwidrige früher oder später sich zur Aner- 
kennung durchringen müsse. Ich habe dieselbe Forderung schon vor 
ihm in der zweiten Auflage meines Buches über Depositenbanken 
und Spekulationsbanken (S. 233) gestellt. Wenn dann jedoch weiter 
algemein gesagt wird, die Spekulationsbank sei eine Contradictio in 
adjecto, so kann ich dem für deutsche Verhältnisse nur dann 
zustimmen, wenn man dem Begriff Spekulation eine m. E. zu enge, 
wissenschaftlich nicht haltbare Bestimmung gibt. Auch kann man 
nicht umhin festzustellen, daß durch das Eingreifen der Großbanken in 
die Effektenspekulation dieser an sich notwendigen Spekulation mehr 
genützt als geschadet wird. Mit Recht meint Prion in seiner Freiburger 
Doktordissertation »Ueber die persönlichen Faktoren der Börsenpreis- 
bildunge, daß die Spekulation unter Beteiligung der Großbanken 
thimmelweit« verschieden sei von derjenigen, wie sie in früheren Zeiten 
von den zahlreichen Privatbanken getragen wurde. bei der Ausnutzung 
aller sich darbietenden Gewinnmöglichkeiten durch ausgiebige Teil- 
nahme am Termingeschäft ohne Rücksicht auf das gehandelte Papier, 
die dahinterstehende Gesellschatt und unbekümmert um die aus ihrem 
Handeln resultierende Wirkung für den Markt, Zweck und Wesen 
der berufsmäßigen Spekulation gewesen sei. Uebrigens scheint Schulze- 
Gaevernitz den Satz, eine Spekulationsbank ist eine Contradicto in 
adjecto, für die deutschen Banken doch nicht wörtlich zu meinen, 
gelegentlich erklärt er »unser Kreditbankwesen ist....... produktiv 
und spekulativ zugleich«. (S. 149.) 

Sehr dankenswert und zeitgemäß ist die lebhafte Bejahung 
der weltpolitischen Tätigkeit unserer Banken. Das, was Schulze- 
Gaevernitz darüber sagt, gehört mit zu dem besten, was in seinem 
Buche zu finden ist. Es ist denen dringend zur Lektüre zu empfehlen, 
die allzu eilfertig infolge des Krieges ein »Umlernen« predigen, die 
energisch fordern, daß unser Kapital in Zukunft nur dem heimischen 
Markte und höchstens den verbündeten Freunden dienen solle. Dem- 


236 Adolf Weber, Grundriß der Sozialökonomik. 


gegenüber, meint Schulze-Gaevernitz, »in allen Zonen eröffnen sich 
heute Betätigungsmöglichkeiten für deutsche Kapitalien und deutsche 
Tatkfaft. Noch sind die Kapitalien für diese Tatkraft zu klein, daher 
die Sparpflicht des Deutschen von heute, der— Kapitalaufspeichernd — 
Macht und Nahrungs-Spielraum für die Nachkommen erweitert« (S.167). 
Dazu ist jedoch eine Verstärkung der politischen Unterlagen für die 
Sicherheit unserer Kapitalsanlagen erforderlich, was auch Schulze- 
Gaevernitz mit dem wünschenswerten Nachdruck betont. 

Wie ich selbst schon 1902 als Maxime für die Bankpolitik den 
Satz aufstellte »Not measures, but men«, so betont auch Schulze- 
Gaevernitz »wir bedürfen der Männer mehr als der Paragraphen«, 
und in Verbindung damit fordert er im Gebiet des Unterrichtswesens 
Ersatz zu schaffen für das, was die Praxis des Großbetriebes an Bil- 
dungskraft verliert. Dazu machter Vorschläge, diesich teils an die Han- 
delshochschule, teils an die Universitäten wenden, Vorschläge, die 
jeder Kenner der Verhältnisse nur warm unterstützen kann. 

Die kurzeDarstellung des englich-amerikanischen und französischen 
Bankwesens ist Edgar Jaffe auf engem Raum vortrefflich gelungen. 
Man empfindet es, daß er aus dem Vollen schöpft. In scharfer, klarer 
Gliederung, das Wesentliche hervorhebend, versteht er es, sich dem An- 
fänger verständlich zu machen und zugleich auch dem Kenner der 
tatsäthlichen Verhältnisse etwas zu bieten. Wesentliche Meinungs- 
verschiedenheiten habe ich nicht hervorzuheben. Im Gegensatz zu 
Schulze-Gaevernitz gibt Jaffe in einer kleinen Uebersicht eine wirk- 
liche Einführung in die in Betracht kommende wesentliche Literatur 
mit ganz kurzen Notizen über den Inhalt der einzelnen Bücher, ein 
Verfahren, das Schulze-Gaevernitz für die bald zu erwartende neue 
Auflage empfohlen werden muß. 


237 


Soziologische Pathologie. 
Von 
OSKAR BLUM. 
I. 


Das Getriebe der modernen Gesellschaft ist so eng und so fest 
zusammengefügt, daßes schlechterdings unmöglich erscheint, irgend 
einen Bestandteil aus ihrem Gefüge herauszugreifen, ohne den ge- 
samten Mechanismus in Mitleidenschaft zu ziehen: wo immer man 
auch eine schadhafte Stelle entdeckt zu haben glaubt, ihre Beseitigung 
wird nie anders als durch die entsprechende Inangriffnahme des 
ganzen Werkes möglich sein. Es ist daher außerordentlich lehrreich 
zu beobachten, wie verschieden die Wege sind, auf denen die Mitglie- 
der der Gesellschaft zur Erkenntnis der weiteren Unhaltbarkeit ihrer 
Daseinsbedingungen kommen können. Namentlich heutzutage ist 
die Verbreitung der sogenannten »Reformbewegungen« eine geradezu 
ungeheure und schier unübersehbar ist die Zahl derjenigen, die nur 
von dem Gesichtspunkte ihrer engeren beruflichen Interessen und Er- 
fahrungen für die Notwendigkeit mannigfaltiger Umänderungen der 
bestehenden Gesellschaftsordnung einzutreten geneigt wären. Was 
sind denn die buntscheckigen Abarten des modernen sozialen Be- 
tätigungsdranges — die pädagogischen, ästhetischen, religiösen usw. 
Versuche und Vorschläge zur Ueberwindung der herrschenden Uebel- 
stände — anderes, als ein Sozialismus auf Umwegen, 
d. h. ein Sozialismus, der die eigentlichen Probleme noch nicht als 
solche, nicht in ihrer wahren Wesenheit, sondern nur in der humani- 
stischen, subjektiven Form aufgefaßt wissen möchte ? Im Gegensatz zu 
der Behauptung der Alten, daß dasselbe Wort, wenn zwei es aussprechen, 
zweifache Bedeutung erhalte, werden hier die verschiedensten Worte 
von verschiedenen Sprechern im gleichen Sinne gebraucht. Es ist 
immer eine und dieselbe — wenn auch des öfteren durchaus nicht zum 
Bewußtsein gekommene — Ueberzeugung von der Notwendigkeit 
grundlegender sozialer Umwälzungen, die sich in dem engen Bereiche 
der professionellen Wünsche und Bedürfnisse Luft schatít. Immer 
ist es die Gesellschaft als Ganzes, zu der man kommt und von der 


238 Oskar Blum, 


man ausgeht, selbst wenn man ängstlich darauf bedacht ist, seine lieb- 
gewonnenen vier Wände nicht zu verlassen. 

Die moderne Soziologie ist der getreue Ausdruck dieser Tatsache, 
Sie erhebt die Wissenschaft von der Gesellschaft als solcher zu ihrem 
Hauptstudium und macht somit die Erfahrungen, die bis dahin nur 
ganz unklar und verschwommen vorhanden waren, selbstbewußt und 
scharf ausgeprägt. Sie wirkte in dieser Beziehung förmlich erlösend 
gleich bei ihrem Erscheinen. Eine Zeitlang — es war so um die acht- 
ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts — drohte diese junge Wissenschaft 
alle ihre älteren Geschwister im stürmischen Siegeslaufe zu überbieten 
und ihnen ihre ganze Gefolgschaft abspenstig zu machen. Merk- 
würdigerweise konnte Deutschland dabei noch die größte Besonnen- 
heit an den Tag legen. England, Frankreich und vor allem Rußland 
wurden von dem Begeisterungstaumel fast bedingungslos ergriffen 
und öffneten dem triumphierenden Einzuge der Soziologie ihre Türen 
weit auf. Alles wurde von nun an zum Hilfswerk für soziologische 
Untersuchungen herangezogen. Keinen einzigen Zweig der Wissen- 
schaft gab es fortan, der nicht ad majorem gloriam sociologiae her- 
halten mußte. Selbst die literarische Kritik ward eigentlich nur mehr 
noch eine Filiale der Gessellschaftswissenschaft. Tscherni- 
schewsky und Pissarew in Rußland, Bernard Shaw in 
England, Zola in Frankreich haben dieses Postulat mit aller Deut- 
lichkeit ausgesprochen. Auch die Entwicklung des Theaters folgte 
zufgleicher Zeit denselben Geboten. Diejenigen, die die moderne Bühne 
bahnbrechend beeinflußten — Henrik Ibsen und Anton Tche- 
chow —, waren ja im Grunde genommen Soziologen; was ihnen 
vor allem oblag, war die Erforschung moderner Gesellschaftsprobleme. 
Und darüber, daß ihre Kunst nun ihrerseits die heutige Soziologie 
erheblich beeinflußte, kann wiederum gar kein Zweifel bestehen. 
Aber nicht nur das! Sogar die rein technischen Schicksale der modernen 
Schaubühne kamen sehr bald in das Fahrwasser jener Strömung, die 
sich im plötzlichen Aufschwunge der Soziologie kundtat. Das Be- 
streben, das Leben so wieesist — d.h. in photographischer Wieder- 
gabe — auf die Bühne zu bringen, dessen Promotoren in Deutschland 
der Herzog von Meiningen, in Frankreich Antoine und in Rußland Stanis- 
lawsky gewesen, könnte man mit gutem Fuge als eine Art experi- 
menteller Soziologie bezeichnen. 

Wenn man heute fragt, zu welchem positiven Ergebnis jene helle 
Woge der Begeisterung führte, so wird man mit Verwunderung be- 
merken müssen, daß man um eine präzise Antwort eigentlich recht 
verlegen ist. Was man noch vor einigen Lustren unter Soziologie 
verstand und womit man die rosigsten Hoffnungen verband, existiert 
heute so gut wie gar nicht. Das Feld beherrschen mehr denn je die 
Einzeldisziplinen. Die Völkerpsychologie vor allem, dann aber die 
politische Oekonomie, Geschichte und die Hilfswissenschaft der 
Statistik bebauen heute gemeinschaftlich das Gebiet, das die Sozio- 
logie für sich allein in Anspruch zu nehmen hoffte. Die Sozial- 
wissenschaften sind geblieben. Die Sozialwissenschaft konnte sich 


Soziologische Pathologie. 239 


nach den ersten glücklichen Anläufen nicht behaupten. Jene allge- 
meinen Betrachtungen, die man über die Geschicke der Völker und 
Staaten aufstellen kann und deren Wert gewiß nicht niedrig ange- 
schlagen werden darf, dürfen auf die Bezeichnung soziologischer 
Wissenschaft keinen rechtmäßigen Anspruch erheben. Sie sind besten- 
falls nur eine verflachte und kurzweilige Wiederbelebung desjenigen, 
was man zu Zeiten Kants, Herders und Hegels unter Philosophie der 
Geschichte verstand. 

Jedoch wäre es durchaus ungerecht, mit dieser Feststellung des 
tatsächlichen Mißverhältnisses zwischen den vielversprechenden 
Anfängen der Soziologie und ihrem jetzigen, mehr als bescheidenen 
Stand, sich zu begnügen. Das hieße die Einwirkungen, die es ihr in- 
zwischen gelungen ist zu zeitigen, vollständig übersehen. Denn 
Eines kann keineswegs bestritten werden: jene anfängliche Ueber- 
schätzung der Soziologie war insofern höchst fördernd und zeitgemäß, 
als es ihr gelungen ist, den Gedanken an gesellschaftliche Zusammen- 
hänge in die breitesten Schichten des gebildeten Publikums zu tragen. 
Selbst die grotesken Formen, die dieser Gedanken hie und da annahm 
— man erinnere sich z. B. nur an den berühmten Ausspruch eines 
seinerzeit sehr viel gelesenen Soziologen, wonach nicht das Individuum, 
sondern nur die Gesellschaft denke — können ihm seine weitgehende 
Bedeutung nicht nehmen. Wenn wir heute ohne weiteres zugeben, 
daß überall, wohin auch unser Blick sich wenden mag, es die Gesell- 
schaft ist, auf die wir zu allererst unser Augenmerk zu richten haben, 
so verdanken wir diese Erkenntnis jener ersten Periode der soziologi- 
schen Begeisterung. Den Späteren hinterließ sie ein — wenn man so 
sagen darf — fast instinktives Bedürfnis, allen Problemen zunächst 
mit der Frage nach ihrem sozialen Ursprung und Hintergrund zu 
begegnen. Es ist uns geradezu zur Gewohnheit geworden, den Einfluß 
der Gesellschaft überall dort zu suchen und hervorzuheben, wo man 
früher mit dem ausschließlichen Hinweise auf die Beschaffenheit des 
Individuums, der menschlichen »Natur« usw. sich begnügte. An 
Stelle des Schillerschen: »In deiner Brust sind deines Schicksals 
Sterne« heißt es heute: Der Mensch denkt und die Gesellschaft lenkt. 
Die Kunst und die Religion werden schon längst nicht mehr als die 
freie Domäne des unumschränkt waltenden Geistes aufgefaßt: das 
künstlerische Schaffen wie die religiöse Idee werden heute als ein 
Ausfluß der gesellschaftlichen Konstellation betrachtet, wie das 
Steigen und Sinken der Wertpapiere. Fast könnte es scheinen, als ob die 
providenzielle Berufung der Soziologie darin bestand, die Welt zu 
lehren, soziologisch zu denken, um es dann den Spezialwissenschaften 
zu überlassen, diesem Denken eine endgültige Prägung zu geben. Sie 
kam zunächst als eine Erlöserin von der Kleinlichkeit der Detail- 
forschung und öffnete Ausblicke in weite Fernen. Dann aber, als es galt, 
von der stolzen Höhe herabzusteigen, sah sie sich gezwungen der 
Detailforschung wiederum den Platz abzutreten, damit man auf den 
steilen Abhängen der sachkundigen Führung nicht entbehre. Und dies 
erklärt, warum wir heute eigentlich gar keine Soziologen sehen, — weder 


240 Oskar Blum, 


Gomte noch Spencer haben ihrer würdige Erben gefunden, trotzdem 
sogut wie sämtliche Wissenschaften in die »Soziologiee münden oder 
von ihr stillschweigend ausgehen. 


II. 


Und trotzdem gibt es eine Frage, die für die Soziologie als solche 
geradezu beschaffen zu sein scheint und die allein ihre Daseinsberech- 
tigung rechtfertigen könnte, wenn die Soziologie bewußt darauf aus- 
gehen würde, dieser Frage ihre alleinige und ausschließliche Beach- 
tung zu schenken. Es ist dieses die Frage nach dem Ursprung der 
menschlichen Leiden und nach den Mitteln ihrer Beseitigung. Hier 
allein wäre für die Soziologie ein Betätigungsfeld zu finden, den ihr kein 
anderer Zweig der Geisteswissenschaften streitig machen könnte. 
Die Tragweite dieser Frage wird man gewiß nicht unterschätzen. 
Der Umstand, daß die Menschheit sich überhaupt nur insofern über 
die gesellschaftlichen Dinge zu interessieren anfängt, als sich das 
Individuum unglücklich fühlt, wird zwar sehr oft nicht scharf genug 
hervorgehoben, ist aber nichtsdestoweniger von grundlegender Be- 
deutung. Die »Soziologie« ist im Grunde genommen stets nur eine 
»Individuologie«: das Denken über die Gesellschaft nur ein Umweg 
zur Erkenntnis des Einzelnen. Nie käme der menschliche Geist dazu, 
soziale Zusammenhänge zu erforschen, wenn der Gegensatz zwischen 
dem »Ich« und dem »Sie« .nicht vorhanden wäre, der uns zwingt, die 
Art und Weise des sozialen Zusammenlebens der Menschen näher 
erforschen zu suchen, um an jener Gegensätzlichbkeit nicht zugrunde 
zu gehen. Geht man zu den Quellen des modernen soziologischen 
Gedankens zurück, — also zu Ch. Fourier, St.-Simon, 
Aug. Comte, Hegel, Spencer — so kann man die präpon- 
derante Stellung, welche die Idee der individuellen Glückseligkeit 
in jenen ersten soziologischen Konstruktionen innehatte, gar nicht 
übersehen. Selbst bei Hegel, der doch das Individuelle dem Allgemeinen 
unterordnete und unnachsichtlich opferte, spielt diese Idee eigentlich 
die entscheidende Rolle: die Unterordnung des Einzelnen geschah janur. 
aus dem Grunde, damit es auf diese Weise zur gesteigerten Wirkungs- 
möglichkeit gelange. Sie war keineswegs als eine Einschränkung 
des Individuums gedacht, sondern sollte ihm im Gegenteil ein größeres 
Betätigungsfeld einräumen !). Es ist also das Leiden, welches man mit 
gutem Fuge als das Grundproblem der Soziologie bezeichnen könnte. 
Und zwar in dem Sinne, daß kein anderer Zweig der Wissenschaft 
ihr dieses spezielle Thema streitig machen kann. Denn hier haben 
wir es mit einer didaktischen Nutzanwendung der Wissenschaft zu 
tun, die sich eben nur als solche, d. h. nur mit dem unumwunden 
eingestandenen Vorbehalt dieser didaktischen Zielstrebigkeit, be- 

1) Die subjektivistische Reaktion gegen die Hegelsche Philosophie, die in 
der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit großer Zungenfertigkeit ans 


Werk ging, übersah diesen Umstand geflissentlich. Daher die endliche Sterilität 
ihrer Kritik. 


Soziologische Pathologie. 241 


haupten kann. Der Bereich der soziologischen Forschung sollte 
daher nur so weit reichen, als es die Ohnmacht der Geisteswissen- 
schaften, neben dem »Wie« auch das »Warum: des menschlichen 
Elends zu untersuchen, gestattet. Aber dieses wäre nun weit genug! 
Denn die Soziologie erhielte somit die Gelegenheit, das Räsonnement 
überall dort weiterzuspinnen, wc es die anderen Wissenschaften not- 
gedrungen fallen lassen müssen. Sie wird auf diese Weise aus der 
einstigen Rivalin zur unentbehrlichen Mitkämpferin aller anderen 
Sozialdiszirlinen und kann ungestüm vorwärtsschreiten überall dort, 
wo jene sich Zurückhaltung auferlegen müssen. Die leidende Mensch- 
heit, die im Mittelpunkte des wissenschaftlichen Interesses steht, 
hatte bis jetzt fast Scheu, von ihrem Leiden offen zu reden. Sie machte 
die verschiedensten Umschweife. Sie verriet zwar stets die Absicht, 
durch die sie sich leiten ließ, wollte sich aber trotzdem zu einem unum- 
wundenen Eingeständnis nicht bekennen. Und so hieß es denn seit 
jeher, daß die Wissenschaft eigentlich etwas ganz Abstraktes, der 
Welt vollkommen Abgewandtes sei und daß sie keine Rücksichten zı 
nehmen brauche auf die Freuden und Leiden der gemeinen Zeit- 
und Ortsgenossenschaft. Freilich passierte es dabei nur zu oft, daß 
diese Zeit- und Ortsgenossenschaft darob höchst ungehalten wurde 
und die Wissenschaft ungefähr so zu behandeln anfing, wie der Goethe- 
sche Prometheus den Olympischen Herrscher: »Ich Dich ehren? 
Wofür? Hast Du je den Schmerz gestillt des Geächteten ?« usw. Die 
Wissenschaft nahm aber derartiges gerne in Kauf, hoffte sie doch 
dadurch ihrer Forschung vollständig freie Bahn zu gewinnen. Es war 
jedoch eine trügerische Hoffnung und ein verfehlter Trost. Denn das Pro- 
blem, dessen sie sich durch seine Uebersehung zu erwehren suchte, rächte 
sich dadurch, daßes destostörender in ihrem Bereicheherumspukte, je 
weniger sein Vorhandensein zum Bewußtsein kam und je hartnäckiger sie 
ihm gegenüber die Vogel-Strauß-Politik betrieb. In der Wissenschaft 
heißt es wie bei Grillparzer: »Ichlieban jedem das Zeichen seines Tuns«. 

Indem die Soziologie sich bereit erklärte, diese Last ihren Geschwi- 
stern zu übernehmen und das Problem, dem jene nur ungerne und 
unter der Hand Gehör schenkten, sozusagen in eigne Rechnung zu 
übernehmen, erfüllte sie nicht nur ein Gebot der Nächstenliebe, 
sondern ermöglichte auch zugleich ein ersprießliches Erforschen 
jenes Problems. Als eine spezielle Lehre von den menschlichen 
Leiden — oder, besser gesagt, vom menschlichen Leiden, — sollte 
die Soziologie ihren Einzug halten in die Geistesgeschichte der Mensch- 
heit und alseiner solchen standen ihr alle Wege offen und winkten die 
vielversprechendsten Erfolge. Es scheint aber, daß es erst eine geraume 
Zeit dauern mußte, ehe die neue Wissenschaft diesen Umstand vollauf 
zu würdigen lernte. Aber dieses tut der obigen Feststellung keinen 
Abbruch. Nicht umsonst heißt es: »Nonum prematur in annum«. 


III. 


So weit muß man ausholen, um den nötigen Abstand für 
die Beurteilung einer Schrift zu gewinnen, der man — wie immer das 
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 1. 16 


242 Oskar Blum, 


weitere Urteil auch ausfallen mag —eine bemerkenswerte Bedeutung 
nicht wird absprechen können. Es bandelt sich um eine »Soziologie 
des Leidens«, welche wir dem — auch den Lesern dieser Blätter — 
rühmlichst bekannten Forscher F. Müller-Lyer verdanken’). 
Schon hatten wir — als wir das Buch zur Hand nahmen — die 

Hoffnung, die Betrachtungen, die wir im obigen kurz skizzierten, 
zielbewußt durchgeführt und einer Fragestellung, die für die sozio- 
logische Forschung bahnbrechend werden könnte, definitive Beach- 
tung verschafft zu sehen. Und wenn diese Hoffnung auch nicht restlos 
in Erfüllung ging, so muß immerhin gleich hier zugestanden werden. 
daß in dem Buche Müller-Lyers ihr um ein merkliches Stück 
näher gerückt worden ist. Wenn die Ernte jedoch im wesentlichen 
bescheidener ausfällt, als es der Titel verspricht, so ist es darauf zu- 
rückzuführen, daß Müller-Lyer seine Aufgabe von vorne- 
hinein enger umgrenzte. Was er Soziologie der Leiden nennt, muß 
buchstäblich verstanden werden, d. h. als eine Untersuchung über die 
sozialen Ursachen und Begleiterscheinungen der menschlichen’ Leiden. 
Weder mit einer bewußten Einstellung der soziologischen Forschung 
auf das Problem des Leidens in der Gesellschaft.einzig und allein hat 
man es hier zu tun, noch mit einer Zurückführung der Hauptiragen 
des soziologischen Studiums auf die gesellschaftlichen Leiden der 
Menschheit, sondern einfach mit Betrachtungen über den sozialen 
Ursprung der individuellen Leiden — also jedenfalls mit einer Ver- 
fahrungsweise, die sich gewohnheitsgemäß im Gleise der altherge- 
brachten soziologischen Methode bewegt. Und trotzdem ist dieser 
Einfall —eine Sozialpathologie zu schreiben — neu und fruchtbringend! 
Es scheint, daß der Verfasser selbst zunächst einige Bedenken, die 
sich bei ihm anfangs einstellten, zu überwinden hatte. Wir vernehmen 
hierüber Folgendes: »Es ist eigentlich erstaunlich: Unsere Wissen- 
schaft hat das Kleinste und Größte beachtet, gewogen und gemessen .. 
aber gerade diejenigen Angelegenheiten, die auf unser Wohl und Wehe 
die allerstärkste Macht ausüben, die uns am allernächsten liegen, 
unser Interesse am heftigsten herausfordern: die menschlichen Leiden 
und Uebel, sie hat die Wissenschaft mit Nichtachtung gestraft, an 
ihnen ist sie in gewollter Blindheit vorübergeschritten. Diese Tat- 
sache ist so paradox, daß sie uns stutzig machen muß. Daß auf diesem 
Gebiete gleichsam eine neue Wissenschaft aus dem Aermel geschütteit 
werden soll, von der bisher die besten Denker nichts wissen woliten, 
gerade dies muß uns mißtrauisch machen. Ist ein solches Unternehem 
nicht eine Unmöglichkeit ? Und wenn es möglich ist, ist es nicht wertlos, 
unbrauchbar ? Ist diese Idee nicht eine von jenen vielen, die beim 
ersten Aufblitzen packen, begeistern, und dann bei schärferem Zu- 
sehen und tieferem Nachdenken in nichts zerstieben ?« 3). 

Hier kann man erfreulicherweise einschalten, daß es sich denn 
doch nicht darum handelt, eine vollständig neue Wissenschaft »aus 

2) F. Müller-Lyer, Soziologie der Leiden. Albert Langen, München o. J. 
(erschienen im Frühjahr 1914) S. 226. 

3) a. a. O. S. 3. 


Soziologische Pathologie. 243 


dem Aermel« zu schütteln. Wir sagten schon vorhin, daß die Rück- 
sicht auf menschliche Leiden der Wissenschaft überhaupt niemals 
wesenstremd war und daß diese Strömung vornehmlich mit dem Auf- 
blühen des soziologischen Gedankens in Schwung gekommen ist. 
Selbst die speziellere Leidenslehre, die medizinische Pathclogie konnte 
sich dem Ueberhandnehmen der sozialen Erkenntnis nicht verschließen. 
Die heutige Medizin weiß es ebenso gut wie jede andere Wissenschaft: 
Ihr Gebiet liegt im Machtbereiche der gesellschaftlichen Zusammen- 
hänge. Sie kann sich nicht fortentwickeln, ohne diese Zusammenhänge 
zu berücksichtigen ô). 

Aber M.-L. hat zweifelsohne vollkommen recht, insofern als 
er—in den soeben zitierten Worten — das Zufällige und Sporadische 
der bisherigen Hervorhebung des sozialen Moments seitens jener 
Wissenszweige, die sich mit menschlichen Leiden befaßten, betonen 
möchte. Daher wird man seinen Entschluß, seine ganz allgemeine 
Pathologie, eine soziologische Pathologie« zu begründen, »die weit über 
die der Medizin gesetzten Grenzen hinausgeht, von der die Medizin 
vielmehr nur einen sehr kleinen Teil ausmacht, eine »größere 
Medizine, die die gesamten Uebel und Leiden, denen die mensch- 
liche Gesellschaft und das Individuum unterworfen sind, der wissen- 
schaftlichen Bearbeitung unterziehen will« 5), angelegentlichst begrüßen 
müssen. 

Etwas anderes ist es natürlich um die Ausführung dieses löb- 
lichen Entschlusses! Wenn wir zu deren Würdigung übergehen wollen, — 
und mit einer bloßen Zustimmung der guten Absicht wird sich die Sache 
ja doch nicht abtun lassen ! — so müssen wir gleich an die soeben zitier- 
ten Worte anknüpfen, um festzustellen, daß das in ihnen dargelegte 
Programm: die Auseinanderhaltung der gesellschaftlichen und der 
individuellen Leiden keineswegs streng genug durchgeführt wird. Wohl 
bemüht sich der Verfasser, den sozialen Ursprung der Leiden nach- 
zuweisen, aber es leuchtet auf den ersten Blick ein, daß es zweierlei 
sei, ob ich mich nur darauf beschränke, festzustellen, daß das soziale 
Milieu der eigentliche Urheber meiner Leiden ist, oder ob ich von 
diesen meinen Leiden diejenigen reinlich abzuscheiden suche, 
die die Gesellschaft als solche — also ganz unabhängi; von den Leiden 
des Individuums — belasten. Das Unterlassen solcher Unterscheidung 
empfindet man höchst störend im ganzen Verlaufe der Darstellung 
F. M.-Ls. Sie begnügt sich vornehmlich mit der Betonung der 
gesellschaftlichen Natur aller Leidensarten. So finden wir gleich 
eingangs die folgende Formulierung, oder vielmehr Postulierung: 
»(Die soziologische Pathologie) erfaßt die Leiden von einem höheren 
Standpunkte aus (als z. B. die Biologie, O. B.), nämlich als soziale 


‘) Daß diese Erkenntnis sich dem Mediziner geradezu gewaltsam"aufdringt, 
ersieht man am besten aus Weressajews sDenkwürdigkeiten eines Arztes« 
(deutsch von C. v. Gütschow, Leipzig, 1902). Die Ahnungslosigkeit, mit der es 
ihn fortwährend von der Medizin zur Soziologie herübertreibt, wirkt um so über- 
zeugender, je urwüchsiger sie sich gibt. 

)aa0. S2. 

16* 


244 OskarBlum 


Vorgänge« 8). »Die Erkenntnis — fügt der Verfasser hinzu — daß nahezu 
alle Leiden des Individuums, soweit sie nicht auf Naturkatastrophen 
beruhen, Ausflüsse sozialer Krankheiten sind, gehört zu den bedeutend- 
sten Entdeckungen der Soziologie« ?). Und schon flickert hier die ur- 
sprüngliche Mangelhaftigkeit durch, die wir soeben rügen zu müssen 
glaubten. Denn sobald man annimmt — und in dem vorliegenden Falle 
setzt man es sogar voraus — daß es, unabhängig von den Krankheiten 
des Ind. viduums, soziale Krankheiten gibt, so gehört eben diese Sorte 
der Krankheiten in erster Linie zur Soziologie des Leidens. 

Abeı das ist noch nicht alles. Diese Gegenüberste.ıung von, wenn 
man den Ausdruck gestatten will, Personal- und Sozialk‘ankheiten, 
die zwischen den beiden Gattungsarten des Leidens ein kausales Ver- 
hältnis herstellt, hat eigentlich einen lediglich mechanischen Wert: 
die nähere Beschaffenheit des Verhältnisses läßt sie im $chatten. 
Sie erregt vielmehr die Vorstellung als ob die Leiden des Individuums 
irgendwo losgelöst von dem eigentlichen Leben der Gesellschaft vor 
sich gingen und als ob die Uebel, an denen die Gesellschaft leidet, nun 
ihrerseits eine Angelegenheit für sich wären. Oder, um es anders aus- 
zudrücken: als ob diese 'beiden Arten des Uebels selbständige Reihen 
wären, die zwar irh Verhältnis von Ursache und Wirkung zueinander 
stehen, aber trotzdem in verschiedenen Flächen sich bewegen. In 
Wirklichkeit ist dem aber durchaus nicht so. Das Leiden des Indivi- 
duums ist nicht nur eine Wirkung des gesellschaftlichen Uebels, 
sondern zugleich und vielmehr noch — seine Form. Und dieser Um- 
stand ist von höchster Wichtigkeit. Daß die Krankheiten der Gesell- 
schaft unserem Auge sich überhaupt nur in der Form von individuellen 
Gebresten darbieten, ist eine Erkenntnis, die allein das Entstehen 
einer wissenschaftlichen Leidenslehre ermöglichte. Wenn irgendwo, 
so erhält gerade hier das berühmte Wort: »Nichts ist außen, nichts 
ist drinnen, das was außen, das ist drinnen« erschöpfende Bestätigung. 

F.Müller-Lyer hielt es anscheinend nicht für angebracht, 
das Problem auch von diesem Standpunkte aus zu betrachten. Dieses 
gab seiner Darstellung eine gewisse Steifheit, fast könnte man sagen: 
Einfältigkeit, die sich wahrscheinlich leicht vermeiden ließe. Das 
Leben der Idee erheischt Bewegung. Sie duldet nicht schroffe unüber- 
brückbare Abgrenzung der Begriffe. Und wer das Wesen der Idee 
vollkommen zu erfassen wünscht, hat vor allem auf jene Ueberzänge 
sein Augenmerk zu richten, die von einem Begriff zum anderen führen, 
von einer Problemstellung zur entgegengesetzten. Denn, alles fließt! 
Und der Widerspruch ist auch hier, wie überall, das Fortleitende, 
Dieses war der Sinn der dialektischen Methode Hegels, mit der 
heute jede Wissenschaft ins reine zu kommen hat, wenn anders sie 
nicht auf alle Fruchtbarkeit von vornherein verzichtet. Und die 
Soziologie selbstverständlich erst recht! Wir werden weiter unten 
sehen, daß dieser Appell an die Hegelsche Dialektik beim Durchgehen 
des Müller-Lyerschen Buches nicht von ungefähr geltend 
= ¢&) a. a. O. S. 7. 

7) a. a. O. S. 7. 


Soziologische Pathologie. 245 


gemacht werden muß. Zuvor wollen wir uns jedochyeiner anderen 
Frage zuwenden. Es heißt noch, sich über das Terminologische zu 
verständigen. Jetzt, nachdem wir unsere grundsätzlichen Bedenken 
gegen die Müller-Lyersche Behandlungsweise des Leidens- 
Problemsgeltend gemacht haben, wird es wohl nur einGebot der Billig- 
keit sein, wenn wir uns damit abfinden, was er uns bieten will, ohne 
mehr zu verlangen als der Verfasser eingestandenermaßen zu erreichen 
beabsichtigt. Freilich bleibt es uns auch da noch zu prüfen, inwiefern 
seine Absichten von Erfolg gekrönt werden. Aber solches wird man 
selbst der wohlwollendsten Kritik nicht verargen. 


Iv.! 


Was ist eigentlich uuter dem Wort: Leiden zu verstehen ? Welche 
begriffliche Wesensbestimmung haben wir mit ihm zu verbinden, 
damit unsere Untersuchung sich nicht in leerem Luftraume bewege 
und nicht gleich eingangs mangels geeigneter Verständigung scheitere ? 
Es hat den Anschein, als ob unser Autor in dieser Hinsicht zunächst 
selber noch mit einiger Unklarheit zu kämpfen hatte, die auch jetzt 
noch in seine Darstellung ab und zu störend hineingreift. »Wenn wir 
auch das Leiden nicht ganz scharf definieren können, sagt er, so weiß 
aber doch jedermann ganz gut zu unterscheiden zwischen Leid und 
Freude, zwischen Uebel und Gut«®). Aber diese instinktive Unter- 
scheidung kann offenbar nicht gut als Grundlage wissenschaftlicher 
Untersuchungen dienen. Wenn es auch zweifelsohne sehr richtig ist, 
daß, wie der Verfasser weiter bemerkt, in keinem einzigen Fall zwischen 
normalen Menschen sich ein Streit darüber erheben wird, ob wir es 
mit einem Leiden zu tun haben oder nicht °), so ist damit jedoch der 
Maßstab für eine erschöpfende Definition keineswegs gegeben. Auch 
die Unterscheidung von Tag und Nacht z. B. ist ja zunächst eine rein 
sensualistische, so daß kein normal beschaffener Mensch diese beiden 
Zeitabschnitte jemals verwechseln kann. Trotzdem ist ihre astrono- 
mische Definition eine ganz andere und nie würde es der Astronomie 
einfallen, sich mit dem einfachen Hinweise auf die Verschiedenheit 
menschlicher Wahrnehmungen zu begnügen. Gewiß bilden diese 
Wahrnehmungen eine notwendige Unterlage dazu, daß das Nachdenken 
überhaupt rege werde. Dort, wo die Empfindung nicht bereits jene 
Unterschiede registrierte, käme das Denken nie zu dem Wunsche, 
ihre ursächliche Beschaffenheit zu ergründen. Aber das Eingreifen 
des Denkens kennzeichnet sich ja vor allem dadurch, daß es zu einer 
bestimmten Definition jenes Tatbestandes zu kommen sucht, 
den die Sinnein ganz unbestimmten Umrissen liefern. 
Daher hat es auch kein Recht mehr, sich mit dem bloßen Befund 
der sinnlichen Wahrnehmung zu begnügen. DiesessiehtjaF.Müller- 
Lyer schließlich selber ein. Under versucht nun der Schwierigkeit wie 
folgt Herr zu werden. »Wenn wir auch keine absolut vollkommeneDefini- 


) a. a. O. S. 9—10. 
92.205. ıı. 


246 Oskar Blum, 


tion von Leiden und:Uebel geben können, — schreibter —,*.im einzelnen 
Fall wissen wir aber ganz genau, was übel und was gut ist. Und so 
läßt sich wenigstens eine für den Anfang ganz genügende Definition 
znuächst des Begriffes »Uebel« geben, namentlich, wenn wir den Begriff 
mit seinem Gegenbegriff zusammenstellen. ‚Uebel‘ ist alles, 
was das menschliche Leben stört und mindert. 
‚Gut‘ ist alles, was das Leben fördert und steigerte 1°). Diese Aus- 
kunft ist, wie man sieht, ein altes Inventarstück des evolutionistischen 
Positivismus. Sie war eine Zeit lang sehr beliebt. Das vitalistische 
Prinzip ward zu einer Zauberformel, die man ohne weiteres auf alle 
Gebiete des sozialen Seins anzuwenden versuchte. Nicht nur die 
Unterscheidung von Gut und Böse in der Ethik, auch diejenige von 
Schön und Häßlich in der Aesthetik !!), von Wahr und Falsch in der 
Erkenntnistheorie 2) wurde mit Leichtigkeit vom Gesichtskpunkte 
der Lebensförderung oder -hemmung durchgeführt, wobei man der 
Beweisführung eine gewisse großzügige Einheitlichkeit nicht gut 
absprechen konnte. Wir haben hier selbstverständlich nicht die 
Absicht, diese Methode in ihrem vollen Umfange zu überprüfen. 
Immerhin darf wohl daran erinnert werden, daß ihre entgültigen 
Resultate zu einer flachen Selbstverständlichkeit ausarteten, die dann 
ihrer anfänglichen Beliebtheit ein jähes Ende bereitete. Was aber ihr 
Wiedererscheinen in der vorliegenden Schrift betrifft, so ist zu be- 
merken, daß sie uns gänzlich unerwartet entgegentritt, — »wie aus der 
Pistole geschossene, um ein Lieblingswort Hegels zu gebrauchen. 
Sie wird einfach dekretiert, ohne daß dem irgend eine Begründung, 
oder auch nur der Versuch einer Begründung vorausginge. 
‚Uebel ist alles, was das Leben störe«e: das 
ist offenbar eine teleologische Definition. Leben ist hier als oberste 
Zweckbegriff aufgefaßt, dem »alles« als Mittel unterordnet werden 
soll 12). Aber mit welchem Recht? Das bleibt dahingestellt. Nimmt 
manaber das teleologische Gewand der obigen Definition fort, so bleibt 
eine Tautologie übrig: Das Uebel stört das Leben; was das Leben 
stört, ist von Uebel usw. Aber was stört das Leben? Wir kommen 
somit immer zu dem, was zu erklären ist, zurück und können den 
magischen Kreis nicht durchbrechen solange wir auf jener beschrei- 
benden Definition des Uebels bestehen. Daher ist es notwendig, eine 
Ergänzung vorzunehmen. F. Müller-Lyer tut es auch, indem 

10) a. a. O. S. IT. 

11) Es wird vielleicht nicht überflüssig sein, festzustellen, daß es der geniale 
russische Aufklärer, N.G. Tschernischewsky, war, der die glanzvollste 
und bis zum heutigen Tage unübertroffene Darlegung der ästhetischen Probleme 
vom vitalistisch-humanistischen Standpunkte aus lieferte. 

12) Der heute in einigen Kreisen so willig aufgenommene Pragmatis- 
m u sist jaeigentlich nichts anderes als eine neuzeitliche Aufwärmung jenes älteren 
Vitalismus, 

13) Es wäre ein Leichtes nachzuweisen, daß diese Formel überhaupt nur 
eine erlaubte Verallgemeinerung ist, deren Sinn so richtig gestellt werden muß; 
»Uebel ist alles, was mein Leben störte. Hierzu wird sich aber eine andere 
Gelegenheit bieten. 


Soziologische Pathologie. 247 


er in die Analyse dss Uebels die Definition des Leidens gleich mit 
hinainbezieht. Er wirft die Frage auf: »Wie verhält sieh das Leiden 
avna Uebel?« um sie wie folgt zu beantworten: Das Uebel ist die 
Uache des Leiders, oder genauer: Das Uebel ber. ichnet dasselbe 
Dira von der objektiven, das Leiden von der sub ektiven Seite. 
Uebel ist die Beeinträchtigung des Lebens auf din Gog anstand, aufs 

Objekt bezogen, Leiden aufs Subjekt bözo2 ın. Wenn z. B. ein Heu- 
| schreckenschwarm sten auf die Asckr eines an mes erzießt 
und alles genießbare verheert und wegirießBt, so ist diesss ein Uebel; 
der Hunger, dem der Stimm diduren ausgesetzt Ist d? O. B.) 
ist das dazugehörige Leidene 14). Abor anen diese Erginzung bringt 
kein vollkommen kisres Licht in die krage. Diese t Umstand wird 
ebenfalls stillschweigend zugegeben. S:!zen wir der dis Zitat fort: 
s(uns), heißt es da weiter, fehlt... der Oberbegrifi, der diese beiden 
Seitenbegriffe (d. h. die des Uebe Js und des Leidens, O. r) oder viel- 
mehr den ganzen p vchop! iysischen Vorgang (denn um einen solchen 
handelt es sich) in eines zusimmenf:Bt; und dieser Begriff fehlt 
unserer Sprache überhaupt gänzlich. Auch hler tritt wieder, wie bei 
jeder neuen Wissenschaft oder Horizoutsrweiterung, der Mit ein, daß 
die gegebene Natursprache mit ihrer Beer fsannutnichtiasreicht. Und 
da wußerden das Wort »Ucbele nich meiner Se einen 
unangenehmen, spezifisch theologisch-p ithetischen Begeschmaek hat, 
so suenie ich ans anderen Sprachen einen solchen Bi sil zı gewinnen, 
Natürlich greift man bei solcher Gelegenheit zur griechischen Sp’ache,. 
Doch bezweifle ich, ob (die) geschraubten Fuchausdiürke sicu ein- 
bürgern könnten. Nun ist mir aber während der A:-»zic über die 
Leiden und Uebel... fortwährend und ganz unwiliküriieh Immerzu 
das Wort »Konflikt: in die Feder geflossen ... Ich warde also für den 
vermißten Oberbegriff mit Vorliebe das Wort »Kontlikı« b muone 9). 
Das Zitat ist diesmal etwas lang ausgefall on, seine Wiehuzkeit ent- 
Schuldigt aber seine Länge. Wir sehen in diesen Zeilen unsere obigen 
Ausführungen vollinhaltlich bestätigt. Diese Flucht zı einen „Ober- 
begriff, diese Ansfälle gegen die Sprache, dieangeblieh nieht imstande 
sel, den Anforderungen der neuen Wema naft zu entsprechen, sind 
in Wirklichkeit nients anderes. als ein Rückzug der neuen Wissenschaft 
und ein Zugeständnis, daB mit Bezug auf ihre Anforderungen nicht 
alles mit rechten Dingen zigche. Und so findzt sie endlich das er- 
lösende Wort nachdem sie sozusagen durch Schaden klug geworden 
ist. Konflikt ist in der Tat die einzige einwandfreie B.: zeichnung 
für den Ursprung dər Leiden. Allerdings nicat Konfiikt scalechthin, 
sondern ungelöster Konflikt, oder, um cs in der schärferen 
Sprache der Philosophie auszudrücken, unaufgehobener 
Widerspruch. Gelöste Kontlikte sind stets nur eine Quelle der 
Lust. Erst dann, wenn die Lösung ausbleibt, stellt sich das Gefühl der 
Unlust ein und das Individnum leidet. Soviel wir schen, hebt F. M.-L. 
diesen Umstand nicht hervor. Er ist aber durchaus nicht von der 

10) 2.2.0.8. 12. 
15) a. a. O. S. 12—13. 


248 Oskar Blum, 


Hand zu weisen. Ob man das Wort Konflikt geradezu als »Oberbegriff« 
betrachten darf, !mag dahin gestellt bleiben. Das Wort »Oberbegriff« 
ist ja in dieser Verbindung schließlich bedeutungslos genug. Es wäre 
vielleicht vorzuziehen, Konflikte als Gattungsbegriffe neben 
den A r t begriffen des Uebels und der Leiden zu behandeln. Aber dem 
eine grundlegende Bedeutung beizumessen wäre kleinlich. Daher 
erwähnen wir auch diesen Punkt nur so ganz nebenbei. 


V. 


Hiermit mag die terminologische Seite unseres Problems ihre 
Erledigung finden. Die gemachten Bemerkungen werden wohl ge- 
genügen, um die Schwierigkeiten, mit denen die von M.-L. inaug ırierte 
Wissenschaft zu kämpfen hat, anzudeuten. Gehen wir nun zu den 
weiteren Ausführungen des Verfassers über. Es ist die Klassi- 
fizierung der Leiden, um die es sich im weiteren Verlaufe seiner 
Darstellung handelt und die selbstverständlich zu den Hauptangaben 
der soziologischen Pathologie hinzugezählt werden muß. Das Unter- 
nehmen ist allerdings schwierig. Der Verfasser überläßt jedoch den 
Späteren hierin völlige Uebersichtlichkeit zu erreichen. Er für seinen - 
Teil glaubt »dagegen de Grundformen der Leiden und 
Uebel jetzt schon ziemlich vollständig zu kennen und aufzählen zu 
können«!®). Also folgen wir ihm. Die allgemeine Einteilung der Konflikte, 
der wir dabei begegnen, zerfällt in drei Klassen: I. Die ontomonischen 
Konflikte; 2. Die geneonomischen Konflikte; 3. Die demonomischen 
Konflikte. | 

I. Die ontonomischen Konflikte. Das sind die- 
jenigen, denen der Mensch als Lebewesen verfällt, also die einen 
biologischen Ursprung haben. Sie sind ganz allgemein als Krankheiten 
zu bezeichnen und teilen sich in a) die eigentlichen Krankheiten, 

b) die » normalen Uebel der ontogenetischen Entwicklung: das Gebären, 

Menstruieren, Zahnen« usw. (wobei allerdings ihre gesonderte Berück- 
sichtigung neben dem suba) genannten nicht sehr einleuchtend ist), 
c) die Atypien, d.h. angeborene Abnormitäten, d) die Miliosen ; 
(unter Miliosen versteht F. M.-L. »eine Schädigung des Menschen 
durch das Milieu, die Umwelt, während die Atypien... angeboren 
sind und auf einer Besonderheit des Keimstoffes beruhen« '”). 

2. Die geneonomischen Konflikte. Zu dieser 
Klasse sind solche hinzuzuzählen, die den Menschen nicht nur als »ein 
Lebewesen im allgemeinen«, sondern auch als »ein geschlechtliches 
Wesen, das mit den stärksten Bedürfnissen an das Wesen des andern 
Geschlechts angewiesen ist« 1%), berühren. Die speziellere Einteilung 
dieser Konfliktenklasse erübrigt es sich, hier anzuführen: sie ist ziemlich 
lang und der Leser möge sie an Ort und Stelle nachlesen (S. 32—33). 
Es sei nur der Bemerkung Raum gegeben, daß diese Klasse in der 

16) a. a. O. S. 15. 


17) a. a. O. S. 27—28. 
18) a. a. O. S. 31. 








Soziologische Pathologie. 249 


Hauptsache auf Sexuosen (d. h. die Geschlechts-) und Familiosen 
(=Familienkonflikte) beruht. Hingegen wollen wir etwas länger ver- 
weilen bei 

3. den demonomischen Konflikten. Hierher ge- 
hören alle jene Konflikte, denen der Mensch als ein soziales 
Wesen unterworfen ist 19). Das gibt noch allerdings eine scharf ge- 
zeichnete Abgrenzung gegen die vorhergehende Gruppe keineswegs, 
denn auch den »Familiosen« ist ja der Mensch nur als ein soziales 
Wesen unterworfen. Aber die Absonderung soll offenbar nur soweit 
gelten, als sie dem sozialen Zusammenleben der Menschen mit Aus- 
nahme des sexuellen Moments gerecht werden will. 
Schließlich ist ja ein guter Teil — von Willkürlichkeit bei allen der 
artigen Klassifizierungsversuchen nicht zu vermeiden. Geben wir 
daher die tabellarische Uebersicht der demonomischen Konflikte ge- 
treulich wieder, es sind ihrer vier Gattungen: 

»I. die interpersönlichen Konflikte, d.h. Fälle, wo zwei Menschen, 
durch Schicksalsmächte getrieben, derart aufeinander stoßen, daß sie 
in Streit geraten und sich als Feinde betrachten: interpersönliche 
Echthrosen, 

2. die Fälle, in denen der Einzelne mit dem Ganzen, das Indi- 
viduum mit dem Staat in Kollision gerät, 

3.die Gruppenechthrosen, Klassenfeindschaften und 

4. die allgemeinen Herdenzwänge, die in unnützlicher und über- 
flüssiger Weise mehr oder weniger auf fast allen Individuen lasten 
und die zumeist auf veralteten Sitten und Gebräuchen beruhen« 2°). 

So weit Müller-Lyer. Eine Stellungnahme zu dieser 
Klassifizierung wäre zurzeit verfrüht: das vorliegende Buch umfaßt 
nur den ersten, allgemeinen Teil der Soziologie der Leiden und da 
muß man schon die Fortsetzung abwarten, um die praktische Brauch- 
barkeit und auch die Ausführung des obigen Schemas beur- 
teien zu können. Wir wollen vielmehr die allgemeinen Erwartungen 
und Betrachtungen, die F.M.-L. an sein Schema knüpft, ins Auge 
fassen. Dies ist um so mehr am Platze, als es sich dabei unseres Er- 
achtens um Irrtümer handelt, die für das ganze Werk verhängnisvoll 
werden können. Sie enthbüllen, wie wir gleich zu zeigen hoffen, eine 
bedenkliche methodologische Gedankenlosigkeit. F. Müller- 
Lyer verspricht sich vielen Nutzen von der soziologischen Patho- 
kgie. Die geschehene Klassifizierung der Uebel, die die Menschheit 
bedrücken, dünkt ihm außerordentlich wichtig. » Jetzt — ruft er aus — 

werden wir unsere Feinde möglichst vollzählig und im einzelnen von 
Angesicht zu Angesicht kennen lernen« ?!). Und dadurch werden wir 
eher imstande sein den Uebeln zu begegnen: »denn die meisten Uebel 
fangen klein an und sind in ihrem status nas- 
cendi leicht abzutöten« ?). Diese Worte nehmen sich 
in ener Soziologie der Leiden sehr schlecht aus. Wir haben 

19) a. a. O. S. 33. 

20) a. a, O. S. 34. 

2) a, a, O. S. 47. 

n) a, a. O. S. 48. 


250 Oskar Blum, 


vorhin schon die Worte F. Müller-Lyers zitiert, wonach 
»nahezu alle Leiden des Individuums Ausflüsse sozialer Krankheiten 
sind.« Diese Erkenntnis wiederholt er dann des öfteren #2). Und so 
gehört es sich auch: ohne sie ist in der Tat keine soziologische Leidens- 
lehre auch nur denkbar. Nun wiedersp:icht ihr aber die obige An- 
nahme von »kleinen« Anfängen des Uebels aufs entschiedenste. 
Die Vorstellung überhaupt, daß gesellschaftliche Kategorien zunächst 
»klein« anfangen, um dann immer »größer« und »größer« zu werden, 
‚bedeutet ja schon an und für sich eine unhaltbare Parodie auf die 
Entwicklungslehre. Und nun erst im vorliegenden Falle! Selbst aus 
der Müller-Lyer’schen Nomenklatur ersieht man ja, daß die 
menschlichen Leiden keine »Sachen: oder »Dinge: sind, sondern 
Verhältnisse. Und eben weil es sich um menschliche Verhält- 
nisse zu einander und zur Natur handelt, ist es sinnlos, hierauf den quan- 
titativen, von der medizinischen Wissenschaft herübergenommenen 
Wachstumbegriff anzuwenden. Die geschichtliche Notwendigkeit 
kennt keine Grade, kein »mehr« und »weniger«, 'kein »größer« 
und »kleiner«. Soziale Verhältnisse sind da, — oder sind nicht da. 
Ein Drittes gibt esnicht. Allerdings müssen diese Verhältnisse bevor sie 
da sind — werden. Und dieser Prozeß des Werdens umfaßt auch 
die Periode des quantitativen Wachstums. Aber er läßt sich 
nicht willkürlich abbrechen. Was wird, muß werden 
und kann nicht eher aufhören, zu sein, als nachdem es geworden ist. 
Und darauf kommt es hier einzig und allein an. 

Menschliche Leiden sind Verhältnisse der Menschen zu einander 
und zur Natur. Diese Verhältnisse machen allerdings eine quant i- 
tative Entwicklung durch, ehe sie die betreffende qualitative 
Färbung erhalten, sind aber streng gesetzmäßig, d. h. unterliegen der 
Einwirkung der Gesetze, die das Leben der Gesellschaft beherrschen. 
F.M.-L. hat sich zur Erkenntnis dieser dialektischen Zusammenhänge 
nicht erheben können und seine Darstellung leidet daher unter dem 
Mangel aller metaphysischen Betrachtungsweisen der Wirklichkeit: 
er kann die lebendigen Widersprüche des Seins nicht überwinden und 
sie werden ihm zu totgeborenen Widersprüchen des Denkens. Einer- 
seits spricht er, wie wir bereits sahen, als Hauptergebnis »seiner Be- 
trachtungen« den Satz aus: »Fast alle Leiden des Individuums ent- 
springen den Krankheiten des sozialen Organismus und müssen mit 
sozialen Mitteln bekämpft werden« ?3), andererseits aber 
stellt er praktische Schlußfolgerungen auf, die den französischen »Auf- 
klärerne des XVIII. Jahrhunderts entnommen zu sein scheinen: 
»Wer die einzelnen Konflikte, ihre Anfänge, ihre Verschlingungen, 
die Möglichkeit ihrer Lösung genau kennt, der wird natürlich 
die Fälle des Uebels viel leichter umgehen 
oder daraus sich befreien können als der Un- 





23) Soz.B.a.2.0.5.49; »Fast alle Leiden des Individuums sind Krankheiten 
des sozialen Organismus: S. 174; »Es gibt so viele soziologische Probleme, als 
es Leiden gibt: jedes menschliche Leiden ist ein soziologisches Problem,.« 

21) a. a. O. S. 125. 


vivai\ 


“Nad 


Soziologische Pathologie. 251 


wissende«e®2). Seltsame Abirrung! Es ist derselbe Fehler, den 
Müller-L yer in der vorliegenden Schrift enpassant selbst tadelt 2%): 
man glaubt die Ursachen des Uebels beseitigt zu haben, sobald 
man seine Folgen mit Bezug auf sich selbst unschädlich 
gemacht hat. Daß der Einzelne hie und da durch ein klug befolgtes 
Präservationsverfahren mancherlei Leiden vermeiden kann, wird 
durchaus nicht bestritten. Nur ist es nicht die Aufgabe der Sozio- 
logie, ihm dabei alsEinzelnem behilflich zu sein. Sie ist 
keine philantropische Anleitung zur individuellen Glückseligkeit, 
sondern eine Untersuchung über derartige Einrichtung der Gesellschaft, 
die es dem Einzelnen ermöglicht, glückselig zu werden. (Von der 
fragwürdigen Möglichkeit einer solchen Anleitung ganz zu geschweigen.) 


VI. 


Welchen Wert hat das Leiden? Diese Fragestellung entbehrt nicht 
ganz eines teleologischen Beigeschmacks und setzt voraus, das Alles 
und Jedes zu einem bestimmten »Zweck« »da sei«. Wir sind nicht der 
Meinung, daß diese Annahme in der Soziologie zulässig sei. Wenn 
man aber die obige Frage dahin modifiziert, daß man nach der Be- 
deutung des Leidens fragt, so wird man sich, meinen wir, eher ver- 
ständigen können, ohne dabei den Sinn der Müller-Lyerschen 
Fragestellung aus den Augen zu verlieren. F.Müller-Lyer be- 
kämpft sehr entschlossen die Ansicht, daß das Leiden einen positiven, 
lebensfördernden »Werts habe. Neuerdings hat Gustav Eckstein 
an diesem Teile seiner Ausführungen besonderen Gefallen gefunden ?°). 
Dem wird man aber bei näherer Untersuchung schwerlich beipflichten 
können. Zunächst befremdet schon das vollständige Fehlen einer 
klaren Unterscheidung zwischen der sozialen undindividu- 
ellen Bedeutung des Leidens. Es liegt doch auf der Hand, daß 
dieses zweierlei ist: soziale Uebel müssen doch einen ganz anderen 
»Wert« haben als die individuellen, das Leiden muß auf den Einzelnen 
ganz anders einwirken als auf die Gesamtheit. Hätte F. M.-L. diesen 
Umstand genügend beachtet, so wäre er auch gezwungen, sein Augen- 
merk auf die revolutionäre, mithin befreiende Rolle des Leidens zu 
richten, und eine solche ist für das ganze Problem von größtem Belang. 

Diese Frage beschäftigte das europäische Bewußtsein seiner- 
zeit — in Deutschland um die 4oer, in Rußland um die 8oer Jahre 
des vorigen Jahrhunderts — sehr eingehend. Allerdings in einer 
anderen Gestalt. Da fragte man sich, welche Wirkungen die Armut 
auf die gesellschaftliche Entwicklung ausübe. Mit Furcht und Schrek- 
ken beobachtete man das Wachstum des Proletariats und salı darin 
nichts anderes als sich mehrende Anzeichen der drohenden sozialen 
Entartung. Es bedurfte der Hegelschen Schulung eines Marx, um 
auch die revolutionäre, umwälzende, bahnbrechende Seite der Armut 

25) a. a. O. S. 2ır. 


26, Vgl. a. a. O. S. 188—189. 
27) Vgl. Die Neue Zeit, XXXIV/1. S. 285. 


252 Oskar Blum, 


zu erblicken #2). Aber schon vor ihm hat St. Simon in wahrhaft 
genialer Weise seine Aufmerksamkeit in derselben Richtung gelenkt. 
Eine seiner Aeußerungen, die unseres Wissens bisher unbeachtet 
blieb, verdient es, in diesem Zusammenhange Erwähnung zu finden. 
Er lag bereits auf dem Totenbette, der greise Utopist und Menschen- 
beglücker, aber sein Verstand arbeitete heller denn je und der Geist 
wollte den erlahmenden Körper nicht verlassen. Da wird ihm das 
Erscheinen seines einstmaligen Schülers Augustin Thierry ge- 
meldet und rasch ergreift er noch die Gelegenheit, um über dessen 
Buch »Histoire de la conquête par les Normands«: das Tiefste auszu- 
sprechen, was die damalige Sozialwissenschaft aufweisen kann: Das 
Buch wäre ja nicht schlecht, ganz gut sogar, aber man müsse bedauern, 
daß der Verfasser sich darin hauptsächlich als ein Geschichtsschreiber 
der besiegten Rassen hervortut, ohne den sozialen Fort- 
schritt in der Erscheinung der Normannen sehen zu wollen 22). Diese 
Worte sind fürwahr das kostbarste Vermächtnis des sogenannten 
utopischen Sozialismus! Wendet man sie sinngemäß auf die vor- 
liegenden Fragen an , so wird man nicht umhin können, mutatis 
mutandis M.-L. dasselbe entgegenzuhalten, was St. Simon an Thierry 
bemangelte: das Unvermögen oder die Unlust, in den Erscheinungen 
des Leidens Spuren des sozialen Fortschrittes zu suchen. 

Aber selbst im Bereiche des individuellen Leidens wird man die 
Müller-Lyer schen Ausführungen nicht unbedingt gelten lassen 
können. Das Bestreben, die Leiden als überall, stets und 
unter allen Umständen schädlich hinzustellen, scheint 
uns wenig fruchtbringend zu sein. Jenen billigen Einwand, daß die 
Leiden sich aus dem Leben großer Männer schwerlich wegdenken 
lassen. wollen wir gar nicht machen. Aber so viel ist doch jedenfalls 
klar, daß alles dabei von Zeit- und Orts. mständen abhängt. Daß es 
gesellschaftliche Verhältnisse gibt, bei denen nur das leidende 
Individuum zum Träger des Fortschritts wird, braucht wohl 
nicht erst bewiesen zu werden. F. M.-L. lehnt sich gegen das prachtvolle 
Wort Goethes auf: »Genießen macht gemein«, das er allerdings etwas 
verändert zitiert: »Genießen ist gemein« 3%). Dagegen wendet er 
ein: »Diesem menschenfeindlichen, häßlichen Satz schaut der Trug- 
schluß aus den Augen. Es muß natürlich heißen: »Nur genießen ist 
gemein« ®). Nicht doch! Eine andere Auslegung ist hier am Platze. 

38) Mit diesem Hinweis erledigt sich der Versuch, den Johann Plenge 
unternahm, um zu beweisen, daß Marx vieles dem Lorenz Stein entnommen 
habe, fast restlos. (Vgl. seine Schrift: Marx und Hegel, Tübingen r911, S. 65.) 
Stein hat eben nie die revolutionäre Rolle des Uebels begreifen können t 
Er sprach daher stets nur von der Verhütung der proletarischen Gefahr, 
wie die russischen Volkstümler eine Umgehung — ja geradezu eine Um- 
schleichung! — des Kapitalismus erhofften und anstrebten, um seinen Gefahren 
zu entrinnen. Da wird Marx wohl schwerlich etwas ordentliches gelernt haben 
können! 

29) Vgl. St. Simon, Oeuvres, große Ausgabe, I, 118. 

30) F. M.-L. a. a. O. S. 78. 
31) a a. O. S. 96. 





Soziologische Pathologie. 253 


Genießen macht (oder, sagen wir, ist) gemein, dort, wo das Genießen 
ein Privilegium ist. Und ebenda wird das Leiden nicht nur zu einem 
Stimulans der Fortbewegung, sondern — durch eine eigenartige 
dialektische Umschlagung — zu einer Quelle der Lust. 

Plotin bemerkt sehr treffend: »Eben dasselbe wird in einer ge- 
wissen Lage Tun, in einer anderen Leiden« ??). Diese Worte geben über 
die Natur der Sache einen viel besseren Aufschluß als alle Darlegungen 
unseres Verfassers. Daß dem in der Tat so ist, spürt der letztere selbst. 
Er sucht sich daher den Rückzug zu decken und bemerkt vorsichtig: 
»Das Leiden an sich ist also offenbar nicht lebensfördernd ; wohl aber 
ist es die Möglichkeit des Leidens, die Drohung des Uebelse« 3%), 
Worauf zu entgegnen ist: I. daß es keine Leiden »an sich« gibt; 
2. daß schon die Möglichkeit des Leidens ein Leiden ausmacht, die 
Drohung des Uebels ein Uebel; 3. daß die »Möglichkeit« des Leidens 
bereits sein Vorhandensein vorausetzt: die erstere ist subjektiv und 
bezieht sich auf den Einzelnen, das zweite objektiv und kennzeichnet 
die Gesamtheit. (Daher wäre es richtiger zu sagen: nicht die Möglich- 
keit des Leidens wirkt lebensfördernd, sondern die Möglichkeit, ihm 
zu entgehen. Denn objektiv ist es schon da und wirkt stimulierend 
auf den Einzelnen, der ihm zu entgehen sucht.) 


VII. 


Wir wollen uns also dahin einigen, daß das Leiden auch fördernd 
wirken kann, insofern es das Bestreben wachruft, seine Ursachen zu 
beseitigen, ihm zu entgehen. Aber wie entgeht man ihm? Hören wir: 
Das planvolle Zusammenwirken ist die eigentliche menschliche 
Kraft, auf ihm beruht alle Kultur, alle Macht des Menschen, und 
auf diesem Zusammenwirken liegen jetzt auch alle Hoffnungen der 
Menschheit, wenn sie den Kampf gegen die Uebel und Leiden plan- 
‚bewußt und sinnvoll unternehmen will« 34). Wit anderen Worten: Es 
ist de Organisation, die imstande ist, den menschlichen 
Leiden abzunelfen. Gewiß, dieser Erkenntnis muß beigepflichtet 
werden. Aber man kommt damit nicht weit. Denn es fehlt ihr in der 
vorliegenden allgemeinen Fassung jene scharfe Prägung, die sie über 
das Niveau des Selbstverständlichen emporheben könnte. Wir ver- 
missen in diesem Betonen des Organisierungsgedankens das Hervor- 
heben ds Klassenkampfes als desjenigen Mittels, auf 
welches die Geschichte bei seiner Verwirklichung angewiesen ist. Und 
hiermit berühren wir eine Unterlassung, die sich überhaupt wie ein 
roter Faden durch dass Müller-Lyersche Buch zieht, — und 
‚die es nun die höchste Zeit ist, zu erwähnen. M.-L. weist nirgends auf 
‚den Klassencharakter der modernen Gesellschaft hin. Und doch ist es 
unschwer einzusehen, daß derselbe für das uns beschäftigende Thema 
von höchster Wichtigkeit ist. Die Teilung der Gesellschaft in ver- 


32) Enneaden, übersetzt von H. F., Müller, 2 Bde. 1878, Vl/zzr. 
33) a. a. O. S. 90. 
3") a a S. O. 144. 


254 Oskar Blum, 


schiedene Klassen, welche die herrschenden sozialen Zustände kenn- 
zeichnet, ist zweifelsohne eine der mitbestimmenden Ursachen der 
Leiden der Menschheit. Ihre Beseitigung ist nur mit der gleichzeitigen 
Aufhebung jener Teilung denkbar. 

F. M.-L. läßt diese Seite des Problems vollständig außer acht ®). 
Daher kann man seinen Ausführungen über die Bedeutung der Or- 
ganisation keinen besonderen Wert beilegen. Sie bewegen sich un- 
gefähr auf demselben Niveau, wie die verwandten Ansichten eines 

Ch. Fourier oder V. Considerant, nur daß M.-L. die 
inzwischen vollzogenen Fortschritte der wissenschaftlichen Erkenntnis 
nicht berücksichtigt. Das führt dann schließlich dazu, daß sein durch- 
aus zutreffender Hinweis auf die erlösende Wirkung der Organisation 
in der Praxis mit nichts anderem als mit der Anpreisung der... 
Vereinsmeierei endet. Das klingt allerdings unglaubhaft. Aber hier 
die Beweise. » Jedem, der die neuen Ideale begriffen hat — behauptet 
unser Verfasser — bietet sich ein neuer Trost im Leiden... nämlich 
der Anschluß an eine ... Gesinnungsgenossenschaft« 38). »So steht 
fast jeder Spezialität des Leidens eine Kulturorganisation zur Ver- 
fügung: von den Vereinen für Leichenverbrennung bis zu den Ge- 
sellschaften für Volkskunst, für Wohnungsreform, für Volkseugenik 
usw.« 3). Hier muß man schon an die Worte des Dichters denken: 
Ein großer Aufwand schmählich ist vertan! Das also ist die »Organi- 
sation«, die die Menschheit erlösen soll von ihren Qualen! Nun das 
heißt wahrhaftig, zu leichten Kaufes davonkommen wollen! 

Nureine Art der Organisation kann ernstlich in Betracht gezogen 
werden, wenn es sich um die Befreiung der Menschheit von den Feinden, 
die ihr Dasein verunstalten, handelt: die Organisation der Produktion als 
der Basis aller übrigen Umgestaltungsversuche. Und gerade darüber 
verliert M.-L. kein einziges Wort! Daher kann man seinem Hinweise 
auf die wohltätige Wirkung des Verein: lebens keine andere, als besten- 
falls eine philantropische Bedeutung beilegen. Wiederum führt er 
ein Auskunftsmittel an, das höchstens dem Einzelnen helfen kann, 
für die Wissenschaft von der Gesellschaft aber von neben- 
sächlichem Interesse sein muß. 


VIII. 


La critique est aisée, l’art est difficile. Oder: Die Kunst ist lang 
und kurz ist unser Leben. Wir hoffen daher, daß die obigen mit 
aller Offenheit vorgetragenen Bedenken gegen das Müller-Lyer- 
sche Buch unsere bereits Eingangs ausgesprochene Meinung von seiner 
überaus verdienstvollen Bedeutung nicht werden zweideutig machen 


35) In welch erstaunlichem Maße dies der Fall ist, ersieht man am besten 
a. a. O. S. 177, wo M.-L. die soziale Einteilung der modernen Gesellschaft 


auf Grund des Einkommens durchzuführen unternimmt, ohne die Rolle 


der betreffenden Gruppen im Produktionsprozesse zu beachten, 
2, a. a. O. S. 199. 
a. a. O. S. 200. 








Soziologische Pathologie. 255 


können. Wie immer man tich zu dem vorliegenden Versuche stellen 
mag, eines wird zugcgeben weden müssen: der Anfang einer So- 
ziologie der Leiden i-t gemacht, ı..e Basis für eine weitere Diskussion 
gewonnen. 

Damit können wir schließen. “ir iiuben den Inhalt des Müller- 
Eyerschen Buches, sofern essich . m die Soziologie des Leiden handelt, 
in der Hauptsache erschipit. \. s -twa ncch sonst erwähnenswert 
wäre. kommt in einem zweiten Artikel zur Sprache, den wir der von 
F. Mülier-Lyer so genannten Phasenmethode zu widmen 
beabsichtigen. 


256 


LITERATUR-ANZEIGER. 


Inhaltsübersicht: 1. Enzyklopädien, Sammelwerke, Lehrbücher S. 256; 
2. Sozial- und Rechtsphilosophie S. 256; 3. Soziologie, Sozialpsychologie, Rassen- 
frage S. 258; 4. Sozialismus S. 262; 5. Sozialökonomische Theorie und Dogmenge- 
schichte S. 262; 6. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Biographien S. 262; 7. Be- 
völkerungswesen S. 263; 8. Statistik S. 266; 9. Soziale Zustandsschilderungen 
S. 266; 10. Agrarwesen, Landarbeiterfrage S. 266; 11. Gewerbliche Technik 
und Gewerbepolitik S. 266; 12. Kartellwesen, Unternehmerorganisation S. 266; 
13. Gewerbliche Arbeiterfrage, Arbeitsmarkt S. 266 ; 14. Arbeiterschutz S. 266 ; 15. Ver- 
sicherungswesen (bes. Arbeiterversicherung) S. 267; 16. Gewerkvereine und Tarif- 
wesen S. 267; 17. Allgemeine Sozialpolitik und Mittelstandsfrage S. 268; 18. Privat- 
beamten- und Gehilfenfrage S. 269; 19. Handel und Verkehr S. 269; 20. Privat- 
wirtschaftslehre (Handelswissenschaft) S. 271; 21. Handels- und Kolonialpolitik 
S. 271; 22. Geld-, Bank- und Börsenwesen S. 271; 23. Genossenschaftswesen 
S. 277; 24. Finanz- und Steuerwesen S. 278; 25. Städtewesen und Kommunalpolitik 
S. 280; 26. Wohnungsfrage S. 280; 27. Unterrichts- und Bildungswesen S. 280; 
28. Jugendfürsorge, Armenwesen und Wohlfahrtspflege S. 280; 29. Kriminologie, 
Strafrecht S. 280; 30. Soziale Hygiene S. 280; 31. Frauenfrage, Sexualethik S. 282; 
32. Staats- und Verwaltungsrecht S. 282; 33. Gewerbe-, Vereins- und Privatrecht 
S. 282; 34. Politik S. 283. 





ı. Enzyklopädien, Sammelwerke, Lehrbücher. 


2. Sozial- und Rechtsphilosophie. 


Wundt, Wilhelm, Die Nationen und ihre Philo- 
sophie. Taschenausgabe. Leipzig 1915, Kröner, geb. 154 S. 
Mk. 1.20. 

Das Büchlein besteht hauptsächlich aus einer Geschichte der 
Philosophie, welche in ihren kurzen, festen Strichen den Altmeister 
verrät; aber aus einer solchen Geschichte, die von den jeweils darge- 
stellten philosophischen Theorien ausgehend, den Charakter der 
Nationen, welche sie hervorbrachten, zu erforschen sucht. So heißt 
es in bezug auf die französische Moralphilosophie: ». . . ein Individua- 
lismus, der in der menschlichen Gemeinschaft nur die Summe der 
Einzelnen sieht, läßt es... zu einem wirklichen Idealismus nicht kom- 
men... Ehre und Ruhm... (Grundbegriffe jener Ethik) sind solche 
(reine) Ideale nicht«, sondern zuletzt nur eine Bevorzugung äußerer 
Eigenschaften (S. 35). Die englische Moralphilosophie wieder be- 
gründet von Bacon bis Spencer nur Utilitarismus, d. h. eine Wohlfahrts- 


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E yni 0 


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2. Sozial- und Rechtsphilosophie. 257 


ethik, zwar in verschiedener Form, die aber immer individualistisch 
bleibt und der der Staat immer ein »künstlicher Körper« (Hobbes) ist. 
Nur der Einzelne existiert nach jener Moralphilosophie wirklich, und 
unter den Einzelnen ist jeder sich selbst der nächste (S. 68). Einen 
andern, nämlich idealistischen Grundzug zeigt dagegen das deutsche 
philosophische Denken. Diese Gegenüberstellung der französischen 
Philosophie als der ratonalistischen der englischen als der utilitari- 
schen gegen die deutsche als der echten, tiefgründig idealistischen — 
gleich der antiken — wird von keinem Kenner der neueren Geistes- 
geschichte angefochten werden können; namentlich aber, daß damit 
der Stab über das englische Wesen gebrochen ist, das mögen sich die 
stillen Bewunderer des englisch-amerikanischen Wesens, die es noch 
immer unter uns gibt, gesagt sein iassen. Wundt stellt dies besonders 


- glücklich an Leibniz dar. Leibnizens Monadologie, heißt es, »ist eine 


echt deutsche Schöpfung, in der sich die strenge Logik... . mit einem 
Zug alter deutscher Mystik . . . verbindet; . . . Gegenüber dem die 
Einheit des Seins in unausgeglichenen Gegensatz von Gott und Welt, 
von Geist und Körper zerspaltenden französischen Dogmatismus 
und gegenüber dem . . . die äußerliche Nützlichkeit zu Leitmotiven 
erhebenden englischen Realismus gilt ihm die Einheit des Seins als die 
unaufhebbare Forderung des philosophischen Denkens. Eine zwin- 

ende Konsequenz dieser Forderung ist ihm aber der Satz, daß das 

esen der Dinge nach dem Vorbild des menschlichen Geistes, der 
eben damit ein Spiegel der Welt selbst sei, als ein geistiges Sein gedacht 
werden müsse. Damit ist Leibniz der Begründer jenes Idealismus gewor- 
den, der von da an die spezifisch deutsche Philosophie ist.« Jener 
Gedanke, daß in der geistigen Welt das Wesen der Welt sich selbst 
entfalte, ist der deutschen Philosophie fortan eigen geblieben (S. 75 u. 
76). Ebenso ein zweiter Grundgedanke der Leibnizischen Philosophie: 
die Idee der Weltharmonie d. h. des Optimismus. An Kant, 
Fichte, Schleiermacher und Hegel wird nun von Wundt in eigenartiger 
Weise die Geistigkeit des deutschen Weltbildes und der innere, anti- 
individualistisch fundierte Idealismus der deutschen Moralphiloso- 
phie aufgezeigt (S. 82—91). Was Wundt dann über die Bedeu- 
tung des Willensbegriffes zur Begründung der antiindividualisti- 
schen Gemeinschaftstheorie vorbringt, (S. 91 ff.), möchte ich dage- 
gen nicht unterschreiben; ähnlich unverständlich ist mir die spä- 
tere Ueberschätzung Nietzsches sowohl wie die Uebergehung Schel- 
lings, der allein schon als Stufe zu Hegel unentbehrlich im Gebäude 
des deutschen Idealismus bes. auch der Entfaltung seines Staatsbe- 
griffes wäre. Dafür bieten die von Wundt entwickelten Anschauungen 
über Fichte und Hegel wieder Eigenartiges, so bes. wenn W.das Hegeli- 
sche Wort in den Vordergrund rückt, vonden »Volksgeistern, 
dieumdenThron desWeltgeistesals dieZeugen 
und die Zieraten seiner Herrlichkeit stehen« 
und damit eine feste Theorie der Nationen als geschichtlich gegebener 
Volksindividualitäten begründet. Ehre und Ruhm, führt W. aus, 
sınd für den Franzosen die Güter, die er seit Beginn seiner Geschichte 
vor allem erstrebt; der Engländer stellt das Nützlich in den Dienst 
des Ich (auch gegen den Staat — der Utilitarismus ist eben die spe- 
zifisch englische Philosophie) ; »den deutschen Charakter ... definieren 
zu wollen, würde nun aber nicht bloß schwierig, sondern fast würde 
es auch unziemlich sein« (144). Von der Wirkung des Krieges auf den 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. ı. 17 


258 Literatur-Anzeiger. 


Deutschen aber sagt Wundt (S. 123): »Der deutsche Idealismus ist 
wiedererstanden, auch bei solchen, denen er verloren gegangen war. 
Er regt sich als der Idealismus der Tat in der Seele des gemeinen 
Mannes... wie in der des Gebildeten... .« Die Tat aber »ist hier mehr 
wert als alle Philosophie«. (Othmar Spann.) 


3. Soziologie, Sozialpsychologie, Rassenfrage. 
Veblen, Thorstein: Imperial Germany and the In- 


dustrial Revolution. New York, The Mac Millan Company, 


London: Mac Millan & Co., Ltd., 1915. VII und 324 S. 1.50 Doll. 
Das Buch von Veblen gehört nicht zur Kriegeliteratur im engeren 


Sinne, insofern als es schon vor dem Kriege entworfen worden ist . 


und die unmittelbar auf den Krieg bezüglichen Fragen in ibm 
nur eine vorübergehende Behandlung erfahren. Es will vielmehr 
nach den Worten des Verfassers unabhängig von den Streitiragen 
des gegenwärtigen Kampfes, an der Hand der bestimmenden ökono- 
mischen, vor allem industriellen Entwicklungsvorgänge »einen Ver- 
gleich ziehen und den Zusammenhang aufsuchen zwischen dem Phä- 
nomen xDeutschland« auf der einen und den englisch sprechenden 
Völkern auf der andern Seite als zwei verschiedenen und bis zu einem 
gewissen Grade entgegengesetzt verlaufenden Linien der kulturellen 
Entwickelung in neuerer Zeit«. Der Verfasser erhebt für sein Werk 
den Anspruch strengster Wissenschaftlichkeit, ja er ist der Ansicht, 
damit den ersten umfassenden theoretischen Erklärungsversuch des 
jüngsten Zeitalters in der deutschen industriellen Entwicklung zu 
bieten. Eine kurze Wiedergabe des Inhaltes und der von V. angewand- 
ten Forschungsmethode wird ein Urteil darüber ermöglichen, inwieweit 
das Buch deutschen Begriffen von Wissenschaftlichkeit gerecht 
wird. 

V. bedient sich der deduktiven Methode, indem er aus einigen 
allgemeinen soziologischen Sätzen die Erklärung ableitet für die von 
ihm unumwunden zugestandenen erstaunlichen Fortschritte Deutsch- 
lands auf industriellem Gebiet während der letzten Jahrzebnte. 

Aus der oft wenig klaren, an Wiederholungen reichen Darstellung 
lassen sich vor allem drei derartige Sätze herausschälen: 

I. Erfindungen werden meist nicht in ihrem Ursprungslande, 
sondern in einem anderen Lande, das sie von dem ersteren übernom- 
men hat, zu voller Entfaltung gebracht, in erster Linie deshalb, weil 
in dem Ursprungslande ihrer ausgiebigen Nutzbarmachung oft alt 
eingewurzelte Sitten und Vorurteile religiöser oder profaner Natur 
sowie hindernde Gesetze entgegenstehen, die bei dem fremden Volke, 
das ausschließlich die technische Erfindung, nicht aber die der fremden 
Kultur eigenen hemmenden Elemente übernimmt, fehlen. 2. Das 
jüngere Industrieland erfreut sich gewisser Vorteile vor dem älteren 
a) weil von ihm keine originäre geistige Leistung verlangt wird, sondern 
es nur an den von dem Ausgangslande überkommenen Erfindungen 
weiter zu bauen braucht, sowie weil es seine industriellen Anlagen den 
ökonomischen Anforderungen der unmittelbaren Gegenwart anpassen 
kann, während in dem älteren Lande die festen Anlagen auf eine 
frühere, engere ökonomische Situation zugeschnitten sind und ent- 
weder gar nicht oder nur unter schweren Opfern geändert werden 


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3. Soziologie, Sozialpsychologie, Rassenfrage. 259 


können (Beispiel: das englische Eisenbahnnetz); b) weil die Bevölke- 
rung eines jungen Industriestaates ärmer und anspruchsloser, die 
Produktion für den reinen Luxus daher unbedeutend, die Klasse 
der »Nur-Konsumenten« weniger zahlreich ist. 

3. Eine bestimmte Technik bedingt eine bestimmte Art der 
Geistesrichtung, die sich auf sämtlichen Gebieten der Kultur, vor 
allem aber in den politischen Einrichtungen des Volkes ausprägt, 
V. ist also ein Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung. 
Allerdings gibt es Zeiten der Spannung, in denen diese Anpassung 
der gesamten Denkweise eines Volkes an die herrschenden Produk- 
tionsmethoden noch nicht stattgefunden hat. 

In der Nutzanwendung dieser allgemeinen Sätze auf die Fälle 
»Deutschland« und »England« stellt V. zunächst fest, daß die tiefe 
Kluft, die nach ihm zwischen den politischen Einrichtungen und der 
gesamten Denkweise des deutschen Volkes auf der einen, den Völkern 
mit westeuropäischer Zivilisation, vor allem den angelsächsischen 
Völkern, auf der andern Seite besteht, nicht auf Verschiedenheit der 
Abstammung, sondern auf erworbenen Eigenschaften und angenom- 
menen Gebräuchen beruht, die ihre Ursache in der Verschiedenheit 
der historischen Schicksale haben. 

Ebenso wie die übrigen nordeuropäischen Völker sind die Deutschen 
von Natur demokratisch, ja anarchistisch veranlagt; erst im Laufe 
einer langen geschichtlichen Entwicklung voller Kämpfe und äußerer 
Bedrohung ist in ihnen der Geist der Unterwürfigkeit und des Gehor- 
sams, der bereitwilligen Unterordnung der eigenen Interessen unter die 
persönlichen Vorteile des Herrschers groß geworden, doch lebt auch 
heute noch in ihnen, wenn auch unterdrückt, der angeborene Hang 
zur politischen Freiheit, in jüngster Zeit wesentlich gefördert durch 
die Einführung der auf Gleichheit gerichteten modernen Technik. 

In einem Kapitel, das den bezeichnenden Titel »Der dynasti- 
sche Staat« (The Dynastic State) trägt, sucht V. in einer Analyse des 
deutschen Charakters und der deutschen Entwicklung diese Behaup- 
tung näher zu begründen und wendet sich sodann seiner Hauptauf- 
gabe zu, der Aufstellung eines Vergleiches zwischen den Verhältnissen, 
unter denen sich der als ‚Industrialisierung‘ in der Wirtschaftsgeschichte 
bekannte Vorgangin England und in Deutschland vollzogen hat. Er geht 
hierbei von soziologischen Gesichtspunkten aus, indem er vor 
allem die Rückwirkungen untersucht, die der Uebergang zum maschi- 
nellen Großbetrieb auf Staat und Gesellschaft ausgeübt hat. 

Der mit der Reichsgründung in der wirtschaftlichen Entwicklung 
Deutschlands einsetzende Zeitabschnitt findet sein Gegenstück in dem 
Elisabetheischen Zeitalter in England. Beides sind Zeiten großer 
technischer Erfindungen, die im Wirtschaftsleben voll zur Entfaltun 
kommen konnten, weil sie in eine Periode überwiegend friedlicher 
Entwicklung, wenigstens was die äußere politische Lage betrifft, fielen. 
Während sich jedoch die Zeit ungestörter Hingabe an friedliche wirt- 
schaftliche Arbeit in England auf mehrere Jahrhunderte erstreckte, 
währte sie in Deutschland nur vier Jahrzehnte. Die Denkweise der 
Bevölkerung und die staatlichen Einrichtungen konnten sich daher 
in England der neuen Produktionsweise vollkommen anpassen, der 
ihr immanente Geist der bürgerlichen Gleichheit und Selbsthilfe konnte 
Wurzel fassen. Auf der anderen Seite erzeugte die Abwesenheit un- 
mittelbarer äußerer Bedrohung und die Vorherrschaft wirtschaft- 

17* 


260 Literatur-Anzeiger. 


lichen Gewinnstrebens als bestimmendes Lebensprinzip eine materia- 
listisch-mechanistische Weltanschauung, die durchaus ındividualistisch 
gerichtet war und zu einer Lockerung der Staatsgewalt führte, so daß 
das Verhältnis des Engländers zu Staat und Herrscher, gemessen an 
der Staatsauffassung des Deutschen, »eher abgeschwächte Unbotmäßig- 
keit als durch Selbstinteresse temperierte Loyalität genannt werden 
kann.« 

Bei der Schaffung einer modernen Großindustrie genoß Deutsch- 
land gegenüber England alle Vorteile, die dem jüngeren vor dem 
älteren Industriestaat eignen: es konnte eine erprobte Technik gewis- 
sermaßen ready made von England übernehmen, seine Werke wur- 
den von Anfang an mit Rücksicht auf die größeren Verhältnisse 
des Weltmarktes angelegt, es verfügte vor allem über eine wachsende, 
körperlich tüchtige, befähigte und anspruchslose Bevölkerung, die 
nicht in gleichem Maße wie die englische dem Sport und anderer zeit- 
raubender und kostspieliger Luxuskonsumtion ergeben war und dem 
deutschen Wirtschaftsleben einen vortrefflichen Stamm von Unter- 
nehmern wie von Arbeitern lieferte. Die Industrie konnte in Deutsch- 
land um so schneller und um so mächtiger emporblühen, als sie kaum 
von gesetzlichen Schranken und staatlichen Vorschriften gehemmt 
wurde und ihrer Entfaltung weniger eingewurzelte Vorurteile im Wege 
standen als in England. 

Diese durch die allgemeinen volkswirtschaftlichen Bedingungen 
begünstigte Entwicklung vollzog sich jedoch unter politischen Verhält- 
nissen, die dem Geist der bürgerlichen Freiheit und Selbsthilfe, wel- 
cher der Geist der modernen Produktionsweise ist, völlig wesensfremd 
waren. Die Notwendigkeit, ständig gegen äußere Angriffe gerüstet 
zu sein während der ganzen Dauer seines historischen Daseins, hatten 
im deutschen Volk starke kriegerische Neigungen erzeugt und zur 
Ausbildung viel strafferer Herrschaftsformen, zuerst im Feudalismus, 
dann im Absolutismus, geführt, als England sie je gekannt hatte. 
Die Periode des Absolutismus hat sich auch heutenoch nicht in Deutsch- 
land überlebt, trotz der Annahme äußerer Verfassungsformen, vielmehr 
hat sich der Gedanke des allmächtigen Staates, der auf der Pflege krie- 
gerischer Traditionen beruht und ausschließlich dynastische Interessen 
vertritt, von seinem Geburtslande Preußen aus erst nach der Reichs- 
gründung in vollem Maße den anderen Landesteilen mitgeteilt. 
Dieser dynastische Staat, der alle selbständigen geistigen Regungen 
der Untertanen unterdrückt, hat es verstanden, sich die ihm wesens- 
fremde moderne Technik zur Verwirklichung seines Strebens nach 
militärischer Macht und politischer Expansion dienstbar zu machen. 

Die gesamte Wirtschaftspolitik des Deutschen Reiches ist von 
fiskalischen und militärischen Gesichtspunkten, dem Wunsche, 
Deutschland im Kriegsfalle wirtschaftlich unverwundbar zu machen, 
bestimmt, alle kulturellen Maßnahmen des Staates, Unterrichtswesen, 
Sozialpolitik usw. sind darauf zugeschnitten, dem Staate eine mög- 
lichst große Zahl leistungsfähiger Soldaten, zahlungskräftiger Steuer- 
zahler für Militärausgaben und fügsame, blind ergebene Untertanen 
im allgemeinen zu liefern. Positive Maßnahmen des Staates zur För- 
derung des ideellen und materiellen Wohlergehens der Bevölkerung 
sind im Deutschen Reiche kaum zu verzeichnen, die Verdienste der Re- 
gierung an dem unleugbaren wirtschaftichen Aufschwung sind fast 
ausschließlich negativer Natur (eine Behauptung, die sich schwer damit 


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mn 


3. Soziologie, Sozialpsychologie, Rassenfrage. 261 


vereinigen läßt, daß der Staat sich auf jede Weise die Erstarkung der 
wirtschaftlichen, finanziellen und militärischen Kräfte des Landes 


- hat angelegen sein lassen). Das deutsche Volk, das durch die Jahr- 


hunderte währende Unterdrückung gefügig geworden ist, unterwirft 
sich willig dem herrschenden Regierungssystem, aber die Deutschen, die 
einmal die freiere Luft der westlichen Zivilisation geatmet haben, 
entledigen sich gern seiner Fesseln und werden schnell auf fremdem 

n heimisch. 

Das Streben des Deutschen Reiches nach territorialer Ausdeh- 
ung, vor allem nach dem Erwerb von Kolonien kann deshalb weder 
im Interesse der einzelnen Deutschen, die dort Unterkomnien finden 
sollen, noch vom allgemein zivilisatorischen Standpunkt Rechtfertigung 
suchen. Der von deutscher Seite geltend gemachte Grund, für den 
deutschen Bevölkerungsüberschuß Gebiete zu sichern, ist hinfällig, da 
den deutschen Auswanderern die noch freien Siedlungsgebiete anderer 
Staaten in derselben Weise offen stehen, als wenn sie politisch dem 
Reiche zugehörten, während sich ihre Lebensbedingungen ın den auslän- 
dischen Kolonien infolge der freieren politischen Einrichtungen wesent- 
lich angenehmer und leichter gestalten als unterdem drückenden Re- 
giment des Deutschen Reiches. Die geringen Erfolge der deutschen 
Kolonialpolitik, die Tatsache, daß auch nach dem Erwerb von Kolo- 
nien durch das Reich »Deutsche, die ihre Lage durch Auswanderung 
verbessern wollen, nach wie vor dem Reiche den Rücken kehren«, 
beweist die Richtigkeit dieser Behauptung (die im Munde eines 
Angehörigen des britischen Weltreiches gewiß nicht der Ironie ent- 
behrt). Ebensowenig könnte eine Erweiterung des deutschen politi- 
schen oder kulturellen Machtbereiches im allgemeinen Menschheitsinter- 
esse gut geheißen werden. V. untersucht in dieser Hinsicht nach einan- 
aer die Elemente deutscher Kultur: die deutsche Sprache und Litera- 
tur, die keine Werte enthalten, die ihre Ausdehnung auf Kosten anderer 
(sclt. der englischen!) Sprachen und Literaturen rechtfertigen 
würden, die Naturwissenschaften, in denen die Deutschen keine originel- 
len Leistungen neben Engländern und Franzosen aufzuweisen haben, 
die deutsche Philosophie, die in der Romantik wurzelt und daher 
für Zustände Bedeutung haben mag, die diesem überwundenen Zeit- 
alter 'entsprechen, aber für moderne Verhältnisse durchaus unbrauch- 
bar ist. Als spezifisch deutsche Kulturleistung bleibt das herrschende 
Regierungssystem von »gemilderter Unterdrückung und bürokratischer 
Bevormundung«, das für das Jahrhunderte lang an Unterdrückung 
gewöhnte deutsche Volk annehmbar sein mag, das aber Völkern mit 
anderer historischer Vergangenheit unerträglich sein würde. 

Das deutsche Regierungssystem und die darauf beruhende Politik 
mußten folgerichtigzum Ausbruch des Krieges führen. Neben Deutsch- 
land entwickelten andere Staaten bedeutende Industriestätten, vor 
allem drohte Rußland mit seinen unerschöpflichen Hilfsquellen ein 
gefährlicher Konkurrent zu werden, während sich die deutschen Fort- 
schritte allmählich verlangsamten; wahrscheinlich hat Deutschland 
den Höhepunkt in Industrie und Handel vor etwa 6 Jahren überschrit- 
ien. Gleichzeitig wuchsen mit den deutschen Streitkräften auch die- 
jenigen der anderen europäischen Staaten in beschleunigtem Tempo; 
zur Abwendung der Gefahr, wirtschaftlich und militärisch überflügelt 
zu werden, schritten die deutschen Staatsmänner zu einer »defensiven 
Otfensivez, wählten hierfür aber wahrscheinlich einen Zeitpunkt, als sich 


262 Literatur-Anzeiger. 


das Kräfteverhältnis zwischen Deutschland und seinen Gegnem 
schon leise zu ungunsten des ersteren verschoben hatte. 

Die hier kurz wiedergegebenen Gedankengänge können auf Ori- 
ginalität keinen Anspruch machen; sie sind seit Kriegsausbruch in 
zahlreichen Abwandlungen von den Feinden Deutschlands und auch 
von neutralen Schriftstellern vorgetragen und von berufener deutscher 
Seite widerlegt worden, ja, man kann die Beurteilung, die darin den 
deutschen Verhältnissen zuteil wird, geradezu als typisch für eine gewisse 
Art der deutsch-feindlichen Kriegsliteratur bezeichnen: auf der einen 
Seite werden die deutschen Leistungen auf militäriischem und auf wirt- 
schaftlich organisatorischem Gebiet rückhaltlos, wenn auch wider- 
willig anerkannt, auf der anderen Seite aber sucht man sie herabzu- 
setzen, indem man die Kräfte und Methoden, auf denen sie beruhen, 
als moralisch verwerflich und kulturell rückständig hinstellt, eine 
Darstellungsweise, die besonders häufig von englischer Seite angewendet 
wird. 

Der Grundiehler des Buches von V. wie vieler anderer gleich- 
a Erzeugnisse der feindlichen Literatur über Deutschland 
iegt in dem künstlich konstruierten Gegensatz zwischen dem von 
Natur gut veranlagten, aber durch lange Unterdrückung des eigenen 
Willens beraubten deutschen Volkes aut der einen Seite und dem 
von brutalem Machtstreben beseelten Staat mit seinen Grundpfeilern 
Militär und Bürokratie auf der andern Seite. Auf die zahlreichen Wi- 
dersprüche, schiefen Darstellungen und groben Unrichtigkeiten, die 
sich im einzelnen finden, einzugeben, würde den Rahmen dieser 
Besprechung überschreiten. Es sei jedoch anerkannt, daß das Buch 
auch manche treffenden Bemerkungen und Schlüsse enthält, nament- 
lich in bezug auf die tiefen Schatten, die das soziale und wirtschaft- 
liche Leben Englands, des alternden, sich dem Rentnertume mehr und 
mehr nähernden Industriestaates, aufweist. 

(Charlotte Leubuscher.) 


4. Sozialismus. 


5. Sozialökonomische Theorie und Dogmengeschichte. 


6. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Biographien. 


Goldschmidt, E. F.: Die deuische Handwerker- 
bewegung bis zum Sieg der Gewerbefreiheil. 
München 1916, Ernst Reinhardt. 8%. 120 S. Mk. 2.50. 

Die vorliegende Schrift kann nicht ganz befriedigen. Der Ver- 
fasser hat sich zwar recht fleißig in die vorhandene Literatur einge- 
arbeitet, auch die ältere Gewerbegesetzgebung fleißig studiert, aber 
seine Darstellung bleibt zu sehr an Aeußerlichkeiten hängen, indem sie 
in viel zu geringem Maße auf den Zusammenhang der Handwerker- 
bewegung mit der wirtschaftlichen Entwicklung und den allgemeinen 
Anschauungen des betreffenden Zeitraumes eingeht. Zwar wird vor 
allem über das erstere mancherlei gesagt, es fehlt aber die innere Ver- 
arbeitung dieser Zusammenhänge. Eine Geschichte der Handwerker- 
bewegung kann eben ohne genaue Kenntnis und Berücksichtigung 
ihres geistesgeschichtlichen und wirtschaftlichen Hintergrundes nicht 
geschrieben werden. (P. Mombert.) 


Y 


7. Bevölkerungswesen. 263 


7. Bevölkerungswesen. 


Das neue Deutschland. 23. Kriegsnummer. Sonderheft. 
Jatrgang IV Nr. 17 /22. 1916. Krieg und Volksvermehrung. Ber- 
lin 1916. Politik. 4° 58 S. Mk. ı.—. 

Das vorliegende Heft enthält von 16 verschiedenen Verfassern, 

16 Artikel über die Frage der Volksvermehrung, Artikel, die von recht 
verschiedenem Werte sind; z. T. wiederholen sie uns schon oft gesagtes, 
z. T. bringen sie auch neues, das immerhin beachtenswert ist; hierzu 
rechne ich vor allem die Artikel von Oldenburg über die slawische 
Gefahr, denjenigen von Opitz über den weiblichen Bevölkerungsüber- 
schuß nach dem Kriege und denjenigen von Schallmayer über Beamten- 
tum und Volksvermehrung. Die Artikel, wie überhaupt dasganze Heft, 
sind jedenfalls geeignet, z. T.ein brauchbares Bild von den Problemen zu 
geben, die zu lösen sind, um das Volkswachstum in Deutschland zu 
beschleunigen. Ich sage z. T., da auch hier, wie in den meisten dieser 
Propagandaschriften, die Frage des Nahrungsspielraumes der deutschen 
Volkswirtschaft, und die Möglichkeiten seiner zukünftigen Erweiterung, 
ganz unter den Tisch fällt. Und doch handelt es sich hier um eine Frage, 
die ungeheuer wichtig ist; hängt doch von der Entwicklung des Nah- 
tungsspielraumes letzten Endes mehr oder weniger die Wirksamkeit 
aller jener verschiedenen Maßnahmen ab, mit denen man die Volks- 
vermehrung beschleunigen will. (P. Mombert.) 


Paull, Dr. med. H.: Die neue Familie. Ein Beitrag zum 
Bevölkerungsproblem. (70. Heft der von Ernst Jäckh heraus- 
gegebenen Flugschriftensammlung »Der Deutsche Kriege.) Stutt- 
gart 1916. Deutsche Verlags-Anstalt. Mk. —.50. 

Wie die meisten Schriften, die jetzt während des Krieges über 
das Wachstum des deutschen Volkes erschienen sind, läuft auch die vor- 
liegende auf einen positiven bevölkerungspolitischen Vorschlag hinaus, 
ebenso wie die weiter unten zu besprechende Schrift von Rosenthal 
»Die Volkserneuerung und der Krieg«. In demTatsachenmaterial ist 
im einzelnen manches anfechtbare enthalten; doch will ich darüber 
an dieser Stelle mit dem Vf. nicht rechten; denn man würde damit 
auf für ihn nebensächliches eingehen, während der Kern seiner Schrift 
1m Schlusse, in seinen Vorschlägen zu einer neuen Familiengesetzgebung 
enthalten ist. Sehr vieles, was er hier sagt, ist überaus beachtenswert 
und er hat sicher darin recht, daß wir bisher in vieler Hinsicht Ehe und 
Familie nicht genügend in ihrer Bedeutung für die Vermehrung und 
Erhaltung der Volkskraft geachtet und geschätzt haben. Ob sich aber 
seine weitgehenden Vorschläge, daß die Wirtschaftsordnung des Staates 
eine derartige Veränderung erfahren müßte, daß der Zuwachs von 
Kindern die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie nicht ver- 
schlechtere, mit Erfolg durchführen lassen, erscheint mir höchst zwei- 
felhaft. Dies nicht in dem Sinne, als ob seine Vorschläge, die in einer 
Familienversicherung bestehen, die einen Teil ihrer Einnahmen aus 
gewerblichen Unternehmungen ziehen soll, gesetzgeberisch nicht 
durchführbar wäre. Es gibt aber etwas, das man in der Wirtschafts- 
wissenschaft als »Nahrungsspielraum einer Bevölkerung« bezeichnet, 
und von diesem hängt in schr hohem Maße Volkszahl und Volkswachs- 
tum ab, und wer das letztere schützen und mehren will, hat in erster 

e die Frage zu erwägen, wie kann man den Nahrungsspielraum 


264 Literatur-Anzeiger, 


der deutschen Volkswirtschaft vergrößern und sichern. Das ist dann 
in der Hauptsache ein Produktionsproblem, während sich Paulls Vor- 
schläge ebenso wie die der meisten anderen, die sich heute aut diesem 
Gebiete schriftstellerisch betätigen, lediglich damit beschäftigen, wie der 
vorhandene Güterertrag verteilt werden soll. Sicherlich spielt für das 
Volkwachstum auch die Art der Güterverteilung eine Rolle, aber ent- 
scheidender ist die Menge dessen, was verteilt werden kann, und diese 
wird in ihrer Größe dadurch nicht berührt, daß man ihre Verteilung 
ändert. Aufgabe einer deutschen Bevölkerungspolitik im Sinne des 
Verfassers ist es natürlich, dem Nahrungsspielraum der deutschen 
Volkswirtschaft entsprechend auch die Volkszahl zu vergrößern; wir 
dürfen aber nicht vergessen, daß es noch wichtiger ist, auf Mittel und 
Wege zu sinnen, um jenen, als die unentbehrliche Voraussetzung stei- 
genden Volkswachstums, selbst auszuweiten. (P. Mombert.) 


Rosenihal, M., Die Volkserneuerung und der 
Krieg. Geburtenpolitik und Kinderfürsorge. Existenzfragen des 
deutschen Volkes. 2. Auflage. Breslau 1915. Preuß und Jünger 75 Pf. 
8° 43 S. 

Die vorliegende Schrift ist hinsichtlich der wichtigen Zusammen- 
hänge zwischen Wirtschaft und Bevölkerung sehr vorsichtig abgefaßt. 
Ueber das Maß des wünschenswerten Bevölkerungszuwachses sagt der 
Verfasser: »Es ist klar, daß der wünschenswerte Zustand in der Regel 
der eines stetigen, aber begrenzten, den Erfordernissen der Ernährung 
und des Fortkommens, ebenso denen der nationalen Wehrkraft und 
darüber hinaus den Möglichkeiten der Aufwärtsentwicklung ange- 
paßten Anwachsens der Bevölkerung sein wird«. 
Auf der gleichen Seite (S. 10) heißt es dann weiter: »Ein solcher Geburten- 
überschuß von I3—14°%, könnte unter normalen Verhält- 
nissen vielleicht — sichere Grundlagen fehlen ja für die Beurteilung 
— als der wünschenswerte bezeichnet werden.« Der Vf. sieht also, 
so fasse ich diese Ausführungen auf, daß bei weiterem Volkswachstum 
auch eine Aenderung der wirtschaftlichen Voraussetzungen in verschie- 
dener Hinsicht erfolgen muß. Trotzdem wird auch in dieser Schrift 
diese wichtige Frage durchaus vernachlässigt. 

Des weiteren geht R. zunächst auf den neuzeitlichen Geburten- 
rückgang ein. Seine bedenkliche Seite will er dadurch illustrieren, daß 
er berechnet, daß bei Erhaltung der Fruchtbarkeit von 1870—80 
in den ersten 14 Jahren dieses Jahrhundertsrund 7 Millionen deutscher 
Kinder mehr hätten geboren werden müssen, als tatsächlich geboren 
wurden. Diese Entwicklung der Geburten hat zunächst gar nichts mit 
dem Volkswachstum zu tun; denn er vernachlässigt es ganz, wie hoch 
Sterblichkeit und Wanderverlust in Deutschland gewesen wären, wenn 
wir wirklich in den ersten I4 Jahren des neuen Jahrhunderts die Ge- 
burtenziffer der Jahre 1871—80 gehabt hätten. 

Welchen Wert solche Berechnungen, welche die einzelnen Teile 


der Bevölkerungsbewegung willkürlich auseinanderreißen, haben, zeigt 


folgende kleine Aufstellung. 
Es betrug in Deutschland: 
Im Durchschnitt die Geburten- der Geburtenübers:chuß die Volkszu- 
der Jahre ziffer 9 /, Absolut Er nahme % 
1871—80 41,65 ' IIL 034 11,9 1,03 
I9g0I—IO 34,02 866 338 14,3 1,41 


-&.— . 


7. Bevölkerungswesen. 265 


Ein weiterer Teil der Schrift beschäftigt sich mit den positiven 
Mitteln, das deutsche Volkswachstum zu fördern, d. h. vornehmlich 
dem drohenden Geburtenrückgang entgegenzutreten und durch einen 
ausgedehnten Kinderschutz die Säuglingssterblichkeit weiter zu 
mindern. Neben mancherlei kleineren Hilfsmitteln wird vorgeschlagen, 
einen Teil der Kinderaufzugskosten auf die Allgemeinheit zu über- 
nehmen, und zwar in der Form, daß in der Regel Kinderrenten an die 
Eltern zu gewähren sind. Die Kosten werden auf etwa I Milliarde Mark 
geschätzt. Auch hier muß das gleiche gesagt werden, wie bei der oben 
besprochenen Schrift von Paull. Gesetzgeberisch und finanztechnisch 
ist ein solcher Vorschlag wohl durchführbar; haben wir aber zu seiner 
erfolgreichen Ausgestaltung die notwendigen ökonomischen Voraus- 
setzungen? Darüber macht sich der. Verfasser keinerlei Gedanken, 
daß weder durch Kinderrenten und Elternpensionen der Nahrungs- 
spielraum der deutschen Volkswirtschaft in seiner Gesamtheit grund- 
sätzlich gesteigert werden kann. Und trotzdem muß man auch daran 
denken, wenn, um nur ein Beispiel hervorzuheben, man verhüten 
will, daß das Mehr an Geburten, das vielleicht mit solchen Mitteln 
alt wird, nicht durch ein Mehr von Auswanderung verloren gehen 
soll. 

Es isẹ keine dankbare Aufgabe, gerade jetzt, solchen Autoren, 
die mit großer Liebe und Begeisterung an dieses wichtige Problem 
herangehen, Wasser in ihren Wein zu gießen, zumal noch dann, wenn 
man sich in dem Ziele mit ihnen völlig einig ist. Aber diesem und der 
Sache ist mehr damit gedient, wenn man auf die Schwierigkeiten des 
Problems hinweist, und damit dazu beiträgt, zu verhüten, daß die 
Wirksamkeit solcher Maßnahmen überschätzt wird. Denn 

»Nah beieinander wohnen die Gedanken, 
Doch hart im Raum stoßen sich die Sachen.« 1 
(P. Mombert.) 


Widerdie Kinderscheu. Herausgegeben von der Vereinigung 
für Familienwohl im Regierungsbezirk Düsseldorf. Düsseldorf ıg16, 
Kommissionsverlag von Schmitz und Olbertz. 8°. 75 S. 50 Pfg. 

* In Düsseldorf ist eine Vereinigung für Familienwohl ins Leben 
gerufen worden, deren Hauptziel die Bekämpfung des Geburtenrück- 
ganges auf den allerverschiedensten Wegen ist. Das vorliegende Heft 
enthält drei Vorträge von Bornträger, Most und Fuhrmann über die 
Frage des Geburtenrückganges, die in der Gründungsversammlung 
stattgefunden haben. Irgend etwas Neues gegenüber der bisherigen 
wissenschaftlichen Literatur bringen diese Vorträge nicht, bei ihrem 
Zweck einen großen Personenkreis in diese Frage einzuführen, war dies 
ja auch nicht möglich. Im einzelnen muß man manche Fragezeichen 
hinter diese Darlegungen machen, wenn man auch ihrer Grundtendenz, 
einer Förderung des Volkswachstums, durchaus zustimmen kann. 
So fehlen! bei allen Vorträgen Erörterungen über die so überaus wichtige 
Frage zwischen Nahrungsspielraum und Volkswachstum. So ganz un- 
Techthat Malthusdoch nicht, auch nicht für unsere heutige Zeit, wie Most 
Z. B. annimmt. Auch die statistische Seite der Frage wird z. T. recht 
unvollkommen behandelt; ich weise nur darauf hin, daß S. 41 Fuhr- 
mann davon spricht, daß noch vor wenigen Jahren das deutsche 
Volkswachstum jährlich mehr als eine Million betragen habe. Wann 
solle denn dieses der Fall gewesen sein? Niemals: Doch ich will mit 


266 . Literatur-Anzeiger. 


den Verfassern nicht über strittige Einzelheiten rechten, sonst wäre noch 
recht vieles und nicht unwichtiges zu sagen; sie wollten einen großen 
Personenkreis für eine gute Sache begeistern und dabei ist eben die wis- 
senschaftliche Seite der Frage etwas zu kurz gekommen. 

- (P. Mombert.) 


8. Statistik. 


Fischer, R: Beiträge zu einer Statistik der deut- 
schenLenrerschaft. Schriften der Zentralstelle des deutschen 
Lehrervereins H. 4. Leipzig 1916, Julius Klinkhardt. 4%. 46 S. 

Wir haben es in der vorliegenden sehr anerkennenswerten Unter- 
suchung mit einer Schrift zu tun, deren Bedeutung erheblich über die 
eigentlichen Interessen des Lehrerstandes hinausgeht. Sie ist, um nur 
das eine, das ja heute im Mittelpunkt der öffentlichen Erörterungen 
steht, hervorzuheben, geeignet, mancherlei bevölkerungsstatistische 
und bevölkerungspolitische Fragen klären zu helfen. Es kommen hier- 
für vor allem die Abschnitte über den Geburtsort der Lehrer, ihren 

Familienstand, ihr Verehelichungsalter und die Zahl der Kinder in 

Frage. Es sind vor allem die Unterschiede nach Stadt und Land, und 

dort wieder nach Ortsgrößenklassen, die deutlich in die Erscheinung 

treten. Freilich wäre es möglich gewesen, durch noch weilergehende 

Kombinationen, so vor allem mit dem Alter, der Ehedauer usf. 

diese Ergebnisse noch reichhaltiger zu gestalten. Für die Bearbeitung 

standen insgesamt I49 172 eingegangene Fragekarten zur Verfügung. 
(P. Mombert.) 


9. Soziale Zustandsschilderungen. 
10. Agrarwesen, Landarbeiterwesen. 


11. Gewerbliche Technik und Gewerbepolitik. 


12. Kartellwesen, Unternehmerorganisation. 


13. Gewerbl. Arbeiterfrage, Arbeitsmarkt. 


14. Arbeiterschutz. a 


Winkelmann, Dr. Käte: Gesundheitliche Schädi- 
gungen der Frau beider industriellen Arbeit unter besonderer 
Berücksichtigung einiger Betriebe. Zugleich 71. Bd. der Sammlung 
nationalökonomischer und statistischer Abhandlungen des staats- 
wissenschaftlichen Seminars zu Halle a. S. herausgeg. v. Dr. J. 
Konrad. Jena 1914, Gustav Fischer. 95 S. Mk. 2.50. 

Verfasserin gibt unter Benützung der deutschen, schweizerischen, 
österreichischen und englischen Literatur ein gutes Bild der gesund- 
heitlichen Schädigungen der Frau bei gewerblicher Arbeit. Doch 
kann Referent nicht umhin darauf hinzuweisen, daß es ganz ungerecht- 


14, Arbeiterschutz, 267 


fertigt ist, wenn, wie es auch schon früher von anderer Seite geschehen, 
bei derartigen Darstellungen den spezifischen Gewerbekrankheiten, ins- 
besondere den gewerblichen Vergiftungen eine so ausführliche Darstel- 
lunggewidmet wird (von 54 Seiten 26!). Wird dann noch an einer Stelle 
behauptet, daß den gewerblichen Giften »der gewaltige Anteil der Säug- 
lingssterblichkeit und die vielen Fehlgeburten in diesen Schichten, 
wie auch die Zahl der siechen und elenden Kinder zuzuschreiben« 
sei, so zeigt dies von einer ganz gewaltigen Ueberschätzung der Be- 
deutung der gewerblichen Gifte durch die Verfasserin. Ein Vergleich 
der von ihr selbst angeführten giftgefährlichen Verrichtungen mit der 
Gesamtzahl der industriell tätigen Frauen hätte ihr zeigen müssen, 
daß wohl nicht mehr als höchstens 5%, der letzteren gewerblichen 
Giften ausgesetzt sind. Das Studium der Gewerbekrankheiten ist 
gewiß von großem Interesse und ihre Bekämpfung mit allen Mitteln 
notwendig — aber Ref., der selbst Monographien über gewerbliche 
Erkrankungen hat erscheinen lassen, glaubt, daß der Sache des Ar- 
beiterschutzes, speziell des Schutzes der Frauen, damit nicht gedient 
wird, daß für die große Masse unwichtiges allzusehr in den Vorder- 
grund geschoben wird. Uebrigens bringt die Verf. auch über die 
anderen der Gesundheit der gewerblich tätigen Frau drohenden Ge- 
fahren interessante Angaben; auch vielem von dem, was sie zur Kritik 
der Krankenkassenstatistik sagt, muß beigestimmt werden. 
(L. Teleky.) 


Wittlmayer, Privatdoz. Dr. Leo: Oesterreichische 
Arbeiierschutizgeseitzgebung vom Standpunkte der 
Unfallverhütung. Vortrag gehalten in der »Freien Vereinigung für 
Staatswissenschaftliche Fortbildung«. Wien und Leipzig 1914, Paul 
ao Separatabdruck a. » Juristische Blätter« 1914. 39 Seiten. 

. 1.40. 

Verf. gibt einegut abgerundete, knappe Darstellung der österreichi- 
schen Arbeiterschutzgesetzgebung, soweit sie sich auf den gesundheit- 
lichen Arbeiterschutz bezieht mit besonderer Berücksichtigung der 
Gesetzestechnik, der Darlegung der Kompetenzen und des für die Er- 
lassung von Verordnungen vorgeschriebenen Vorganges. Verf. enthält 
sich fast jeder Kritik, weist nur mit leichter Ironie auf einzelne be- 
sondere Schwerfälligkeiten hin, so auf die Bestimmung, daß vor 
Erlaß einer Arbeiterschutzverordnung das Handelsministerium außer 
seinen Fachbeiräten (Unfallverhütungskommission, Arbeitsbeirat, 
Industrie- und Gewerberat) noch die 29 Handelskammern hören 
muß, während bei Bestimmung des sanitären Maximalarbeitstages 
für eine Gewerbekategorie das Gesamtministerium die Verordnung 
zu erlassen und außer den genannten Korporationen noch die In- 
teressentenverbände zu hören hat. (L. Teleky.) 


15. Versicherungswesen (bes. Arbeiterversicherung). 


16. Gewerkvereine und Tarifwesen. 


268 Literatur-Anzeiger. - 
17. Allg. Sczialpolitik und Mittelstandsfrage. 


Kraus, Dr. Siegfried: Die Kriegsinvaliden und 
der Staat. 5. umgearbeitete Auflage. München 1915, Ernst 
Reinhardt. 64 S. z 

Die vorliegende Broschüre beschäftigt sich mit all den Fragen, 
die in der heutigen Praxis der Kriegsbeschädigtenfürsorge aufge- 
taucht sind und gibt in Kürze eine gute Orientierung über ihre Aufgaben 
und Ziele. — Der Verfasser fordert vom Staate, seinen Kriegsinvaliden 
in dem höchst erreichbaren Maße dazu zu verhelfen, wieder tätige 
Mitglieder der Gesellschaft zu werden, einmal um der Dankespflicht der 
Nation gegen die Kriegsteilnehmer Ausdruck zu verleihen und um 
andererseits der deutchen Volkswirtschaft das kostbare Kraftkapital 
zu erhalten. Die staatliche Fürsorge muß sich neben der Heil- und 
Rentenfürsorge auch vor allem auf die Arbeitsfürsorge erstrecken, die 
sich je nach der Art der Verwundung oder Krankheit des Invaliden, 
je nach Alter, Herkunft, Berufsbildung usw. für den einzelnen Fall in- 
dividuell gestaltet. Für den einen genügt die Berufsberatung, für andere 
kommt eine Berufsausbidung im ähnlichen Berufszweige in Frage, 
eine dritte Kategorie wiederum erfordert die Notwendigkeit einer Ar- 
beitsbeschaffung. 

Wie wichtig diese Vorsorge für die Zukunft ist, wird uns deutlich 
erst die Zeit nach dem Kriege lehren, wenn die gesunden Arbeits- 
kräfte zurückkehren und die Invaliden Gefahr laufen, durch sie ver- 
drängt zu werden! Es gilt also einen genauen Ueberblick darüber zu 
erlangen, wieviel Arbeitsgelegenheiten in den einzelnen Zweigen durch 
beschränkt Erwerbsfähige besetzt werden können und dann die nach 
ihrer Veranlagung und der Art ihrer Verwundung geeigneten Kräfte 
diesen Stellen zuzuführen. | 

Er befürwortet ferner die Bildung von Kriegsausschüssen in den 
einzelnen Arbeitszweigen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern als 
Weg zur planmäßigen Arbeitsversorgung der Invaliden, ähnlich wie 
wir sie in einigen Berufszweigen heute schon finden. Seine eindringliche 
Forderung zum Schluß der Broschüre geht dahin, die Mitwirkung 
-all der Kreise zu erzielen, denen die Invaliden angehören, sie in gleicher 
Weise zur tätigen Mithilfe heranzuziehen; nur ein ersprießliches Zu- 
sammenarbeiten aller Faktoren könne das gemeinsame ideale Ziel — die 
Erwerbsfähigkeit und die Erwerbsmöglichkeit der Kriegsbeschädigten 
er die Hebung ihrer sozialen und wirtschattlichen Lage — erreichen 

elfen. 

Manche Gedanken des Verfassers sind heute schon Wirklichkeit 
geworden; aber wir dürfen es uns nicht verhehlen, daß noch sehr viel 
Lücken in unserer Fürsorgearbeit vorhanden sind und daß wir darum 
Ursache haben, für jeden Besserungsvorschlag dankbar zu sein. . 

(Gerta Stücklen.) 


Mitteilungen des k.k. Minisieriums desInnern 
über Fürsorge für Kriegsbeschädigte. 

Es ist vorgesehen, die Mitteilungen des k. k. Ministeriums über 
die Kriegsbeschädigten in Oesterreich-Ungarn monatlich erscheinen 
zu lassen, um die daran beteiligten Kreise über alle laufenden Ereignisse, 
die staatlichen Maßnahmen, die Verfügungen der militärischen Behör- 
den, über die Wirksamkeit der mit der Kriegsinvalidenberatung be- 


n niia. 


Qmm 


ww” 


19. Handel und Verkehr. 269 


trauten Organe in Kenntnis zu setzen. Entsprechend der für die Mili- 
tär- und Zivilbehörde sich ergebenden Fürsorgetätigkeit gliedert sich 
der Stoff in 3 Abschnitte: Heilbehandlung und Heilstättenwesen, 
Invalidenunterricht, Arbeitsvermittlung. 

Solch ein einheitliches, von einer staatlichen Zentralstelle aus- 
gehendes Organ, dasüber die wichtigsten Bestrebungen orientiert, wird 
zweifellos von den einzelnen Fürsorgeorganisationen freudig begrüßt 
werden und ihre Arbeit wesentlich erleichtern helfen. Oestereich 
unterscheidet sich in dieser Beziehung von Deutschland. Für seine 
dezentralisierte Verwaltung der Kriegsbeschädigtenfürsorge ist keine 
Möglichkeit für ein einheitliches, staatliches Nachrichtenblatt gegeben. 

(Gerta Stücklen.) 


18. Privatbeamten- und Gehilfenfrage. 


ı9. Handel und Verkehr. 


v.der Leyen, Alfred, Wirklicher Geheimer Rat ord. Honorar- 
Professor an der Universität Berlin: Dte Eısenbahnpo- 
litik des Fürsten von Bismarck. Berlin, Julius 
Springer. XII, 256 S. Geh. 6.— Mk. 

Man hat bei der Betrachtung der in Europa zurückgalegten Ent- 
wicklung zum Staatsbahnsystem überall im Auge zu behalten, daß 
die allgemeinen wirtschaftlichen Gedankengänge der Regierungen 
und der mit ihnen arbeitenden Vertreter der öffentlichen Meinung 
nur neben den Anregungen herlaufen, die von den außerhalb der eigent- 
lichen Verkehrspolitik entstandenen Absichten ausgehen. Dement- 
sprechend darf man sich durch den Titel des hier besprochenen Buches 
nicht dazu verleiten lassen, in der »Eisenbahnpolitik« Bismarcks ein 
System zu suchen, in dem die Uebernahme durch »den« Staat jeder 
einzelnen Handlung ihren Ort in der Einheit der Gesamthandlung an- 
weist, die durch die innere Logik des Zweckes zusammengehalten wird. 
Es ist aus dem Buch v. der Leyens nicht deutlich zu ersehen, welche 
Rolle die neuentstandene Ideologie des Staatsozialismus in den ver- 
kehrspolitischen Handlungen Bismarcks gespielt hat, die sich in man- 
chen Formulierungen der mitgeteilten Denkschriften ausspricht. 
Im Kern seiner Pläne stand sie jedenfalls nicht; im Gegenteil erhielten 
diese ihre Richtung immer von dem Staat, aus dessen Entwicklung 
sie fördern sollten. So kommt es dann, daß die Grundsätze der Eisen- 
bahnpolitik, die von der Wissenschaft in den drei Typen des Staatsbetrie- 
bes, des Privatbetriebes und des gemischten Konkurrenzsystems um- 
schrieben worden sind, für B. niemals in dem Sinne maßgebend waren, 

er von ihnen aus eine Stellung zu konkreten Fragen gewonnen hätte. 
Am Anfang hatte er gar keine Gelegenheit, sich zu irgend einem wirt- 
schaftspolitischen Standpunkt zu bekennen. Bei seiner Haltung 
im ersten Vereinigten Landtag von 1847, auch bei Einzelfragen der 
späteren Zeit, tritt überall zunächst der Zweck, die politische Macht 
des Staates zu stärken — in einzelnen Fällen durch das militäri- 
sche Interesse zum Ausdruck gebracht — als Hauptbestimmungs- 
grund seiner Stellung hervor. Für jemanden, dem von Anfang an 
dasstaatliche ee im Mittelpunkt seines Handelns stand, 
war esselbstverständlich, daß der staatliche Gedanke sich immer klarer 


270 Literatur-Anzeiger. 


herausarbeitete und daß schließlich die Erklärung der konkreten »ver- 
kehrspolitischen« Handlung von den konkreten Aufgaben der staat- 
lichen Entwicklung aus zu gewinnen ist. Wer diesen Standpunkt 
nicht einnimmt, und das ist dem fachlichen Mitarbeiter B.s nicht 
ohne weiteres möglich, dem muß manches in B.s Eisenbahnpolitik 
sprunghaft oder unverständlich erscheinen. 

Die Möglichkeit selbständiger Verkehrspolitik von leitender Stelle 
aus war für B. mit der Gründung des Norddeutschen Bundes gegeben, 
innerhalb dessen ebenso wie später im Reich sofort seine zentralistische 
‘Politik die Richtlinie abgab und zwar zunächst in der Form des Schutzes 
der Verfassungsbestimmungen. In demselben Maße wie dann das 
Reich zu einem Organismus mit eigenem Leben heranwuchs, traten 
die Pläne zur Schaffung des Reichseisenbahnamtes, des Reichsei- 
senbahngesetzes und der Tarifvereinheitlichung und schließlich der 
Uebeinahme der Eisenbahnen durch das Reich hervor. Es leuchtet ein, 
daß für alle diese Fragen nur von der politischen Gesamtanschauung aus 
eine Entscheidung zu gewinnen ist, wenn sich auch z.B. in der Haltung 
gegenüber billigen Einheitstarifen Einflüsse rein wirtschaftspolitischer 
Gedanken feststellen lassen. Obwohl v. der Leyen es nicht mit Unrecht 
so darstellt, daß B. längere Zeit Anhänger des Konkuırenzsystem, ge- 
wesen und erst im Laufe seiner Reichseisenbahnaktion Anhänger des 
Staatsbetriebes geworden, ist doch nicht zu vergessen, daß Bismarck 
bereits im Jahre 1873 an mehrere Eventuallösungen seiner reichspoliti- 
schen Aufgaben denkt;er bedauert, daß der Staat nicht von Hause aus 
die größeren Verkehrslinien im Lande für staatliche Rechnung hat 
herstellen lassen. 

Noch stärker — den stärkeren Anforderungen der politischen 
Entwicklung entsprechend — kommt die Grundlage der Eisenbahn- 

olitik B.s in dem Zusammenhang zwischen der Tarifpolitik und der 

eurorientierung der Handelspolitik zum Ausdruck. Der Schutz der 
deutschen Produktion sollte durch eine gesetzliche Regelung der Tarife 
unterstützt werden. Wenn das auch nicht der einzige Grund war, der 
zum Entwurf des Tarifgesetzes führte, so spricht sich doch an diesem 
Punkte gerade dieser verkehrspolitischen Maßnahme deren gesamt- 
politische Grundlage in der Isolierung B.s gegenüber den verbündeten 
Regierungen, auch der preußischen, aus und in dem Gegensatz, der 
zwischen seiner reichspolitischen Einstellung und der einzelstaatlichen 
Politik der Bundesstaaten bestand. 

Der unzweifelhaft wichtigste von B.s Plänen hatte den Ueber- 
gang der Eisenbahnen an das Reich zum Inhalt. Der Gang der inter- 
ministeriellen und parlamentarischen Behandlung dieser Angelegenheit 
spiegelt die Dynamik bundes- und einzelstaatlicher Neigungen bei 
Regierungen und öffentlicher Meinung getreulich wieder. (In diesem 
Zusammenhang ist auf wichtige, hier zum Teil erstmals abgedruckte 
Aeußerungen preußischer Ressortminister hinzuweisen.) Daß Bismarck 
in diesem Punkt den schärfsten Mißerfolg seiner Eisenbahnpolitik 
erleben mußte, entsprach durchaus der politischen Gesamtlage. Es 
ist eine Umdrehung des Sachverhalts, wenn v. der Leyen zusammen- 
fassend feststellt, daß B. die »Zeitströmungen und die vorliegenden 
Verhältnisse benützt habe, und nachdem er sich durch wiederholte 
Versuche überzeugt habe, daßer gewisse Widerstände nicht überwinden 
könne, dann doch einen Weg gefunden habe, das ihm vorschwebende 
Ziel zu erreichen«. Das vorschwebende Ziel war nicht der Uebergang 


22. Geld-, Bank- und Börsenwesen. 271 


der Eisenbahnen an das Reich, an dessen Stelle dann subsidiär der Ueber- 
gang an Preußen trat, sondern die Bekämpfung eben der politischen 
Widerstände, die den Uebergang an das Reich vereitelten, also die 
Machtstärkung des Reiches. Daß Maybach dann in »föderalistische«a 
Bahnen einschwenkte, während B. mehr und mehr zurücktrat, läßt 
den Abschnitt in der Reichsgeschichte fühlen: nachdem das Reich allein 
nicht vorwärts kam — ganz besonders deutlich tritt in den Urkunden 
des Buches das Versagen der einzelstaatlichen Regierungen und Volks- 
vertretungen hervor— erhielt Preußen neueAnwartschaft auf die Führer- 
stellung. B., der schon in seinem Votum vom 9. März 1876 an die Ueber- 
nahme durch Preußen dachte, als er noch das »Gesetz wegen Ueber- 
tragung der Eigentums- und sonstigen Rechte des Staates an den 
Eisenbahnen auf das Reich« vorbereitete und als er noch ein zu starkes 
Hervortreten Preußens aus politischen Grühden zu vermeiden 
suchte, konnte die weitere Durchführung seinen Mitarbeitern über- 
lassen, nachdem er den Weg zur Erreichung seines Zieles, nämlich 
den Umweg über Preußen gefunden hatte. 

Das Buch v. der Leyens enthält manchen Hinweis auf die hier 
kurz umrissenen Zusammenhänge; seine zweite Hälfte enthält in der 
Form von Anlagen eine Reihe von Urkunden, die zum Teil noch 
nirgends veröffentlicht, zum Teil aber derart zerstreut waren, daß die 
Zusammenfassung und Darstellung durch einen ganz nahe beteiligten 
Kenner unter allen Umständen wertvoll ist. (Keck.) 


20. Privatwirtschaftslehre (Handelswissenschaft). 
21. Handels- und Kolonialpolitik. 


22. Geld-, Bank- und Börsenwesen. 


Deumer, Dr. R.: Der private Kriegskredii und 
seine Organisation. (Heft 1916 der Staats- und sozial- 
wissenschaftlichen Forschungen, herausgegeben von Gustav Schmol- 
ler und Max Sering) München und Leipzig 1916. Duncker und 
Humblot. 

‚ Deumer untersucht nicht nur die besonderen zur Befriedigung 
eines außerordentlichen Kreditbedürfnisses geschaffenen Kriegskredit- 

‚organisationen sondern auch die Mittel, welche dazu dienten, die be- 

stehenden Kreditverbindungen aufrecht zu erhalten. Er rechnet hiezu 

die Moratorien, die gerichtliche Stundung, die Zahlungsverbote, die 

Errichtung von Einigungsämtern für Mietzinsstreitigkeiten usw. 

Andererseits zählt er zu den Kreditorganisationen zur Befriedigung 

des Kriegskreditbedürfnisses nicht nur die besonderen Kriegskredit- 

organisalionen sondern auch die normalen Kreditquellen, soferne sie 
außerordentliche Erleichterangen gewährten. 

In diesem Sinne wird das individuelle Moratorium, die gerichtliche 
Bewilligung von Zahlungsfristen als eine besondere Art der Kriegs- 
kreditgewährung angesehen. Daß man in Deutschland ein allgemeines 
Moratorium vermieden habe, wird als besonderes Verdienst hervor- 
gehoben, dessen Bedeutung sich an der schwierigen Rechtslage und 


272 Literatur-Anzeiger. 


dem heiklen Abbau der österreichischen Moratorien erweise. Dem 
kraft Gesetzes und generell eintretenden Leistungsaufschub teilt Deu- 
mer den Rechtsschutz für Kriegsteilnehmer, das allgemeine Auslands- 
gegenmoratorium und die Zahlungsverbote zu. 

Die Kriegskreditkrisis läßt sich in drei Perioden sondern, von 
denen die erste die Tage bis zu der am 5. August 1914 erfolgten Er- 
öffnung der Kriegsdarlehenskassen, die zweite den August 1914 bis zur 
Errichtung der ersten Kriegskreditbanken und die dritte die Zeit bis 
Weihnachten 1914 umfaßt. Für einen späteren Zeitpunkt kommt eine 
Kriegskreditkrisis nicht in Betracht. Voraussichtlich wird nach Frie- 
densschluß ein besonderer Kreditbedarf namentlich bei den am Ueber- 
see-Geschäft beteiligten Handelsfirmen eintreten, deren Zahlungsver- 
pflichtungen nach Aufhebung der Moratorien und Zahlungsverbote 
aktuell werden. Einen großen Umfang unter diesen Verbindlichkeiten 
nehmen die deuschen Akzeptverbindlichkeiten bei englischen Banken 
ein. 

Deumer bemüht sich, einen besonderen Begriff des »Kriegskredites« 
zu finden, gibt aber zu, daß sich auch in der Praxis der Kriegskredit- 
organisationen trotz des häufigen Gebrauches dieses Ausdruckes eine 
feste Begriffsvorstellung hiefür nicht gebildet habe. 

Das tut aber der Sache wohl keinen Eintrag. Es liegt im Wesen 
einer normale Institutionen ergänzenden Organisation, die tunlichst 
überall dort einzugreifen hat, wo die anderen versagen, daß sich hiefür 
eine Begriffsumschreibung schwer geben läßt. Der Ausdruck »Kriegs- 
kredit« sollte vielleicht nichts anderes besagen, als daß während des 
Krieges an der betreffenden Stelle eine Kreditmöglichkeit vorhanden 
sei, ohne daß man sich programmatisch bemühen wollte, diesen Begriff 
abzustecken. Die im Buche zitierte Aeußerung der Kriegskreditbank 
München kennzeichnet denn auch zutreffend die Schwierigkeiten, 
den Begriff Kriegskredit zu formulieren, und erklärt seine Abgren- 
zung für sehr schwer, da man in jedem einzelnen Falle den Zusammen- 
hang mit den durch den Krieg geschaffenen Verhältnissen prüfen 
müsse. 

Ein eigentliches Kreditbedürfnis wird auch nach eingehenden 
Untersuchungen in größerem Umfang nur für die erste Kriegszeit 
behauptet werden dürfen. Und da hat es sich, wie wiederholt richtig 
bemerkt wurde, weniger um ein Kreditbedürfnis, als um eine Kredit- 
angst gehandelt. Als Grund des Kreditbedürfnisses werden insbesondere 
folgende Momente angeführt: das Verlangen vieler Lieferanten nach 
Barzahlung, insbesondere der durch Konventionen geeinigten Bran- 
chen, die Rückstellung von Kundenwechseln lange vor Fälligkeit mit 
mit dem gleichzeitigen Verlangen nach Barzahlung; der Druck, den 
auch gutsituierte Firmen auf ihre gewerblichen Lieferanten ausübten, 
um gegen Barzahlung Sondervorteile zu erwirken; die Weigerung 
weiter Kreise, Wechsel zu geben; die dadurch versperrte Geldbe- 
schaffungsmöglichkeit ; die anfängliche Zahlungslässigkeit der Behörden 
als Auftraggeber usw. Nur in der allerersten Zeit sind Banken und 
Kreditinstitute, aber auch Kreditgenossenschaften, selbst alten Kun- 
den gegenüber zurückhaltend, sie bleiben es durch längere Zeit hindurch 
gegenüber neuen Kreditwerbern, schaffen aber gleichzeitig in den 
Kriegskreditorganisationen Stellen für die Befriedigung eines neu 
auftretenden Kreditbedürfnisses. Vermerkt wird die ungefähr durch 
das erste halbe Kriegsjahr anhaltende Weigerung vieler Versicherungs- 


22. Geld-, Bank- und Börsenwesen, 273 


gesellschaften, Belehnungen von Lebensversicherungspolicen vorzu- 
nehmen. Die Kriegskreditbanken übernehmen diese Aufgabe. Als sehr 
wesentlich wird das durch den Krieg hervorgerufene Kreditbedürfnis 
der Exporteure bezeichnet. Soweit bekannt geworden, hat sich aber 
gerade dieser Berufszweig verhältnismäßig wenig an die Kriegskredit- 
banken gewendet. Partiell erfolgt eine Abhilfe durch die Gründung der 
Deutsch-Russischen Kriegskreditbank in Remscheid. Dieses Institut 
belehnt nicht nur deutsche Forderungen gegen russische Firmen, 
sondern will in weiterer Linie alle deutschen Gläubiger russischer 
Schuldner möglichst einheitlich zusammenfassen, um nach Kriegs- 
beendigung geschlossen vorgehen zu können. 

Vereinzelt wird das Kriegskreditbedürfnis der freien Berufe 
erwähnt, darauf abzielende Pläne werden aber nicht weiter verfolgt. 
An verschiedenen Orten wird Angehörigen freier Berufe im Anschlusse 
an die lokalen Kriegskreditorganisationen durch Personalkredite ge- 
holfen. Ueberwiegend bleiben aber die Kriegskreditbanken auf Han- 
del, Industrie und Gewerbe beschränkt. 

Der vom Autor bezeichnete Zweck der Kriegskreditorganisationen 
deckt sich nicht eigentlich mit dem ihnen bei ihrer Gründung gegebenen 
Programm, sondern eskomptiert schon die Erfahrungen ihrer Tätigkeit. 
In der Tat dienen die Kriegskreditorganisationen nicht nur der Be- 
friedigung des »vorübergehenden eigentlichen Kriegskreditbedürf- 
nissess und nicht nur zur Beschaffung von Kreditmitteln für die 
Uebergangszeit nach dem Frieden, so daß auch nach Kriegsbe- 
endigung mit einer längeren Existenzperiode zu rechnen sei, 
sondern auch »zur Ausnützung besonderer, vorübergehender Kriegs- 
konjunkturen durch bestimmte zur Produktion von Kriegsartikeln 
geeignete Gewerbe«. Dieser letztere Zweck hat sich erst aus der Praxis 
den ursprünglichen Absichten hinzugesellt, die man bei der Gründung 
der Kriegskreditbanken verfolgte. Er ist der Wirklichkeit sehr zutreffend 
abgelesen, lag aber wohl nicht ganz in den Gründungsabsichten. Denn 
Streng genommen wären für solche Kredite die normalen Kreditorgani- 
sationen in Betracht gekommen. Immerhin scheinen die Kriegskre- 
ditbanken vielen mittleren und kleineren Betrieben die Durchführung 
von Heereslieferungsaufträgen ermöglicht zu haben. Das ist ohne ein 
besonderes Einverständais zwischen den Kriegskreditbanken fast 
überall gleich intensiv geschehen. 

Die Begründung der Notwendigkeit außerordentlicher Kredit- 
organisationen in Kriegszeiten steigert Deumer zu einem »Recht auf 
Kredite. Ausgangspunkt ist das elementare, von dem einzelnen wirt- 
schaftenden Individuum unabwendbare Moment des Krieges, sind 
weiters die Folgen von Betriebseinstellungen, insbesondere die zu 
Kriegsbeginn so gefürchtete Arbeitslosigkeit und die große Wichtigkeit 
der Erhaltung produktiver Kräfte. Die Scheidung zwischen Kredit- 
würdigen und Kreditunwürdigen soll nicht allzu streng gezogen werden, 
da mit dem Schicksal des Kreditnehmers noch andere Einzelschicksale 
verknüpft sind. Würde man weniger kreditfähigen Elementen prin- 
zipiell die Kredithilfe versagen, so würden sie gänzlich zugrunde 
gehen und durch ihre Hilfs- und Unterstützungsbedürftigkeit das all- 
gemeine Kriegselend verschärfen. Ihr Anschluß an eine geeignete 
Kreditorganisation aber würde bei einem erheblichen Prozentsatz die 
Aussicht auf ihre wirtschaftliche Gesundung eröffnen. Dazu komme, 
daß essich ja nicht allein um die Betriebe sondern um alle die Personen 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 1. 18 


274 Literatur-Anzeiger. 


handle, die durch die Betriebe leben. Die Allgemeinheit würde durch 
Aufwendung von Beträgen für Kreditzwecke ärmer, aber man dürfe 
das tote Vermögen nicht zu Ungunsten der produktiven Tätigkeit 
überschätzen. Die Produktionsfaktoren dürfen nicht zu gewerblichem 
Müßiggange verdammt werden. Selbst eine Anleihe könne daher zur 
Beschaffung solcher Kreditmittel empfohlen werden. Eine Kontrolle 
über solche aus gewissermaßen öffentlichen Mitteln gewährte Kredite 
sei sehr wohl denkbar; man könne einen ratenweise liquid zu stellenden 
Kredit eröffnen, dessen jeweilige Belassung von der anhaltenden 
Vertrauenswürdigkeit des Kreditnehmers abhängig sei. Besonderes 
Gewicht wird auf die Unterstützung des kleineren Unternehmers 
gegenüber kapitalskräftigen Großunternehmern gelegt. In der Staats- 
hilfe wird keine Verletzung des Grundsatzes der Selbsthilfe erblickt. 

Eine richtige praktische Lösung dieser Fragen ist natürlich nur 
lokal und individuell möglich. Zweifellos müssen dem gewerblichen 
Mittelstand Kreditquellen im weitesten Maße erschlossen werden; für 
die Uebergangszeit in die Friedenswirtschaft ist darin ein Haupt- 
problem zu sehen. Wer aber kreditwürdig ist, wird immer nur nach 
Prüfung der Person und der Verhältnisse des Kreditwerbers richtig 
beurteilt werden können. Nur der solid Wirtschaftende kann ein Recht 
auf Kredit geltend machen. Die auch von Deumer gerügte Nachlässig- 
keit in der Rückerstattung von Darlehen, die aus öffentlichen Mitteln 
(Stiftungen, Fonds u. dgl.) gewährt werden, ist immer wieder zu be- 
obachten, desgleichen die im ganzen wenig kaufmännische Verwaltung 
dieser Darlehen. Vielleicht wäre es die glücklichste Lösung, wenn 
alle derartigen Kreditgewährungen geeigneten Kreditinstituten in 
Verwaltung gegeben würden, deren Aufgabe es wäre, aus Nutznießern 
öffentlicher Mittel mit der Zeit selbständige und gesunde Betriebe zu 
machen. Dieser Vorschlag ist, was er auf den ersten Blick nicht zu sein 
scheint, Kostensparend, denn die Verwaltung durch einen bürokrati- 
schen Apparat ist kostspieliger als ihre Mitbesorgung durch ein in ein- 
schlägigen Arbeiten gewandtes Kreditinstitut. 

Nur noch eine allgemeine Bemerkung. Die Praxis widerspricht der 
künstlichen Aufrechterhaltung von schwachen Unternehmungen. 
Die Erfahrung lehrt, daß in der Regel — man muß es trivial ausdrücken 
— faule Betriebe durch Kredite und Sanierungsversuche meist nicht 
weniger faul werden. Die Indisposition der Leitung ist nicht ku- 
rabel. Wer Gelegenheit hat, die Gebarung solcher Betriebe durch 
längere Zeit zu beobachten, dem wird sich trotz aller besten Vorsätze, 
möglichst zu helfen, möglichst wohlwollend und nachsichtig zu sein, 
die Erkenntnis aufdrängen, daß die Erhaltung von Unternehmungen 
bei mangelnder Fähigkeit des Unternehmers nicht im Interesse der 
Allgemeinheit gelegen ist. Eine innerlich nicht gerechtfertigte Selb- 
ständigkeit kann nicht künstlich aufrechterhalten werden. Und es ist 
volkswirtschaftlich ungesund, an ein solches Unternehmen andere 
Existenzen zu ketten. Damit ist keineswegs gesagt, daß der Be- 
troffene, dem der Kredit versagt werden muß, nicht der öffentlichen 
Unterstützung in Form der Arbeitsvermittlung bedürftig bleibt. Aber 
das Recht auf Selbständigkeit hat er verwirkt. 

Bei Besprechung der Organisation und Arbeitsweise der Kriegs- 
kreditbanken wird zunächst die für bestimmte Erwerbskreise gesondert 
erfolgte Befriedigung des Kriegskreditbedürfnisses, die Beschränkung 
der Kriegskreditbanken in Hamburg und Berlin auf Großindustrie und 


er -r 





- 2. 


32. Geid-, Bank- und Börsenwesen, 275 


Großhandel, die Gründung von zur Befriedigung des Kreditbedürfnisses 
kleingewerblicher Kreise bestimmten Hilfskassen geschildert. Mit Recht 
wird die Dezentralisierung der Kriegskreditorganisationen, deren Tätig- 
keit sich in der Regel auf einen örtlich beschränkten Kreis bezog, be- 
sonders hervorgehoben. Eine ordnungsgemäße Geschäftsführung, die 
.. der Kreditwürdigkeit und -fähigkeit ist ja anders nicht 
möglich. 

Weniger Bedeutung ist der von Deumer als besonderen Funktion be- 
zeichneten Stellung der Kriegskreditbanken alsZwischenorganisationen 
im Verhältnis zur Reichsbank beizumessen, zumal die Inanspruch- 
nahme der Reichsbank durch die Kriegskreditbanken eine sehr unbe- 
deutende war. Hier bietet die Theorie mehr Anlaß zur Betrachtung 
als die Wirklichkeit. 

Auch der Frage ist wohl nicht viel Gewicht beizumessen, welche 
Form für die Kriegskreditbanken zweckmäßig ist, die der Aktienge- 
sellschaft oder die der Genossenschaft. Richtig ist, daß auch die 
kapitalistisch geformte Kriegskreditorganisation starke genossen- 
schaftliche Elemente aufweist, deren Ausbildung aber keineswegs 
gehemmt sein muß, wenn die Bank als Aktiengesellschaft fungiert. 

Nach einer eingehenden Darstellung der inneren Organisation der 
Institute wird bei der Frage der Sicherstellung der Kredite festgehalten, 
daß dieanfängliche Auffassung, die Kriegskreditbanken seien Personal- 
kreditorganisationen, unzutretfend sei. Es frage sich allerdings, ob die 
Kriegskreditbanken die ihnen bestellten Sicherheiten jemals realisieren 
würden. Allerdings habe dies mit der Frage, ob Sicherheiten genommen 
werden sollen, nichts zu tun, weil vor allem die Erwägung maßgebend 
sei, daß die Kreditnehmer dienicht von den Kriegskreditbanken ver- 
langten Sicherstellungen sonst anderweitig ausnützen würden. Deumer 
zitiert eine interessante Bestimmung aus den Richtlinien für die Kredit- 
gewährung der Kriegshilfskasse in Hagen, worin es heißt, daB »man gege- 
benenfalls zu erreichen versuchen müsse, daß der Darlehensnehmer der 
Kriegshilfskasse gewisse Vermögensstücke verkaufe oder verpfände, 
damit nicht etwa später noch auftretende rücksichtslose Gläubiger 
die ganze Hilfsaktion vergeblich machen«. Für diese Frage läßt sich 
ein allgemeines Schema natürlich schwer finden und auch der Ver- 
fasser gibt zu, daß sich eine ganze Reihe von Satzungen über diesen 
Punkt nicht festgelegt haben, sondern sich gegenüber den konkreten 
Fällen freie Hand sichern wollen. 

Bei der Behandlung der Voraussetzungen der Krediterlangung 
und der formellen Erfordernisse meint Deumer, manche Kriegskredit- 
banken hätten mit Recht Kreditgesuche abgelehnt, wenn wesentliche 
Fragen der Antragsformulare verschwiegen oder unaufrichtig beant- 
wortet wurden. Er schlägt vor, noch weiter zu gehen und darin die ob- 
jektiven Tatbestandsmerkmale des Betruges zu erblicken. Diese Ent- 
gleisung ist nicht unverständlich, da viele Details im Aufbau der 
Kriegskreditorganisationen als zu ihrer Vervollständigung gehörig 
wiedergegeben werden, an denen die Praxis vielleicht vorübergeht. 
In aller Regel verläßt man sich ja ohnehin nie auf die einseitigen 
Angaben des Kreditwerbers. 

‚ Nach einer Darstellung der Tätigkeit der Kriegsdarlehenskassen 

in einem besonderen Abschnitte wird der durch die Kreditgenossen- 

schaften geübten Kriegskredithilfe eine eingehende Würdigung zuteil, 

Die Bewährung dieser Hilfe würde eine weitere Verdichtung des Ge- 
189 


276 Literatur-Anzeiger. 


nossenschaftsnetzes in Deutschland wünschenswert machen. Die 
wesentliche Geldquelle dieser Aktion erblickt Deumer in der Preußi- 
schen Zentralgenossenschaftskassa. Zur Inanspruchnahme der Zen- 
tralgenossenschaftskassa wurde in Berlin eine Handwerkerverbands- 
kassa Groß-Berlin mit einer Reihe von Kreditgenossenschaften der 
einzelnen Erwerbszweige gebildet, an denen sich auch die Innungen 
beteiligten. Diese Art der Kreditunterstützung von Genossenschaften 
stand und steht bekanntlich im Widerspruch zu den vom Allgemeinen 
deutschen Genossenschaftsverbande vertretenen Anschauungen der 
 genossenschaftlichen Selbsthilfe. Die Kritik dieser Kreise veranlaßt 
Deumer zur Gegenkritik der dem Verbande nahestehenden Kriegs- 
kreditkasse für den deutschen Mittelstand, die durch ihren durch die 
Garantien der Gemeinden gestützten Aufbau ebenfalls ein begriff- 
licher Vorstoß gegen die »Selbsthilfe« sei. Ein alter und wohl fruchtloser 
Streit. Es ist und bleibt eine reine Tatfrage, inwieweit der Boden der 
»Selbsthilfe« verlassen werden darf. Für die sich beim Uebergang in die 
Friedenswirtschaft ergebenden Kreditfragen wird die »Selbsthilfe« keine 
auskömmliche Lösung sein. 

Die Sonderaktionen für den Hausbesitz, die Stellen für Hypo- 
thekenbeleihung (die ebenfalls nur wenig Verwendung finden), die 
Mietdarlehenskassen, die Mieteinigungsämter usw., die vereinzelte 
Aktion für Exporteure durch die deutsch-russische Kriegskreditbank 


in Remscheid (von deren Tätigkeit bisher wenig Authentisches zu ver- ` 


nehmen war) und endlich die Kriegskreditorganisation des Versiche- 
rungswesens, die Bank deutscher Lebensversicherungsgesellschaften 
in Berlin, deren Geschäfte gleichfalls geringen Umfang hatten, finden 
eingehende Darstellung. 

Allerdings drängt sich bei der Lektüre des vielleicht allzu gründ- 
lichen Buches der Gedanke auf, daß ein zu großer Apparat für eine 
nicht genug bedeutungsvolle Sache in Bewegung gesetzt worden ist. 
Das gilt nicht nur von der verdienstvoll eingehenden Klarlegung der 
Kriegskreditorganisationen und ihrer Verfassung als insbesondere 
auch der Motive ihrer Entstehung, von der Zerlegung des Kriegskredit- 
bedürfnisses. In der Schilderung mehrt sich unwillkürlich das Ge- 
schilderte und gewinnt ein Aussehen, das esin Wirklichkeit doch nicht 
oder nichtin dem Maße gehabt hat, alses nach der Wiedergabe scheinen 
mag. In der Praxis der Kriegskreditbanken hat sich eine auch nur irgend- 
wie allgemeine, dringende Nachfrage nicht gezeigt. Es hat 
dem Kreditbegehren, das zutage getreten ist, an bestimmt ausgesproche- 
nen Symptomen oder an einem Krisenmoment durchaus geman- 
gelt. Ebensowenig hat sich eine ganz besondere Notlage irgend einer be- 
stimmten Gruppe ergeben, die ohne Kriegskredithilfe katastrophalen 
Zufällen ausgesetzt gewesen wäre. Damit ist natürlich nicht gesagt, 
daß die Kriegskreditorganisationen nicht in den Fällen, in denen sie 
intervenierten, zweckentsprechend geholien haben, und daß es tür diese 
Fälle einen anderen Ausweg gegeben hätte, aber es hat das Moment 
derKrise gefehlt und es ließen sich nicht einmal die Ansätze zu einer 
Massenerscheinung feststellen. 

Die erste Kriegszeit hätte vermutlich den Kriegskreditbanken, 
würden sie damals schon vollständig gearbeitet haben, den meisten 
Anlaß zu einem Eingreifen geboten. Ob die daraus entspringenden 
Kreditverbindungen von Dauer gewesen wären, mag dahingestellt 
bleiben, obwohl man ein gewisses Beharrungsvermögen gerade der 





23. Genossenschaftswesen. 277 


solideren Kundschaft nicht unterschätzen darf, das bei einigem Ent- 
gegenkommen leicht zu einer dauernden Kreditverbindung führt. Es 
wäre den Kreditnehmern von ihrem Standpunkte aus ziemlich gleich- 
gültig geblieben, wenn sie mit der Kriegskreditbank einmal in Ver- 
bindung gekommen wären, daß sie den Kredit späterhin ebenso gut bei 
einer regulären Stelle hätten erlangen können. Indessen sind die 
Kriegskreditbanken gerade in dieser kritischen Zeit noch nicht am 
Platze gewesen und erst in einem Momente wesentlicher Beruhigung 
hat ihre Tätigkeit begonnen. Von Oesterreich gilt das noch viel mehr 
als von Deutschland. Die österreichischen Kriegskreditorganisationen 
sind ihrer Gründung nach den deutschen gegenüber um 2—3 Monate 
zurück und haben daher weit weniger Kriegskreditbedürftigkeit vor- 
vorgefunden als die deutschen Schwesterorganisationen. Der Jahres- 
bericht 1915 der Berliner Kriegskreditbank spricht das Gleiche aus, 
indem er den Hauptstock der Kredite des Institutes auf die erste 
Tätigkeitszeit der Bank zurückverlegt und auf den relativ geringen Zu- 
wachs der Folgezeit verweist. 

Dieser Umstand ist auch für die Zusammensetzung der Klientel 
der Kriegskreditbanken entscheidend gewesen. Denn nach Abflauen 
der ersten Erregung waren es vorwiegend schwächere Elemente, schon 
in Friedenszeiten bei Kreditinstituten als Wandergäste bekannt, die 
von der Kriegskreditbank ein besonderes Entgegenkommen erwarteten. 
Angesehenere Firmen scheuten sich, die Kriegskreditbanken in Anspruch 
zu nehmen — wiewohl es auch hier bemerkenswerte Ausnahmen gab — 
weil sie darin eine mit der kaufmännischen Reputation nicht recht zu 
vereinbarende Inanspruchnahme einer Hiltsaktion erblickten. Daß 
Solche Erwägungen durchdringen konnten, dazu mußte die Situation 
entsprechend abgekühlt sein, wie dies immerhin im zweiten und dritten 
Kriegsmonat schon der Fall war. (Max Sokal.) 


23. Genossenschaftswesen. 


Deumer, Dr. R: Kriegsinvaliden-Gesellschaften. 
Die wirtschaftliche Versorgung der Kriegsinvaliden auf gewerb- 
lichem und industriellem Gebiete. Ein neues Genossenschaftspro- 
gramm. München und Leipzig 1915. Duncker u. Humblot. 49 S. 


Die vorliegende Schrift beschäftigt sich mit der Frage der wirt- 
schaftlichen Versorgung der Kriegsinvaliden. Sie gliedert sich in zwei 
Teile: der eine enthält eine Warnung an alle diejenigen, die eine Lösung 
des Berufsversorgungsproblems schon darin sehen, wenn die Kriegs- 
beschädigten nach Absolvierung ihres Heilverfahrens im Besitz einer 
Rente wieder dem Konkurrenzkampf auf dem Arbeitsmarkt mit ge- 
sunden, kräftigen Bewerbern ausgesetzt werden; der andere versucht 
ein System der wirtschaftlichen Versorgung unserer Kriegsinvaliden 
zu entwickeln. 

Der Verfasser sieht den Kernpunkt aller Fragen in der Schaffung 
ausreichender Arbeitsgelegenheit. Werden die Arbeitgeber immer 
geneigt sein, Kriegsbeschädigte in ihren Betrieb aufzunehmen, auch 
auf die Gefahr hin, daß die Besetzung mit nicht ganz vollwertigen 
und darum unrentablen Arbeitskräften eine Schwächung im Konkur- 
tenzkampf für sie bedeuten würde ? Und werden selbst bei dem besten 


273 Literatur-Anzeiger. 


‚Willen des Unternehmers die arbeitgebenden Betriebe nicht von den 
Wechselfällen der Konjunktur abhängig sein? Mit ihr ist aber das 
Beschäftigungsschicksal der Kriegsinvaliden aufs engste verbunden. 

Eine Lösung der Frage findet Dr. Deumer, der in weiten Kreisen 
bekannte Fachmann auf dem Gebiet des Genossenschaftswesens, in 
der Gründung von Kriegsinvalidengesellschaften. All die Fehler der 
früheren Arbeiterproduktivgenossenschaften sollen dabei vermie- 
den werden. Die Vielheit der Kriegsbeschädigten wird in Gruppen 
von zwei- bis dreihundert Personen geteilt und nach dem Grundsatz 
der Vereinigung von Funktionen, die der eine Invalide besitzt, ein 
anderer entbehrt, wird sinngemäß und zweckentsprechend eine Ar- 
beitseinheit mit dem Ziel einer gemeinschaftlichen Produktion ge- 
schaffen. Eine finanziell günstige Ausgestaltung ist wegen der Renten- 
qualifikation der beitretenden Kriegsinvaliden praktisch möglich. Wenn 
jeder einzelne Rentenempfänger nur einen ganz geringen Teil seiner 
Rente als Entgelt für die Gewährung einer sicheren Arbeitsstätte und 
für die ev. anzugliedernde Lebensmittel- und Wohnungsversorgung 
dem Unternehmer zur Verfügung stellt, so wird damit ein Kapital ge- 
sichert, das den jährlichen Zinsendienst eines dem Unternehmen 
staatsseitig gewährten Anlage- und Betriebskapitals bei 5% Verzin- 
sung wahrnehmen könnte. 

Es wäre dringend zu wünschen, daß die sehr beachtenswerte Schrift 
den maßgebenden Fürsorgeorganisationen Anregungen zu Maßnah- 
men in der vorgezeichneten Richtung geben würde. Die Einwände, 
die man bisher gegen den Gedanken der Invalidengesellschaften ge- 
macht hat, indem man z. B. Schwierigkeiten in der Häufung von 
Kriegsbeschädigten in einem Unternehmen erblickte, scheinen mir doch 
geringfügig gegenüber den Gefahren, denen die Invaliden im rücksichts- 
losen Arbeitskonkurrenzkampf ausgesetzt wären. 

(Gerta Stücklen.) 


24. Finanz- und Steuerwesen. 


v.Eheberg,KarlTheodor: Finanzwissenschaft.1ı3. 
“verbesserte Auflage. Leipzig I9I5, A. Deichert Verlagsbuchhand- 
lung Werner Scholl. VIII. und 629 S. Preis Mk. 9.60, geb. Mk. IL. —. 
Neben dem Lehrbuch von Conrad deckt das Ehebergsche Werk 
über Finanzwissenschaft das Hauptbedürfnis der Studierenden, die 
ein mittelgroßes Buch zur Einführung in die Finanzfragen suchen. 
Die svstematische Anordnung und eine sehr klare Darstellung haben 
dem Werke mit Recht zum Erfolg verholfen, das mehr eine übersicht- 
liche Verarbeitung der Tatsachen als eine Einführung in die Probleme 
darstellt, aber durch seine Anlage doch nicht dazu beitragen kann, das 
Vorurteil der Studenten zu zerstreuen, daß die Einanzwissenschatt 
der wenigst anziehende Teil der Staatswissenschaften sei. — Diese 
Vorstellung wird sich nur beseitigen lassen, wenn man weit stärker 
das politische Element berücksichtigt, wenn man die Größe und Art 
der steuerlichen Hingabe mehr als Produkt politischer Weltanschau- 
ungen oder als Kompromiß zwischen sich bekämpfenden Steueridealen 
erfaßt. Wenn Eheberg sich entschlösse, die Fülle des Materials, das 
uns das Buch wertvoll macht, wenigstens für Deutschland und England 
etwas mehr in Beziehung zu den heißen Kämpfen zu setzen. die um 
Finanzen ausgefochten werden, so würde sein Werk erheblich gewinnen, 





24. Finanz- und Steuerwesen. 279 


Von einer bestimmten Stelle an wird das rein Tatsächliche doch zu 
viel, um dem Studierenden als Wissensstoff nahegebracht zu wer- 
den. Die Enttäuschung, in einem erst Ende 1915 veröffentlichten 
Werk nichts von Kriegsfinanzen zu finden, darf man dem Autor nicht 
zur Schuld schreiben, da er, laut Vorrede, durch dıe Dauer der Druck- 
legung daran verhindert war, diese zu behandeln. Ein Nachtrag wird 
in Aussicht gestellt. (Altmann.) 


Tangorra, Vincenzo, Professore ordinario nella R. Uni- 
versita di Pisa: Trattiato di Scienza della Finanza. 
Volume Primo Società Editrice Libraria. Milano 1915. XXX und 
884 S. 

Dieses große Werk ist Panialeoni, Viti de Marco und dem Andenken 

Nego Mazzolas gewidmet, es ist aber doch bei aller Selbständigkeit 

auch zugleich ein Denkmal der Dankespflicht, welche die italienische 

Finanzwissenschaft der deutschen staats- und finanzwissenschaft- 

lichen Arbeit schuldet, deren Vertreter in dem Buche ausgiebig zitiert 

und gewürdigt werden. Das Werk, von dem bisher der I. Band vor: 
liegt, bringt eine außerordentlich gründliche Behandlung der Finanz- 
wissenschaft. — Der vorliegende Band zerfällt in 7 Haupitabschnitte. 
ïi. Buch: Allgemeine Lehre von den ölfentiichen Finanzen. 2. Buch: 

Die öffentlichen Ausgaben. 3. Buch: Dic öffentlichen Einnahmen im 

allgemeinen. 4. Buch: Privatwirtschaftliche oder ursprüngliche Staats- 

einnahmen. 5. Buch: Gemischte Einnahmen. (u.a. Post, Eisenbahn, 

Chininverkauf, Münzwesen). 6. Buch: Taxen (Gebühren und spezielle 

Abgaben). 7. Buch: Allgemeine Steuerlehre. — Tangorra definiert »die 

Finanzwissenschaft als die Wissenschaft, »welche die natürlichen Ge- 

setze der Finanztätigkeit erforscht, d.h. die allgemeinen, dauernden und 

notwendigen Ursachen der Erscheinungsformen jener Tätigkeit unter- 
sucht, um die natürlichen Gesetze, denen jene gehorchen, zu bestimmen, 
sowie ferner die Wertungen dieser Tätigkeit auf das öffentliche Vermö- 
gen und die Nationalwirtschaft aufzudecken«. Die sehr sorgfältige Glie- 
‚derung des Werkes: jedes Buch ist in Kapitel, diese wieder in Abschnitte 
und Paragraphen (793 Paragraphen) geteilt, macht die Uebersicht sehr 
leicht und ermöglicht es, trotzdem das Register erst dem Schluß des Gan- 
zen beigefügt werden soll, das Buch als Nachschlagwerk zu benutzen. 

Es wäre über das inhaltreiche Werk viel zu sagen, da es in vielen Teiln 

grundsätzliche Fragen aufwirft. Wenn der Verfasser indem überaus lehr- 

reichen Teil von den öffentlichen Ausgaben meint, daß die F i n an z- 

theorie die Art, Natur und Zahl der öffentlichen Bedürfnisse schlecht- 

hin binnehmen und sich darauf beschränken müsse, die besten 

Mittel für die Befriedigung und die Wirkung dieser Ausgaben zu unter- 

suchen, so kann man dem in dem Sinne beistimmen, daß nur dieser Teil 

reine Kausalzusammenhänze aufdeckt. Aber die rechtsphilosophuschen 
oder sozialen oder wirtschaftlichen kurzum politischen Motive können 
durchaus nicht aus dem Gebiet der Finanzwissenschaft entfernt 
werden, denn diese letzten weltanschaulichen Grundlagen bilden 
überall die Antriebe für die Wahl bestimmter (»bester«) Mittel und 
gerade in der Einsicht in diese historischen Zusammenhänge liegt 

m. E. die Möglichkeit, aus der Finanzwissenschaft eine Wissenschaft 

statt einer Kunst oder Technik werden zu lassen. Man vermag aber 

mit kurzen Andeutungen dieser großen Darstellung nicht gerecht zu 


280 Literatur-Anzeiger, 


werden, hier soll deshalb nur ein Hinweis auf diese Arbeit gegeben 
sein, deren Fortsetzung wir mit greßem Interesse entgegensehen. 
Altmann.) 


25. Städtewesen und Kommunalpolitik. 


—— 


26. Wohnungsfrage. 


27. Unterrichts- und Bildungswesen. 


28. Jugendfürsorge, Armenwesen und Wohlfahrtspflege. 


Sesffert, Willibald: Ratgeber für die Hinlier 
bliebenen der Kriegsteilnehmer. Eine kurzgefaßte 
Darstellung der Versorgungsansprüche mit Formularen für Anträge 
und einer Tabelle. Potsdam 1915. Stiftungsverlag. 24 S. Mk. —.40. 

Die kleine Schrift gibt eine kurz gefaßte Zusammenstellung der 
wichtigsten gesetzlichen Bestimmungen, die für die Hinterbliebenen 
der Kriegsteilnehmer in Frage kommen mit einer anschließenden 

Tabelle über die militärischen Versorgungsgebühmisse der Hinterblie- 

benen von Militärpersonen der Unterklassen. Sie wird durch ihre 

leichtverständliche Form in Frage und Antwort weiteren Kreisen von 

Nutzen sein. (Gerta Stücklen.) 


— 


29. Kriminologie, Strafrecht. 


30. Soziale Hygiene. 


Ewald, Dr. med. Walther: Soziale Medizin. Ein 
Lehrbuch für Aerzte, Studierende, Medizinal- und Verwaltungs- 
beamte, Sozialpolitiker, Behörden und Kommunen. II. Band. 
Mit 75 Textfiguren. Berlin 1914, J. Springer. 702 S. Mk. 26. 

Verf. hat dem I. Bande seines Werkes, der sich vorwiegend mit 
Epidemiologie, nicht mit sozialer Medizin oder Hygiene beschäftigte‘), 
nun einen JI. Band folgen lassen, der sich mit dem beschäftigt, 
wofür Ref. den Namen soziale Versicherungsmedizin : vorgeschlagen 
hat. Verf. gibt eine eingehende Darstellung der Sozialversicherung 
Deutschlands, ihrer Geschichte, ihrer gesetzlichen Grundlagen, bespricht 
die Begriffe Krankheit, Unfall und Invalidität, legt die Veränderungen 
in ihrer Häufigkeit und deren Ursachen sowie die für ihre Beurteilung 
maßgebenden Grundsätze dar, ohne dabei auf rein klinische Einzelheiten 
einzugehen. Besondere Kapitel behandeln Simulation und trauma- 
tische Neurose und die Arztirage. Eine eingehende Darstellung finden 
die Leistungen der einzelnen Versicherungszweige und ihre Organe. 
Eine besondere Darstellung erfährt das Knappschaftswesen, die Ver- 
sicherung der Seeleute, der Eisenbahner und die Angestelltenversiche- 
rung. 

Zu allen behandelten Gegenständen wird eine Fülle von Material 
beigebracht, auch alle Detailfragen werden eingehend behandelt. 


1) Vgl. die Besprechung des ersten Bandes in Bd. 33 (1911) S. 236. (A, d. R.) 


> > —e se a Bm un DUB E a A ee EB u» SE = EEE Sa S 





m mm on. 6:— 


30. Soziale Hygiene. 281 


Es ist bis heute kein Werk vorhanden, das in so vollkommener, so er- 

schöpfender Weise aen gewaltigen Bau der deutschen Sozialversiche- 

rung, alle bestehenden Einrichtungen, alle Beobachtungen und Erfahrun- 

gen zur Darstellung bringt, einen so klaren Einblick in alle auftauchenden 
Tagen gewährt wie das vorliegende. 

Deshalb kann das Werk allen im Titel genannten Personen und 
Behörden auf das allerwärmste empfohlen werden, und wird auch vielen 
bereits auf diesemGebiete Bewanderten deshalb von großem Nutzen sein, 
weil es die durch die Reichsversicherungsordnung geschaffenen Ver- 
hältnisse bespricht und stets die durch diese gegenüber den früheren 
Zuständen hervorgerufenen Aenderungen betont. 

Aus dem Gesamtrahmen des Buches fällt — schon seinem Gegen- 
stande nach — ein Kapitel »Der Arbeiterschutz und die Bekämpfung 
der Gewerbekrankheiten«, das in 20 Seiten in unvollständiger und sach- 
lich auch nicht einwandfreier Weise das genannte Thema behandelt. 

Natürlich vermag dieses Kapitel nicht den großen Wert des 
ausgezeichneten Werkes zu schmälern. (L. Teleky.) 


Kovacs, Alois, kgl. ungar. Ministerialsekretär: Die M orbi- 
dstat und Mortalität der Arbeiter in Ungarn. 
Schriften d. ungar. Vereinigung f. gewerblichen Arbeiterschutz. 
Heft 11. Jena 1914, G. Fischer. 25 S. Kr. 1.20. 

Wir erfahren in der kleinen Schrift von den Versuchen, die in 
Ungarn gemacht wurden, um Einblick in die Erkrankungs- und Sterb- 
lichkeitsverhältnisse der Bevölkerung zu gewinnen. Bei den Volks- 
zählungen 1880 und 1890 versuchte man von jeder einzelnen Person 
den etwaigen Krankheitszustand und dessen Dauer festzustellen, 
1,45% beziehungsweise 0,93% der Bevölkerung wurden als krank 
ermittelt. Jetzt stellt die Arbeiterkranken- und Unfallversicherungs- 
Landeskasse die Statistik der gesamten Arbeiterkrankenkassen des 
Landes zusammen. Ueber die Jahre 1898 und 1901 /2 liegen Zusam- 
menstellungen des statistischen Zentralamtes vor. Aus all diesen 
Quellen bringt Verf. einzelne Daten und Tabellen, wobei anerkennend 
hervorgehoben werden muß, daß Verf. auf die diesen Zahlen anhaften- 
den Fehler, auf die in der Erhebungs- und Berechnungsart begründeten 
Fehlerquellen aufmerksam macht, selbst auf die dadurch möglichen 
Trugschlüsse nd falschen Schlußfolgerungen hinweist, ihre Wirkun- 
gen an Beispielen darlegt. Dadurch gewinnt die kleine Schrift allge- 
meineres Interesse. Zu wünschen wäre nur, daß diejenigen, die die 
künftigen großen ungarischen Krankenkassenstatistiken zu organi- 
sieren und zu verarbeiten haben, sich einerseits an die anderwärts 
geübten Methoden anlehnen — die Berechnung der Tagesdurch- 
Schnittszahl der erwerbsunfähigen Kranken in Prozenten des durch- 
durchschnittlichen Mitgliederstandes erscheint wenig wertvoll, die 
Bezeichnung der Morbilitätsziffern (Zahl der auf r Mitglied entfallenden 
Krankheitstage) als Morbidität irreführend —, andererseits aus den 
anderwärts gemachten Erfahrungen lernen, z. B. alle Berechnungen 
nach Alter und Geschlecht getrennt durchführen, aber an sich be- 
deutungslose Zusammenstellungen (Prozentsatz der auf die einzelnen 

ankheitsgruppen entfallenden Sterbefälle nach der Gesamtzal.l 
der letzteren) unterlassen. 

Diese letzteren Bemerkungen gelten den Bearbeitern der offiziellen 
Statistik — nicht dem Verf., dessen vorliegende kleine Schrift jedem, der 


282 Literatur-Anzeiger. 


sich für Krankenkassenstatistik und deren Methodik interessiert, 
viel Interessantes bietet. (L. Teleky). 


Weygandt, Prof. Dr.phil. et med. W: Sozsale Lage und 
Gesundheit des Geistes und der Nerven. Würz- 
burger Abhandlungen a. d. Gesamtgebiet der praktischen Medizin. 
XIV. Bd. 6 /7. Heft. Würzburg 1914, Curt Kabitzsch. 42 S. M. 1.70. 

Verf. bespricht in allgemein verständlicher, leicht faßlicher Weise 
die Wechselbeziehungen zwischen Geistes- und Nervenkrankheiten 
einerseits, soziale Lage anderseits. Vorkommen und Bedeutung 
von erblicher Belastung, Alkoholismus, Syphilis in den einzelnen 
sozialen Schichten werden besprochen, die Folgen mangelhafter Kin- 
derpflege und -erziehung sowie der Schillerüberbürdung, die Einflüsse 
des Berufes und der sozialen Gesetzgebung erörtert, Daten über die Ko- 
sten, die die schlechten Rassenelemente dem Staat und der Gesell- 
schaft verursachen, werden beigebracht, zum Schlusse die Mittel 
und Wege zuı Besserung kurz besprechen. (L. Teleky.) 


ee a e 


31. Frauenfrage, Sexualethik. 








32. Staats- und Verwaltungsrecht. 


Krüger, Fritz Konrad: Government and Poli- 
tics of the German Empire. Yonkers on Hudson — 
New York 1915, »World Book Company«. XI und 340 Seiten. 

Zwei Professoren der kalifornischen Universität planen die Her- 
ausgabe einer Reihe von »Government Handbooks« über Verfassungs- 
recht und politische Zustände je eines modernen Staates. Das vor- 
liegende Bändchen ist das erste dieser »College text books«. Ein ande- 
res soll die deutschen Einzelstaaten behandeln. — 

Verf. hat lange genug in Deutschland gelebt und studiert, um in 
der Lage zu sein, eine zutreffende »Bürgerkunde« vom Deutschen Reiche 
zu geben und sie mit netten kleinen Charakteristiken des deutschen 
Volkes, der d. ausw. Politik, der 3 Kaiser und der 4 Kanzler zu be- 
leben. In der Tat ist das anspruchslose Kompendium sehr geschickt, 
ansprechend und gleichmäßig gearbeitet und wird auch seinen ausge- 
sprochenen Nebenzweck trefflich erfüllen können: der öffentlichen Mei- 
nung drüben ein besseres und sympathischeres Bild des Deutschen 
Reiches zu vermitteln, als es die ignorante amerikanische Presse 
kann und will. Was mir an kleinen Irrtümern auffiel, ist nicht der 
Re wert. Beachtenswert für uns ist die »Critical Bibliographies 

. 277309. 

Wenn die amerikanischen Studenten sich auf Grund dieses Buches 
ihre Ansichten über das Deutsche Staatsrecht bilden, so können wir’s 
wohl zufrieden sein und müssen gestehen, daß wir nicht in der Lage sind, 
unseren Studenten derartige gutgeschriebene erste Einführungen in 
Verfassung und Politik außerdeutscher Mächte in die Hand zu geben. 

(Richard Thoma.) 


33. Gewerbe-, Vereins- und Privatrecht. 


er 


34. Politik. 283 


34. Politik. 


Hashagen, Justus: England und Japan seii 
Schimonoseki. (Kriegshefte aus dem Industriebezirk 6. Heft.) 
Essen 1915. G. D. Baedeker. 115 S. 80 Pig. 

Ostasien war in den letzten Jahrzehnten einer der wichtigsten 
Schauplätze der englischen Weltpolitik und für die Kenntnis ihrer Me- 
thoden eine Hochschule ohne gleichen. Und zwar stellt der Umkreis die- 
serenglischen Interessen einmal eineWelt für sich dar,die gewaltige Rea- 
litäten begreift und noch gewaltigere Zukunftsmöglichkeiten umspannt; 
zugleich aber steht er in engster Wechselwirkung mit der allgemeinen 
(eurofäisch-amerikanischen) Orientierung der englischen Folitik, und 
dieser Zusammenhang scheint manchmal wohl von den ostasiatischen 
Problemen her bestimmt zu sein, häufiger noch wirkt er seinerseits ent- 
scheidend auf die immer im Fluß befindlichen Gruppierungen des 
fernen Ostens ein. Gerade die wechselseitige Verflechtung beider Motive 
macht das Schauspiel so spannend. Sie lehrt, wie unendlich kompliziert 
und feingesponnen, wie unablässig bewegt und labil das Netz aller der 
Beziehungen ist, dieder Deutsche, wenn er an auswärtige Politik dachte, 
sich in der Regel viel zu grobdrähtig und festliegend vorstellte. Das 
geringe politische Verständnis geistig hochstehender Kreise in Deutsch- 
land — selbst derer, die sich mit innerer Politik befaßten, von den In- 
tellektueilen ganz abgesehen — rührt doch daher, daß die meisten von 
einseitig inneren Gesichtspunkten, oder wenn sie das Auswärtige her- 
anzogen, von einseitig europäischen Orientierungen her sich zurecht- 
finden zu können glaubten. 

Hashagen gibt in die Entwicklung der anglo-japanischen Be- 
ziehungen, auf den Stufen der Verträge von 1902, 1905 und IQII eine 
mit gutem Urteil geschriebene (nur hin und wieder zu Wiederholungen 
neigende) Einführung, die durchaus empfohlen werden kann. Gerade 
die Abwandlung des Verhältnisses in der Veränderung der Front gegen 
Rußland und die Vereinigten Staaten kommt vortrefflich zum Aus- 
druck: man fühlt, daß gerade hier immer an den Nerv der englischen 
Gesamtpolitik gerührt wird. Nur an einzelnen Stellen scheint mir die 
Bewertung zu sehr unter dem Eindruck publizistischer Niederschläge 
des Augenblicks (bei den englischen Monatsschriften ist die Parteistel- 
lung nicht außer acht zu lassen!) zu stehen. Vielleicht würde eine 
wirtschaftlich-geographische Zusammenfassung der englischen Inter- 
essen in Ostasien der Darstellung des diplomatischen Spiels noch 
ein Stärkeres Rückgrat verliehen haben. 

Zu dem Satze S. 23 über den deutsch-englischen Yangtse-Ver- 
trag vom 16. Oktober 1900: »Die Spitze des Vertrages scheint sich 
insofern gegen Rußland zu richten, als scheinbar auch das russische 
Interessengebiet der Mandschurei dem unverletzlichen Bereiche Chinas 
beigezählt wird«, möchte ich darauf hinweisen, daß in den Vertrags- 
verhandlungen weder von deutscher noch auch von englischer Seite 
eine solche Einbeziehung der Mandschurei vorgesehen war; nachträg- 
lich erst zeigten die Engländer Neigung, sie in den Vertrag hinein- 
zuinterpretieren (um uns mit Rußland zu verfeinden), womit sie dann 

erdings eine amtliche deutsche Interpretation hervorriefen' (vgl. 
meine Mitteilungen in dem Sammelwerk: Deutschland und der Welt- 

Kriege 2. Aufl. S. 549 i.).— Ueber die Rolle, die deutsche Diplomaten bei 
er ersten Annäherung zwischen Japan und England in den Jahren 


284 Literatur-Anzeiger. 


1901/2 gespielt haben, kann auch nach den Enthüllungen des Vicomte 
Hayashi heute wohl noch nicht das letzte Wort gesprochen werden. — 
Auf S. 92 wird die begründete Vermutung anderer wiedergegeben, daß der 
letzte Vertrag zwischen England und Japan vom 13. Juli IgIT von 
einem Scheinabkommen begleitet war, das für gewisse Eventuali- 
täten den Japanern Kiautschou und die deutschen Rechte in Schantung, 
vielleicht auch die deutschen Südseekolonien und freie Hand in 
Nordchina zusagte: es würde die normale Fortbildung des in seinen 
Fronten gegen Rußland und Amerika für die Japaner völlig ent- 
'werteten Abkommens sein. Der Termin des Abkommens, mitten 
zwischen dem Erscheinen des »Panther« vor Agadir und der Droh- 
rede von Lloyd-George gegen Deutschland am 22. Juli IgıI, 
würde mit der Annahme eines solchen Inhaltes des Geheimvertrages 
außerordentlich übereinstimmen: ein weiterer, damals geheim ge- 
bliebener, Akt der Einkreisung! Trifft das alles zu, so ist auch die 
anfängliche (bedingte) Neutralitätserklärung Japans vom 4. August 
IgI4 nur als eine — vielleicht für die finanzielle Auseinandersetzung 
zwischen England und Japan benötigte — diplomatische Kulisse zu 
bewerten. 

Die Zukunftsmöglichkeiten des jetzt zu einer leeren Hülse geworde- 
nen Bündnisses hat Hashagen zum Schluß trefflich gekennzeichnet. 
Die ausgreifende Erpresserpolitik der Japaner China gegenüber, 
auf der andern Seite der im November und Dezember 1915 unter- 
nommene verzweifelte Versuch der Engländer, China in den eigenen 
Kriegsbrand bineinzuziehen und dadurch vor — Japan zu sichern, und 
die Durchkreuzung dieses Versuches eben durch die Japaner haben 
inzwischen weitere Andeutungen geliefert, wohin die Reise nach dem 
Kriege gehen wird. 


(Hermann Oncken.) 





285 


SOZIALPOLITISCHE CHRONIK”. 


DieGewerkschaftsbewegungim Jahre 1915/16; dieEnt- 
wicklung des Arbeitsmarktes während des weiteren 
Kriegsverlaufs; die Gestaltung der Geld- und Real- 
löhne; die sozialpolitische Lage; das Verhalten der 
Gewerkschaften zu den Problemen des Krieges. 


Die Konjunkturbewegung. 


Zu Beginn des Jahres 1915 waren die wesentlichsten Erscheinungen 
der Kriegskrise !) bereits überwunden, und es begannen die ersten 
Anzeichen dr Kriegskonjunktur, welche dem Jahre ıgı5 
sein charakteristisches Gepräge geben sollte. Der Einfluß des Krieges 
auf die Gestaltung des allgemeinen Wirtschaftsverlaufes läßt sich 
felgendermaßen zusammenfassen: die Grundlage des Wirtschafts- 
lebens bilden während des Krieges die Bestellungen für den Heeres- 
bedarf. Diese bedingen ein äußerst angespanntes Arbeiten der direkten 
und indirekten Rüstungsindustrien, deren günstige Lage auf die übrigen 
Industrien weiterwirkt. Die Nachfrage der militärischen Stellen über- 
steigt in sehr vielen Artikeln das Angebot und die Produktions- 
möglichkeiten, hat daher trotz verminderter Produktion (gegenüber 
dem Friedenszustand) steigende Rentabilität der Betriebe zur Folge. 
Auch dieses, für die Rüstungsindustrie charakteristische Verhältnis 
(verringerte Produktion und trotzdem steigender Gewinn) verpflanzt 
Sich auf das übrige Wirtschaftsleben, denn in allen Gewerbszweigen 
zeigt sich ein außerordentlich starkes Mißverhältnis zwischen Pro- 
duktion und Nachfrage. Nicht nur die Absperrung vom Weltmarkt 
und die damit gegebene Knappheit in vielen Materialien, sondern 
auch der Mangel an Arbeitskräften ist die Ursache dieser Erscheinung. 
Es wird also in der ganzen Volkswirtschaft ein sehr vermindertes Ge- 
samtprodukt zu höheren Geldwerten umgeschlagen. Das 
ist das Wesentliche der Kriegskonjunktur, mit deren Konsequenzen 





*) Abgeschlossen am 15. April 1916. 
1) Veberdies, namentlich für die Gestaltung des Arbeitsmarktes, vgl. Archiv 
Bd. 40, S. 174 ff. > 


286 Sozialpolitische Chronik. 


für die Lage der Arbeiterschaft wir es hier zu tun haben, während die 
Eigenart dieser Kriegskonjunktur, die Veränderung der inneren Struk- 
tur der Wirtschaft, welche damit gegeben ist, an dieser Stelle nicht 
weiter erörtert werden soll 1°). 

Einige Ziffern jedoch sollen das Bild dieser Kriegskonjunktur 
etwas deutlicher machen. 

Die Unsicherheit aller Verhältnisse, namentlich die Unmöglichkeit, 
die künftige Friedenskonjunktur vorauszusehen, der Mangel an Ar- 
beitskräften und Materialien schloß eine größere Gründungstätigkeit 
aus. Wo sie doch erfolgte, hängen die Gründungen oder Erweite- 
rungen der Unternehmungen meist mit Kriegslieferungen zusammen. 
Das Bestreben der Banken, möglichst viele flüssige Mittel für Kriegs- 
anleihen bereitzuhalten, mag dazu beigetragen haben, neue Investi- 
tionen zu hemmen. Denn an Kapital, welches Anlage suchte, fehlte es 
nicht. So sehen wir also das Bild: rasche Akkumulation von Kapital 
in Geldform, welcher keine Vermehrung der Produktionsmittel gegen- 
übersteht. 

Folgende Beträge wurden im Jahre 1915 für Neugründungen und 
Kapitalinvestitionen aufgewendet 3): 


Neueintragungen in Millionen Mark. 
1915 Aktienges. G.m.b.H. zusammen (1914) 


I. Quartal 8,4 49,1 48,5 (134,5) 
II. ? 17,6 27,3 44,9 (169,3) 
III. » 14,2 27,7 41,9 ( 99,5) 
IV. > 13,9 37,0 50,3 (117,6) 
Summe 541 132,1 186,2 (520,9) 


Kapitalerhöhungen in Millionen Mark. 


I. Quartal 85,7 6,0 91,7 (126,7) 
II. >» 13,2 6,1 19,3 (418,9) 

Il. >» 25,0 24,5 9,5 (77,7) 

IV. ? 109,0 13,1 122,1 (22,8) 
Summe 232,9 49,7 282,6 (646,1) 


Insgesamt betrug also die Steigerung der Kapitalien: 468,8 Mil- 
lionen Mk. gegenüber 1167 Millionen Mk. im Jahre 1914, dessen Ziffern 
ja auch bereits unter dem Einfluß des Krieges stehen. Der Vergleich der 
einzelnen Quartale läßt vermuten, daß gegen das Ende des Jahres 1915 
die Investitionstätigkeit wieder auflebt. — 

Das Wirtschaftsleben selbst hat sich also während des Krieges 
(trotzdem der naturale Reichtum sich naturgemäß verminderte), wenn 
man es mit dem Chock zu Kriegsbeginn vergleicht, außerordentlich 
gehoben und kann allmählich wieder (trotz der Millionenheere im Feld) 


1%) Vgl. hiezu: Lederer, Der Wirtschaftsprozeß i. Kriege in der »Oesterr. 
Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik u. Verwaltung, 1915 4—6. Heft. 

2) Frankfurter Zeitung, 5. I. 1916, Abendblatt. Die Zusammenstellung 
nach der »Bank«. 


A TTIIITIIT 


r mm ll 0000727072700 N m gg m. 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 287 


in seinen Dimensionen mit der Erzeugung der Friedenszeit verglichen 
werden. 

So sei erwähnt, daß sich der Güterverkehr auf den Bahnen im 
Jahre 1915 außerordentlich günstig entwickelte; er betrug (in % des- 
selben Monats im Vorjahr): 


August 1914 41,6 
September 1914 66,9 
Januar 1915 90,1 
März 1915 94,0 
Juni 1915 96,1 
Juli 1915 97,6 


Auf den preußisch-hessischen Bahnen betrug der Verkehr sogar 
im Juli 1915 um ca. 3% mehr als im Juli 1914, und davon machten die 
militärischen Transporte nur einen geringen Bruchteil (7,89%) aus 3). 

Die Beschleunigung im Tempo des Wirtschaftslebens spiegelt 
sich auch in den Versuchen, den Börsenverkehr zu intensivieren. Die 
Spekulation, stillschweigend geduldet, zog die flüssigen Geldmittel, 
welche keine Investit:onsmöglichkeit fanden, an sich. Die Umsätze 
vergrößerten sich ständig, esbildetesichein geheimer Spekulationsmarkt 
heraus, dessen Entwicklung, wie eine offiziöse Aeußerung des W. B. 
sich ausdrückte, »mit steigender Besorgnis« beobachtet wurde. Be- 
fürchtete man doch davon die Absaugung flüssiger Mittel, die zur 
Zeichnung der Kriegsanleihen dienen sollten. Namentlich war die Be- 
sorgnis verbreitet, daß die breiten Schichten des Publikums ihre Geld- 
mittel in Wertpapieren anlegen und im Momente der Anleihebegebung 
daher nicht über flüssige Mittel verfügen. Daher wurde an die Bank- 
und Sparkassenleitungen appelliert, in vaterländischem Interesse der 
Spekulation Einhalt zu tun. Sonst müßte durch einen Druck von maß- 
gebender Stelle aus die Freiheit des Effektenverkehrs unterbunden 
werden $). Dieselben Erscheinungen zeigten sich, in noch größeren Di- 
mensionen, in Oesterreich 5). 

Diesem Bilde entsprechen die Hauptziffern einiger Industrien: 
Es betrug der rechnungsmäßige Kohlenabsatz des rheinisch-westfäli- 
schen Syndikats ®): 





?) Frankfurter Zeitung, 15. IX. 1915. 

‘) Neue Badische Landeszeitung, 8. VIII. 1915 und Frankfurter Zeitung, 
10. VII. 1915, die bereits die Tendenz feststellt, daß sogar Kriegsanleihe abge- 
stoßen werde, um Spekulationspapiere zu kaufen. Ucbrigens ein Vorgehen, das 
nach dem Kıiege, zum Zweck realer Investitionen, große Dimensionen annceh- 
men wird. — 

*) Vossische Zeitung, 16. VIII. 1915. Seit Kriegsausbruch sind zahlreiche 
Papiere, namentlich der Waffenindustrie, auch Textil-, Nahrungsmittelindustrie 
usw. um 20—50%, manche selbst um 80—200% gestiegen (Skoda von 614 auf 
845, Prager Eisen von 2042 auf 2740, Rotkosteletzer Weberei von 99 auf 334 
usw.), 

*) Deutsche Kohlenzeitung, 25. III. 1916 und »Stahl und Eisen«, 


288 Sozialpolitische Chronik. 
% der Beteiligung Gesamtversand in Koks Briketts 


ip Iooo t in 1000 t 
Jan. 1915 4670 65,74 1195 350 
Dez. 1915 4730 63,91 1548 295 
Jan. 1916 6005 68,68 1998 353 
Febr. 1916 5815 64,35 1842 342 


Die Kohlenförderung betrug während der ganzen Kriegszeit 
(nach dem anfänglichen Sturz auf 33% der Beteiligung im August und 
54% im September 1914) zwischen 84 und 68% der Beteiligung. Die 
Preise sind über den Friedensstand so gestiegen, daß die Rentabilität 
des Bergbaues während des Krieges trotz verringerter Förderung 
zunahm. — 

Aehnlich liest es in der Eisenindustrie. Die deutsche 
Roheisenproduktion stieg während des Krieges von ungefähr 38% der 
Friedenserzeug ng im August und September 1914 bis auf 60% im 
April r915 ^). Die Gesamterzeugung an Roheisen betrug in Deutschland 
in I000 t 8): 


Januar 1914 Januar 1915 Dezember 1915 Januar 1916 
1560 874 1029 1077 
Die Gesamterzeugung von Flußstahl in 1000 t betrug ?): 
' Januar 1914 Januar 1915 Dezember IgI5 Januar 1916 
1599 963 1165 1242 


Diesem Aufschwung in der Erzeugung entspricht die steigende 
Rentabilität. Die Rente des Kapitals wächst gegenüber der Friedens- 
zeit, trotz der geringeren Gesamterzeugung. So schüttete z. B. der Bo- 
chumer Verein für Bergbau in der Gußstahlfabrikation bei ungefähr 
gleichem Gesamtabsatz wie 1909 /ro im Jahre 1914/15 eine Dividende 
von I4% aus (gegenüber 12% in dem genannten Jahre); der Betriebs- 
gewinn aber stieg von 7,78 auf 15,2 Millionen Mk., die Abschreibungen 
von I,7 auf 4,4, der Reingewinn von 3,6 auf 7,4 Millionen Mk. Auch 
gegenüber 1913/14 sind bei wesentlichem Rückgang des Absatzes 
Steigerungen der Gewinstziffern und der Dividende (von Io auf 14%) 
zu verzeichnen 1°). Im Eschweiler Bergwerksverein sank die Kohlen- 
förderung von 3,4 auf 2,2 Millionen t, die Koksproduktion von 947 000 
auf 528 000 t, Roheisenerzeugung von 50000 auf 45.000 t, bei gleich- 
bleibendem Gewinn und gleicher Dividende (I0%) !). Die Beispiele 
könnten beliebig gehäuft werden 12). 

E 7) Berliner Tageblatt, 12. V. 1915. 

8) Stahl und Eisen, 24. II. 1916. 

9’) Stahl und Eisen, 9. III. 1916. 

10) Frankfurter Zeitung, 9. X. 1915. 


11) Frankfurter Zeitung, II. X. 1915. 
12) Die Preisbewegung für Eisen wird durch folgende Ziffern veranschau- 


licht (Frankfurter Zeitung, 28. XII. 1915): 





GießBrei-Roh- Roh- Form- Ia. Ei Draht Grob- Fein- 
eisen I. blöcke eisen “S SEN stifte Blech Blech 
2. Quartal 1914 74.50 82.50 I10 90 11.75 96 125 


I. Quartal 1916 94.— 102.50 130 130—135 I9.00 155 185/90 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 289 


Die Konjunktur war inandern Industrien eher noch besser. 
So in der Elektrizitätsindustrie 13). Aber auch in den meisten übrigen 
Gewerben 1%), z. B. der Textilindustrie, wurden steigende Di- 
videnden verteilt. Besonders die notleidenden Betriebe der Tex- 
tilindustrie konnten geradezu die innere Festigkeit wiedergewinnen 
und noch steigende Erträgnisse ausschütten 1%). Man kann sagen, 
daß fast die ganze Industrie an dieser Kriegskonjunktur Anteil hatte; 
sie drückt sich in den Dividendenziffern nur unz ıreichend aus, da die 
meisten Unternehmungen möglichst große Abschreibungen vornahmen 
und stille Reserven anhäuften. Bloß das Baugewerbe und die In- 
dustrien, welche Baumaterialien erzeugen, hatten zu leiden, da die private 
Bautätigkeit während des Krieges fast vollkommen pausierte, und auch 
die öffentliche Bautätigkeit stark nachließ 1%). Demgemäß ist auch 
die Entwicklung der Preise in diesen Materialien nicht günstig ge- 
wesen. 


Die freien Gewerkschaften. 


Die Verbandsstatistik für 1914 und Ig15 ist natürlich mit den Vor- 
jahren nicht vergleichbar. Die Ziffern für die Zeit vor Kriegsbeginn 
wurden im Vorjahre publiziert !%). Es sei also nur daran erinnert, 
daß die Mitgliederziffern der meisten Verbände schon zu Ende 1913 eine 
Abnahme der Mitglieder zeigten, die sich noch über das erste Halbjahr 
1914 fortsetzte. Die definitiven Ziffern für 1914 sind erst gegen Ende 
des Jahres 1915 bekannt geworden !?). Sie seien daher noch nachgetragen: 

13) Vgl. die Geschäftsberichte der großen Elektrizitätsgesellschaften in der 
Frankfurter Zeitung, 13. XI., 16. XII., 18. XII., 21. und 29. XII. 1915. 

19) Die großen Gewinne der Betriebe, welche in ihrer normalen Produktion 
Kriegslieferungen übernehmen konnten, sind ja bekannt. Als eine besonders 
günstige Bilanz sei angeführt die der Daimlermotoren-Gesellschaft, Untertürk- 
heim, deren wichtigste Bilanzziffern die fieberhafte Entwicklung veranschau- 
lichen (Frankfurter Zeitung, 3. IV. 1916, Abendblatt): 





IQII 1912 1913 1914 1915 
in Millionen Aktienkapital 8 8 8 8 8 
M Reingewinn 1,979 2,47 2,71 4,15 6,12 
i mit Vortrag 2,29 2,86 3,21 4,00 6,62 
außerordentliche- 

Abschreibungen 416 685 934 1870 2007 
in tausend M.} Wohlfahrtszwecke 130 130 130 150 300 
Dividende 800 960 1120 1280 1920 
9, Io 12 14 16 24 


Dabei treten in der Bilanz die außerordentlich starken Rücklagen und 
Abschreibungen noch nicht einmal deutlich hervor. — 

14) Vgl. die Bilanzziffern im »Textilarbeiter«, 17. und 24. III. 1916undin der 
Deutschen Konfektion«, 26. III. 1916. 

1) So betrug der Absatz des Zementsyndikats im Jahre 1914 nur 28%, der 
Leistungsfähigkeit der Betriebe. (Kölnische Zeitung, 28. VII. 1915.) 

1%) Archiv Bd. 39, S. 612 ff. 

1) Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutsch- 
dands, 13. XI. 1915. 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 1. 19 


290 Sozialpolitische Chronik. 


Mitglieder- davon weib- Verbände Einnahmen Ausgaben aha ana 
zahl lich | Zentralverb. 
Mill. Mk. Mill.Mk. Mill. Mk, 

1910 2 017 228 161 512 57 64,3 57,9 52,5 
IgII 2 320 986 IQI 332 5I 72,0 60,0 62,1 
1912 2 530 390 216 462 50 80,2 61,1 80,8 
ıgı3 2548763 223676 . 47 82,0 749 88,0 
1914 ™®) 2438661 215777 46 37,8 35,0 — 
1914 19) 1645 181 IQI 512 46 27,5 40,2 — 
1914 2 052 377 203 648 46 70,8 795 81,4 


Diese Durchschnittsziffern lassen die Mitgliederzahlen noch zu 
hoch erscheinen. Denn darnach hätte sich die Mitgliederziffer im Jahre 
1914 (gegenüber I9I3) um ca. 33% vermindert. Hingegen betrug sie 
tatsächlich in den 46 Zentralverbänden zu Ende des 4. Quartals 1913: 
2 498 959; zu Ende des 4. Quartals 1914: I 485 428; das ist eine Ver- 
minderung um 40%. Die Mitgliederabnahme betrug I 013 000, wäh- 
rend bis zum Ende des Jahres 1914 746 000 Mitglieder der freien Ge- 
werkschaften zum Kriegsdienst eingezogen waren; es haben also mehr 
als 1⁄4 Million Arbeiter die Gewerkschaften verlassen (wahrscheinlich 
in der großen Krise zu Kriegsbeginn), ohne wieder in sie zurückzukehren. 
Daß wirtschaftliche Gründe hierbei mitspielen, sieht man aus folgender 
Gegenüberstellung: 


Mitgliederabnahme Ende 1914 


gegenüber Ende 1913 Zahl d. Eingezogenen 


Bauarbeiter 157 800 97 800 
Fabrikarbeiter 78 000 56 000 
Glasarbeiter II 700 5 300 
Holzarbeiter 78 000 55 000 
Maler 22 000 I4 000 
Textilarbeiter 36 000 19 000 


| Hingegen gingen die Mitgliederverluste nicht wesentlich über die 
Zahl der Einberufenen hinaus, resp. waren geringer als dieser. 


Mitgliederabnahme Ende 1914 


gegenüber Ende 1913 Zahl d. Eingezogenen 


Buchdrucker 20 770 20 20I 
Fleischer 3 038 4 690 
Metallarbeiter 222 000 185 000 
Transportarbeiter 106 000 8I 000 
Zimmeıer 28 000 24 000 


Relativ günstige Ziffern zeigt eine Spezialveröffentlichung für die 
Berliner Gewerkschaftskommission. Darnach betrug die Mitgliederzahl 
am I. Juli I914: 285 000, die Zahl der Eingezogenen bis ı. Juli 1915: 


18) Durchschnitt des ersten Halbjahrs. 
1%) Durchschnitt des zweiten Halbjahrs. 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1615/16 usw. 291 


118 000; die Zahl der Mitglieder am I. Juli 1915: 173 000, also ledig- 
lich 2000 weniger, als sich nach Abzug der heerespflichtigen Mit- 
glieder ergibt !°*). 

Wie aus den oben angegebenen Ziffern hervorgeht, bedeutet der 
Krieg dennoch für die Gewerkschaften eine schwere Krise, die sich nach 
Wiederbeginn normaler Verhältnisse fühlbar machen dürfte, da ja die 
Gewerkschaften nicht sofort wieder die Stärke erlangen werden, welche 
sie zu Kriegsbeginn hatten, während die Verbände der Unternehmer 
eher eine Steigerung ihrer Machtstellung erfahren. Daß eine solche 
Krise tatsächlich gegeben ist, wird für die Gegenwart dadurch ver- 
schleiert, daß ja den Gewerkschaften keine Gelegenheit für irgend- 
welche wichtigere Aktionen geboten ist, und im Gegenteil die 
freundlichere Haltung der offiziellen Kreise gegenüber den Arbeiter- 
verbänden ihre Machtposition günstiger erscheinen läßt. Für die Zeit 
nach dem Kriege wird aber in erster Linie doch die Masse der Arbeiter 
ausschlaggebend sein, welche hinter den Aktionen auch mit ihrer 
finanziellen Mitwirkung stehen, und da ist es immerbin ein wichtiges 
Symptom, daß trotz der Zunahme der Frauenarbeit in der deutschen 
Industrie — nach den oben genannten Ziffern — die Anzahl der 
weiblichen Mitglieder in den Gewerkschaften nicht zugenommen, viel- 
mehr stark abgenommen hat. Diese geringe Anteilnahme der Frauen 
an den Gewerkschaften mag z. T. wirtschaftlicher Not entspringen, 
z. T. aber ist sie auch, wie in gewerkschaftlichen Kreisen wenigstens 
behauptet wird !°°), auf eine Ablehnung der opportunistischen Partei- 
und Gewerkschaftspolitik zurückzuführen. 

Auch in der Entwicklung von Einnahmen und Ausgaben spiegelt 
sich deutlich die Kriegskrise. Dabei ist zu beachten, daß das zweite 
Halbjahr 1914 noch einen Friedensmonat zählt. Unter den Einnahmen 
spielen im 2. Halbjahr 1914 die Extrabeiträge eine erhebliche, wenn- 
gleich nicht ausschlaggebende Rolle; während sie im ersten Halbjahr 
85 000 Mk. betrugen, wurden für die Familien der Kriegsteilnehmer 
eingehoben bei allen Gewerkschaften bis zum Jahresschluß 1914: 
I 046 000 Mk., außerdem für Arbeitslose und Familien der Kriegsteil- 
nehmer zusammengenommen 556 000 Mk., insgesamt also 1 600 000oM 
— bei Gesamteinnahmen an Mitgliederbeiträgen in diesem Halbjahr 
von 21,2 Millionen Mk. eine nicht gerade ausschlaggebende Summe. 

Noch deutlicher zeigt sich der Einfluß des Krieges in den Ausgaben. 
Sie betrugen in Millionen Mk.: 


Verw.-Kost.|Verw.-Kost. 





























; Agitation : 
Unter- | Bildungs- C in -Vers |d. Haupt- | d. Zweig- | Zus. Pin- 
stützungen| zwecke DR es Sereine nahmen 
in Millionen Mark 
1914 
t. Halbjahr | 23,03 1,61 4,1 1,08 5,16 35 | 37,87 
2. Halbjahr | 30,29 0,93 3,98 0,92 4,07 40 | 27,57 


a 
1°) Bergarbeiterzeitung, 25. IX. 1915. 
1) Der Proletarier, 4. XII. 1915. 
19 * 


292 Sozialpolitische Chronik. 


Immerhin hatte der Krieg für die Zentralverbände nicht kata- 
strophale finanzielle Wirkungen, wie sich schon aus der relativ geringen 
Abnahme des Vermögens ergibt. Die Verteilung der Ausgaben auf die 
einzelnen Unterstützungszweige endlich sei noch durch einige Ziffern 
illustriert. Es betrugen in 1000 Mk. 











| m a| a% T T oD wj , 
Saa] 83 18518535 | & v „8|, a5), 585 
v N| ws] oX | SR |S] 5 = |x 8 a5 S|r 58 
1914 5|232|73 Aa |233|] a |%3 822083 
wrlERIS2 Jsr lin i 2 | 3 |Sport gr 
s|52|28|23|383|2| Z Vg jögzmM73 
ekea LAER aa I | #3 
z a a 
| 

I. Halbjahr || 642 | 204 | 7754 8206| 301 206 ee 485 — 

2. Halbjahr || 346 94 | I5 920 į 2430 | 263 | 527 2855] r152] 86 | 6475 




















Es sanken also rapid die Augsaben für sämtliche Unterstützungen 
außer der Arbeitslosen- und Notfallsunterstützung. 

Für die Gestaltung der Mitgliederziffern im Verlaufe des Jahres 
1915 geben folgende Daten Anhaltspunkte: 


Anfang Juli 1914 Ende 1914 Ende Februar 1916 29) 





Bäcker 29 116 17 554 8 934 
Bauarbeiter 309 562 152 622 77 949 
Bergarbeiter 101 956 58 873 ca, 49 000 U) 
Brauerei- u. Mühlenarbeiter 51 587 31 263 2I 37I 
Buchbinder 32 38I 23 50I 17 115 
Buchdrucker 70 452 48 145 30 700 
Fabrikarbeiter 207 330 130 341 84 017 
Gastwirtsgehilfen 15 764 8 068 4 295 ®?) 
Gemeindearbeiter 54 522 34 800 27 056 
Glasarbeiter 18 287 6 495 6 123 
Holzarbeiter 192 465 115 039 69 064 
Lederarbeiter 16 249 II 20I 7 602 
Lithographen 16 794 II 028 6 416 
Maler 47 230 22 610 9199 
Maschinisten 25 027 12 882 `~ 7985 
Metallarbeiter 531 991 322 917 233 560 ?3) 
Schuhmacher 43 520 28 727 18 627 
Textilarbeiter 133 034 IOI 904 65 014 
Transportarbeiter 228 207 123 004 70 728 
Zimmerer 62 673 31 381 18 952 *®) 
20 Verbände 2 188 118 I 292 355 833 707 


2», Wo nicht besonders vermerkt, nach der Arbeitslosenstatistik für das 
Reichsarbeitsblatt, März 1916. 

21) Ziffer für den Durchschnitt des Jahres 1915, berechnet aus den 
Mitgliedsbeiträgen für das Jahr r915 (Bergarbeitcızeitung, 4. III. 1916), 

22) Correspondenzblatt, 18. III. 1916. Die Ziffer ist für Ende September 
1915. 

33) Ziffer für Ende 1915 (Der Zimmerer, 1. IV. 1916). Ein Vierteljahr später, 
am 25. III. 1916, zählte der Verband, ohne die zum Militär eingezogenen: 18781. 
Mitglieder. Das deutet darauf hin, daß die Gewerkschaften bereits zu einer Art von 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 293 


Liese Ziffern für 20 Zentralverbände, welche ca. 90% der Mitglie- 
der umfassen, geben ein prägnantes Bild für den gewaltigen Sturz der 
Mitgliederziffern, die wir während des Krieges zu verzeichnen haben. 
Eine Berechnung, welche nicht weit von derWirklichkeit ab sein kann ?!) 
ergibt dann für Ende Februar 1916 eine Mitgliederziffer von 945000 
oder 950 000 in allen freien Gewerkschaften = 38,3% des Standes 
var dem Kriege. Die Mitgliederverluste während des Krieges be- 
tragen darnach mehr als 60%. Hierbei werden allerdings, nach der 
Gepflogenheit der Gewerkschaften, lediglich zahlende Mitglieder 
in der Statistik zu berücksichtigen, die eingezogenen Mitglieder nicht 
gezählt. Eine entsprechende Verringerung dürften auch die Einnah- 
men und Ausgaben zeigen, während das Verbandsvermögen kaum eine 
erhebliche Veränderung erfahren haben dürfte, zumal ja (S. unten) 
die Arbeitslosigkeit während des Krieges erheblich abgenommen hat. 


Die christlichen Gewerkschaften. 


Weniger detailliert, aber in den Ergebnissen durchaus überein 
stimmend, ist die Statistik der christlichen Gewerkschaften. Einige 
Ziffern mögen zeigen, daß ihre Mitgliederverluste schon im ersten 
Kriegsjahr denen der freien Gewerkschaften ähnlich waren 2), 


Mitgliederzahl: 
Jahresdurch- Jahresdurch- davon weibl. Mitgliederziffer 
schnitt 1913 schnitt 1914 1913 I9I4 Ende 1914 
342 000 282 000 27 000 25 000 218 000 
Einnahmen 5 863 000 
Ausgaben 5 871 000 
Kassabestand 9 727 000 


Auch hier also der starke Mitgliedersturz und namentlich auch 
der erhebliche Rückgang an' weiblichen Mitgliedern. Ferner auch 
hier ein Ueberwiegen der Ausgaben im Jahre 1914, also Verminderung 
des Vermögens, wenngleich bei den christlichen Gewerkschaften nur 
ganz minimal. Der Mitgliederrückgang wird dadurch etwas gemindert, 
daß unter den christlichen Gewerkschaften einige Verbände von 
Gemeinde- und Staatsarbeitern, sowie Eisenbahnern naturgemäß 
einen geringeren Mitgliederrückgang und auch geringere Ausgaben 
aufzuweisen haben. — 


Beharrungszustand gelangt sind, der erhalten bleiben dürfte, wenn nicht eine 
Erhöhung des Wehrpflichtalters (die ja vorläufig nicht zu erwarten ist) oder 
raschere Einziehung der jüngeren Jahrgänge stattfinden sollte. (Der Zimmerer, 
8. IV. 1916.) 

*) Wenn man die Verringerung der hier aufgeführten Ziffern der 20 Gewerk- 
schaften von 2 188 ooo auf ı 292 000 (Mitte 1914 bis Ende 1914) auf die Gesamt. 
mitgliederziffer der Gewerkschaft überträgt, kommt man für Ende I9I4 zu einer 
Ziffer von 1 466 000; tatsächlich betrug die Mitgliederziffer: ı 485 000, also nur 
um Un größer. 

3) Zentralblatt der christlichen Gewerkschaften, 30. VIII. 1915. 


294 Sozialpolitische , Chronik. 


Unter den Ausgaben von 5,8 Millionen Mk. nehmen die Unter- 
stützungen und Verwaltungskosten (Agitation) die Hauptstelle ein. 
An Streik- und Gemaßregeltenunterstützung ist noch der beträchtliche 
Betrag von 337 000 Mk. ausgewiesen, da ja noch mehr als ein halbes 
Normaljahr in die Berichtsperiode fällt. — Späterhin treten dann auch 
hier ganz überwiegend die Reise- und Arbeitslosen-, Kranken- und 
andere Unterstützungen in den Vordergrund. Für die weitere Ent- 
wicklung der Hauptziffern lassen sich aus der Arbeitslosigkeitssta- 
tistik des Reichsarbeitsblatts einige Anhaltspunkte gewinnen. Es 
zählten Mitglieder zu Ende 1915 °$): 


Durchschnitt 1913 Ende 1914 Ende ıgı5 

Keram- und Steinarbeiter 8 434 3 109 1793 
Metallaı beiter 4! 732 25 222 16 027. 
Holzarbeiter 17 741 8 772 4 315 
Graphisches Gewerbe 2 544 1 577 639 
Gutenbergbund 3 389 2 390 I 490 
Fabrikarbeiter Io 936 4 917 4 021 

84 776 45 987 28 285 


Der Mitgliederstand dieser 6 christlichen Gewerkschaften hat sich 
also bis Ende 1914 ungefähr auf die Hälfte, bis Ende 1915 auf!/, ge- 
gegenüber dem Jahresdurchschnitt von I9I3 vermindert. Das ist also, 
wenigstens bei diesen Organisationen, ein noch stärkerer Rückgangals 
bei den freien Gewerkschaften 2*). Ob dieser Rückgang die Zahl der 
Einberufungen noch erheblich übersteigt, kann mangels detaillierter 
Angaben im Zentralblatt der christlichen Gewerkschaften nicht gesagt 
werden. Jedenfalls wird die sozialpolitische Situation nach dem Kriege 
eine ganz veränderte, zu ungunsten der Gewerkschaften verschobene 
sein, wenn nur in einem erheblichen Umfang dieser Mitgliederrückgang 
definitiv sein sollte. 


Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften 


zeigen keine andere Entwicklung. Folgende Ziffern seien genannt: 


Mitgliederzahl 1913 106 000 Durchschnitt 1914 77 000 
Einnahmen 2 545 000 
Ausgaben 2 672 000 
Vermögen I 418 000 





26) Reichsarbeitsblatt, Januaı 1916. 

26) Hier macht sich vielleicht auch der Umstand geltend, daß die christ- 
lichen Gewerkschaften die jüngste Gewerkschaftsrichtung sind, und daher mög- 
licherweise dem Altersdurchschnitt ihrer Mitglieder nach hinsichtlich der Einbe- 
rufungen ungünstiger stehen. Jedenfalls zeigt sich das an den großen Schwierig- 
keiten, welchen die Geschäftsführung infolge der zahlreichen Einberufungen 
von Verbandsfunktionären begegnet. Schon vor der neuen Musterung der dauernd 
Untauglichen waren ®/, des Beamtenstabes einberufen, ein weiteres Fünftel 
ausgehoben, (Zentralblatt der christlichen Gewerkschaften, 27. IX. 1915.) 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 295 


Die Angaben in den Mitgliederziffern dürften den Jahresdurchschnitt 
betreffen. Außerdem seien folgende Angaben der Mitgliederziifern 
gegenübergestellt ??) : - 





Ende 1913 Ende 1914 Ende 1915 

Töpfer, Ziegler I 386 I 168 I 340 
Maschinenbau- u. Metallarbeiter 43 816 29 587 = 23 606 
Textilarbeiter 6 305 4 320 2 920 
Holzarbeiter 5 310 3 334 3 114 
Bäcker und Konditbren 260 100 145 
Schneider 3 966 3 572 2 518 
Maler, Lackierer I 150 794 632 

61 893 42 875 34 275 


Darnach ist also die Abnahme der Mitglieder hier verhältnismäßig 
geringer. Vielleicht hängt das damit zusammen, daß die älteren Mit- 
glieder der Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften wahrscheinlich 
einen größeren Prozentsatz bilden, so daß die Quote der Einberufungen 
hier kleiner sein dürfte. Jedenfalls vermag diese geringere Abnahme 
der Mitgliederziffern bei den Hirsch-Dunckerschen Organisationen 
nichts daran zu ändern, daß die Zahl der gewerkschaftlich organi- 
sierten Arbeiter überhaupt während des Krieges sich auf ungefähr 
'ı der Ziffer vor dem Kriege vermindert hat. Je länger der Krieg 
dauert, desto mehr dürfte diese Ziffer erreicht oder unterschrit- 
ten werden. Die Bedeutung, welche die Gewerkschaften in der 
Oeffentlichkeit finden und der reale Einfluß, welchen sie besitzen, 
steht dazu in umgekehrtem Verhältnis. Denn die Organe der 
Gewerkschaften bestehen ja fort, sie repräsentieren noch immer die 
Arbeiter insgesamt. Ob und inwiefern der Krieg eine Verringerung 
der realen Macht für die Arbeiterschaft bedeutet, läßt sich also nicht 
aus diesen Mitgliederziffern entnehmen. Sie sind nur ein Symptom 
dafür, daß die Gewerkschaften mit außerordentlich großen Schwierig- 
keiten zu kämpfen haben werden, um die Mitgliederziffer und finanzielle 
Kraft der Zeit vor dem Kriege zu erlangen. 


Innere Aufgaben der Gewerkschaften. 


Die inneren Aufgaben, welche die Gewerkschaften vor dem Kriege 
beschäftigten, nämlich die Verfassungsfragen und die Frage der Fa- 
brikorganisation, die Umbildung der gewerkschaftlichen Verbände zu 
Industrieverbänden, und viele andere sind durch den Krieg völlig 
zurückgetreten. Die Umbildung und Ausgestaltung der Unterstüt- 
zungen und die Wahrnehmung der Arbeiterinteressen bei den Behörden 
beanspruchen fast völlig die Kraft der Gewerkschaften. (Hierüber 
unten bei: Sozialpolitische Situation der Gegenwart.) Namentlich 





| 1) Nach dem Correspondenzblatt der Generalkommission, 13. XI. 1915 und 
Reichsarbeitsblatt, Januar 1916. 


296 Sozialpolitische Chronik. 


ist ja der direkte soziale Kampf zwischen Arbeitern und Unternehmern 
sehr stark in den Hintergrund getreten. 

Die gewerkschaftlichen Verbände haben ja zu Beginn des Krieges, 
wie früher berichtet wurde 28), größtenteils ihre Unterstützungs- 
einrichtungen entweder ganz suspendiert oder sehr eingeschränkt, 
nach andern Seiten hin wieder auch neue Unterstützungszweige (Fa- 
milienunterstützungen) geschaffen. Nach einer Zusammenstellung, 
welche den Stand vom ı. IX. 1914 und 3r. VII. ıg15 vergleicht 2°), 
hat ungefähr !/, der Verbände an dem Stand der Unterstützungen seit 
dem 1. IX. 1914 nichts geändert. Soweit bei der Mehrheit Aenderungen 
erfolgten, sind doch nicht die satzungsmäßigen Bestimmungen wieder 
restlos zur Geltung gekommen, sondern nur 8 Verbände haben ihre 
statutarischen Bestimmungen während der ganzen Kriegsdauer 
völlig oder mit geringen Aenderungen aufrecht erhalten. Die Unter- 
stützungen für die Familien eingezogener Mitglieder wurden allmählich 
überall abgeschafft; den Lokalkassen und freiwilligen Sammlungen 
blieb es vorbehalten, Mittel hierfür aufzubringen. — 

Eine schwierige Aufgabe steht den Gewerkschaften insofern 
bevor, als sie sich über den Umfang der finanziellen Rechte eingezo- 
gener Mitglieder schlüssig werden müssen. Eine restlose Anrechnung 
der Kriegsdienstzeit ist infolge der dadurch entstehenden finanziellen 
Belastung nicht möglich 3°) — andererseits wird eine gewisse An- 


rechnung sich kaum umgehen lassen, insbesondere angesichts der lan- 


gen Kriegsdauer. 

Die Hauptaufgabe der gewerkschaftlichen Organisationen im 
weiteren Verlauf des Krieges lag weniger darin, ihre Finanzen zu ver- 
teidigen, welche ja nicht ernsthaft bedroht waren, als vielmehr die 
Mitgliederziffer möglichst zu erhalten, resp. zu steigern. Das konnte 
am ehesten durch intensivere Organisation der weiblichen Arbeits- 
kräfte geschehen. Die Frauenarbeit hat ja während des Krieges eine 
erhebliche Ausdehnung erfahren, ohne daß sich darum die Zahl der 
weiblichen Gewerkschaftsmitglieder gesteigert hätte. Eine besondere 
Agitation unter den arbeitenden Frauen und die Gründung einer beson- 
deren gewerkschaftlichen Frauenzeitung sollte eine stärkere Heran- 
ziehung der Frauen zu den Gewerkschaften bewirken 3). Ob diese 
Bestrebungen Erfolg haben, wird sich erst später zeigen. Aus manchen 
Bemerkungen ist zu ersehen, daß die langen Arbeitszeiten und die 
Ueberlastung der Frauen mit häuslicher Tätigkeit Verständnis und 
Bereitwilligkeit, der gewerkschaftlichen Organisation anzugehören, 
nicht aufkommen lassen. 

Daß die Gewinnung von Mitgliedern au£erordentlich wichtig 
ist und. immer schwieriger wird, dafür spricht auch der Umstand, daß 

28) Vgl. Archiv Bd. 40. $ 

2%) Correspondenzblatt der Generalkommission, 11. IX. 1915. 

30) Correspondenzblatt, 17. VII. 1915. 

31) Correspondenzblatt, 25. XII. 1915. Dieses Organ soll zugleich in den 
Familien der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter verbreitet werden und deren 
Frauen Interesse für das Organisationswesen einflößen. 








ren O 
j — gm 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 297 


sich nun auch der Metallarbeiterverband entschlossen hat, zum Staffel- 
system der Beiträge überzugehen. Zwar konnte diese Aenderung in den 
Statuten nur gegen eine starke Opposition geschaffen werden 32} 
Damit ist natürlich auch das Eindringen niedriger entlohnter, ungelern- 
ter Arbeiter in die Gewerkschaften erleichtert, so daß sich in dieser 
Auseinandersetzung um den Staffeltarif — also in sehr milden Formen 
— der Kampf um die Heranziehung größerer oder geringerer Massen 
ungelernter und Frauenarbeit (der in den englischen Gewerkschaften 
einen so großen Raum einnimmt) abspielt. 

Sind die Organisationsprobleme innerhalb der Gewerk- 
schaften etwas zurückgetreten, so tauchen hie und da Vorschläge 
und Versuche zu einer engeren Fühlung der gewerkschaftlichen Ver- 
bände untereinander auf: so seien die Versuche einer Annäherung 
der drei Gewerkschaftsgruppen erwähnt. Diese gingen in etwas greif- 
barerer Form aus von einem Organ der Hirsch-Dunckerschen Gewerk- 
schaften, vom »Regulator«, der unter Hinweis auf die schwierige Situa- 
tion der Gewerkschaften nach dem Kriege für einen engeren Zusam- 
menschluß der Verbände Stimmung machte °). Das Korrespondenz- 
blatt der Generalkommission äußerte sich von Anfang an skeptisch 
hierzu, ebenso wie der Zentralverband der christlichen Gewerkschaf- 
ten nur mit äußerster Reserve dem Gedanken näher treten wollte 34). 
An den Aeußerungen sieht man so recht deutlich, daß jede Gewerk- 
schaftsrichtung eine Abschwächung ihrer agitatorischen Möglichkeiten 
und vielleicht auch eine Gefährdung ihres prinzipiellen Standpunkts 
von einer intensiven Kooperation befürchtet 3%). Der beste Beweis 
dafür ist, daß trotz prinzipiellen »Entgegenkommens« die Anregung 
bisher zu einem greifbaren Resultat nicht geführt hat. Die hemmenden 
Einflüsse liegen wahrscheinlich in erster Linie bei den Gewerkschafts- 
zentralen. Denn die Organe der einzelnen Verbände haben sich vielfach 
sehr zustimmend zu diesem Plan geäußert 3%), und es ist eine Art 
sArbeitsgemeinschaft« seit Kriegsbeginn ja auch im Bergbau zustande- 
gekommen. 

Diese Arbeitsgemeinschaft umfaßt die drei Bergarbeiter - Ge- 
werkschaften und die polnische Berufsvereinigung und ist um so be- 
merkenswerter, als sich ja bei dem letzten, groBen Bergarbeiterstreik 
im Jahre 1912 die drei Gewerkschaftsrichtungen auf das schärfste 
verfeindet gegenüberstanden, da sich die christlichen Gewerkschaften 
am Streik nicht beteiligt hatten ?). Die Arbeitsgemeinschaft 


3) Metallarbeiterzeitung, 17. VII. 1915. 

#) Correspondenzblatt, 3. IV. 1915. 

3) Zentralblatt der christlichen Gewerkschaften, 12. IV. 1915. 

33) Die christlichen Gewerschaften sind auch deshalb dem Plan gegenüber 
so skeptisch, weil sie fürchten, die sozialdemokratische Parteipresse werde ihre 
Angriffe nicht einstellen. _ (Zentralblatt der christlichen Gewerkschaften, t9. IV. 
1916.) 

*) Vgl. z. B. Bergarbeiterzeitung, 19. II. 1916. Christliche Keram- und 
Steinarbeiter, 5. II. 1916 u. a. 

+) Vgl. hierzu ausführlich Archiv Bd. 37. . 


298 Sozialpolitische Chronik. 


bezweckt lediglich Zusammenarbeiten auf dem Gebiete der unmit- 
telbar praktischen Interessenvertretung der Bergarbeiter. Die grund- 
sätzlichen Fragen bleiben ausgeschaltet. Auch Organisation, Agitation, 
Mitgliederwerbung sollen nach wie vor gesondert erfolgen ®). Die Ar- 
beitsgemeinschaft hat ihr Organ in gemeinsam veranstalteten Beleg- 
schaftsversammlungen und sieht ein gemeinsames Vorgehen gegen- 
über den Unternehmern vor, wie es ja während des Krieges bereits 
mehrfach erfolgt ist (s. unten S. 320 ff ). Seitens der christlichen Gewerk- 
schaften wird das größte Gewicht darauf gelegt, daß diese Arbeits- 
gemeinschaft lediglich »praktischen« Charakter trägt; daher sollen an 
solchen gemeinsamen Versammlungen auch Parteiagitatoren jeder 
Richtung als Redner ausgeschlossen sein. Namentlich im Verkehr 
mit den Behörden und den Unternehmern dürfte ein solcher Zusammen- 
schluß nicht ohne Bedeutung und nicht ohne Nachfolge bleiben. 

Diese wenigen Bemerkungen müssen für das innere Leben in den 
Gewerkschaften genügen, zumal auch in den christlichen und Hirsch- 
Dunckerschen keine andern Fragen als die erwähnten zur Erörterung 
gelangten. Vollends ist von den übrigen Arbeiterorganisationen jeder 
Art nichts Besonderes zu berichten, da von ihnen Daten über Mit- 
gliederhöhe usw. noch nicht zur Verfügung stehen und ihre Tätigkeit 
während des Krieges ziemliche starke Einschränkungen erfahren hat °®). 


Die Lage des Arbeitsmarktes. 


Im Vorjahr wurde darauf hingewiesen, daB bis zum Anfang des 
Jahres 1915 zwar eine sehr wesentliche Besserung des Arbeitsmarktes 
eintrat, daß aber trotzdem der Durchschnitt der Arbeitslosigkeit, wie 
ihn die gewerkschaftliche Statistik verzeichnet, noch als recht hoch 
anzusehen ist, jedenfalls über die Arbeitslosigkeit selbst in schweren 
Krisenzeiten hinausging $°). Namentlich die Schwierigkeiten für die 
weiblichen Arbeitskräfte dürften bei diesem ungünstigen Resultate 
die Hauptrolle spielen. Die gewerkschaftliche Statistik zeigt nun im 
weiteren Verlauf des Jahres IgI5 und für Anfang 1916 folgendes Bild *!): 

Die Arbeitslosigkeit betrug (geordnet nach der Stellenlosigkeit 


- 


zu Ende Februar 1915) am Monatsende (Arbeitslose auf je Ioo Mit- 
glieder): 
August Juni Sept. Dez. Febr. 


1914 1915 IQI5 Ig15 I9I6 
Hut- u. Filzwarenarbeiter (G.) 62,2 45,0 37,4 10,5 17,4 


Textilarbeiter (G.) 28,2 5,0 10,4 8,5 12,1 
Porzellanarbeiter (G.) 54,0 10,7 12,3 22,2 9,7 
Glaser (G.) 19,4 5,3 3,0 5,8 8,7 





38) Zentralblatt der christlichen Gewerkschaften, 13. III. 1916. 
9%) Mitgliederziffern fehlen z. B. auch für die gelben Verbände. Ueber diese 
siche noch weiter unten. 


40) Archiv Bd. 39. S. 623 ff. 
“) Zusammengestellt nach dem Reichsarbeitsblatt. 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 299 
Auzust Juni Sept. Dez. Febr. 





Buchbinder (G.) 39,9 10,6 9,5 6,2 6,5 
Bauarbeiter (G.) 16,4 I,4 0,9 4,2 5,2 
Maler und Lackierer (G.) = aS 1,3 73 4,9 
Tapezierer (G.) f = Ze ge 5,9 3,6 
Kürschner (G.) 16,3 = = 3,0 
Bäcker und Konditoren (G.) 6,2 1,5 LI 2,5 2,5 
Holzarbeiter (G.) 33,0 4,0 2,7 2,8 2,2 
Lederarbeiter (G.) 22,8 3,7 6,9 7:9 1,9 
Sattler u. Portefeuillearb. (G.) 34,6 1,5 2,2 2,4 1,8 
Fabrikarbeiter (Ch.) 18,0 1,0 0,8 2,7 1,7 
Schuhmacher (G.) 35,7 2,5 2,7 2,0 1,6 
Fabrikarbeiter (G.) 16,3 1,0 0,8 1,3 1,4 
Metallarbeiter (G.) 21,5 1,4 1,3 I,I 1,2 
Textilarbeiter (H D.) 6,6 2,0 1,4 1,0 1,0 
Holzarbeiter (HD.) m I,I 1,8 0,9 1,0 
Transportarbeiter (Ch.) 10,8 1,0 0,8 0,9 0,8 
Metallarbeiter (Ch.) 18,2 I,I 0,7 0,7 0,7 
Buchdrucker (G.) 41,2 1,3 0,6 0,6 0,7 
Maschinen- u. Metallarbeiter (HD.) 26,1 1,8 08 06 0,1 
Bei den berichtenden Gewerk- 

schaften im Durchschnitt 4) 22,4 2,5 2,6 2,6 2,8 


Die Bedeutung dieser Ziffern liegt darin, daß die Arbeitslosigkeit 
der Gewerkschaften in den Jahren 1907 /13 sich stets zwischen 2—2,5 
vom Hundert bewegte, selten 3% erreichte. Daher kann im Durch- 
schnitt der gegenwärtige Zustand als mittlerer oder schlechter Normal- 
zustand bezeichnet werden. In diesen gewerkschaftlichen 
Ziffern kommt größtenteils der Zudrang von Frauen, welche in der 
Nachweisstatistik dann als Arbeitslose geführt werden, noch nicht zum 
Ausdruck, da ja die arbeitsuchenden Frauen, welche bisher keinem Er- 
werb nachgingen, nicht Gewerkschaftsmitglieder sind. 

Demgemäß lassen sich die Resultate der Arbeitsnachweise mit 
der Statistik der Gewerkschaften nicht direkt vergleichen. Auch hier 
zeigt sich eine fortgesetzte Besserung des Arbeitsmarktes, wie folgende 
Ziffern ergeben $3) *): 


Zeitpunkt f Zahl der Arbeits- Ueberschüssige Ar- Zahl der Nicht erledigte 


nachweise beitsgesuche Nachweise offene Stellen 
15. VIII. 1914 338 127 094 150 5 400 
19. VIIL >» 353 159 886 129 4 416 
30. I. 1915 278 65 957 182 22 165 
27. II. > 258 53 189 197 22 776 
27. III. » 230 48 250 202 21 603 
24. IV. > 222 38 930 187 23 III 
29. V. , 210 29 327 188 18 025 





4) Dabei sind im großen ganzen immer dieselben Verbände erfaßt. 

“) Zusammengestellt nach dem Arbeitsmarktanzeiger. 

“) Die Ziffern beziehen sich nicht immer auf die gleiche Anzahl von Nach- 
weisen. 


300 Sozialpolitische Chronik. 


Zahl der Arbeits- Ueberschüssige Ar- Zahl der Nicht erledigte 


Seu pups nachweise beitsgesuche Nachweise offene Stellen 
26. VI. > 212 30 084 214 21 596 
31. VII. » %) 420 34 203 458 67 034 
28. VIII. >» 426 32 825 483 71 177 
25. IX. ? 394 32 131 483 74 024 
30. X. » 381 30 005 430 71 388 
27. XI. » 348 28 368 427 71 861 
18. XII. » *) 332 25 419 424 68 638 
29. I. 1916 353 37 848 432 65 154 
26. II. > 413 43 445 479 67 850 
1. IV. » 402 36 480 517 8r 58t 


Es kamen auf 100 offene Stellen arbeitsuchende 


Monat #) Männer Frauen 
August 1914 248 202 
Januar IgI5 125 167 
Februar » 113 172 
März » 98 152 
April » 100 165 
Mai > 99 158 
Juni » 96 157 
Juli , 98 165 
August » 98 165 
September » 89 170 
Oktober * 89 182 
November N) 89 179 
Dezember » 90 15I 
Januar 1916 84 163 
Februar > 86 167 


Diese Ziffern, zusammengehalten, liefern wohl eindeutig den Beweis, 
daß sich der Arbeitsmarkt fortgesetzt günstig gestaltet, ohne daß die 
Reibungen desselben trotz der günstigen Arbeitsmarktlage (die sich in 
den Ziffern der überschüssigen Arbeitsgesuche ausdrücken) restlos 
beseitigt oder unter ein Minimum hinuntergedrückt werden können. 
Die Zahl der unerledigten offenen Stellen zeigt innerhalb der gleichen 
Erhebungsgrundlagen kaum eine wesentliche Aenderung, und wenn 
man das außerdem mit den Ziffern der letzten Kolonnen vergleicht, 
so läßt sich feststellen, daß die Lage des Arbeitsmarktes nicht ganz 


4) Die Ziffern der berichtenden Nachweise sind hier in die Höhe geschnellt 
(und daher auch die Anzahl der überschüssigen Stellen mit den Zahlen der Vor- 
monate nicht ohne weiteres vergleichbar), weil ab z. VIII. die Bcrichterstattung 
der Arbeitsnachweise zur Pflicht gemacht wurde (vorher war sie freiwillig); die 
Ziffern für den 31. VII. sind schon auf Grund dieser neuen Verpflichtung zusam- 
mengestellt. l 
4) Hier ist der 18. und nicht der 31. XII. eingesetzt, weil für den 31. XII. die 
Berichterstattung infolge der Feiertage äußerst lückenhaft ist und einen Vergleich 
ausschließt. 
#7) Diese Zusammenstellung nach dem Reichsarbeitsblatt. 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 301 


eindeutig günstig ist; sie verbessert sich fortgesetzt für die männlichen 
Arbeitskräfte, ohne daß darum der Zustrom weiblicher Arbeitskräfte 
aufgenommen werden könnte. Durch das ganze Jahr ıgI5 hindurch 
hat sich vielmehr die Schwierigkeit für arbeitslose Frauen, eine 
Stelle zu finden, kaum vermindert. Das erklärt sich von selbst 
aus der wachsenden Menge der einberufenen Männer, welche die Zahl 
der arbeitsuchenden Frauen naturgemäß vermehrt. 

Für die Verschiebungen in der Struktur der Erwerbstätigen seien 
endlich noch einige Angaben über die Veränderungen in dem Bestand 
der Krankenkassenmitglieder gemacht. Auch diesesind nicht voll- 
ständig, da ja nicht alle Kassen an das Kaiserlich Statistische 
Amt berichten #). Wenn man für Anfang 1915 die Zahl der Beschäftig- 
ten gleich Ioo setzt, ergeben sich folgende Verhältnisziffern: 


männliche weibliche Mitglieder 


I. I. 1915 100 100 
I. II. N 99,0 100,8 
1. III. > 98,8 103,4 
I. IV. > 97,8 105,5 
I. V. è 99,1 109,4 
r VI. >» 97:7 110,3 
1. VII. » 95,7 110,6 
r1. VIII. » 93,7 111,8 
1. IX. >» 92,2 112,4 
I. X. ° 90,5 112,6 
I. XI. > 89,0 114,7 
r. XI >» 87,6 115,4 


Diese Ziffern geben nicht ganz das richtige Verhältnis wieder, 
weil die Zahl der männlichen Mitglieder sich offenbar stärker durch 


Einberufungen vermindert hat 48°). Zum Teil mag hier der Umstand 
störend wirken, daß für die Kriegsteilnehmer ja vielfach die Versiche- 
rung aufrechterhalten wird. f 

Aus allen statistischen Daten geht eindeutig hervor, daß die Zeit 
für gewerkschaftliche Aktionen außerordentlich günstig wäre; denn 
trotzdem ein Ueberfluß an weiblichen Arbeitskräften herrscht, kann 
es keinem Zweifel unterliegen, daß die großen Lücken in den Arbeiter- 
beständen der Industrie durch Frauen nicht wirklich ausgefüllt sind, 





“) Auch diese Zusammenstellung nach dem Reichsarbeitblatt. 
«e) Noch einige Ziffern seien nach der Rede Hues im Reichstag (Metallar- 


beiterzeitung, ıı. III. 1916) angeführt. Darnach betrug die Zahl der in Betriebs-, 
Gemeinde- und Ortskrankenkassen Versicherten: 

I1. I. i1915 I. I. 1916 

5 II3 000 5 307 000 


männliche Versicherte 
3 168 000 4 631 000 . 


weibliche Versicherte 
In den Groß-Berliner Betriebskrankenkassen weib- 


liche Versicherte 468 000 658 000 
Betriebskrankenkassen der Hütten-, Metall- und 
Maschinenindustrie 51 000 141 000 


302 Sozialpolitische Chronik. 


so daßeine energische Wahrnehmung der Interessen (wie das bei weitaus 
geringeren Einberufungen der Arbeiter in England ja klar in Erschei- 
nung tritt) namhafte Lohnerhöhungen, entsprechend den schwierigeren 
Lebensverhältnissen erzielen müßte. Der Burgfrieden — das zeigen die 
Ziffern des Arbeitsmarktes aufs deutlichste — mit seinem Verzicht auf 
Streiks ist ökonomisch ein großer Vorteil für das Lohnkonto der Unter- 
nehmer. Hierbei wirkt auch die allgemeine Wehrpflicht insofern er- 
schwerend auf die Situation der Arbeiter, als die vom Heeresdienst 
'reklamierten Arbeiter nur sehr schwer Lohnerhöhung durchsetzen 
können, da sie ja nicht imstande sind, ihre Stellen zu wechseln. 


Streiks und Aussperrungen. 


Trotzdem nach dem bisher Gesagten die Lage auf dem Arbeits- 
markte für die männlichen Arbeiter außerordentlich günstig war, und 
durch das Ueberangebot von weiblichen Arbeitskräften keineswegs 
als gefährdet erscheinen konnte, haben die Lohnbewegungen während 
des Jahres r915 keinen nennenswerten Umfang erreicht. In einigen 
Industrien war der Geschäftsgang schlecht und dort waren erfolgreiche 
Lohnbewegungen von vornherein ausgeschlossen. In andern, den Be- 
trieben, welche für Kriegszwecke im weitesten Sinn arbeiteten, lag die 
Situation für die Arbeitgeber außerordentlich günstig. Sie konnten die 
Arbeitskräfte je nach ihrer Bindung an den Betrieb bezahlen. Die 
Löhne der militäruntauglichen Arbeiter stiegen rasch an, weilsie die Stel- 
len wechseln konnten, die der reklamierten Arbeiter hielten sich — 
wenn man den wiederholten Angaben der Gewerkschaftsblätter Glau- 
ben schenken darf — trotz Steigerung der Nachfrage nach Arbeit und 
trotz wachsender Schwierigkeiten der Lebenshaltung auf der Höhe 
der Friedenslöhne. Als die Gewerkschaften zu Beginn des Krieges 
unter dem Zeichen des Burgfriedens alle Lohnbewegungen abbrachen, 
rechneten sie, wie jedermann, mit einer kurzen Kriegsdauer. Das hat 
nun zur Folge, daß sich — eben durch die Preisrevolution, welche 
während des Krieges eingetreten ist — die Lage der Arbeiter relativ 
außerordentlich zu ihren Ungunsten verschoben hat, bei gleichzeitig 
günstigster Situation auf dem Arbeitsmarkte %9). 

Trotzdem hat ja die Streikbewegung nicht ganz aufgehört. Zum 
Vergleich mit den Vorjahren dienen folgende Angaben °°): 


Zahl der beendeten Streiks 





1912 1913 1914 1915 

I. Quartal 647 312 213 26 
2. » 842 815 499 47 
3. » 637 557 219 35 
4: b 374 245 2 29 
Summe 2500 1929 933 137 








4) Damit haben die Arbeiter der Kıiegführung ein sehr hoch zu veranschla- 
gendes Opfer gebracht, wie der Vergleich mit den Lohnbewegungen in England 


zeigt. 
+0) Reichsarbeitsblatt, April 1975 und März 1916, sowie Archiv Bd. 39. S. 622. 


” m 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 303 


Zahl der bestreikten Betriebe 


1912 1913 1914 1915 
ı. Quartal 1303 548 456 28 
2 ’ 3817 4709 2470 75 
3. > 1422 1781 1790 42 
4 » 741 1076 25 33 
Summe 7283 8114 4747 178 

Zahl der in den bestreikten Betrieben beschäftigten Arbeiter 
1912 1913 1914 1915 
I. Quartal 530 991 97 039 24 131 4 261 
2. ’ 161 138 273 166 82 140 16 370 
3. » 105 243 122 476 70 851 8 044 
4. ? 86 091 40 759 4 074 18 335 
Summe 883 463 533 440 I8I 196 47 010 


Gegenüber dem Hochkonjunkturjahr 1912 betrug die Zahl der 
Streikenden also ca. 5%. Die Bedeutung der Streiks während der 
Kriegszeit ist überdies noch geringer, als nach diesen Ziffern scheinen 
möchte, weil die durchschnittliche Streikdauer sehr erheblich abge- 
nommen hat. 


Von den Streiks hatten Erfolg: 


vollen Erfolg teilweisen Erfolg keinen Erfolg 
1912 415 1001 1094 
1913 356 899 872 
1914 182 430 497 
1915 24 37 76 


Darnach haben die Erfolge der Lohnbewegungen im Jahre 1915 re- 
lativ abgenommen; die Zahl der ganz erfolglos verlaufenen Streiks ist 
zum erstenmal größer als die der Streiks mit vollem oder teilweisem 
Erfolg. 

Zur Ergänzung nech ein kurzer Ueberblick über die Aussperrungen: 


Aussper- betroffene Zahid. beschäf- voller teilweiser kein 


rungen Betriebe tigten Arbeiter Erfolg Erfolg Erfolg 
1912 324 2558 143 907 97 212 15 
1913 337 6579 82556 39 283 15 
1914 108 833 44781 47 55 6 
1915 4 7 I 346 2 2 — 


Aussperrungen haben also nahezu völlig aufgehört. Da Aussperrun- 
gen im Wesen Abwehrmittel gegen Streiks sind oder solchen verbeugen 
sollen, so erklärt sich ihr gänzliches Zurücktreten aus dem Verschwinden 
de: Angriffsmöglichkeiten. 

Gegenstand der vorkommenden Arbeitskämpfe waren nicht prin- 
zipielle, sondern lediglich Lohnfragen. Erst die Zeit nach dem Kriege 
wird einen Gesamtüberblick darüber gestatten, ob und inwiefern der 
während des Krieges herrschende »Wirtschaftsfriede« das Lohnniveau 
insgesamt beeintlußt hat. 


304 Sozialpolitische Chronik, 


Lohnbewegungen und Tarifvertragshandlungen. 


Das Jahr 1915 brachte, zum Unterschied von IQI4, einige wichtige 
Tarifabschlüsse und Lohnbewegungen. Zum Teil waren diese durch 
Ablauf der Tarifverträge gegeben, zum Teil erklären sie sich aus den 
wachsenden Schwierigkeiten, welchen die Arbeiterschaft bei Deckung 
ihres Lebensunterhalts begegnet. Die Tatsache der Kriegsteuerung 
ist zu evident, als daß sie besonders nachgewiesen werden müßte. 
Nur um die Dimensionen handelt es sich. Die Kosten der Ernährung 
konnten, solange halbwegs normale Verhältnisse herrschten, schät- 
zungsweise wenigstens in ihrer Bewegung nach den Ermittlungen 
Calwers berechnet werden, welcher dem Verbrauch einer 4 köpfigen 
Familie die dreifa he Ration eines deutschen Marinesoldaten zugrunde 
legte. Schätzungen auf dieser Basis geben gegenwärtig kaum mehr 
einen Vergleichsmaßstab, weil viele der Lebensmittel gar nicht oder 
nicht in der Quantität erhältlich sind, wie sie in der Ration des Marine- 
soldaten vorkommen, weil, den Vorräten entsprechend, fast in allen 
Bevölkerungsschichten Veränderungen in der Ernährung, namentlich 
Herabdrückung des Quantums stattgefunden haben dürften. 

Diese Indexziffer, Nahrungsaufwand für eine 4 köpfige Familie, 
stellte sich für Juli 1914 auf 25.12 Mk. wöchentlich ; ohne die Bewegung 
im Einzelnen zu verfolgen, sei vermerkt, daß diese Ziffer besonders 
stark im Frühjahr 1915 anstieg, im August 1915 die Höhe von 39.13 Mk. 
erreichte 51), im September auf 39.93 Mk. stieg 52), im Oktober auf 
41.90 MK., hingegen im November auf 38.86 Mk. 53) zurückging. Damit 
war das Niveau vom Juli r915 wieder erreicht. Allerdings gerade in 
dieser Bewegung der Indexziffer zeigt es sich, daß sie für so anormale 
Zustände, wie sie auf dem Nahrungsmittelmarkte herrschen, kein 
zureichendes Bild gewährt. Ist doch die Senkung zurückzuführen auf 
die Erlassung von Höchstpreisen für Schweinefleisch und Butter, und 
gerade diese damals verbilligten Nahrungsmittel sind gar nicht oder 
nur in verschwindenden Quantitäten auf den Märkten gewesen, Wo 
die Höchstpreisfestsetzung durchgreifend wirkte, kann man sagen, 
ist das Angebot eingeschränkt worden; wo es nicht wirkte, geben die 
amtlichen Höchstpreise, in diese Indexrechnung eingesetzt, ein falsches 
Bild von den tatsächlichen Kosten des Nahrungsaufwands. 

Nach diesen Indexziffern wären die Kosten des Nahrungsmittel- 
aufwands bis zum Ende des Jahres I9I5 um ca. °/, = 60% gestiegen. 
Seither ist eine weitere, sehr erhebliche Steigerung zu verzeichnen. 
Die Steigerung der Indexzitfer bedeutet allerdings nicht, daß prozentuell 
in demselben Verhältnis durchschnittlich die Ausgaben für Nahrungs- 
mittel sich erhöht haben, sondern es muß angenommen werden, daß 
in der überwiegenden Masse der Haushalte eine durchgreifende Ein- 


5) Konjunktur, 14. X. 1915. 
52) Ebenda, 1r. XI. 1915. 
53) Tbenda, 20. I. IgI®. 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 305 


schränkung des Verbrauches eintritt. Zum Teil ist das ja inzwischen 
durch die sehr weitgehende Rationierung für Brot, Fett (ab Mai 1916 
auch für Fleisch), in manchen Gegenden auch Einschränkung des 
Kartoffelverbrauchs, erfolgt. Neuere Indexziffern für den Nahrungs- 
mittelaufwand liegen z. Zt. noch nicht vor. Daher seien noch einige 
Daten für die Preisbewegung genannt — wieder lediglich als Anhalts- 
punkte dafür, wie sehr die Kaufkraft des Geldes gegenüber Lebens- 
mitteln, selbst wenn diese zu den angegebenen Preisen wirklich immer 
erhältlich wären, abgenommen hat. 

Nach den monatlichen Preiszusammenstellungen des statistischen 
Amtesder Stadt Berlin haben sich von Dezember 1913 bis Dezember 1915 
die Preise wie folgt geändert 34): 

Die mittleren, durchschnittlichen Preise für Fleischwaren sind 
um 68%, für Wurstwaren um 73%, Fisch um 36%, für Gemüse rund um 
100%, Brot um ca. 33%, Butter 78%, Schmalz 312%, Käse 66% , 
Mehl 45%, Kaffee 31%, Zucker 25%, Salz 9%, Milch 25% gestiegen. 
Lediglich die Kartoffeln sind um ca. 33% billiger geworden. Diese 
Preise aber bieten deshalb kein wirklich zuverlässiges Bild, weil ja die 
erwähnten Nahrungsmittel nicht immer erhältlich waren und vielfach 
nur zu höheren Preisen als sie hier erhoben wurden, erworben werden 
konnten. — Noch sei nachträglich bemerkt, daß der Nahrungsmittel- 
aufwand für eine 4 köpfige Familie nach den Calwerschen Ziffern 
(Anfang April 1916) auf 51.99 M. wöchentlich zu veranschlagen 
ist 55), Das ist rein rechnungsmäßig (gegenüber Juli 1914) eine Steige- 
Jung um 100%. 

Schon wertvoller wären Ermittlungen der Verbraucherorganisatio- 
nen. Wirklichen Aufschluß über die Lebenshaltung während des 
Krieges, die Belastung des Einkommens auf der einen Seite, die Ein- 
schränkung des Verbrauchs auf der andern Seite, könnte nur eine 
umfassende Erhebung über Haushalte während des Krieges geben. 
Eine solche ist, leider erst ziemlich spät, für den April 1916 vom Kriegs- 
ausschuß für Konsumenteninteressen in die Wege geleitet, und be- 
gegnet naturgemäß gegenwärtig, wo die dafür hauptsächlich inter- 
essierten Gewerkschafts- und Organisationsmitglieder im Felde stehen, 
außerordentlich großen Schwierigkeiten 58). 

Diese Teuerung, der ja außerdem in wichtigen Nahrungsmitteln 
eine Knappheit parallel geht, bildet den Ausgangspunkt für die Be- 
mühungen zahlreicher Arbeiterorganisationen, Erhöhungen der Löhne 
zu erzielen 579), ebenso wie die Erneuerungen der Tarife mit Hinblick 
auf die Teuerung nicht ohne weiteres möglich ist. —, 


°4) Soziale Praxis, 30. III. 1916. 

5) Der Proletarier, ı5. VII. 1916. 

*) Soziale Praxis 13. IV. 1916. 

67) Gelegenilich wird auch darauf hingewicsen, daß die Unternehmer, welche 
Kriegsgefangene beschäftigen und verpflegen, eine Erhöhung der Verpflegungs- 
Sätze verlangt haben. So berichtet die sChemikerzeitung«, daß bei Beschäftigung 
von 1—50 Gefangenen ein Satz von 1.80 Mk. täglich als Verpflegungsgeld ange- 
messen wäre, Auf Grund dieses Satzes wird dann für eine fünfköpfige Familie 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. ı. 20 


306 Sozialpolitische Chronik, 


Ein Beispiel einer sehr intensiven, wenngleich nicht sehr erfolg- 
reichen Lohnbewegung bietet der Bergbau. Schon im Frühjahr 1915, 
als die Preise allseits zu steigen begannen, und sich die wirtschaftlichen 
Verhältnisse für die Zechen günstig gestalteten, richteten die 4 Arbeiter- 
verbände im Bergbau eine gemeinsame Eingabe an den Zechenverband, 
in welcher eine Teuerungszulage von 60 Pfg. für die verheirateten, 
von 40 Pig. für die unverheirateten Arbeiter erbeten wurde. Auch 
solche Erhöhungen, wurde ausgeführt, könnten einen völligen Ausgleich 
für die 40—50 prozentige Steigerung der Lebenskosten nicht bieten 58). 
Diese, gleichzeitig an alle in Betracht kommenden Unternehmerver- 
bände und auch an den Fiskus gerichtete Eingabe, in der zeitweiser 
Rückgang der Löhne nach den amtlichen Lohnerhebungen während 
der Kriegszeit konstatiert wurde, wurde zunächst von den Zechenver- 
bänden abgelehnt. In dem Begehren seinicht in Betracht genommen 5°), 
daß sich die Zusammensetzung der Belegschaft geändert habe, weshalb 
ein Vergleich der Durchschnittsdaten zu falschen Resultaten führe. 
Die Löhne der einzelnen Arbeiterkategorien seien tatsächlich überall 
erheblich gestiegen. Die verlangte Erhöhung würde die Gestehungs- 
kosten der Tonne Kohle um 50—75 Pfg. erhöhen, und daher von vielen 
Zechen nicht getragen werden können. Auch sei eine allgemeine 
Erhöhung der Löhne deshalb nicht ratsam, weil eine solche erfahrungs- 
gemäß »leicht verstärkend auf die Tendenz zur Erhöhung der Preise 
des Lebensunterhalts wirke«. | 

Die Gewerkschaften wollten sich mit dieser Antwort nicht zu- 
friedengeben, deren tatsächliche Ausführungen sie überdies (mit dem 
Hinweis auf die sinkenden Arbeitskosten per t Kohle) in Zweifel 
zogen. Aber selbst wenn alles stimme, so sei doch in Betracht zu ziehen, 
daß die Kohlenpreise ab r. IV. 15 um Mk. 1.25—2.25 erhöht wurden, 
die Verkaufspreise des Kohlenkontors sogar um 4 Mk. Auch wurde 
in den einzelnen Fällen nachzuweisen gesucht, daß ein und dieselben Ar- 
beiter nach Kriegsbeginn weitaus weniger an Lohn erzielten als bisher 6°). 

So standen sich die Forderungen der Arbeiter und die Ablehnung 
der Zechen schroff gegenüber, als vermittelnde Aeußerungen der preu- 
Bischen Regierung den Arbeitern die Aussicht auf eine Intervention 
eröffneten 8). Späterhin wurde dann auch in der amtlichen Statistik. 
die Unterlage für eine einwandfreie Beurteilung der Situation gegeben. 
Aus diesen Lohnziffern scheint hervorzugehen, daß — vielleicht unter 

dem Druck der Gewerkschaften — die Gedinge im Verlauf des Jahres. 
1915 tatsächlich die Erzielung erheblich höherer Löhne ermöglichten: 
Es betrugen nach dem Reichsanzeiger die Löhne im Ruhrgebiet ®): 
ein Minımalnahrungsmittelaufwand von 44 Mk., für eine vierköpfige ein solcher 
vom 37.80 Mk. wöchentlich (Kinder = 1/, Ration) berechnet. Das entspreche unge- 
fähr den Berechnungen Calwers. (Der Proletarier, 4. III. 1916.) 
58) Bergarbeiterzeitung, 24. IV. 1915. 
5%) Bergarbeiterzeitung, 8. V. 1915. 
80) Bergarbeiterzeitung, 29. V. I915. 
61) Bergarbeiterzeitung, 26. VI. und 2r. VIII. 1915. 
62) Bergarbeiterzeitung, 23. X. und 18. XII. 1915, und Der Bergknappe 8.1V. 
IgI6. 





Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 307 


3. Quart. 2. Quart. 2. Quart. 3. Quart. 4. Quart. 


1913 1914 1915 1915 1915 
Durchschnittslöhne der 

Gesamtbelegschaft: 5.42 5.22 5.39 5.62 5.86 
Häuerlöhne: 6.56 6.19 6.66 7.04 7.29 


Gegenüber dem 2. Quartal 1914 betrug also die Steigerung in den 
Häuerverdiensten ca. 85 Pfg. per Schicht im 3. Quartal und 1.10 Mk. 
im 4. Quartal. 

Auf Grund dieser Erhebung erklärte dann der preußische Minister 
im Abgeordnetenhaus, daß allerdings die Löhne nicht so sehr gestiegen 
seien als die Lebensmittelpreise, aber das werde ja nicht einmal von 
den Arbeitern verlangt. Er sagte dann für die staatlichen Gruben 
Kinderzulagen zu. Von den Arbeiterverbänden wurde auch die festge- 
stellte Lohnsteigerung im 3. Quartal 1915 als ungenügend bezeichnet; 
wenn man die Löhne des 3. Quartals 1915 mit dem 3. Quartalıgız3 ver- 
gleiche, komme man zu einer Steigerung von 6—8%, während die 
Lebensmittelpreise um 80—100% gestiegen seien ®°). (Hierbei wird, 
wie gewöhnlich, das 3. Quartal ıgı3, der Höchststand der Löhne 
während der Hochkonjunktur, als Ausgangspunkt genommen.) 

Da demnach die Ersuchen an die Zechenverbände nicht von Erfolg 
begleitet waren, wendeten sich die 4 Verbände an das Oberbergamt in 
Dortmund ®). Bisher ist ein Resultat dieses neuerlichen Schritts 
nicht bekannt geworden. Er dürfte aber keinen Erfolg haben, da die 
inzwischen eingetretene Steigerung der Löhne für das 4. Quartal 1915 
von der Bergbehörde wahrscheinlich als ein hinreichender Ausgleich 
für die Teuerung anerkannt werden wird, umsomehr als jetzt (Frühjahr 
1916) noch Kinderzulagen gewährt wurden, in der Höhe von Io Pfg. 
per Schicht und Kind unter 14 Jahren €). Man darf wohl nicht mit Un- 
recht annehmen, daß diese namhaften Erhöhungen immerhin auf die 
Einwirkungen der Gewerkschaften zurückzuführen sind. 

Der Bergbau ist die einzige Industrie, in welcher fortlaufend eine 
genaue amtliche Lohnstatistik geführt wird. In den übrigen Industrien 
sind daher einwandfreie Feststellungen über die Lohnveränderungen 
während der Kriegszeit nicht möglich. Für die Kölner Metallarbeiter 
wird z. B. (seitens des Verbandsorgans) behauptet 68), daß bald nach 
Kriegsbeginn die Extravergütung für Ueberstunden in Wegfall ge- 
kommen sei, daß Nachschichten ohne besondere Mehrvergütung ein- 
geführt wurden, so daß die Arbeiter alle Errungenschaften seit dem 
Jahre 1912 preisgeben mußten. In einzelnen Betrieben seien Arbeits- 
wochen bis zu go Stunden vorgekommen. (Auch im Bergbau hat ja 
die Zahl der verfahrenen Schichten beträchtlich zugenommen.) Nach 
Lohnerhebungen, welche im April 1915 vorgenommen wurden, forder- 
ten die (für diesen Zweck vereinigten) Gewerkschaften vom Kölner Gou- 


®) Bergarbeiterzeitung, 18. XII. 1915. 
“) Ebenda, 22. I. 1916. 
*) Ebenda, rr. III. 1916. 
“) Metallarbeiterzeitung, 4., 11., 18. und 25. XII. 1915. 
20* 


308 Sozialpolitische Chronik. 


vernement, es möchte sich für eine Erhöhung der Löhne um 30% (gegen 
den Lohn vor dem Kriege) einsetzen; der Mindestlohn für die erwach- 
senen Hilfsarbeiter sollte 55 Pfg. per Stunde betragen. Das Gouver- 
nement verhandelte eingehend mit den Arbeitgeberverbänden, jedoch 
ohne Resultat; obaber tatsächlich die Lohnverhältnisse gerade in der 
Metallindustrie so außerordentlich ungünstige seien, läßt sich mangels 
einer Lohnstatistik nicht feststellen. 

Seit dem Frühjahr 1915 scheinen in vielen Industrien, welche einen 
günstigen Geschäftsgang zu verzeichnen haben, Teuerungszulagen 
üblich zu sein 7). Sie halten Sr in ziemlich engen Grenzen, nehmen in 
der Regel mit der Lohnhöhe ab, und sind Familien- resp. Kinderzu- 
lagen. Diese Zulagen sind namentlich dort, wo Heeresaufträge in 
Frage kommen, ein (nach der Behauptung der Arbeiter zu geringes) 
Aequivalent für die faktische Einshränkung der Freizügigkeit, welche 
in der Rüstungsindustrie tatsächlich besteht. Es ist durch die mili- 
tärischen Behörden und den Kriegsausschuß der Industrie den be- 
teiligten Unternehmern empfohlen worden, das Inserieren nach 
Facharbeitern, namentlich Drehern, Schlossern, Maschinenbauern, 
Kupferschmieden, Nietern usw. gegen das Versprechen hohen Verdienstes 

- zu unterlassen, weil dadurch nur andern Firmen die Arbeitskräfte 
entzogen und eine »ungesunde Lohntreiberei« verursacht werde. Na- 
mentlich würde das bei der Rückkehr ruhiger Verhältnisse infolge der 
Herausbildung eines anormalen Lohniveaus Schwierigkeiten machen ®), 

Im allgemeinen kann man demnach wahrscheinlich annehmen 
(festere Unterlagen fehlen), daß in den Industrien, welche bei guter 
Rentabilität für Heereslieferungen arbeiten, zwar gewisse Lohnerhöh- 
ungen eingetreten sind, ohne daß diese jedoch eine Aufrechterhaltung 
des Lebensfußes vor dem Kriege gestatten ®), Hingegen dürften 
die Lohnverhältnisse für Arbeiter, die für bestimmte Betriebe rekla- 
miert sind, ungünstiser sein, und dasselbe gilt wohl für die Industrie- 
zweige, welche an der Ungunst der Konjunktur leiden. Analoge 
Verhältnisse herrschen überall, wo die allgemeine Wehrpflicht zu 
tiefen Eingriffen in das Reservoir der Arbeiterschaft nötigt, also 
auch in Oesterreich-Ungarn, sowie in Frankreich. Es ist eben das 
Herabdrücken oder Gleichbleiben der Löhne eine internationale Er- 
scheinung in den Ländern der allgemeinen Wehrpflicht und des »Burg- 
friedens«. Bloß in England haben die Arbeiter durch rücksichtslose 
Streiks einen erheblichen Anteil an der Kriegskonjunktur zu erringen 
vermocht. Hingegen ähneln die französischen Verhältnisse sehr denen 
Deutschlands, ja scheinen sogar erheblich schlechter zu sein. So be- 


€ Z. B. in der chemischen Industrie: in der badischen Anilin- und Sodafa- 
brikation. (Der Proletarier, 15. V. 1915.) 

6&8) Der Proletarier, 8. V. 19r5. 

69) Das wäre ja, schon infolge der Nahrungsmittelknappheit, überhaupt nicht 
möglich. Aber cs wäre bei freier Ausnützung der Konjunktur ein so hohes Ansteigen 
der Löhne denkbar, daß sich Sparbeträge in den Händen der Arbeiterschaft 
ansammeln. 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 309 


richtet Merrheim im Labour Leader vom 3. II. 1916 ?°), daß die Löhne 
im Durchschnitt während des Krieges um 40% zurückgegangen seien, 
während sich die Kosten des Lebensunterhaltes um 40—60% gesteigert 
hätten. Wenn man das Sinken der Kaufkraft des Geldes in Rechnung 
ziehe, betrage der Verdienst ?/, des zu Kriegsbeginn erzielten Lohnes. 
Es gebe Fabriken, in welchen mobilisierte Leute mit einem Stunden- 
lohn von 50—70 cts. arbeiten neben nicht mobilisierten, welche I.20 
Frs. beziehen. Die mobilisierten sind eben in einerZwangslage, welche 
noch ‚verschlechtert wird durch die große Zahl der dilettantischen, 
drückebergerischen Arbeiter. Die Frauen werden noch schlechter 
entlohnt als die Männer; die Arbeitszeiten sind übermäßig lange, 
meist 12 Stunden, Ueberzeit und Sonntagsarbeit müsse ohne Zuschlag 
geleistet werden. Die gewerkschaftlichen Arbeitsverträge sind aufge- 
hoben, die Arbeiter die Sklaven ihrer Unternehmer. Der sozialistische 
Munitionsminister Thomas wird für diese Zustände mit verantwortlich 
gemacht. 

Immerhin günstiger, d. h. wenigstens gleichmäßiger liegen die 
Verhältnisse in den Tarifgewerben 7%”). Da ist wenigstens eine gleich- 
bleibende Entlohnung während der ganzen Kriegsdauer anzunehmen. 
In denjenigen Gewerben, in welchen die Tarife abliefen, waren die Ar- 
beiter vielfach in der Lage, Teuerungszuschläge zu erzielen, allerdings 
blieben diese hinter den Forderungen der Arbeiterschaft weit zurück. 
So wurde z. B. der Tarifvertrag im Malergewerbe ernenert: Die Ar- 
beiter verlangten eine Lohnerhöhung von 15% = IoPfg. per Stunde, 
da die Spannung der Malerlöhne zu den Löhnen anderer gleichartiger 
Arbeiter bis zu 18 Pfg. pro Stunde betrage. Die Unternehmer ihrer- 
seits wiesen auf ihre schlechte Lage hin, auf Teuerung der Materialien, 
das Verbot gewisser Arbeiten, das Fehlen von Kriegsaufträgen usw. 
und boten daher lediglich eine Teuerungszulage von 3%—4 Pig. per 
Stunde an ; nach langen sachlichen Auseinandersetzungen wurde beieiner 
Arbeitszeit bis ọ Stunden eine Zulage von 6 Pfg., bei einer längeren 
Arbeitszeit eine Zulage von 5 Pfg. per Stunde bewilligt (also ca. 3 Mk. 
wöchentlich), mit Wirksamkeit vom I. III. 1916. Der Tarifvertrag 
wurde bis zum 15. II. 1917 verlängert ”'). 

Zu keinem günstigen Ergebnis führten bisher die Tarifvertrags- 
verhandlungen im Baugewerbe; die Arbeiter forderten eine 
Erhöhung der Löhne von 20—25 Pfg. per Stunde, die Unternehmer 
stellten eine Teuerungszulage von 4—6 Pfg. in Aussicht. Eine Versamm- 
lung der Unternehmer beschloß (Ende Februar) freiwillige Zuschläge 
zu den Tariflöhnen (4—6 Pig.) zu bezahlen ??) — was ungefähr den 
Teuerungszulagen der Behörden entspreche. Die Arbeiter wollten 


10) Diese Angaben nach der Metallarbeiterzeitung. 

709) Aber auch hier fehlt es nicht an verainzelten Klagen. Diese kommen aus 
den Gewerben, welche keine Kriegskonjunktur haben. So klagt die Holzarbeiter- 
zeitung, daß die Tariflöhne nicht eingehalten werden, daß die Arbeitszeit ver- 
längert werde. (A. a. O., 29. V. und 5. VI. 1915.) 

11) Correspondenzblatt der Generalkommission, 12. II. 1916. 

1") Der Grundstein, 11. III. 1916. 


3 I0 Sozialpolitische Chronik. 


nicht darauf eingehen, und so konnte bis zum Ablauf des Tarifvertra- 
ges (31. III.) keine neue Uebereinkunft getroffen werden ”3), Der 
Arbeitgeberbund beschloß,. trotzdem ab 15. III. die Zuschläge von 
4—6 Pig. zu bezahlen. Das Reichsamt war nun wiederholt bemüht, 
die Vertragsparteien zu neuen Verhandlungen zusammenzuführen. 
Diese Bemühungen hatten insofern Erfolg, als für den 3. Mai neue 
Verhandlungen mit Zustimmung beider beteiligten Parteien anberaumt 
werden konnten %). Bei diesen ist dann wohl eine Einigung zu er- 
warten, die aber kaum wesentlich höhere Zulagen als die bisher von den 
Unternehmern angebotenen bringen dürfte 7%). 

Relativ leicht wurde für die Arbeiter ein günstiger Tarifabschluß 
für die Bauarbeiten in Ostpreußen getroffen. Die wesentlichen Bestim- 
mungen sind: paritätische, zentrale Arbeitsvermittlung, 9% stündige 
Arbeitszeit, bessere Bezahlung der Ueberstunden, Stundenlohn 53 —56 
Pig., Erhöhung der Akkordlöhne um 10% gegenüber dem Tarif, pari- 
tätische Schlichtungskommission für Streitigkeiten ?®). 

Auch prinzipiell von Wichtigkeit waren die Tarifverhandlungen 
im Buchdruckergewerbe 7%). Denn schon vor Ablauf des Tarifs mach- 
ten die Unternehmer den Versuch, die unbequemen Bestimmungen des 
Tarifs zu umgehen. Man suchte ungelernte Arbeiter, resp. Nichtbuch- 
drucker bei den Maschinen zu beschäftigen (so wurde die Heranziehung 
arbeitsloser Textilarbeiter empfohlen), man stellte sie zu niedrigeren 
als den tarifmäßigen Löhnen ein, man wollte die Zulassung von bisher 
ungelernten Hilfsarbeitern zur Bedienung der Rotationsmaschinen er- 








?s) Die Lohnforderungen der Arbeiterschaft im Baugewerbe werden beson- 
ders detailliert begründet. Es wird ausgeführt (nach den Calwerschen Index- 
zitfern), daß (eine Ausgabe von 60 % des Lohnes für Nahrungsmittel angenom- 
men) die Lebenshaltung des Maurers vom Juli 1914 bis zum Januar 1916 wie von 
100 auf 60 zurückgegangen sei; die Lebenshaltung des Maurers war im Januar 
1916 sogar noch um 28,5 °% geringer alsim Jahre 1896. Von den Errungenschaften 
seit dem Jahre 1896 blieb daher dem Maurer bloß die Verkürzung der Arbeits- 
zeit und einige andre kleinere Verbesserungen. Um die Lebenshaltung vor dem 
Kriege wieder zu erreichen, wäre eine Lohnerhöhung von 37,5 Pfg. per Stunde 
notwendig; um auf den Stand des Jahres 1896 zu kommen, wären 32 Pfennig 
Lohnerböhung notwendig. Die vom Arbeitgeberverband als sangemessen« be- 
zeichnete Zulage trage daher der Aenderung der Verhältnisse in keiner Weise 
Rechnung. (Der Grundstein, 8. IV. 1916.) 

74) Vorwäıts, 27. IV. 1916. 

748) Eine solche Regelung ist inzwischen von einer Einigungskonferenz 
den beteiligten Verbänden vorgeschlagen worden: Es ist Erneuerung des Tarifs 
bis 31. III. 1917, resp. bei längerer Kriegsdauer bis 31. III, 1918 empfohlen. An 
Lohnerhöhungen werden Zulagen von 4—6, ansteigend auf 7—ıı Pfg. per 
Stunde beantragt; bei Akkordlöhnen entsprechende Regelung (Vorwärts 5. V. 
1916). 

74%) Holzarbeiterzeitung, 19. VI. 1915. 

7°) Für dieses war schon bald nach Kriegsausbruch eine »Kriegsgemein- 
schafte gegründet worden, deren Zweck es war, eine sachgemäße Handhabung des 
Tarifs im Kriege zu sichern und die Schwierigkeiten der Kriegszeit, welche ja 
für das Buchdruckergewerbe keine Konjunktur brachte, zu vermindern. (Cor- 
respondenzblatt der Generalkommission, 1r. IX. 1915.) 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 311 


reichen. Ob und inwieweit tatsächlich solche Tarifverletzungen statt- 
gefunden haben, ist nicht klar ersichtlich ; daß die Einhaltung des Tarifs 
von den Arbeitern sehr eifersüchtig überwacht wird, ist nur zu wahr- 
scheinlich %). — In Berliner Prinzipalskreisen, die aber anscheinend 
nur geringen Einfluß und Umfang haben 78), waren Bestrebungen im 
Werke, die Kriegszeit auszunützen, um Veränderungen der Tarifverträge 
zugunsten der Arbeitgeber durchzusetzen. So sei nur erwähnt 77), daß 
dort‘ weder an Lohnerhöhungen noch an Arbeitszeitverkürzungen 
gedacht wurde, hingegen wurde eine Arbeitszeitverlängerung an den 
Setzmaschinen in Vorschlag gebracht. Ferner, wird behauptet, sei die 
Verwendung von Frauen an geeigneten Setzmaschinen in Aussicht 
genommen und vorgeschlagen worden, die Einführung neuer Maschinen- 
systeme zu erleichtern, und an Arbeitskräften und den Maschinen 
zu sparen. Auch bemühte man sich, Lehilinge bereits nach einjähriger 
Lehrzeit an Setzmaschinen zu beschäftigen u. v. a. Endlich sollten 78) 
Kautelen gegen »vorsätzliche Zurückhaltung der Arbeitskraft« ge- 
geben werden, Ansage von Ueberstunden sollte nicht mehr notwendig 
sein; auch das Verbot regelmäßiger ı %, stündiger Ueberzeiten sollte 
wegfallen. Auch andere, mehr grundsätzliche Tarifbestimmungen, 
betreffend den Arbeitsnachweis, Vertrauensmänner usw. suchten die 
Prinzipale abzuändern. (Die Aneinanderreihung dieser Versuche zu 
tarifwidrigem Vorgehen zeigt, in welch starkem Maße Tarifverträge 
mit detaillierten Bestimmungen ein Hemmnis für die Unternehmer 
in Zeiten des Arbeitermangels darstellen. Bloß im Buchdrucker- 
gewerbe, soweit zu sehen, läßt sich die Position der Arbeiter gegenüber 
den Unternehmern an Stärke mit der der englischen Arbeiter ver- 
gleichen.) 

Alle diese Versuche, den Tarif abzuändern, hatten aber keinen 
Erfolg. Er wurde bis zum Jahresschluß 1917 unverändert verlängert. 
Den Prinzipalen wurde dringend empfohlen, Teuerungszuschläge zu 
gewähren 79), 

Von den erneuerten Tarifen sei endlich noch der Buchbindertarif 
erwähnt. Und zwar wurde der »Dreistädtetarif«, für ca. 12 000 Per- 
sonen, verlängert. Die Arbeiter hatten eine I5prozentige Teuerungs- 
zulage verlangt; die Arbeitgeber aber bewilligten bloß 5 Pfg. bis zu 
einem Stundenlohn von 65 Pfg. für Arbeitet und 3 Pfg. für Arbeiterin- 
nen; für Akkordlöhne wurde jede Erhöhung abgelehnt ®9. 


Das Arbeitsverhältnis in den Militärbetrieben, 
Vielfach hatten auch im Berichtsjahr wieder die Militärbehörden 


Gelegenheit, in die Arbeitsverhältnisse der Betriebe einzugreifen, welche 


”®) Der Korrespondent, 4. I. 1916. 

”*) Der Korrespondent, 16. III. 1916. 

””) Der Korrespondent, 7. und ır. III. 1910. 
") Der Korrespondent, 16. III. 1916. 

”) Der Korrespondent, 30. III. 1916. 

»*) Der Korrespondent, 18. III. 1916. 


312 -  Sozialpolitische Chronik. 


mit Heereslieferungen betraut waren ®!). Sie waren mitunter genötigt, 
Maßnahmen zu treffen, welche die Sicherung der Tarife bezweckten. 
Da diese auf die verschiedenste Art und Weise umgangen wurden ®), 
kam die Miitärbehörde endlich dahin, gewisse Normen vorzuschreiben, 
welche innegehalten werden mußten, gleichgültig an wen der Auftrag 
der Bekleidungsämter schließlich gelangte ®). Analoge Regelungen 
erfolgten dann für das Gebiet der Lederausrüstungsgewerbe 84). 
Waren diese Eingriffe durchaus im Interesse der Arbeiterschalt 
gelegen, so darf man die Verfügungen doch nicht als Ausfluß eines sozial- 
politischen Geistes auffassen. Sie wurden vom militärischen Interesse 
— möglichst gleichmäßige Lieferungen zu erhalten — diktiert. Daher 
wurden z. B. auf der andern Seite Vorkehrungen getroffen, um die 
Stabilität der Arbeitsverhältnisse zu erhöhen, wodurch naturgemäß 
die automatische Steigerung der Löhne verlangsamt wurde. Das 
preußische Kriegsministerium empfahl nämlich den stellvertretenden 
Generalkommandos, unter den Kriegslieferanten ihres Bezirks eine 
‚Vereinbarung zustande zu bringen, wonact sie sich verpflichten sollten: 
I. einander nicht Arbeitskräfte zu entziehen, namentlich nicht abspen- 
stig zu machen; insbesondere sollen auch zur Aufgabe von Inseraten für 
Arbeitsplätze nicht Orte gewählt werden, in welchen viele Heeresliefe- 
rungen gearbeitet werden; 2. sollten Arbeiter aus a n d e r n Betrieben 
der Heeresindustrie nicht aufgenommen werden, wenn als Kündi- 
gungsgrund lediglich ungenügender Lohn angegeben wird und der bis- 
herige Arbeitgeber einen dem Tarif entsprechenden Satz bisher 
bezahlte. Hingegen sei die Klausel, daß der Austritt mit Zustimmung 
des Arbeitgebers erfolgte, nicht erforderlich, da das Kündigungsrecht 
nicht dem Ermessen des Unternehmers anheimgegeben werden solle ®). 


Die sozialpolitische Situation. 


Die meisten sozialpolitischen Probleme wurden auch im Berichts- 
jahr nur soweit erörtert und gefördert, als sie mit dem Krieg in Zu- 
sammenhang stehen. Bloß in speziellen Fragen des Arbeiterschutzes 
und sozialer Versicherung ist eine vom Krieg unberührte Weiterent- 
wicklung zu beobachten. So ist der Heimarbeiterschutz 
dadurch wirkungsvoller gestaltet worden, daß (mit Verfügung vom 
2. IV. 1916) nunmehr auch Arbeitersekretäre als Mitglieder von 
Heimarbeiterausschüssen bestellt werden können, weil »aus der Be- 
tätigung während des Krieges das Vertrauen geschöpft werden könne, 
daß sie die wirtschaftlichen Interessen vertreten, ohne sich von poli- 
tischen Gesichtspunkten leiten zu lassen«.. Demgemäß werden auch 
Syndici von Unternehmerverbänden zugelassen 88). — Ebenfalls die 

sı) Vgl. Archiv Bd. 39, S. 632 if. 

823) Namentlich kam häufig Uebertragung der Lieferungen aus dem Gebiet 
eines Armeekorps in das eines andern vor. 

83) Correspondenzblatt, 22. I. 1916. 

84) Correspondenzblatt, 25. III. 19106. 

8$) Der Proletarier, 30. X. 1915. 

8°, NMetallarbeiterzeitung, 29. IV. 1910. 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 313 


Heimarbeit betrifft die Regelung der hausgewerblichen Kranken- 
versicherung. Seit dem I. Januar 1914 besteht eine reichsgesetzlich 
eingeführte Krankenversicherung der Hausindustrie, welche durch 
Notgesetz vom 4. VIII. 1914 wieder aufgehoben wurde, um die Lei- 
stungsfähigkeit der Krankenkassen sicherzustellen 8°). Da die Leistungs- 
fähigkeit der Kassen sich als wenig beeinträchtigt erwies, setzte bald 
eine lebhafte Propaganda ein, um die Hausgewerbe-Krankenver- 
sicherung durch Statut zu regeln. Dadurch ist Anpassung an örtliche 
Verhältnisse möglich, und es soll diese statutarische Regelung auch 
späterhin erhalten bleiben. Wie diese Regelung erfolgte, wäre im ein- 
zelnen darzulegen, zu weitläufig. Nur soviel sei erwähnt, daß sie an- 
scheinend ziemlich unregelmäßig erfolgte 8) und vielfach die Ver- 
sicherten nicht befriedigte (relativ hohe Beiträge bei geringen Leistun- 
gen). Es sind aber (abweichend von den Bestimmungen der RVO.) Ar- 
ten der Regelung getroffen worden (zuerst in Berlin), welche allseits 
befriedigen und allmählich übernommen werden dürften; die Neue- 
rungen bestehen im Wesen darin, daß die Bestimmungen der allge- 
meinen Krankenversicherung möglichst auf Hausgewerbetreibende 
übertragen sind, und eine Sonderregelung vermieden wird. 

Dem Wunsch des Reichstags entsprechend hat die Regierung 
in der Frühjahrstagung 1916 (Anfang April) einen Gesetzentwurf ein- 
gebracht, wonach die Altersgrenze für die Altersversicherung vom 70, 
auf das 65. Jahr herabgesetzt werden soll. Damit hat die Regierung 
einen langjährigen Widerstand aufgegeben, und räumt jetzt in der 
Begründung des Entwurfs ein, daß die Höhe der Mehrbelastung bisher 
in den amtlichen Berechnungen überschätzt worden sei. Die Mehr- 
belastung des Reiches aus der Herabsetzung der Altersgrenze werde 
rund 5 Millionen Mk. jährlich betragen; die Versicherungsbeiträge 
werden in allen Lohnklassen um 2 Pfg. wöchentlich erhöht 8°). 
Auch die Waisenrente soll nach dem Entwurf (wenngleich in sehr 
bescheidenem Umfang) erhöht werden. Der Entwurf ist inzwische ı 
Gesetz geworden. 


Koalitionsrecht. 


Gemäß der von der Regierung zugesagten »inneren Neurorien- 
tierung« wurde eine Erweiterung des Koalitionsrechts gefordert und 
erwartet. Soweit essich auf die Staatsarbeiter bezieht, war davon schon 
im Rahmen dieser Chronik die Rede €). Der Form nach ist die Regie- 
fung den Arbeiterorganisationen entgegengekommen, in der Sache 
ist es beim Alten geblieben 9°). Eingaben der Gewerkschaften, welche 


*") Correspondenzblatt der Generalkommission, 3. IV. 1910. 

t8) Correspondenzblatt, 19. VI. 1915. 

esa) Soziale Praxis, 13. IV. 1916. 

®) Archiv, Bd. 41. 

%0) Sc lautet die neue preußische Dierstordnung (welche während des Krieges 
geändert wurde, um den Gewerkschaften entgegenzukommen), daß Arbeiteı, 
»Vereinen oder Verbänden, welche die Arbeitseinstellung als zulässiges Kampf- 


314 Sozialpolitische Chronik. 


sich gegen eine solche Regelung wendeten, und empfahlen, der Ar- 
beiterschaft bei der Festsetzung der Arbeitsbedingungen ein Mitbe- 
stimmungsrecht einzuräumen, um so Streiks zu vermeiden, hatten keinen 
Erfolg. Von Regierungsseite wurde den betroffenen freien Gewerk- 
schaften gegenüber darauf hingewiesen, daß die christlich-sozialen, die 
Hirsch-Dunckerschen und die Technikerverbände ausdrücklich auf 
= das Streikrecht in öffentlichen Betrieben verzichtet hätten 9), was der 
Transportarbeiterverband und der Metallarbeiterverband nicht getan 
hätten. In einer Erörterung des preußischen Abgeordnetenhauses 
erklärte z.B. der sozialdemokratische Abgeordnete Leinert, daß die 
Gewerkschaften nicht die Absicht hätten, Streiks im Eisenbahnbetrieb 
herbeizuführen ; das wurde aber von der Regierung als nicht ausreichend 
bezeichnet, sondern ein Verzicht verlangt. Der Minister erklärte 
ausdrücklich, daß Arbeiter, welche in den freien Gewerkschaften 
organisiert seien, nicht als ständig e« Arbeiter eingestellt werden 
könnten ®%). Wiewohl die Gewerkschaften erklären, sich durch kein 
Verbot abhalten zu lassen, die Arbeiter der staatlichen Verkehrs- 
anstalten zu organisieren, bildet diese Haltung der Regierung doch 
nach wie vor ein wesentliches Hindernis für das Vordrirgen der ge- 
werkschaftlichen Organisation in öffentlichen Betrieben und gewinnt 
angesichts der Möglichkeit einer Monopolisierung weiterer Industrien 
an Bedeutung. 

Dieselbe prinzipielle Ablehnung gegenüber einer Erweiterung 
des Koalitionsrechts finden wir für das Krankenpflegepersonal. Der 
Vorsitzende der christlich-sozialen Krankenpflegeorganisation er- 
suchte die Vorstände der Krankenanstalten um die Aufhebung des 
Koalitionsverbots für das Pflegepersonal, wurde aber durchwegs ab- 
schlägig beschieden, da niemand gezwungen sei, öffentlicher Ange- 
stellter oder Beamter zu werden. Wenn er es doch tue, müsse er 
sich der Treuepflicht fügen ®®). Auch in der privaten Industrie 
haben sich die Verhältnisse nicht geändert ; so verharren nach wie vor 
z. B. die Köln-Rottweiler Pulverfabriken dabei, keinen Arbeiter zu 
beschäftigen, welcher die Bestrebungen christlich-nationaler, christ- 
lich-sozialer oder sozialdemokratischer Organisationen direkt oder 
indirekt unterstützt 9%). Ein Versuch der christlichen Organisatio- 
nen, eine Aenderung herbeizuführen, wurde mit dem Hinweis auf den 
»Burgfrieden« abgelehnt. 
mittel erachten oder unterstützen, nicht angehörens« dürfen. (Correspondenz- 
blatt, 25. III. 1916.) 

#1) Die Regierung kann sich in ihren Maßnahmen auf die Zustimmung des 
»RReichskartells der Verbände der Beamten und Arbeiter staatlicher Verkehrs- 
anstaltene, Sitz Elberfeld, stützen, das zwar in einer großen Denkschrift eine 
Regelung des Staatsarbeitervertrags verlangt, aber in der Frage des Streikrechts 
durchaus auf dem Standpunkt der Regierung steht, ja noch weiter geht als diese, 
da sie einen bloßen Verzicht bei sozialdemokratischen Organisationen nicht als 
hinreichend ansieht. (Correspondenzblatt, 16. X. 1915.) 

92) Correspondenzblatt, 25. III. 1916. 

»32) Abgedruckt in: Der Proletarier, 17. VII. 1915. 

»ı) Der Proletarier, 17. VII. 1915. 








ge in - 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 315 


Eine grundsätzliche Besserung der Rechtslage scheint nur in einem 
Punkte bevorzustehen. Bekanntlich setzte vor dem Kriege eine 
Praxis der Gerichte und Verwaltungsbehörden ein, wonach die Ge- 
werkschaften als politische Organisationen behandelt wurden. 
Nachdem schon bald nach Kriegsbeginn diese Praxis sistiert und von 
der Regierung neuerliche Erwägung zugesagt wurde, ferner der Reichs- 
tag in seiner Herbsttagung in Initrativanträgen eine entsprechende 
Abänderung des Reichsvereinsgesetzes beschlossen hatte ®%*), ist nunmehr 
(zunächst in der Januartagung 1916 des Reichstags) von der Regierung 
die Erklärung abgegeben worden, daß »die Auslegung der Bestimmun- 
gen über die politischen Vereine durch die Gerichte und die Verwal- 
tungsbehörden den Gewerkschaiten nicht immer das Maß 
von Freiheit gelassen habe, dessen sie zur Betätigung ihrer berechtigten 
wirtschaftlichen und Wohlfahrtsbestrebungen bedürfen. Eine wirk- 
same Abhilfe hiergegen kann nur im Wege der Gesetzgebung geschaffen 
werden. Es muß gesetzlich festgelegt werden, daß die Gewerkschaften 
und die entsprechenden Vereine der Arbeitgeber nicht als politische 
Vereine behandelt werden dürfen, wenn sie sich mit solchen sozial- und 
wirtschaftspolitischen Angelegenheiten befassen, die mit ihrem eigent- 
lichen Aufgabenkreis, der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedin- 
gungen oder der Wahrung und der Förderung wirtschaftlicher und ge- 
werkschaftlicher Interessen ihrer Mitglieder im Zusammenhang stehen.« 


‚Ein entsprechender Gesetzentwurf ging späterhin dem Reichstag 


zu ®). Die wesentliche Bedeutung einer solchen Gesetzesänderung würde 





**) Der Reichstag hatte am 27. August 1915 gefordert, daß »Vereine von 
Berufsgenossen oder Angestellten verschiedener Berufe oder Standesvereine 
nicht als politische Vereine gelten sIlten, auch wenn sie zur Verfolgung ihrer 
Zwecke politische Gegenstände in ihren Versammlungen erörtern. 

3) Der Regierungsentwurf steht im Wesen auf dem eben erwähnten Stand- 
punkt. Er gibt die Erörterung politischer Angelegenheiten für die wirtschaft- 
lichen Organisationen nur soweit frei, als es sich um » Angelegenheiten der Sozial- 
politik oder der Wirtschaftspcelitik handelt, die mit der Erlangung oder dei Er- 
haltung günstiger Lohn- oder Arbeitsbedingungen, oder mit der Wahrung oder 
Förderung wiıtschattlicher oder gewerblicher Zwecke zugunsten ihrer Mitglieder 
oder mit allgemeinen beruflichen Fragen im Zusammenhang stehene — dieser 
Zusammenhang muß subjektiv und objektiv gegeben sein, bei Fehlen des Zu- 
sammenhanges dürfen also sozial- oder wirtschaftspolitische Fragen nicht erörtert 
werden, und ganz ausgeschlossen sind (nach der Begründung) »rein politisches 
Angelegenheiten. Z. B. Fragen der auswärtigen Politik, Verfassungen der Reichs- 
und Bundesstaaten, Wahlrechtsfragen usw. Nur wenn sich die Gewerkschaften 
dieser Regelung fügen, unterliegen sie nicht den beschränkenden Bestimmungen 
des Vereinsgesetzes für politische Vereine ($ 3, 17), namentlich Verbot, Jugend- 


‚ liche unter 18 Jahren zu Mitgliedern zu zählen (Vorwärts, 4. V. 1915). Der 


Entwurf wird von der sozialistischen Partei des Reichstages bekämpft. (Vgl. 
Vorwärts, 5. V. 1916.) Doch befürworten die Gewerkschaften, soweit bis- 
her zu sehen (vgl. die Ausführungen von Legien, im Vorwärts, 4. V. 1916), 
die unveränderte Annahme des Entwurfes, um wenigstens diese Verbesserungen 
sicherzustellen, An der Annahme ist wohl — trotz des Widerspruchs agrari- 
scher Organisationen — nicht zu zweifeln. 


316 Sozialpolitische Chronik. 


darin bestehen, daß der Mitgliedschaft jugendlicher Arbeiter 
in Gewerkschaften (bis zu 18 Jahren) kein Hindernis mehr bereitet 
werden könnte. Auch in anderer Beziehung (namentlich Versamm- 
Jungstätigkeit) ist für die Gewerkschaften die Einordnung unter die 
politischen Vereine ein schweres Hemmnis gewesen. 

Die Wünsche der Gewerkschaften gehen allerdinss darüber weit 
hinaus. In einer Zeit, welche den Zusammenhang der Interessenten 
so mächtig gefördert sieht, in der die Regierung selbst für ihre Zwecke 
sich auf Organisationen der Interessenten stützen muß, ja diese in 
Zwangsverbände zusammenfaßt, liegt es nahe, eine Art Koalitions- 
zwang zugunsten der Arbeiterorganisationen zu fordern. Zu kon- 
kreten Vorschlägen haben sich solche Wünsche bisher zwar nicht 
verdichtet, aber zum mindesten wird wohl von den Gewerkschaften 
die Zulässigkeit eines »verkehrsüblichen« Zwangs (d. h. Drohung mit 
Uebeln, mit welchen die Gegenseite nach der Sachlage rechnen muß — 
z. B. Drohung mit Streik) gefordert. Von da ist es noch weit zu einer 
wirklichen universalen Zwangsorganisation (wie sie z.B. die Drohung 
der Regierung mit dem Zwangssyndikat an die Zechenbesitzer be- 
deutet). Auch eine solche wird bereits verlangt — unter Hinweis auf 
einen Beschluß, der in einer Konferenz der südwalisischen Kohlen- 
interessenten gefaßt wurde. Um die Streiks während des Krieges zu 
verhindern und die Kohlenausbeute zu steigern, wurde nämlich be- 
schlossen, daß die nicht organisierten Bergleute aufzufordern seien, sich - 
den anerkannten Gewerkschaften anzuschließen. Wenn der Arbeiter 
ablehne, so seien die Verbände berechtigt, den Beistand des Zechenbe- 
sitzerverbandes anzurufen, um diesen Beschluß durchzusetzen. Es 
würden also die Unternehmer dann nur organisierte Arbeiter be- 
schäftigen. Der Bergarbeiterverband nimmt diese Regelung zum 
Anlaß, eine solche Zwangsorganisation auch für den deutschen Bergbau 
vorzuschlagen ®). Auch wenn man eine noch so weitgehende »innere 
Neuorientierung der Politik« annimmt, wird man doch wohl kaum 
glauben dürfen, daß diese Forderung Aussicht auf baldige Verwirk- 
lichung habe. 

Ebenfalls mit dem Krieg in Zusammenhang ist der S parzwang 
für Minderjährige. Die Kriegskonjunktur hat in Zusammen- 
hang mit dem Mangel an männlichen Arbeitskräften die Lohnver- 


9) Bergarbeiterzeitung, 29. IV. 1916. Der Einwand, daß man niemanden 
in die Organisation zwingen dürfe, sei nicht stichhaltig, denn »was heißt über- 
haupt »Zwang ausüben« ?e Wird auf den deutschen Staatsbürger nicht ein straffer 
Zwang ausgeübt von der Geburt an bis zum Tode ? Zwang zur Geburtsanzeige, 
Schulzwang, Impfzwang, militärischer Dienstzwang, vielfältiger Steuerzwang, 
Zwang zur Anmeldung bei Umzügen, Zwang zur Anmeldung von Vereinen, 
Konferenzen und Versammlungen, Zwang zur Anmeldung des erfolgten Todes — 
Zwang von der Wiege bis zum Grabe zu dem höheren sittlichen Zweck, das Per- 
sönliche dem Allgemeinen unterzuordnen. — Der Zwang, in eine Organisation 
einzutreten, sei ebenso sittlich gerechtfertigt, da die organisierten Bergarbeiter 
ja vieles für die gemeinsamen Interessen der Pen opfern, während die 
unorganisierten nur mit genießen. 


— 


- uno. 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 317 


hältnisse für die jugendlichen Arbeiter geradezu revolutioniert %). Zuerst 
hatnun, um der Verwahrlosung der jugendlichen Arbeiter und ihrer Ver- 
schwendungssucht vorzubeugen, das Generalkommando in Kassel ein- 
schneidende Maßnahmen getroffen 97), und u. a. verfügt, daß der Lohn 
nicht den Jugendlichen, sondern den gesetzlichen Vertretern ausgezahlt 
werden solle, und daß ein angemessener Teil des Lohnes in Sparkassen 
anzulegen sei, wo er bis zur Beendigung des Krieges, aber nicht über das 
21. Lebensjahr des betreffenden Arbeiters hinaus, angelegt bleiben 
solle. Auch wird jugendlichen Arbeitern untersagt, den bisherigen 
“Aufenthaltsort ohne ausdrückliche Genehmigung zu verlassen. Diese 
Vorschriften, welche eine Einschränkung der Freizügigkeit und der 
freien Verfügung über das Eigentum enthalten, wurden von den Ge- 
werkschaften abgelehnt. Auch in andern Gesellschaftsklassen komme 
es vor, daß Jugendliche von ihrem Geld nicht den richtigen Gebrauch 
machen. Die hohen Löhne seien das Ergebnis angestrengtester Arbeit; 
da Tanz und andere Lustbarkeiten autgehoben seien, bleibe ja lediglich 
der Besuch von Kinos und Theater übrig, der auch? günstig wirken 
könne. Außerdem sei es schwer zu entscheiden, ob bei der herrschenden 
Teuerung nicht der ganze Lohn für den Lebensunterhalt notwendig 
sei. Endlich sei es bedenklich, den Lebenstrieb der jungen Leute ein- 
zudämmen, welche »erst noch einmal leben wollen, da man von ihnen 
bald die Hingabe des Lebens für das Vaterland verlangte. Die »Soziale 
Praxis«, welche die Einwände der Gewerkschaften durchaus nicht alle 
billigt, ist auch der Meinung, daß die Vorschriften kaum durchwegs die 
erwünschte Wirkung haben werden. Sie sind ja auch inzwischen wieder 
wesentlich eingeschränkt worden. 


Die Frage des Arbeitsnachweises. 


Die Notwendigkeiten des Krieges hatten ein Eingreifen der Re- 
gierung in den Arbeitsmarkt zur Folge gehabt %), und trotz der Bes- 
serung des Arbeitsmarktes im weitern Verlauf des Krieges ist die an- 
gebahnte behördliche Regelung weiter ausgebaut worden. Im Frühjahr 
1915 haben die Gewerkschaften in einer ausführlichen Denkschrift 
eine Neuorganisation des Arbeitsnachweises durch Reichsgesetz, und 
zwar Einrichtung von Arbeitsämtern, die in einem Reichsarbeitsamt 


*) Die Kriminalität der Jugendlichen hat nach einer Umfrage der deutschen 
Zentrale für Jugendfürsorge bei den deutschen Jugendeceri hishöfen während 
des Krieges schr zugenommen. Namentlich Roheitsdelikte sind häufiger ge- 
worden. — Der Verdienst der Jugendlichen beträgt cft 3—4 Mk. täglich und 
‘ermöglicht daher allerdings (da vielfach deı Familie nur ein geringes Kostgeld 
bezahlt wird) manchmal eine gewisse Verschwendung. (Soziale Praxis, ro II, TOG.) 

1) Correspondenzblatt der Generalkommission, 11. IIT. 1916 und Holz- 
‚aıbeiterzeitung, 18. III. 1916. Für Kassel ist cine Einschränkung bis zum 21. 
Lebensjahr erfolgt, für Berlin bis zum ı8. Lebensjahr. In Berlin dürfen die 
Jugendlichen von ihrem wöchentlichen Arbeitsverdienst einen Betrag bis zu 
18 Mark ausgezahlt erhalten, vom Uecberschuß lediglich 1/,. Der Rest ist in eine 
‘Sparkasse einzuzahlen. (Soziale Praxis, 23. III. 1916.) 

8) Vgl. Archiv, Bd. 40. 


318 Sozialpolitische Chronik. 


gipfeln sollten, verlangt®). In diesen Forderungen waren sich also die 
Gewerkschaften einig, bloß die Werkvereine sprachen sich im Wesen 
für die Beibehaltung des bisherigen Zustandes aus, weil dieser die 
wirtschaftliche Freiheit der Parteien auf dem wichtigen Gebiete der 
Arbeitsvermittlung garantiere 10%). Auch fürchteten sie von einer 
zentralen Regelung eine Stärkung der »Kampfgewerkschaftene. Daher 
traten sie lediglich für die Schaffung von Stellen ein, welche die Arbeits- 
vermittlung der bereits bestehenden Nachweise durch Ausgleich der 
überschüssigen Nachfrage und des überschüssigen Angebots fördern 
sollen. — 

In derselben Weise sind auch die Unternehmer für die Beibe- 
haltung des bisherigen Zustandes eingetreten. Neuerdings suchten 
die Industriellen auch in Köln einen einseitigen Arbeitgebernachweis 
ins Leben zu rufen 1%), dessen Eröffnung jedoch auf einen Protest der 
lokalen Gewerkschaftsverbände hin vom Gouvernement »im Interesse 
der öffentlichen Sicherheit« untersagt wurde 1%). 

Der Widerstand der Unternehmer und der Werkvereine scheint 
dann die -Aussichten der Gewerkschaften auf Durchsetzung ihrer 
Wünsche sehr wesentlich vermindert zu haben, da ja überdies die 
Regierung diese Aufgabe während der Kriegszeit als politisch und 
technisch unüberwindlich schwierig erklärte !%*). In einer neuerlichen 
Konferenz (30. IV. 1915) im Reichsamt des Innern wurde lediglich die 
Errichtung öffentlicher Arbeitsnachweise als wünschenswert bezeichnet, . 
ohne die Voraussetzung paritätischer Leitung zum Beschluß zu erheben. 
AnStelle der Zentralisation wurde lediglich eine zentrale Auskunttsstelle 
befürwortet, hingegen schien die Regierung den Plan eines zentralen 
Aufbausder Arbeitsnachweise in örtliche Bezirksarbeitsämter, miteinem 
Reichsarbeitsamt an der Spitze, nicht zu akzeptieren 1%), 

Diese Erörterungen und Vorbereitungen führten zu einer Bundes- 
ratsverordnung, nach welcher alle nicht gewerbsmäßigen Arbeits- 
nachweise zur Meldung verpflichtet werden. Von allen diesen Nach- 
weisen sollen dann die noch nicht erledigten Arbeitsgesuche und 
offenen Stellen regelmäßig zweimal wöchentlich an das statistische 
Amt gemeldet und von diesem im Arbeitsmarktanzeiger publiziert 
werden 1%). Das ist auch bisher geschehen. Ein ergänzender Erlaß des 
preußischen Ministeriums bezweckt die nähere Fühlungnahme der 

ww) Archiv, Bd. 39, S. 630. Vgl. jetzt auch das Protokoll der Konferenz zur 
Regelung des Arbeitsnachweises vom Io. II. 1915. In dieser Konferenz waren die 
beteiligten Reichsbehörden, der deutsche Städtetag, die Verbände öffentlicher 
gemeinnütziger Arbeitsnachweise, die größeren Gewerkschaften und die Gewerk- 
schaftskommissionen vertreten Die Verhandlungen sind als Broschüre erschienen 
unter dem Titel: »Die Regelung des Arbeitsnachweisese, Berlin 1915 (im Ver- 
lag der Generalkommissicen). 

100) Der Bund, 2. IV. 19135. 

101) Bergerbeiterzcitung, 8. I. 1916. 

102) Netallarbeiteizeitung, 22. I. 1916. 

202%) Soziale Praxis, 3. II. 1916. 

103) Correspondenzblatt der Generalkommission, 15. V. 1915. 

104) Correspondenzblatt der Generalkommission, 17. VII. 1915. 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre ıg915[16 usw. 319 


Arbeitsnachweise an den größeren Orten durch Errichtung von zentra- 
len Auskunftsstellen. — 

In einer ausführlichen Denkschrift, welche dem Reichstag am 
27. XI. 1915 überreicht wurde, erörtert die Regierung die Entwicklung 
des Arbeitsnachweises in Deutschland 1%). Nach Aufzählung der 
bisherigen, ziemlich unzureichenden öffentlichen Einrichtungen (eine 
ausführliche Kritik bietet Dr. Heyde in der erwähnten Nummer der So- 
zialen Praxis) wird die Gründung öffentlicher Nachweise für notwendig 
gehalten, und Maßnahmen zur Förderung der zentralen Ausgleich- 
stellen nach bayrischem und badischen Muster werden erwogen. 
Endlich wird an öffentliche Nachweise für Privatangestellte gedacht. 
Aber auch die Denkschrift gibt zu, daß die Widerstände gegen die 
weitere Errichtung öffentlicher Nachweise sehr große seien, und es. 
ist nicht abzusehen, wie diese Widerstände ohne Reichsgesetz über- 
wunden werden könnten. Auch geht die Denkschrift an der Frage 
vorbei, ob und wie die einseitigen (Arbeitgeber- und Arbeitnehmer-) 
Nachweise in die öffentliche Regelung eingegliedert werden sollen. 

Alle diese Fragen des Arbeitsnachweises werden von überragender 
Bedeutung mit der Beendigung des Krieges. Dann nämlich werden — 
wenn sich der Arbeitsmarkt für die Arbeiterschaft ungünstig gestalten 
sollte — die einseitigen Arbeitgebernachweis sich der Einordnung 
unter die öffentlichen Stellen entziehen, und es wird der Kampf 
um den Arbeitsnachweis mit derselben Erbitterung geführt werden, 
wie er vor dem Kriege bestand. 

Daher haben nun — nach Jahresfrist seit der ersten größeren 
gewerkschaftlichen Aktion in dieser Frage — neuerdings die Gewerk- 
schaften (diesesmal in Verbindung mit der Gesellschaft für soziale Re- 
form) eine Eingabe an die Reichsregierung gerichtet, in welcher eine 
reichsgesetzliche Regelung des Arbeitsnachweises verlangt 
wird, die durch ein Vorgehen der Landeszenträlbehörden im Ver- 
waltungswege nicht ersetzt werden könne. Da aber die Regierung eine 
solche reichsgesetzliche Regelung nach wie vor ablchne, sollte die 
Regelung auf dem Verwaltungswege nach den gleichen Grund- 
Sätzen, und zwar tiefgreifend, erfolgen. Als Mindestforderungen 
seien dann folgende zu verzeichnen: mindestens in Gemeinden mit 
über 10 000 Einwohnern sollen gemeindliche Arbeitsnachweise errichtet 
werden ; diese gemeindlichen, paritätisch verwalteten Arbeitsnachweise 
sollen für die wichtigsten Berufszweige Fachabteilungen errichten; 
der paritätische Verwaltungsausschuß soll die Vermittlungsgrundsätze 
feststellen, geeignete Arbeitsvermittler anstellen und Beschwerden 
erledigen. Für größere Gebiete sind zentrale Auskunfts- 
Stellen zu schaffen (als Ausgleichstellen von Ueberschuß und 
Mangel auf dem Arbeitsmarkt auf Grund regelmäßiger Zusammen- 
arbeit aller nicht gewerbsmäßigen Arbeitsnachweise). Jeder Bundes- 
staat möge eine Landeszentrale für die Arbeitsvermittlung errichten, 
welche an eine Reichszentrale der Arbeitsnachweise berichtet. Eine 





105) Soziale Praxis, 3. und ro. II. 1910. 


320 Sozilapolitische Chronik. 


solche Regelung sei — mit Hinblick auf die Aufgaben nach Kriegs- 
ende — das Minimum. 

Dies ist der gegenwärtige Stand der Angelegenheit. Nach allen 
bisherigen, sehr weitläufigen und intensiven Verhandlungen muß man 
die Angelegenheit als sachlich vollkommen geklärt bezeichnen. Da die 
Regierung ihre Bedenken gegen eine öffentliche Regelung nicht über- 
winden kann, ist mit einer Durchsetzung des gewerkschaftlichen 
Standpunktes kaum mehr zu rechnen. Wenn auch nicht grundsätzlich, 
so hat die letzte Eingabe der Gewerkschaften (und der Gesellschaft 
für soziale Reform) sich doch bereits tatsächlich mit der Regelung auf 
dem Wege einzelstaatlicher Verordnung abgefunden. Damit ist aber 
jede Möglichkeit einer gleichmäßigen Ordnung und einer durchgreifen- 
den öffentlichen Gestaltung des Arbeitsnachweises geschwunden. 
Auch auf diesem Gebiete, auf welchem der Krieg Ansätze zu einer 
Entwicklung zu bringen schien, die im Interesse der Arbeiterschaft ge- 
legen wäre, hat daher die Regelung bis nun eine mittlere Linie — mehr 
zu den Wünschen der Unternehmer hin — eingehalten. Die Stellung 
der Regierung wird durch die Aeußerungen der Werkvereine gestärkt. 
Diese fordern, daß kein Eingriff in die Wirksamkeit der bestehenden 
Arbeitsnachweise erfolge, daB eine wirkliche Parität herrsche, 
und daß »namentlich die Stellen der Arbeitsvermittler durch wirklich 
unparteiische Persönlichkeiten besetzt werden, nicht aber durch Be- 
auftragte der in der Majorität befindlichen Organisationen« !%). Da 
dies auch der Standpunkt der Arbeitgeber, welche gewiß einer Zurück- 
drängung ihrer Nachweise den heftigsten Widerstand entgegensetzen 
=- würden, ist wohl nur mit einem Kompromiß in dieser Frage zu rechnen. 

Die Probleme der Kriegsbeschädigtenfürsorge 
stehen in engstem Zusammenhang mit der Frage des Arbeitsnach- 
weises. Zuerst hat Adolf Braun 1%) auf die Gefahren für die Lohn- 
bildung, die für die Gewerkschaften entstehenden Schwierigkeiten 
infolge des Uebergehens der Kriegsbeschädigten in manche für sie 
besonders geeignete Berufe hingewiesen. Seither ist eine unübersehbare 
Literatur (sowohl medizinischer als auch volkswirtschaftlicher Art) er- 
schienen, deren Ergebnisse hier nicht einmal auszugsweise berührt 
werden können. An dieser Stelle können lediglich die Versuche der Ge- 
werkschaften, sich an der Arbeit für die Kriegsbeschädigten zu be- 
teiligen, gestreift werden: die Gewerkschaften haben sich bald nach 
der Inangriffnahme der Kriegsbeschädigtenfürsorge für die Errichtung 
von Fürsorgestellen ausgesprochen, welche aus Vertretern der Ge- 
meinden, der Fach- und Fortbildungsschulen, der Aerzte, der Arbeitge- 
berorganisationen und der nicht gewerbsmäßigen Arbeitsnachweise 
zu bilden seien!®), Die Fürsorgestellen sollen möglichst bemüht sein, 

108) Der Bund, 28. IV. 1916. 

107) Neue Zeit, 33. Jahrg.. 2. Bd., 17. Heft (23. VII. 1915). 

168) Correspondenzblatt, 14. V1Jl. 1915. Schon vorher hatte eine Konferenz 
der Verbandsvorstände sich grundsätzlich für die Beteiligung an der Kriegs- 
beschädigtenfürsorge unter bestimmten Kautelen (namentlich Verhütung_der. 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. ‚321 


dafür zu sorgen, daß der Invalide in seiner bisherigen Berufsstellung 
wieder Beschäftigung indet. Die Fürsorgestelle hat Berufsberater zu 
ernennen, an welche sich die Invaliden wenden können, um in Zweifels- 
fällen Rat zu erhalten. Die Fürsorgestelle soll mit den Arbeitsnach- 
weisen und den Verbänden der Arbeitgeber und Arbeitnehmer (Tarifin- 
stanzen) in Verbindung stehen, und fir die Uebergangszeit, bis zur regu- 
lären Beschäftigung, Unterstützungen für die Kriegsbeschädigten 
erwirken. 

Das Hauptinteresse der Gewerkschaften konzentriert sich also 
darauf, daß die Beschäftigung der Kriegsbeschädigten nach Grund- 
sätzen erfolgt, welche die gewerkschaftliche Entwicklung nicht gefähr- 
den und den Kriegsbeschädigten eine entsprechende, lohnende Ver- 
wertung der Arbeitskraft ermöglichen. Auch die Unternehmer haben 
sich für möglichste Unterbringung der Kriegsbeschädigten in ihre frü- 
heren Stellen ausgesprochen, stehen jedoch der paritätischen Orga- 
nisation und der Eingliederung der Invaliden in die gewerkschaftliche 
und Tariforganisation ablehnend gegenüber !%). Eine Konferenz 
der rheinischen und süddeutschen Eisen- und Stahlindustriellen hat 
z. B. ihrer Meinung dahin Auscruck gegeben, daß die»Einmischung von 
Behörden, Gewerkschaften und sogenannten paritätischen Organen un- 
erwünscht sei, und daßman auch eine tarifliche Regelung der Kriegs- 
beschädigtenlöhseablehnen müsse. Damit würden vielehunderttausende 
Arbeiter außerhalb der Tarife gestellt werden. Die Unternehmer haben 
sich sogar für geringere Akkordlöhne ausgesprochen, weil die 
Kriegsbeschädigten zur selben Arbeit längere Zeit benötigen werden als 
die Gesunden und daher die Maschinenanlagen weniger ausgenutzt 
werden können !%). Angesichts solcher Beschlüsse ist die Besorgnis 
der Gewerkschaften nicht unbegründet, es könne die Invalidenrente 
zu einer Herabdrückung der Löhne führen. Wie die Dinge heute liegen, 
werden sich dagegen wirksame Garantien kaum finden lasen, da jeder 
(außerdem sehr schwer konstruierbare) Zwang einer höheren Ent- 
lohnung die Gefahr in sich birgt, daß die Kriegsbeschädigten in der 
Erlangung von Arbeitsstellen behindert werden. Eine vorbildliche 
Regelung (vom Arbeiterstandpunkt aus) hat der Zentralverband 
deutscher Konsumvereine im Einvernehmen mit der Ge- 
neralkommission der Gewerkschaften getroffen. Diese beiden Orga- 
nisationen sind zu einer Arbeitsgemeinschaft zur Fürsorge für Kriegs- 
teilnehmer aus den genossenschaftlichen Betrieben zusammenge- 
treten. Folgende Grundsätze wurden vereinbart: Arbeiter und An- 
gestellte in fester Stellung sind womöglich an den bisherigen Arbeits- 
plätzen zu den tariflichen Lohn- und Arbeitsbedingungen unter An- 
rechnung der früheren Beschäftigungsdauer sowie ihrer militärischen 
Dienstzeit zu beschäftigen. Eine Nachgewährung der Fesien findet 
Lohndrückerei, Geltung der Tarifverträge auch für Kriegsbeschäligte usw.) 
ausgesprochen. (Carresp»ndenzblatt, 17. VII. 1915.) 

1%) Der Pioletarier, 25. XII. 1915. 

109, Der Proletarier, 19. II. 1916. 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. ı. 21 


322 Sozialpolitische Chronik. 


nicht statt; ist eine Genossenschaft zur Wiedereinstellung nicht in der 
Lage, so soll sie bemüht sein, gleichwertige Plätze in andern Genossen- 
schaften ausfindig zu machen. Bei unverminderter Leistungsfähigkeit 
wird der frühere Lohn gezahlt, bei verminderter entsprechend weni- 
ger — die Militärrente wird nicht angerechnet Bei Differenzen über 
die Entlohnung entscheidet das Tarifamt des Zentralverbandes deut- 
scher Konsumvereine 11°). Wenn es notwendig ist, soll die »Arbeits- 
gemeinschaft« dem Kriegsbeschädigten Gelegenheit geben, sich in den 
vorhandenen Ausbildungsstätten für einen Beruf vorzubereiten. 

Die Frage der Kriegsbeschädigten wird für die Gewerkschaften 
von größter Bedeutung sein °°). Denn je länger der Krieg dauert, 
desto mehr wird der Anteil nur teilweise Erwerbsfähiger wachsen und 
die gewerkschaftliche Aktion beeinträchtigen. Namentlich die Frage 
des Arbeitsnachweises gewinnt dadurch wesentlich an Bedeutung. 

Ebenso ist auch die Frage der Arbeitslosenversiche- 
rung durch den Krieg zu größerer Wichtigkeit gelangt. Denn selbst 
bei »allmählicher« Entlassung der Kriegsteilnehmer ist mit einem 
massenhaften Zustrom auf den Arbeitsmarkt zu rechnen und die Mög- 
lichkeit einer Krise auf dem Arbeitsmarkt, ähnlich wie zu Kriegsbe- 
ginn, nicht von der Hand zu weisen. Angesichts dieser Möglichkeit 
wird von den Gewerkschaften neuerdings auf die Notwendigkeit einer 
Arbeitslosenversicherung hingewiesen. Eine solche ist nun während 
des Krieges an manchen Orten neu geschaffen worden 1), aber sie 
ist immerhin nur eine vereinzelte Einrichtung geblieben. Die Ge- 
werkschaften verlangen nunmehr — ohne daß dieser Wunsch gerade 
besondere Aussicht auf Erfüllung hätte — eine besondere Arbeits- 
Josenunterstützung für die Kriegsteilnehmer, was bei einer Zentrali- 
sierung des Arbeitsnachweises keine Schwierigkeiten bereiten würde. 
DieGewerkschaften wären sogar bereit, einen Teil der gewerkschaftlichen 
Unterstützung auf die Reichsunterstützung anrechnen zu lassen. Es 
würde jeder aus dem Heeresdienst Entlassene im Bereich seiner 
Zentralauskunftsstelle — falls er keine Stelle erhalten könnte — mit 


110) Korrespondenzblatt, 19. II. 1916. 

110%) In der Arbeiterschaft sind sogar schon Befürchtungen verbreitet, daß 
der mögliche berufsgenossenschaftliche Zusammenschluß der Unternehmer zum 
Zweck der Beschaffung künstlicher Gliedmaßen für die Kriegsbeschädigten 
den Ausgangspunkt einer neuen Abhängigkeit (nach Art der Werkswchnungen 
und Pensionskassen) werden können. Denn die Kriegsbeschädigten seien in 
der Verwertung der Arbeitskraft, wenn sie die Prothesen vom Unternehmer er- 
halten, außerordentlich abhängig. Deshalb wird genossenschaftlicher Zusam- 
menschluß der Kriegsbeschädigten unter Führung der Gewerkschaften propa- 
giert. (Neue Zeit, 5. V. 1916.) 

111) Eine Arbeitsloscnversicherung wurde z.B. in Würzburg geschaffen 
für Arbeiter, Kleingewerbetreibende und Privatangestellte. Die Unterstützungs- 
sätze betragen 4c— 50 Pfg. täglich, der Höchstbetrag für eine Familie 2 Mk. täg- 
lich. Y, der Unterstützung kann für die Miete von der Kommission direkt ver- 
wendet werden. Die Arbeitslosenversicherung ist nur für Kriegsdauer geplant. 
(Correspondenzblatt, 17. IV. 1915.) Ebenso Wiederaufleben der Arbeitslosen- 
versicherung in Schöneberg (ebenda, 24. IV. 1915). 


a | 


? Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 323 


einer Arbeitslosenkarte versehen werden, welche ihn zum Abheben 
der Unterstützung berechtigte. Die Unterstützung müßte allerdings 
— nach Anschauung der Gewerkschaften — wesentlich höher sein 
als die Arbeitslosenunterstützung, und 24—30 M. wöchentlich für 
eine Familie von 4—5 Köpfen betragen. Die Kosten würden keine 
Rolle zu spielen brauchen, da bei einer längeren Belassung beim Trup- 
penkörper die Kosten mindestens ebenso hoch wären 2). 

Neben diesen speziellen Vorschlägen werden die Versuche, zu 
einer allgemeinen zwangsweisen Reichsarbeitslosenversicherung zu 
gelangen, erneuert 113). Darnach sollen die gewerkschaftlichen Unter- 
stützungskassen als Träger der Versicherung anerkannt werden, wenn 
sie sich bestimmten Forderungen unterwerfen (insbesondere: geson- 
derte Verwaltungen, gewisse Mindestleistungen, Einreichung der Ergeb- 
nisse an eine Reichsstatistik, behördliche Rechnungskontrolle). Dann 
sollten diese gewerkschaftlichen Kassen dieselben Zuschüsse erhalten 
wie die zu errichtenden Zwangskassen. Diese Zwangsversicherung 
soll Arbeiter und Angestellte, einschließlich der Arbeiterinnen, Heim- 
arbeiterinnen, Dienstboten und Landarbeiter erfassen. Unfreiwillige 
Arbeitslosigkeit begründet den Anspruch auf Unterstützung, der aber 
nicht durch Ablehnung von Streikarbeit oder nicht tariflich entlohnter 
Arbeit verwirkt werden soll. Diesen Wünschen der Gewerkschaften 
dürfte eine baldige Erfüllung nicht beschieden sein. 


Ideologien der Gewerkschaften 1%). 


Die allgemeinen Anschauungen der Gewerkschaften haben durch 
den Krieg in manchen Punkten eine wesentliche Umbildung erfahren. 
Konnte eine solche im Vorjahr lediglich für die freien Gewerkschaften 
festgestellt werden, so erstrecken sich die Einwirkungen des Krieges 
gegenwärtig auch auf die übrigen Richtungen, namentlich die christ- 
lichen Gewerkschaften und andererseits auch auf die gelben (Werks-) 
Verbände. Am interessantesten und vielfältigsten sind die Einwirkun- 
gen des Krieges auf die freien Gewerkschaften. Sie zeigen sich auch 
in der Haltung zu einzelnen Problemen. So wenn z. B. das offizielle 
Zentralorgan der freien Gewerkschaften in der Erörterung der Kriegs- 
kostendeckung !15) alle Möglichkeiten neuer Steuern der Reihe nach 
durchgeht, sie kritisch beleuchtet (selbst die Kriegsgewinnsteuer 
nicht vorbehaltslos akzeptiert), und schließlich in Monopolen den 
einzig möglichen Ausweg sieht 8). Nur vereinzelt wird demgegenüber 





ua) Correspondenzblatt, 15. I. 1916. 

13) So in einem ausführlichen Artikel von P. Umbreit, wohl einer der besten 
Kenner dieser Materie, in der »Glockes, abgedruckt im »Proletarier« ı. IV. 1916. 

u4) Vgl. hierzu auch Archiv Bd. 39, S. 636. 

ns) Correspondenzblatt, 22. V. 1915. 

ne) Monopol insbesondere für Zigaretten, Versicherungswesen, Bodenschätze; 
Ausnützung der Kraftquellen, Verstaatlichung der Rüstungsindustrie, auch um 
Lieferungen an mögliche Gegner zu verhindern, welche das Tempo des Wett- 
rüstens steigern. 

21 * 


324 Sozialpolitische Chronik. 


von Gewerkschaftsorganen darauf hingewiesen, daß Monopole nur 
dann einen wesentlichen Erfolg haben könnten, wenn die Art der 
Ablösung für die Gewinne Spielraum lasse; sei das nicht der Fall, so 
bleibe nur Preiserhöhung übrig, also eigentlich indirekte Besteuerung. 
Außerdem sei zu bedenken, daß Monopole die Zahl der Staatsarbeiter 
vermehren, denen bisher das Koalitionsrecht versagt blieb. Monopole 
seien eben insolange für die Arbeiter nicht vorteilhaft, als nicht die 
innere Politik nach demokratischen Gesichtspunkten orientiert 
würde 116), Von derselben Seite wird weitere Entwicklung der Kriegs- 
gewinnbesteuerung verlangt und die Besorgnis, als ob die direkten 
Steuern die Kapitalansammlung und damit auch die Arbeiterschaft 
gefährden könnten, mit dem Hinweis auf das englische Steuersystem 
bekämpft 17). | 

Bei andern Fragen zeigt sich dieser Gegensatz zwischen der 
zentralen Leitung der Gewerkschaften und einigen radikaleren Ver- 
bänden hingegen nicht. So wenn z. B. (aus der Feder von Cunow) 
über die Wirtschaftsgestaltung nach dem Kriege geäußert wird, die 
neue, imperialistische Wirtschaftsepoche nach dem Kriege könne durch 
die Worte charakterisiert werden: »Vorherrschaft der Bankfinanz, 
Zunahme der industriellen Konzentration, Vermehrung der Staatskon- 
trolle und der Staatsbetriebe.« Damit sei aber noch nicht eine An- 
näherung an die staatsozialistische Wirtschaftsorganisation gegeben. 
Denn diese Eingriffe in die sogenannte Wirtschaftsfreiheit würden zu- 
nächst nur die staatlichen Lebens- und Machtgrundlagen verbreitern 
und festigen, den Staat also in seinem Verhältnis zu andern Staaten und 
Staatskoalitionen stärken. Die staatliche Wirtschaftstätigkeit könne 
ebenso zum Staatssozialismus wie zum Staatskapitalismus, vielleicht 
zum reinen Fiskalkapitalismus führen. Von dem Einfluß der Arbeiter- 
schaft im Staat wird die Richtung der Entwicklung abhängen. » Je mehr 
das Wirtschaftsleben unter die Kontrolle des Staates gerät, desto mehr 
muß die Staatsgewalt unter die Kontrolle der Arbeiterschaft gelan- 
gen !!8). — Was errungen werden soll, muß erkämpft werden.« Diese, 
im Grunde pessimistische Haltung gegenüber der Situation nach dem 
Kriege finden wir auch sonst, so wenn auf die Schwierigkeiten in der 
Wohnungsfrage 119) und auf die Schwierigkeiten des Arbeitsmarktes 
nach dem Kriege hingewiesen wird usw. Kurzum, dort wo die Konturen 
des ökonomischen Prozesses nach dem Kriege bereits sichtbar sind, 
und wo die gegenwärtige Situation sich eindeutig zuungunsten der 
Arbeiterschaft gewendet hat (in der Teuerungsfrage), wird man die ge- 
werkschaftlichen Stimmen aller Richtungen ziemlich einheitlich 
finden. Nur wo es sich um die Ausdeutung weiterer Entwicklungs- 
linien handelt, inden allgemeinsten Auffassungen also, setzen 
sich die bereits im Vorjahr sich ankündigenden prinzipiellen Um- 


116) Der Proletarier, 21. und 28. VIII., 4. IX. 1915; ferner ebenda, 25. IX. 
1915. 

117) Der Proletarier, 25. III. 1916. 

118) Correspondenzblatt, ır. IX. 1915. 

119) Correspondenzblatt, 20. XI. 1915. 


Die Genossenschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 325 


orientierungen fort. Es ist also im Wesen die im Vorjahr noch vorhan- 
dene optimistische’ Grundstimmung für die nächste Zukunft nicht 
mehr zu finden (das ist auf die lange Kriegsdauer zurückzuführen), und 
die Gewerkschaften aller Richtungen sind sich darin einig, daß selbst 
bei einer entgegenkommenden Haltung der Regierung die Schwierig- 
keiten der Gewerkschaften nach dem Kriege sehr große sein werden. 
Das war auch die Meinung bereits vor einem Jahr, nur dürfte heute die 
Möglichkeit einer günstigen Gegenwirkung seitens der Regierung und 
Gesetzgebung weitaus skeptischer beurteilt werden als damals. 

Wie in der politischen Partei sind auch deutlich innerhalb der 
freien Gewerkschaften zwei grundsätzlich voneinander verschiedene 
Richtungen zu konstatieren, welche sich mit denherkömmlichen Schlag- 
worten radikal und revisionistisch nicht decken. So wie schon inner- 
halb der politischen Partei es Revisionisten und namhafte Gewerk- 
Schaftsführer gibt, die sich zur Minderheit rechnen, stehen auch die 
Gewerkschaften politisch durchaus nicht auf demselben Standpunkt, 
und diese Meinungsverschiedenheiten in politischen Dingen (die in 
den Gewerkschaften notwendigerweise gegeben sind, da sie ja wahr- 
scheinlich den größten Teil der Mitglieder der politischen Partei um- 
fassen) gehen auf die sehr tiefliegenden prinzipiellen Differenzen zu- 
rück, welche letzten Endes ihre Ursache in verschiedenen Auffassungen 
über das Wesen des Sozialismus und die Aufgaben der Gewerkschaften 
in der sozialistischen Bewegung haben. Bereits im Vorjahr wurde auf die 
rrealpolitische« rechtsstehende Richtung innerhalbder Gewerkschaften 
hingewiesen, die mit einem starken Optimismus verbunden war 119%), 
Diese Richtung wird am intensivsten vom »Correspondenzblatt« ver- 
treten, dessen Haltung sich im großen ganzen mit der Position der 
»Sozialistischen Monatshefte« deckt. Hingegen gibt es nur wenige 
Gewerkschaftsblätter, welche ihre davon abweichende, radikalere 
Gesinnung deutlich zum Ausdruck bringen. Meist sind das dann 
Organe von Verbänden, deren Mitglieder größtenteils ungelernte 
Arbeiter oder Frauen sind. Dieser radikale Standpunkt kommt meist 
als Hinweis darauf, daß sich in der Situation der Arbeiter grundsätzlich 
a) An die Ausführungen der letzten Chronik über die Wandlungen der 
Ideologien knüpfte sich ein lebhaftes Gezänk, in welchem die Gewerkschaften — 
insbesondere das Correspondenzblatt — die Echtheit seiner sozialistischen Ge- 
sinnung zu erweisen suchte und. hierbei namentlich den sozialistischen und Ge- 
werkschaftsblättern (so dem Vorwärts und der Leipziger Volkszeitung, der Braun- 
Schweigischen Parleizeitung, der Handlungsgebilfenzeitung und dem Organ 
der Schuhmacher und Kürschner), welche die betreffenden Stellen aus dem Archiv 
aufgegriffen hatten, die Berufung auf das Archiv als einem »bürgeilichen Organe 
übelnahmen. Auf diese Kontroverse, soweit sie sich gegen die Chronik richtete, 
kann hier um s9 mehr verzichtet werden, als die Polemik leider ganz unsachlich 
war und sich überdies (wie das Correspondenzblatt selbst mit Genugtuung ver- 
merkte) ein Hauptwortfükrer dieser Polemik (er unterschied sich darın nicht von 
den übrigen) sder ehrlichen und ebenso deutlichen Sprache der Bauhandwerkers 
bediente, worin wir ihm, bei aller Sympathie für Energie des Ausdrucks doch 
nicht zu folgen vermögen. (Correspondenzblatt, 3. VIl. 1915.) Hierzu Aeußerungen 
auch: Holzarbeiterzeitung, 26. VI. und 13. und 20. VII. 1915. 


326 Sozialpolitsche Chronik. 


nichts geändert habe, zum Ausdruck. So wenn betont wird, daß sich 
der Standpunkt der Unternehmer grundsätzlich nicht gewandelt 
habe 120), daß der Burgfriede von den Unternehmern aufgefaßt werde 
wie der Friede zwischen Knüppel und Hund !2l). Sie zitieren gern 
Feldpostbriefe, in welchen ähnlichen Anschauungen Ausdruck gegeben 
wird 122). l 

Auch als Polemik gegen nationalistische Kriegsliteratur äußert sich 
der radikale Standpunkt !23). Im übrigen beschränkt sich diese Richtung 
darauf — wie bereits im Vorjahr erwähnt wurde —, vor Iullusionen 
über günstige Wirkungen des Krieges zu warnen. Daß solche Bemer- 
kungen gegenüber dem Vorjahr seltener geworden sind, deutet eher 
darauf hin, daß sie nicht mehr für notwendig erachtet werden; denn die 
ökonomische Situation der Arbeiterklasse hat sich ja im Verlauf des 
Krieges (infolge der maßlosen Verteuerung in der Lebenshaltung) so 
verschlechtert, die Löhne für Frauen und insbesondere Heerespflichtige 
sind nicht entfernt in demselben Umfang wie die Preise der wichtig- 
sten Bedarfsartikelgestiegen. Ausalldiesen Gründen sind die optimisti- 
schen Stimmen allmählich seltener geworden und infolgedessen wird 
auch nicht eine besondere Betonung des entgegengesetzten Standpunkts 
wachgerufen. | 

Die optimistische Haltung, welche die Gewerkschaftspresse im 
Vorjahr einahm !24), ist also stark reduziert. So wird mit Entrüstung 
zurückgewiesen, daß die Gewerkschaften national-sozial oder harmonie- 
duselig werden könnten 12). Auch der Korrespondent für Deutsch- 
lands Buchdrucker — also eines der am meisten rechtsstehenden 

. Organe — weist gelegentlich darauf hin, man dürfe jetzt nicht in den 

entgegengesetzten Fehler verfallen und alles im Lande loben: das wäre 
die beste Waffe für die Gegner der Sozialpolitik 128). Immerhin ist der 
Optimismus dieser Richtung noch nicht ganz ausgestorben. So wenn 
ausgeführt wird !?7), man werde gewiß nach dem Kriege wieder 
kämpfen müssen, aber die Erfolgmöglichkeiten seien größer geworden, 
nicht zum wenigsten deshalb, weil nach dem Kriege manche Vorur- 
teile zerbrochen seien ??8). Auch sei das Bürgertum nicht die »eine 
reaktionäre Masse«, als welche es oft hingestellt werde; hingegen ent- 
wickeln sich im bürgerlichen Lager fortschrittliche Kräfte 12°). Solche 
" 220) Der Proletarier, ı. und 8. I. 1916. 

121) Der Prolctarieı, 12. II. 1916. 

122) So: »Es gibt nichts in der Welt, das beides auszusöhnen vermöchte (Kapi- 
tal und Arbeit); die kapitalistischen Bestrebungen werden nach dem Kriege 
dasselbe Gesicht haben wie bisher. (Proletarier, 12. II. 1916.) 

123) Proletarier, 15. XII. 1915. 

124) Vgl. Archiv Bd. 41. 

125) Ccorrespondenzblatt, r. I. 1916. 

126) Korrespondent, zitiert im Proletarier, 19. VI. 1915. 

127) Holzarbeiterzeitung, 18. IX. 1915. 

126) Eine ganz rationalistische Auffassung; als ob die Lehre des Sozialis- 
mus annehmen würde, soziale Gerechtigkeit sei lebrbar, und nicht die Ge- 

staltung der Entwicklung ausschließlich von der Interessenlage ableiten würde. 

129) Diese Aeußerungen anknüpfend an das Thimme-Legiensche »Buch der 20€ 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 327 


gelegentliche Aeußerungen darf man gewiß in ihrer Bedeutung nicht 
übertreiben. Auch kommt die Haltung der meisten Organe der größeren 
Gewerkschaftsverbände inden letzten Monaten und gegenwärtig weni- 
ger in eigenen prinzipiellen Ausführungen zum Ausdruck, als in der 
Zustimmung zur Parteipolitik. 

Haltung der Gewerkschaften zum Partei- 
konflikt. In dem Parteistreit haben sich die Gewerkschaften ihrer 
großen Mehrheit nach immer zur »Politik des 4. August« bekannt. Sie 
haben diese Politik immer positiv vertreten !?°). Als von seiten der Par- 
tei Stimmen laut wurden des Inhalts, daß die Gewerkschaften nicht 
in Parteiangelegenheiten entscheidend mitzuwirken hätten, wurde 
demgegenüber hervorgehoben, daß die Gewerkschaften ein entschei- 
dendes Interesse an der Einheit der Partei hätten und nicht geneigt 
seien, auf erworbene Rechte (nämlich Einflußnahme auf die Haltung 
der Partei) leichterhand zu verzichten !?!). Nach der Feststellung des 
Korrespondenzblattes hat sich in der gesamten Gewerkschaftspresse 
keine Stimme für das »parteizerrüttende Vorgehen der 20 um Haase« 
gefunden 1%). Trotzdem ist die Haltung keine ganz eindeutige. Denn 
die Organe der alten großen Gewerkschaften setzen sich positiv für die 
Mehrheit ein 133), während sich andere reservierter verhalten. Aus- 
drückliche Stellungnahme für Standpunkt und Vorgehen der Minder- 
heit sind, soweit zu sehen, nicht zu verzeichnen. 

Dabei mag mitspielen, daß für die Gewerkschaften der Gesichts- 
punkt der Solidarität und Disziplin zuhöchst steht. Daraus ergibt 
sich dann die Mißbilligung der sozialistischen Fraktionsspaltung, 
ohne daß zu den Frazen, welche die Spaltung herbeiführten, Stellung 
genommen wird 134). Die Möglichkeit, das formale Moment in den 





130) Am 7. VII. 1915 hat eine Konfeienz der Verbandsvorstände erklärt: 
daß die Stellung der übergroßen Mcbrheit der sozialdemokratischen Reichstags- 
fraktion und des Parteiausschusses sowie des Parteivorstandes allein den Inter- 
essen der Arbeiterschaft im allgemeinen und der Gewerkschaften im besonderen 
diene, sowie daß die von den Sonderbündlern in der Partei vertretenen Ansich- 
ten dem Wesen und Wirken der Gewerkschaften widerspreche und ihre Durchset- 
zung eine Preisgabe alles dessen sei, was die Gewerkschaften erstreben«. 

131) Correspondenzblatt, ı. l. 1916. 

132) Correspondenzblatt, 15. I. 1916. 

133) Vgl. z. B. Correspondenzblatt, 22. I. 1916. 

1344) So z.B. die energische Wendung gegen ein von 172 Parleimitgliedern, 
darunter 20 Gewerkschaftsfunkticnären, unterzeichnetes und verbreitetes 
Flugblatt, in weichem radikale Tendenzen propagiert wurden (Correspondenz- 
blatt, 26. VI. 1915) und das daher als sorganısierter Sprengungsversuch der 
Einheit der deutschen Arbeiterorganisationen« bezeichnet wurde. »Für die 
Gewerkschaften, welche aus natürlichen Gründen auf ein starkes Soliaaritäts- 
gefühl und unerschütterliche Vertrauenswürdigkeit ihrer Mitglieder und Freunde 
das Hauptgewicht legen müsser, wenn sie sich nicht selbst das Wasser abgraben 
wollen, können unzuverlässige Politiker, wie die Abgeordneten Haase und seine 
Gesinnungsgenossen nicht als Vertrauenspersonen angesehen werden. Diese Kon- 
Sequenz haben die Gewerkschaften notgedrungen zu ziehen. « (Bergarbeiterzeitung, 

8. IV. 1916, nach der Spaltung der Fraktion.) 


328 Sozialpolitische Chronik, 


Vordergrund zu rücken, ist den Gewerkschaften um so willkommener, 
als sie sich ja »nicht in politische Streitigkeiten mischen wollen« 18). 
Da aber die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, daß die Partei einmal 
die Linie verlassen könnte, welche sie heute einhält, wird doch schon 
jetzt betont, daß politische Fragen zugleich gewerkschaftliche sein 
könnten 1%). Namentlich die Frage des Krieges, wird erklärt, und des 
Kriegsausganges gehe die Gewerkschaften außererdentlich viel an ; denn 
die Arbeiter seien an der staatlichen Unabhängigkeit des Wirtschafts- 
gebietes in erster Linie interessiert, und darum werde ihnen die Be- 
tätigung der Vaterlandsverteidigung aufgenötigt. — 

So wird von den leitenden Gewerkschaftsstellen gerade aus der 
Einheit von Partei- und Gewerkschaftsbewegung eine Beeinflussung 
der Parteipolitik, die unter Umständen eintreten könne, schon jetzt 
als möglich bezeichnet (tätsächlich ist ja schun jetzt der positive Ein- 
fluß der Gewerkschaften auf die Parteipolitik ein sehr erheblicher); 
andere gehen noch weiter, und erklären die unveränderte Weiter- 
führung der heutigen Parteipolitik als Conditio sine qua non eines wei- 
teren Zusammenarbeitens. So lehnt die Bergarbeiterzeitung für ihren 
Verband die Formel: »Partei und Gewerkschaft sind eins« überhaupt 
ab 137). Besonders seitdem nun innerhalb der Fraktion die Spaltung 
tatsächlich durchgeführt wurde, und es sich nicht mehr bloß um Ge- 
gensätze innerhalb der Fraktion handelt, betonen die Gewerkschaften 
entschieden ihre Uebereinstimmung mit der Mehrheit. Der Spaltung 
gegenüber läßt sich sogar ihr Standpunkt rein »juristisch« begründen: 
sie weisen darauf hin, daß sie (im Jahre 1906) lediglich mit der Partei 
das bekannte Uebereinkommen getroffen und daher mit der neuen 
Fraktion nichts zu tun hätten 138). 

Durch den Verzicht auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit 
dem Standpunkt der Minderheit beabsichtigen die Gewerkschaften 
offenbar auch, ein Uebergreifen des Konflikts auf ihre Organisationen 
zu verhüten. Daher beschränken sie sich darauf, dort, wo Gewerk- 
schaftsblätter eine Hinneigung zum radikalen Standpunkt bekunden, 
diesen Inkonsequenz in ihren Anschauungen nachzuweisen 199). 





136) Bergarbeiterzeitung, 10. IV. 1915. 

136) Dieser Gedanke wird auch so formuliert: »Gewiß, die Entscheidung über 
die Politik der Partei steht allein der Partei bzw. der Fraktion zu. Aber die Ge- 
werkschatten werden sich nie das Recht nehmen lassen, nachzuprüfen, ob die 
Politik der Partei den Interessen der Gewerkschaften in den einzelnen Fragen 
entspreche«. (Correspondenzblatt, 15. II. 1916.) 

137) Bergarbeiterzeitung, 8. IV. 1916. Vgl. ferner die Aeußerung: »Wenn 
in der Partei der »Geist« Scbelsohns (Radek) triumphieren sollte, so folge nicht 
daraus, daß das für die Gewerkschaften verbindlich bliebe. (Bergarbeiterzeitung, 
28. VIII. 1915.) Ueberhaupt legt gerade die Bergarbeiterzeitung, wohl wegen der 
starken Rücksicht, welche sie auf die übrigen Verbände nehmen muß, und wegen 
der besonderen Verhältnisse im Bergbau großes Gewicht darauf, von keiner 
politischen oder religiösen Partei abhängig zu sein. 

183) Correspondenzblatt, ı. IV. 1916. 

189) So gegenüber der Handlungsgehilfenzeitung, der Kürschnerzeitung, 
welche die Haltung des Correspondenzblattes nicht billigen. (Correspendenz- 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw, 329 


Auch die Gewerkschaftsorgane, welche dem radikalen Standpunkt 
sich näher fühlen, sind in ihren Aeußerungen zurückhaltend. Sie 
betonen, daß Partei und Gewerkschaft möglichst voneinander unab- 
hängig sein müssen; so wie es die Gewerkschaften ablehnen müßten, 
wenn die Partei in Gewerkschaftsfragen entscheiden wollte, so müßten 
es auch die Gewerkschaften ablehnen, direkt Stellung zu nehmen und 
z. B. die Minderheit zu verdammen, um so mehr als ja auch viele aktive 
Gewerkschaftler der Minderheit angehörten 1°). — 

Die Anschauungen der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter in 
politischen Fragen, besonders ihre Haltung gegenüber der Regierung 
und den Fragen des Krieges, kommen infolgedessen nur verschleiert 
und unvollständig zum Ausdruck. Denn auch die Gewerkschaften, 
deren Leitungen die »Politik des 4. August« gebilligt haben, sind 
keine einheitlichen Massen. Gerade in den großen Gewerkschaften, 
deren Leiter die stärksten Stützen der Parteipolitik sind, zeigt sich 
eine lebhafte Opposition, welche sich meist in einer lebhaften Kritik 
des Verbandsorgans Luft macht. Aus Mitgliederkreisen taucht dann 
meist der Wunsch nach einer reservierteren Haltung des Verbands- 
organs auf 141). 

Bei der Schwierigkeit, die wirkliche Stimmung der Arbeiterschaft 
zu erforschen, gewähren einen dankenswerten Einblick in die Strö- 
mungen, welche in Arbeiterkreisen herrschen, die Debatten der XII. 
Generalversammlung des deutschen Metallarbeiterverbandes über die 
Redaktionsführung des Verbandsorgans !#), am 30. VI. 1915, welche 
einen ganzen Verhandlungstag in Anspruch nahmen. Das Verbands- 
organ der Metallarbeiterzeitung hat seit Kriegsbeginn keinen Hehl 
daraus gemacht, daß es die »Politik des 4. August« durchaus billige. 
Auch in der Debatte wurde seitens der Redaktion der Metallarbeiter- 





blatt, 3. VII. 1915). Dieselbe Taktik gegenüber dem Vorwärts. Namentlich, in 
Gewerkschaftsblättern mag sich Inkonsequenz häufig nachweisen lassen, Denn 
die Gewerkschaftsblätter sind ebenso wenig von dem Wechsel der Strömungen 
frei, als die Parteiblätter. Auch in aicsen finden sich massenhafte, einander 
widersprechende Aeußerungen nebeneinander, da ja, solange dıe Spaltung in 
zwei Lager noch nicht radikal volizogen ist, beide Seiten in der Diskussion zu 
Worte kommen. Dazu kommt, daß wohl alle Partei- und Gewerkschaftsblätter 
ihre Informationen, und nicht bloß Informationen, sondern auch Artikel aus 
Keorrespondenzunternehmungen verschiedenen Standpunkts schöpfen, und 
daher kein einheitliches Bild darbieten. Trcotzdem ist es unschwer zu erkennen, 
ob ein Blatt mehr dem Standpunkt der Minderheit oder der Mehrheit zuneigt. 
Dieselbe Art der Polemik übrigens auch gegenüber dem Vorwärts, in welchem 
ja als einem Zentralorgan der Partei naturgemäß nicht alle Aeußerungen mit- 
einanger in Uebereinstimmung stehen. (Vgl. Correspondenzblatt, 19. VI. 191 5 
passim.) 

140) Der Proletarier, 26. II. 1916. 

14) Holzarbeiterzeitung, 9. X. 1915, 12. und 19. II., 4. III. 1916. Hingegen 
steht z. B. der Bergarbeiterverband ganz uneingeschränkt auf dem Standpunkt 
der Parteimehrheit und weist Gegenströmungen als »sanarchosyndikalistische 
Wühlereiens energisch zurück. (Bergarbeiterzeitung, 6. IV. 1915.) 

12) Metallarbeiterzeitung, 17. VII. 1915. 


AN 


330 . Sozialpolitische Chronik. 


zeitung erklärt, daß sie »aus vollster Ueberzeugung die Haltung der 
großen Mehrheit der sozialdemokratischen Reichstragsfraktion ge- 
billigt und vertreten, die der kleinen Minderheit aber zurückgewiesen« 
hätte 143). Trotzdem die Metallarbeiterzeitung durchaus diesem Stand- 
punkt zum Ausdruck verhalf, muß nach genauer Prüfung der im ersten 
Kriegsjahr publizierten Aeußerungen gesagt werden, daß die Schreib- 
weise weitaus zurückhaltender war als z. B. im Korrespondenzblatt der 
Generalkommission und in manchen andern Gewerkschaftsblättern (z.B. 
Bergarbeiterzeitung, Holzarbeiterzeitung usw.); tatsächlich haben ja 
auch die Vertreter der radikalen Richtung, welche Anhänger der 
Minderheit in der Reichstagsfraktion sind, nur einige wenige Artikel in 
der Metallarbeiterzeitung zum Gegenstand ihrer Angriffe gemacht. 
So eine Stelle, in welcher die sozialpolitische Situation außerordentlich 
optimistisch beurteilt, die Solidarität und Hilfeleistung des ganzen 
Volkes gepriesen wurde (hierbei wurde diese Solidarität als e r z w u n- 
gen durch das »eherne Muß der Geschichtes bezeichnet), einige Ar- 
tikel 1%), in welchen die deutschen sozialen Zustände im Vergleich zu 
den französischen und englischen als sehr günstig bezeichnet wurden 
(Nr. I1, 2 und ıı der Metallarbeiterzeitung ex IgI5) und ein kurzer 
Angriff auf Liebknecht. Schon der Umstand, daß relativ seltene und, 
wie betont werden muß, relativ ruhige Ausführungen zum Gegenstand 
so ausgedehnter Erörterungen und weitgehender Anträge gemacht 
wurden, ist ein deutliches Symptom für die Stimmung der Arbeiter- 
schaft. Dabei ist noch zu berücksichtigen, daß die Lohnverhältnisse 
der Metallarbeiter großenteils während des Krieges sicherlich (wenig- 
stens dem Geldbetrag nach) als relativ günstige bezeichnet werden 
müssen, daßessich hier um eine alte und sehr große Gewerkschaft 
handelt, welche immer einen Stützpunkt für gemäßigte Anschauungen 
gebildet hat, und daß die Metallarbeiterschaft noch am wenigsten durch 
die Einberufungen zum Kriegsdienst betroffen sein mag, da sicherlich 
sehr viele, namentlich landsturmpflichtige Arbeiter (wenigstens Z. Zt. 
dieser Generalversammlung) in den Betrieben standen. Aus all diesen 
Gründen können die Debatte und die auf ıhr vertretenen Anschauungen 
als Ausdruck von Stimmungen betrachtet werden, welche in der 
deutschen Arbeiterschaft ziemlich weit verbreitet sind, ohne sich 
hemmungslos zur Geltung bringen zu können (und zwar sind, wie die 
Debatte zeigt, nicht nur die amtliche, sondern auch die Selbstzensur 
der Gewerkschaftsblätter Hindernisse für sie). Der Debatte lagen 
mehrere Anträge (der Ortsgruppen Duisburg, Düsseldorf, Göppingen, 
Leipzig und Trier) zugrunde, die alle darin übereinstimmten, daß die 


— —— e m mee ~: 


143) Gleichzeitig allerdings erklärte der Redaktion in einem Atem, sie hätte 
den politischen Dingen nur soweit die Aufmerksamkeit zugewendet, als es für die 
eigne gewerkschaftliche Bewegung von Bedeutung sei, und auch in der Kriegs- 
zeit sei es der Schriftleitung »nicht eingefallen, in dem Kampf der Geister Partei 
zu ergreifene. (Ebenda.) 

143) Die angegebenen Ortsgruppen zählen ca. 15 000 Mitglieder, also ca. 
5 °% des Mitgliederbestands zu Ende 1914. (Zusammengestellt nach der Metall- 
arbeiterzeitung, I. V. 1915.) 





Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 331 


inneren Parteifragen in der Metallarbeiterzeitung überhaupt nicht er- 
örtert werden sollten; einige der Anträge mißbilligten ausdrücklich 
die Haltung der Metallarbeiterzeitung, welche nicht der Stimmung 
der Mitgliedermehrheit entspreche, verlangten Zurückhaltung von 
einer schauvinistischen Hetze« usw. Im einzelnen wurde in der Debatte 
hervorgehoben, daß es Sache des Gewerkschaftsblattes sei, mindestens 
vermittelnd einzuwirken; es dürfte nicht in der Zeitung lediglich die 
Stimmung eines Teils der Arbeiterschaft zum Ausdruck kommen, 
also dürften auch nicht die Artikel gebracht werden, in welchen die 
Stimmung der Arbeiterschaft als eine chauvinistische dargestellt wird. 
Die Stellungnahme der Metallarbeiterzeitung (z. B. auch gegen Lieb- 
knecht — viel gerügt wird eine redaktionelle Bemerkung, in welcher 
von der Minderheit gesagt wird: »Sie verfügen über nichts als über ein 
techt leistungsfähiges Mundwerk«) wird auch im Felde nicht geteilt. 
In einer »ungeheuren Anzahl von Feldpostbriefen«, welche leider nicht 
veröffentlicht werden könnten, werde die Haltung der Metallarbeiterzei- 
tung aufs schärfste kritisiert. Gegenüber den Bemerkungen der Re- 
daktion, daß die deutsche Arbeiterpresse noch immer mehr den Stand- 
punkt der Internationale vertrete, als die Arbeiterpresse des feindlichen 
Auslands, und den Bemerkungen, daß alle pessimistischen Aeußerungen 
der Arbeiterpresse nur den Krieg verlängern, weil sie die Zuversicht 
der Feinde auf einen inneren Zwiespalt oder eine Erschöpfung stärken, 
wird dann ausgeführt, daß die opportunistische Haltung des Verbands- 
organs, Ausführungen, welche ebensogut in Organen der Arbeitge- 
berverbände oder der gelben Gewerkschaften stehen könnten, die 
taktische Vertretung der Arbeiterinteressen außerordentlich erschwere. 
Namentlich die gerügten Artikel Kummers werden von den Werks- 
leistungen gegenüber Forderungen der Arbeiter nach Besserung ihrer 
Lage als Gegenargument verwendet, und der leitende Artikel »An der 
Jahreswendes stimme »fast wörtlich mit Wendungen von Scharf- 
macherzeitungen à la Post und Aeußerungen des Zentralverbandes 
deutscher Industrieller überein« 14). Es wird betont, daß ohnedies 
alle Nachrichten durch das amtliche Wolfsche Büro, also zensuriert 
in die Presse gelangen, die Nachrichten würden zugeschnitten wie es 
im Interesse des Staates liegt, und daher sollten die Aeußerungen, 
welche nicht der Zensur unterliegen, wenigstens von solchen Tendenzen 
frei sein. Prinzipiell werde immer die Internationalität betont, während 
sich im einzelnen die Schreibweise der Metallarbeiterzeitung von »der 
niedrigsten Klatschpresse« nicht unterscheide 146). Darüber hinaus- 
gehend wird der Redaktion sogar der Vorwurf gemacht (von dieser 


16) Gemeint ist hier in erster Linie die Betonung von der Notwendigkeit 
starker militärischer Bereitschaft angesichts der bedrohten Lage Deutschlands, 

ue) Z.B.: Ein Artikel spricht svon der Zügellosigkeit der italienischen 
Presse. Ist etwa bei uns die bürgerliche Presse gezügelt gewesen? Wir wissen 
doch, wie die bürgerliche Presse in den Tagen von Serajevo bis zum 4. August 
gehetzt hat.« England werde als der böse Bube hingestellt, der den Krieg inszeniert 
hat (Artikel in Nr. 18: »Kriegsmaifeier«), hingegen habe man früher immer darauf 
hingewiesen, daß Kriegsrüstungen zum Kriege führen müssen, usw. 


332 | Sozialpolitische Chronik, 


allerdings bestritten), daß sie über krasse Fälle von Ausbeutung nicht 
berichte. All diese Vorwürfe suchte die Redaktion zu entkräften, 
was nicht hinderte, daß mit Mehrheit ein Antrag zur Annahme ge- 
langte, der im Wesen (bloß mit stilistischer Abschwächung) das 
wichtigste der oben erwähnten Anträge aufnahm. Es wurde beschlossen, 
daB... »die . Anträge durch die sehr rege Aussprache erledigt 
seien; die Versammlung erwartet aber von der Schriftleitung des 
Verbandsorgans, daß sie in Zukunft dieser Aussprache mö,lichst 
Rechnung trägt und sich ganz besonders während des Kieges einer 
angemessenen Zurückhaltung befleißigt. Diese Zurückhaltung 
und Sachlichkeit erwartet die Generalversammlung auch auf das 
Bestimmteste in der Behandlung von inneren Parteistreitigkeiten.« 
Die Annahme dieses Antrages deutet allerdings darauf hin, daß in den 
Kreisen der gewerkschaftlichen Massen andere Anschauungen und 
Stimmungen herrschen, als in den Leitungen, Diese Stimmungen dürften 
sich im weitern Verlauf des Krieges eher noch verschärft haben. — 

Daß diese Diskussion nicht wirkungslos geblieben ist, bestätigt 
eine Durchsicht der Metallarbeiterzeitung bis zur letzten Zeit. Selbst 
anläßlich der Spaltung der Reichstagsfraktion, bei der von zahlreichen 
Gewerkschaftsorganen in entschiedenster Weise gegen den »Disziplin- 
bruch« Stellung genommen wird, verhält sich die Metallarbeiterzeitung 
sehr reserviert; sie referiert lediglich, daß die Verschiedenheiten im 
Wesen solche bezüglich der Taktik der Arbeiterbewegung seien; über 
das Endziel, die Demokratisierung der Staatseinrichtungen und die 
Sozialisierung der Wirtschaft bestünden keine Meinungsverschieden- 
heiten, ebensowenig darüber, daß der Klassenkampf notwendig sei, 
um das Ziel zu erreichen. Auf Einzelheiten wird nicht eingegangen; 
auch wird der Meinung Ausdruck gegeben, daß »eine reinliche Scheidung 
besser sei als ein noch weiteres Vertuschen und Verkleistern der nun 
einmal doch vorhandenen Gegensätze.« Die Spaltung werde der Ar- 
beiterbewegung leider einen schlimmen Rückschlag versetzen; darum 
müßten die Gewerkschaften so einig sein, als nur möglich. Da die 
Gewerkschaften nur Gegenwartsarbeit zu verrichten hätten und diese 
nicht fehlen werde, müßten sie alle Bemühungen darauf richten, daß 
‚keine Quertreiberei aufkomme. — 

Schon aus dem Gesagten ergibt sich — wie es beiMassenbewegun- 
gen in einer aufgeregten Zeit nur zu selbstverständlich —, daß ein- 
heitliche Linien innerhalb der Organisationen und selbst Organisations- 
gruppen sich nicht ziehen lassen. Wenn daher nun noch in Fort- 
setzung der Ausführungen im letzten Chronikabschnitt versucht werden 
soll, den gegenwärtigen Stand der gewerkschaftlichen Ideologien zu 
kennzeichnen, so muß das mit aller Reserve und unter ausdrücklichem 
Hinweis auf die Verschwommenheit vieler Aeußerungen geschehen, 
sodaß es sich lediglich um eine Nachzeichnung der Haupttendenzen 
handeln kann. Unter diesen erwecken namentlich die durch den Krieg 
umgeformten Ideologien unser Interesse. 

Die Aeußerungen hierzu sind Legion. Das Material ist bereitsso 
gewaltig angeschwollen, daß auch bloß die Aufführung der wichtigsten 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 333 


Publikationen zu weit führen würde. So sei nur erwähnt, daß die 
Internationale Korrespondenz (im Verlag und her- 
ausgegeben von J. Baumeister, Karlshorst-Berlin) den Standpunkt 
der Parteimehrheit vertritt und von den Gewerkschaften gern als 
Quelle benützt wird. Auch die im selben Verlag erscheinende Schrif- 
tenfolge !4) rührt z. T. aus der Feder von Gewerkschaftsführern her. 
Für die hier gegebene Darstellung genügt es jedoch, auf die Organe der 
Gewerkschaften selbst hinzuweisen. 

Prinzipielle Aeußerungen finden wir, wie erwähnt, weniger in den 
einzelnen Gewerkschaftsblättern, als vielmehr im Correspondenzblatt, 
das in seiner Redaktionsführung offenbar nicht der Kritik radikaler 
Strömungen ausgesetzt ist. 

Im Rahmen der sozialistischen Ideologie spielt der Begriffder »ge- 
schichtlichen Notwendigkeit«eine sehr große Rolle. Während des Krieges 
ist bekanntlich die Anschauung immer deutlicher vertreten worden, daß 
eine sozialistische Auffassung sich im Wesen mit allen Tatsachen abfinden 
und jede Entwicklung befördern müsse, da diese die Wirtschaft dem 
Endziel des Sozialismus näherbringt. Insofern sei eine Bekämpfung 
des Imperialismus widersinnig, und sie wird daher mit der Zerstörung 
der Maschinen verglichen !#). Damit wird darauf verzichtet, der Ent- 
wicklung gegenüber aus sozialistischen Prinzipien heraus zu handeln 1%), 
— In der Situation während des Krieges werden die zusammenfassenden, 
einigenden Momente, wird die Solidarität der gesellschaftlichen Klassen 
mehr betont, als der Gegensatz derselben — so daß gleichsam das Prinzip 
des Klassenkampfes in seiner Geltung als leitender Gesichts- 
punkt während des Krieges (und zwar zur Beurteilung der Situa- 
tion, umsomehr also für die Aktion) abgeschwächt erscheint. Es wird 
hier mit Genugtuung hervorgehoben, daß Partei- und Gewerkschafts- 
kampf verstummt, daß alle Klassen zur Abwehr der Feinde und zur 


147) Kriegsprobleme der Arbeiterklasse. 

148) „Weil die imperialistische Entwicklungsperiode des Kapitalismus nichts 
Zufälliges, sondern eine notwendige Etappe aut dem zum Sozialismus führenden 
kapitalistischen Entwicklungswege des Kapitalismus ist, deshalb ist die Forde- 
rung, wir dürfen den Imperialismus nicht aufkommen lassen, genau eine solche 
Albernheit, wie die Maschinenbekämpfung« (Correspondenzblatt, 17. IV. 1915). 

149) Die Parallele zur Mzeschinenzerstörung ist übrigens — immer aus dem 
Zusammenhang des sozialistischen Gedankensystems betrachtet — ganz schief. 
Der Maschinenzerstörung gegenüber wäre als Parallele zu betrachten: die anar- 
chistische Taktik (Sprengung der Banken, Attentate auf führende Persönlich- 
keiten des Wirtschaftslebens). Auch verzichtet ja die Arbeiterschaft gegenüber 
den Maschinen nicht auf jede Kıitik, sondern folgert aus der Einführung der 
Maschinen die Organisation der Arbeiterklasse als Notwendigkeit, da die Ma- 
schine eben die Pruoduktionsbedingungen für den Arbeiter entscheidend umwälzt. 
Maschineneinführung erfordert besonders Anpassung der Arbeiterorgani- 
sation an die neue Lage, nicht Negation derselben. Insoferne wird eine 
neue Entwicklungspbase verbindlich und wirksam und sanerkannt« Der im- 
perialistischen Phase des Kapitalismus entspricht (aus sozialistischen Gedanken 
heraus) stärkere Betonung des internationalen Gesichtspunstes, weil 
Imperialismus Ausbeutung auf bıeiterer Stufenleiter bedeutet. 


334 Sozialpolitische Chronik, 


Linderung der heimischen Nöte zusammengetreten seien. Ein ge- 
wisses Gemeinsamkeitsgefühl, ein Sichverstehenlernen könne be- 
obachtet werden. Manche sozialpolitische Maßnahmen seien dem 
burgfriedlichen Einigungszustand zu verdanken. Allerdings sei diese 
Kriegssozialpolitik nicht vollkommen, vielmehr sei sie in den An- 
fängen stecken geblieben und den Maßnahmen der Regierung fehle 
die Kraft. Doch seiihrguter Wille nicht in Zweifel zu ziehen 15°). 
Damit wird die Position der Regierung als einer zwischen den 
Klassen unparteiisch stehenden Instanz anerkannt. Wenngleich diese 
Position zunächst auch nur für die Dauer des Krieges angenommen 
wird, so wird diese Auffassung wahrscheinlich auch in die Zeit des. 
Friedens nachwirken 151). | 

Natürlich wird das Vorhandensein der gesellschaftlichen Gegen- 
sätze nicht geleugnet. Es wird ausdrücklich betont, daß es solche 
gebe, die nur durch Kampf, nicht durch Reform ausgeglichen werden 
könnten. Solche Kämpfe werde es im Rahmen der bürgerlichen Ord- 
nung immer geben 15?). Das dürfe aber nicht hindern, die gemeinsamen 
Gesichtspunkte herauszustellen. Es gäbe eben zwischen der Arbeiter- 
klasse und den übrigen Gruppen Berührungspunkte, welche früher in 
der Erbitterung des Kampfes nicht zur Geltung kommen konnten. 
Es wird das Schlagwort der »einen reaktionären Masse« als irreführend 
bezeichnet, es werden die »vielen Relativitäten, aus welchen sich das 
Leben zusammensetzt«, betont 152). Daß diesen Relativitäten Rech- 
nung getragen werden muß, ergibt sich aus der Haltung der Gewerk- 
schaften auch in früherer Zeit von selbst. Sie weisen darauf hin, daß- 
man vor 30 Jahren darüber gestritten habe, ob die Teilnahme am 
parlamentarischen Leben mit der klassischen Theorie vereinbar sei, 
daß man vor 20 Jahren erwogen habe, ob Tarifverträge und -Gemein- 
schaften die Arbeiter nicht dem Klassenkampf entfremden könnten,. 
und ähnlich vor Io Jahren hinsichtlich der Gründung von und Be- 
teiligung an Genossenschaften 154). Heute seien diese Probleme längst 
überholt. 

Diese Darlegungen (welche an das Thimme-Legiensche Buch 
anknüpften) sind Nachklänge der Auseinandersetzungen, welche 
Gewerkschaften und politische Partei jahrzehntelang hindurch er-: 
füllten. Der Ton, in welchem jetzt gesprochen wird, läßt darauf 


150) Correspondenztlatt, 24. IV. 1915. 

151) əDie Zeiten des Fabrikfeudalismus sind endgültig vorbei. Die Unter-: 
nehmer müssen sich mit den Gewerkschaften auseinandersetzen: entweder in 
gleichberechtigten Verhandlungen oder in Kämpfen. Die letzteren hoffentlich. 
erst nach dem Kricg. Bis dahin regeln die Reichs- und Staatsbehörden die Formen, 
in denen diese Auseinandersetzungen zum Wohl des Ganzen auszutragen sind. 
Damit wird sich Herr Kirdorf wie jeder andre gewöhnliche Sterbliche abzufinden 
haben. (Correspondenzblatt, 24. IV. 1915.) Deutlicher kann die Position der 
Regierung als einer über den Klassen stehenden Instanz nicht ausgedrückt werden. 

152) Correspondenzblatt, 30. X. 1915. 

163) Correspondenzblatt, 6. XI. 1915, anknüpfend an das »Buch der 20e.. 

154) Correspondenzblatt, 30. X. IgI5. 


m oM 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 335 


schließen, daß die rechtsstehende Richtung in den leitenden Gewerk- 
schaftskreisen vollkommen herrscht. So zahlreiche Aeußerungen dieser 
Richtung man auch lesen mag, es geht aus keiner hervor, daß sie auch 
nur das Problem der Realisierung einer prinzipiellen Gesinnung oder 
Idee sehen würde. Nicht nur dem Sozialismus, jedem auf die Totalität 
gehenden Prinzip kann es nicht erspart bleiben, in der Realität Kom- 
promisse zu schließen, da man doch mit ihren Kräften, ihren Macht- 
verhältnissen, den sie beherrschenden Ideen rechnen, ja sich ihnen 
hingeben muß, um zu wirken und dadurch ‘Gefahr läuft, prinzipielle 
Zugeständnisse, Abstriche an der Gesinnung machen zu müssen. Den 
Vertretern der Gewerkschaften, welche während des Krieges durch 
Zusammenarbeit mit einigen Reichsämtern in manchen Fragen 
(hauptsächlich Arbeitsnachweise) Erfolge erzielten, scheint dieses 
Problem bisher kein Kopfzerbrechen bereitet zu haben. Sie haben 
nur Hohn und Spott dafür, wenn von radikaler Seite darauf hinge- 
wiesen wird, daß die geistige und materielle Hebung der Arbeiterklasse 
(durch Bekämpfung der revolutionären Stimmung) den Kapitalismus 
serst recht existenzfähig« gemacht habe. Und doch liegt in dieser Si- 
tuation, vom Gesichtspunkt eines echten, überzeugten Sozialismus ein 
furchtbares Dilemma, — ja man könnte dieses dem Sozialismus wahr- 
scheinlich notwendigerweise eigentümliche Entwicklungs- 
stadium (denn der Sozialismus erstrebt ja das Endziel auf dem Wege 
ökonomischen Kampfes) als eine tragische Situation bezeichnen, da nicht 
nur das kapitalistische System durch die organisierende Kraft der 
Arbeiterbewegung eine größere Standfestigkeit erfährt, sondern über- 
dies der Aufstieg der Arbeiterklasse zur Schaffung breiter, ihrem 
Bewußtsein nach kleinbürgerlicher Schichten führt (dies 
um so mehr, als der Kapitalismus ja eine solche Entwicklung bewußt 
begünstigt), welche ihrer ökonomischen und ideologischen Ver- 
fassung nach als aktive Klasse in der Richtung zu einem sozialistischen 
Endziel überhaupt nicht mehr in Betracht kommen. Diese Entwicklung 
wirdauch von den Gewerkschaften in manchen ihrer Erscheinungsformen 
(Verbeamtung der Arbeiterschaft, systematische Häufung von Wohl- 
fahrtseinrichtungen) gesehen und bekämpft. Aber die Erfahrungen 
des Krieges werden wahrscheinlich dazu beitragen, gerade die optimisti- 
sche Haltung in den leitenden Gewerkschaftskreisen zu verstärken, wäh- 
rend ihr eine Situation (nach dem Kriege) entgegenwirken dürfte, 
welche in manchem wahrscheinlich eine sehr starke Aehnlichkeit mit 
der Zeit des Frühkapitalismus aufweisen wird. 

Wir sehen also eine wachsende Polarität in den Anschauungen 
der beiden sozialistischen Lager. Daß beide Richtungen für sich in 
Anspruch nehmen, Vertreter des »wahren Sozialismus« zu sein, deutet 
auf die noch nicht zur letzten Klarheit gediehene Formulierung der 
prinzipiellen Auffassungen hin. Man muß aber die Wandlung (wie sie 
auch in den Gewerkschaften Platz gegriffen hat) als eine sehr tief- 
gehende bezeichnen. Wenn die Gewerkschaftsblätter, namentlich 
das Correspondenzblatt, auch betonen, daß sie nach wie vor an ihren 
Ueberzeugungen festhalten, daß sich in ihnen nichts Wesentliches ge- 


336 Sozialpolitische Chronik, 


ändert habe, so stehen dem gerade die Bekenntnisse von ehemals 
radikalen Sozialisten entgegen, welche Kunde geben von schweren, 
inneren Kämpfen, die der Ausbruch des Krieges mit sich brachte. 
Mit Recht ist namentlich von Haenisch auf die Tragik der Situation 
hingewiesen worden !5°), die darin bestand, daß der Sozialist im Moment 
des Kriegsausbruches zwischen der Solidarität des internationalen Pro- 
letariats und dem »gewaltigen Strom der allgemeinen nationalen Hoch- 
flut« wählen mußte — wählen natürlich als Haltung, nicht für 
irgendeine Aktion, die im Moment des Kriegsausbruchs unmög- 
lich, von keiner Seite in Betracht genommen wurde. Mit der Ent- 
scheidung des 4. August und mehr noch mit dem Festhalten an dieser 
Entscheidung und am meisten mit den Begründungen, welche in unab- 
sehbarer Anzahl gegeben wurden, zeigt sich aber ganz deutlich, daß tat- 
sächlich in diesen inneren Kämpfen sich eine wesentliche Umgestaltung 
der sozialistischen Ideologie vollzogen hat. Denn der Schwer- 
punkt der sozialistischen Anschauung ist insofern verschoben worden, 
als das Hauptproblem, um welches es sich für die Arbeiter handelt, 
nicht mehr im Innern des Staates, sondern in der auswärtigen 
Politik gesehen wird. Während der Sozialismus das Hauptproblem im 
Innern der Volkswirtschaften sieht, lediglich von der Aktion des 
Proletariats eine Ueberwindung des Kapitalismus erwartet, hingegen 
alle Auseinandersetzungen der Staaten untereinander als peripherisch 
(weil eben nur Auseinandersetzungen zwischen den Kapitalistenklassen 
der einzelnen Länder) betrachten muß, als etwas seiner Bewegung 
Fremdes, dessen Resultat auch an der welthistorischen Situation 
nichts Entscheidendes ändern kann — so stehen heute die Gewerk- 
schaften, wie man deutlich fühlt, voll und ganz auf dem Boden der 
»Realität«, also des »Klassenstaates«, dessen Gegebenheit und Dauer 
sie im Wesen nicht in Frage ziehen. Man kann sagen: Den radikalen 
Sozialisten ist nach wie vor der Klassengegensatz das Wesentliche (und 
infolgedessen auch der Staat nach wie vor Vertreter von Klasseninteres- 
sen), der Staatengegensatz etwas Vorübergehendes, jedenfalls eine Ge- 
fahr, weil die internationale Solidarität des Proletariats bedrohend; — 
dem Sozialismus wieerheute von der Mehrheit vertreten wird, rückt der 
Gegensatz der Staaten in den Vordergrund, der Klassengegensatz 
tritt zurück 156). Dem radikalen Sozialismus ist die bürgerliche Ge- 
sellschaft und der Kapitalismus eine Uebergangsphase, der Klassen- 
kampf die einzige der Arbeiterschaft angemessene Haltung. Die rechts- 
stehende Richtung hingegen faßt den Kapitalismus als eine dauernd 
gegebene Situation (wird doch geschichtliches Geschehen als geschicht- 
lich snotwendig« interpretiert), den Klassenkampf als eine vielleicht 


155) Konrad Haenisch, Die deutsche Sozialdemokratie in und nach dem 
Weltkrieg, Berlin 1916, S. 114/15. 

156) Ganz deutlich wird sich das erst nach dem Krıege zeigen können: Ob 
dann nämlıch die Mehrheitsrichtung wegen der Möglichkeit internationaler 
Konflikte auch die innere Politik und Wirtschaftspolitik und Finanzfrage aus 
sallgemein staatlichem«, »snationalemy oder »prletarischem« Interesse heraus 
zu lösen sucht. 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre_1915/16 usw. 337 


schon teilweise überwundene Phase, wenn das auch zunächst nur von 
denFormen des Kampfes und Gegensatzes gesagt wird. Das mag 
alles bestritten werden — aber eine »Feststellung«, daß man am So- 
zialısmus festhalte, kann gegenüber den unzähligen vorliegenden, 
nur zum geringsten Teil wiedergegebenen Aeußerungen über Gegen- 
wartspolitik, Gegenwartserfolge, Aufgaben der Gewerkschaften, Unab- 
hängigkeit derselben von der Partei usw. sehr wenig besagen. Es wirkt 
sich eben jetzt in der Kriegszeit der alte in kritischen politischen Zeiten 
immer wieder mit Notwendigkeit entstehende Gegensatz zwischen 
sRealpolitike und prinzipieller Politik mit besonderer Schärfe aus. 

Wie die Erscheinungen in diesem Kriege in allen Ländern ziemlich 
gleichartige sind, weil eben auch die Bedingungen ganz analoge sind, 
so zeigt sich derselbe prinzipielle Gegensatz in der Arbeiterbewegung 
der übrigen kriegführenden Länder. Besonders instruktiv hierfür sind 
einige Bemerkungen der französischen Metallarbeiterzeitung. In dieser 
leitet der Sekretär der Metallarbeitergewerkschaft (Alfred Merrheim, 
bekanntlich auf radikalem Standpunkt) den Bericht über die Stellung 
der internationalistisch gesinnten Minorität der Confédération Générale 
(C. G.) folgendermaßen ein 15”): 

»Die eine der Richtungen, die der Mehrheit, unterbricht ihre 
gewerkschaftliche Aktion für die Dauer des Krieges. Sie unterwirft 
ihre äußere und innere Aktion dem Willen der Regierung. Die andere 
Richtung, die unsrige, gibt nicht zu, daß die gewerkschaftliche Be- 
wegung nach der Entfesselung der kriegerischen Leidenschaften auf ihr 
Wesen zu verzichten hat. Sie erklärt, daß die »heilige Einigkeit der 
Klassen« nichts anderes ist als ein Betrug durch die bürgerliche Klasse 
und ein Verrat durch die Gewerkschaften, die am Burgfrieden fest- 
halten. Unsre Richtung ruft die Arbeiter zu einer sofortigen inter- 
nationalen.... Diese... Aktion entwickelt sich bereits auf ernster 
Grundlage, auf welche wir uns in unsrer Aktion stützen. Wir sind 
stolz darauf, daß wir an dieser (gemeint ist die Zimmerwalder) Konfe- 
renz teilgenommen haben. Umsonst hat man versucht, durch eine be- 
schränkende Verschwörung des Totschweigens die Konferenz zu unter- 
drücken. Wir haben es als unsere Pflicht gehalten, die Arbeiterschaft 
über die Konferenz zu unterrichten, da die skandalöse Diktatur der 
Parteileitungen den Arbeitern die Wahrheit über die Internationale 
vorenthalten will.« Und in Bekämpfung der opportunistischen Partei- 
politik heißt es weiter: »Wir haben unsnicht den korrumpierenden Sitten 
der Regierungen anpassen wollen, die auf die Dauer aus den besten Ge- 
nossen ein Werkzeug der Machthaber und der Regierung machen — 
zum Schaden der Würde, der moralischen Stärke der Organisationen 
und ihrer Aktionen. Unseres Erachtens schließen sich Gunst und Recht 
gegenseitig aus. Die erstere erhält man leicht, aber auf Kosten der Wür- 
de, der Unabhängigkeit und der Aktionsfreiheit der organisierten Ar- 
beiter. Rechte werden durch die Aktion erzwungen, stärken das Selbst- 
bewußtsein der Arbeiter, indem sie die Aktionsfreiheit und die Unab- 
hängigkeit der Organisationen und ihrer Mitglieder anregen. 

17) Metallarbeiterzeitung, 4. ITI. 1916. 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. ı 22 


338 l Sozialpolitische Chronik. 


Diese zwei Richtungen sehen wir ebenso in England. Daß dort eine 
Unterordnung eines Teiles der Arbeiterschaft unter die Maßnahmen 
der Regierung erfolge, bringt auch das Correspondenzblatt deutlich 
zum Ausdruck 157°). So wird eingehend über den »Arbeitszwang in 
England« berichtet, und gesagt, daß im Gebiete der Westmächte die 
Zwangsmaßregeln weit über das hinausgehen, was der Kriegszustand 
an sich bedinge (Versammlungsverbote, Zeitungseinstellungen usw.). 
Die Arbeiter würden in Frankreich »militarisiert« — bei all dem handelt 
es sich um Kriegsleistungen, wie sie z. B. in Oesterreich auf Grund des 
Gesetzes jedem Staatsbürger obliegen. In Deutschland hingegen — ver- 
sichert das Correspondenzblatt — habe sich »das Militärrecht durchausin 
dasgewerblicheArbeitsrecht einzupassen verstanden«. Die rechtsstehende 
Richtung der Gewerkschaften in Deutschland beurteilt also den Zustand 
des Arbeitsrechts in England, wie in England die radıkale Richtung. 
Die englische Arbeiterpolitik, welche die Regierungen unterstützt (es 
handelt sich speziell um Ablehnung einer Resolution für weitere energi- 
sche direkte Besteuerung) und Aeußerungen wie folgende: »die Ge- 
werkschaften seien entschlossen, vorerst mit dem ausländischen Feinde 
fertig zu werden, ehe sie den Kampf mit dem inneren Feinde aufneh- 
men«, veranlassen das Correspondenzblatt zur Bemerkung: »Wenn 
das der Geist ist, der heute die englischen Gewerkschaften beherrscht, 
dann wird die Welt wohl noch sehr lange auf den Frieden warten 
müssen, und die englischen Arbeiter werden sich nicht minder mit demAr- 
beitszwang und der Aufhebung des Gewerberechts abzufinden haben. 
Und sie stimmen Shaw zu, der sich folgendermaßen äußert: »Eine Arbei- 
terklasse, die sich dabei beruhigt (wie es die unsrige offenbar tut), daß 
man ihren wichtigsten Freibrief— das Recht auf Streik — zerreißt, eine 
Arbeiterklasse, die es gestattet, daß Militärgerichte über gewerbliche 
Streitigkeiten entscheiden, eine Arbeiterklasse, die den Geldherren einen 
Blankoscheck auf ihrer Hände Arbeit gibt (darunter sind Kriegsarbeiten 
verstanden), die sich an wiedererstandene Parlamentsakte bindet, für 
deren Zerschmetterung ihre Großväter ihr Blut vergossen haben, usw... .« 

Man kann also nicht sagen, daß der rechtsstehenden Richtung in 
Deutschland das Verständnis für radikale Arbeiterpolitik überhaupt 
gänzlich abhanden gekommen ist. 

So stehen fast in allen Ländern diese beiden Richtungen einander 
sch roff gegenüber. In Rußland und Italien ist die radikale Strömung 
die herrschende. Der Widerstreit der Anschauungen muß sich mit 
der Dauer des Krieges notwendigerweise verschärfen, weil die Koopera- 
tion der Mehrheit mit den übrigen Parteien und der Regierung, durch 
Jahre fortgesetzt, tiefgehende Wirkungen üben muß und der radikale 
Standpunkt aus der langen Dauer des Krieges in den Massen immer 
neue Anhänger gewinnt. In der immer umfangreicheren polemischen 
Literatur, welche bereits Bibliotheken füllt, treten allmählich die Ar- 
gumentationen aus der Tradition der Internationale, aus der Autorität 
von Marx, Engels, Lassalle, aus den Aussprüchen Bebels u. a. m. 


155%, Correspondenzblatt, 1r. XII. 1915. 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 339 


zurück, und die Situation selbst konstituiert und befestigt die 
Anschauungen. Da nun keine der beiden Richtungen schließlich die 
historischen Prämissen auf der ganzen Linie, die Verursachung des 
Geschehens, den Kriegsverlauf nach seiner prinzipiellen Bedeutung, 
seine innige Verflechtung mit allen Gebieten des sozialen Lebens, all 
seine Neben- und möglichen Folgewirkungen, und die Bedeutung 
aller Möglichkeiten des Kriegsendes zu überblicken vermag, so redu- 
ziert sich hüben und drüben die Argumentation auf das Prinzip, das 
man nun mit Daten, Fakten, Realitäten zu stützen sucht, ohne auch 
nur in erheblichem Umfang die ganze Problematik unter dem Gesichts- 
punkt des gewählten Prinzips beleuchten zu können. Das ist zu selbst- 
verständlich, um besonders betont zu werden, und erst die Folgezeit 
kann die Fruchtbarkeit, die politische Leistungsfähigkeit der vertre- 
tenen Prinzipien zeigen. Gegenwärtig wirkt die Situation weiter. 
In dieser stützt sich die Mehrheit auf die Formel der Internationale, 
daß im Falle des Verteidigungskrieges auch die soziali- 
stische Partei die Pflicht habe, den Bestand des Staates zu verteidigen. 

Dieser Formel kommt allerdings nur eine Bedeutung vor der 
Entscheidung über Krieg und Frieden zu. Die Formen des modernen 
Krieges haben gezeigt, daß während des Krieges jeder Krieg 
(wie immer auch die Ursachenverknüpfung liegen mag) ein Verteidi- 
gungskrieg ist, und zwar ganz unmittelbar in dem Sinn, daß die Armeen 
zunächst trachten müssen, den Feind von deneignen Grenzen fernzu- 
halten, so völlige Verwüstung des Landes, schwere Schädigung seiner 
friedlichen Einwohnerschaft zu verhüten. In jedem Krieg — wo 
immer der Angreifer sein mag — verteidigt der Scldat Haus und Hof. 
Die französischen Soldaten verteidigen ebensogut ihre Heimat wie die 
deutschen, gleichgültig, welche Regierung als wesentlich schuldig am 
Kriege angesehen wird. Aus diesem Gedankengang heraus sehen wir fast 
- überall die sozialistischen Parteien entweder unmittelbar in der Regie- 
rung vertreten oder diese durch Bewilligung der Krieg..kredite unter- 
stützen. Das Eigentümliche der Haltung der Mehrheit liegt weniger 
darin, daß sie diese Situation anerkennt —das tun auch die Minder- 
heiten —, sondern daß sie sie politisch interpretiert, ihre Politik 
aui das Ziel einer ausgesprochen siegreichen Beendigung des Krieges aus- 
richtet. Sie leitet aus der Tatsache der Bedrohung, aus der Tatsache 
der Existenz des Krieges eine politische Verpflichtung ab, welche in 
ihrem Bewußtsein ökonomisch fundiert ist: nurdasWirtschaftsleben de; 
siegreichen Landes kann die Schäden des Krieges verwinden. Außer- 
dem erkennt sie — und damit ist sie mit der radikalen Richtung in 
Uebereinstimmung — die zweite Formel der Internationale an: daß 
nach ausgebrochenem Krieg auf eine möglichst baldige Beendigung 
desselben hinzuwirken sei. (Diese Formel ist ja übrigens für Angriffs- 
wie für Verteidigungskriege gedacht.) 

Die radikalen Minderheiten rücken die Fragen des Burgfriedens, 
die sozialpolitischen Probleme während des Krieges, die innnere poli- 
tische Lage, die Wünsche für die Zeit nach dem Kriege in den Vorder- 


grund und geben damit zu erkennen, daß auch der orthodoxe Marxist 
22 * 


340 Sozialpolitische Chronik, 


im System des heutigen Staates nicht imstande ist, das reale Gefüge 
zu sprengen, weshalb sich auch eine Erörterung darüber, ob eine solche 
Sprengung erwünscht wäre,erübrigt. Gegenüber der Tatsache des 
Krieges verhält sich also die radikale Richtung passiv. Um so lebhafter 


sind die Bemühungen, nachzuweisen, daß sich die innere Lage in 


nichts zum Vorteil geändert habe und daß daher das Prinzip des Klassen- 
kampfes ganz unabgeschwächt vertreten werden müsse. Sie unter- 
scheidet sich also von der rechtsstehenden Richtung mehr durch das, 
was sie besonders betont und was sie zu betonen unterläßt. Sie unter- 
läßt es, die Notwendigkeit des Sieges zu unterstreichen. Sie hält 
auch einen Ausgang, der weder Sieger noch Besiegte kennt, für mög- 
lich, und vielleicht sogar für erwünscht, da ja der orthodoxen sozialisti- 
schen Anschauung konsequenterweise der »Sieg«, die militärische 
Niederschlagung des Gegners und die Eroberung von neuem Gebiet 
als sichtbarer Ausdruck des Sieges, nicht ein erwünschter Abschluß 
eines Krieges scheinen mag, da ein solcher Abschluß die sozialen 
Probleme verschleiert und die Arbeiterschaft imperialistischen Ten- 
denzen zuführen Könnte. 

Aus dieser scharfen Betonung des Klassenkampfes, daß sich die 
Regierungspolitik im Wesen während des Krieges nicht geändert habe, 
ergibt sich dann Verweigerung der Kriegskredite, die nicht als ge- 
waltsame Aktion gegen den Krieg gedacht ist, sondern als ein politischer 
Akt, als ein feierlicher Protest gegen den Krieg und ein Druck auf die 
Regierung, ehemöglichst zum Frieden zu gelangen 158). 

Die Mehrheits- wie die radikale Politik suchen der Situation auf 
ihre Weise gerecht zu werden. Die eine verhält sich »realpolitisch«, die 
andre prinizipiell. Letzten Endes beruht dann wohl die Differenz darin, 
daß die Mehrheit den Schwerpunkt der Weltgeschichte — wenigstens 
der gegenwärtigen Situation — im politischen Kampf der Staaten 
untereinander erblickt (und darum das Interesse am Sieg), während die 
Mirderheit die Auseinandersetzung zwischen den Klassen als den welt- 
historischen Prozeß sieht und ihr daher die internationale Solidarität 
zuhöchst stehen muß, die absolute Ueberlegenheit des eignen Staates 
als Resultat des Krieges nicht besonders angestrebt wird. Der Schwer- 
punkt der Betrachtung hat sich für die Mehrheit verschoben ; nur wenn 
man also Produktionsorganisation an sich schon als Sozialismus bezeich- 
net, Jäßt sich der Mehrheits-Standpunkt als Sozialismus bezeichnen. 
Aus dem Gedankengebäude, wie es Marx und seine Nachfolger er- 
richtet haben, das nicht nur eine ökonomische Theorie, nicht nur 
eine Entwicklungsthorie, sondern eine Geschichtsphiloso- 
phie ist, fällt diese Auffassung glatt heraus — denn sie gibt ge- 
rade im entscheidenden Moment das Spezifische des Sozialismus: 
Ausrichtung auf den Klassenkampf, preis. 

Aber andrerseits gibt es für die radikale Richtung keine Möglich- 


188) Daneben gehen wahl Aeußerungen, aus welchen auch zu schließen ist, 
daß die Kreditverweigerung erfolgte, weil der Krieg nicht mebr als Verteidigungs-, 
sondern als Angriffskrieg geführt werde usw. Solche Bemerkungen sind jedoch 
während des Krieges schwer zu begründen. 





O 


Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 341 


keit der Aktion im Kriege und insoferne haben die Vertreter der 
Mehrheit recht, wenn sie betonen, daß die taktische Position gegen- 
wärtig für die Mehrheit die günstigere sei, während in Friedenszeiten 
der Radikalismus die günstigere taktische Position hatte. In Friedens- 
zeiten verfügte der Radikalismus über das zugkräftige Schlagwort 
des Klassenkampfes, dem energische politische Aktion entspricht, und 
der Revisionismus mußte sich in unzähligen Teilaktionen zersplittern 
und verlieren. — Jetzt kommt dem Opportunismus zustatten, daß er 
klipp und klar, ohne weiteres Deuten mit dem Hinweis auf die Not- 
wendigkeit der Vaterlandsverteidigung sich dem Kriegsgeschehen ein- 
einordnet, während der radikale Standpunkt zu keiner Aktion führt, 
weder den Krieg hindern, noch seinen Verlauf beeinflussen kann, son- 
“dern sich auf Demonstrationen beschränken muß. Aber trotz allem 
bleibt es wahr, daß sich hier entgegengesetzte Prinzipien auswirken. 
Denn auch die Passivität des Radikalismus ist Betätigung eines Prin- 
zips 159%). — Erst die Zeit nach dem Kriege kann, wenn es überhaupt 
möglich ist, zur Anpassung des sozialistischen Gedankensystems an die 
gegenwärtige Situation führen. Das würde dann für die Gewerk- 
schaften, die ja in Deutschland stets mit den politischen Parteien in 
enger Fühlung standen, nicht ohne Bedeutung sein. 

Die Haltung der christlichen Gewerkschaften 
zum Kriege hat sich gegenüber dem Vorjahr nicht geändert. Unter 
dem Eindruck der Schwierigkeiten, welchen namentlich die Nahrungs- 
mittelversorgung der Arbeiterschaft begegnet, wird die Tonart der 
christlichen Organe zusehends energischer, und von freigewerkschaft- 
licher Seite wird vielfach bemerkt, daß sich im Programm, den For- 
derungen und der Taktik allmählich eine Annäherung an die übrigen 
Gewerkschaftsrichtungen vorbereite 160%). Es mag sehr wohl sein, 
daß als Folge einer im allgemeinen ungünstigen Lage der Arbeiter- 
schaft undeiner freundlichen Haltung der Regierung den Gewerkschaften 
gegenüber es zu einem Zusammenschluß der drei Hauptgewerkschafts- 
richtungen kommt. Dadurch würden für die christlichen Gewerk- 
schaften alle die Fragen, welche aus ihrem Zusammenhang mit den 
kirchlichen Behörden gegeben sind, möglicherweise wieder aufleben. 

Noch einige Worte über die Haltung der Werkvereine im 
Kriege. Hierbei kann nur von den Werkvereinen Berliner Richtung 


189) Das passive Verhalten ist ein Zeichen dafür, daß der Krieg vom Gesichts- 
punkt des radikalen Sozialismus die Möglichkeit jeder sozialen Aktion suspen- 
diert. Von diesem Standpunkt aus ist es nicht Sache der sozialistischen Partei, 
an der Lösung der Situation mitzuwirken, außer die Beendigung des Krieges 
zu beschleunigen. Eine schwierige Lage aber wird insofern geschaffen, als ja die 
Möglichkeit gegeben ist, daß gerade Einordnung in das Kriegsgeschehen, aktive 
Unterstützung der Regierung den Krieg abkürzen mag. Außerdem wirkt — 
während des Krieges — der Gesichtspunkt der Verteidigung (wie immer man die 
kausale Verursachung des Krieges deuten mag). Alle diese Schwierigkeiten 
deuten darauf hin, daß die sozialistische Ideologie die Situation nicht ganz zu 
bewältigen vermag. Insoferne wird auch die radikale Richtung zu einer Revision 
der Grunalagen ihrer Politik genötigt. 

100) Bergarbeiterzeitung, 15. I. 1916. 


342 Sozialpolitische Chronik, 


die Rede sein, da die gelben Verbände Essener Richtung eingestandener- 
maßen Organe der Unternehmer sind, und sich die beiden Richtungen 
innerhalb der Werkvereinsbewegung Ja aus wichtigen prinzipiellen Grün- 
den voneinander getrennt haben. Wird doch die westdeutsche (Essener) 
Richtung von der Berliner Werkvereinsorganisation als »Industrie- 
sklaven« bezeichnet. Die Berliner Richtung steht zwar auch auf dem 
Standpunkt der Interessengemeinschaft von Unternehmern und Ar- 
beitern, will aber die Vertretung der Arbeiter doch prinzipiell von der 
der Unternehmer unabhängig halten, hat auch auf das Streikrecht nicht 
ausdrücklich verzichtet 161). Allerdings dürfte auch diese »radikale« 
Werkvereinsrichtung !%) es niemals praktisch zum Streik kommen 
lassen, sondern den Arbeitswechsel aus Betrieben empfehlen, in welchen 
wesentliche Existenzbedingungen der Arbeiterschaft nicht realisiert 
werden können 183). 

Diese Richtung der Werkvereine sieht den Krieg und die Erfah- 
rungen, welche während desselben gemacht wurden, als Bestätigung 
ihrer Theorien an. Sie fühlt sich unter der Herrschaft des »Burgfriedens«, 
zum Unterschied von den unabhängigen Gewerkschaftsrichtungen, 
sehr wohl. Ihrer Meinung nach hat der Krieg nur die Wahrheit der 
Prinzipien offenbart, welche die Werkvereine vertreten als »vitalste 
Grundlage einer gedeihlichen wirtschaftlichen Entwicklung, nicht nur 
des Staatsganzen, sondern auch des Individuums« 164). Sie begrüßen, 
aus dem Gesichtswinkel ihrer Ideen, die »Neuorientierung« der Ge- 
werkschaften, welche sie dahin verstehen, daß die Gewerkschaften un- 
politisch werden wollen, daß sie sich vom »Klassenkampfdogma« frei- 
machen 16). Auch begrüßen sie die Aenderung ihrer grundsätzlichen 
Haltung zu nationalen Fragen 16%). Sie betonen weiter mit sicherem Ge- 
fühl für die Konsequenzen eines Nachgebens in prinzipiellen Fragen !#7), 
daß jedes Nachgeben in »nationalen« Angelegenheiten eine Aufhebung 
der Klassenkampfpolitik bedeute, daß man nicht »national« und zu- 


gleich »Todfeind der bürgerlichen Gesellschaft« sein könne. Zwar 


161) Vgl. hierzu Chronik, Archiv Bd. 39, S. 374 und Protckoll der außerordent 
lichen Mitgliederversammlung des Kartellverbandes deutscher Werkvereine. 
(Der Bund, 31. III. 1916, 1. Beilage.) 

162) Sie wurden früher in Berlin mit dem Witzwort der Blutapfelsinen (außen 
gelb, innen rot) zu charakterisieren versucht. 

163) So wird gelegentlich erklärt, es gäbe gewiß auch unsoziale Unternehmer; 
diese könne man ja verlassen. Es wird sich so eine Scheidung zwischen sozial 
denkenden Unternehmern und wirtschaftstriedlichen Arbeitern einerseits, unso- 
zial denkenden und Kampfgewerkschaftlern andererseits vollziehen (Der Bund, 
4. lI. 19106). | 

164) Der Bund, 26. ITI. 1915. 

165) Der Bund, Besprechung des Thimme-Legienschen Buches, 27. VIII- 
1915. 

166) Der Bund, 7. I. 1915. 

167) Sie zitieren die »Neue Zeits, in welcher gesagt wird, daß die Sozialisten 
nunmehr sogar »für eine imperialistische und somit auch für eine nationalisti- 
sche, militärische, kriegerische Politik« eintreten und bemerken hierzu ironisch: 
Schrecklich aber wahr! (Ebenda, 17. XII. 1915.) 


..,. 


H 





Die Gewerkschaftsbewegung im Jahre 1915/16 usw. 343 


finde sich bei vieien »Umlernern« dieser Widerspruch, der aber auf die 


Dauer nicht haltbar sein könne. 

Denselben Optimismus, welchen die Werkvereine der Umorien- 
tierung der Arbeiterbewegung entgegen brinten, hegen sie gegenüber 
der Regierung. Sie möchten daher die inneren Reformen, welche auch 
sie lebhaft wünschen, nicht überstürzen und warnen davor, nament- 
lich im Hinblick auf die Bestrebungen, das Reichsvereinsgesetz noch 
während des Krieges abzuändern. Sie fordern Vertrauen gegen Ver- 
trauen und erwarten, daß »je mehr feurige Kohlen das deutsche Volk 
auf dem Haupt seiner Regierung sammelt, auch künftig die großzügige 
Neuorientierung der inneren Politik um so erfreulicher für das Volk 
sein werde« 18), So wie schon hier, zeigt sich auch in andern sozial- 
politischen Forderungen, daß die Werkvereine nicht mehr durchaus 
den Standpunkt der Unternehmer vertreten, sondern sich zunächst 
etwas reserviert verhalten. Das beweisen z. B. die Aeußerungen ge- 
genüber den Absichten auf Einrichtung eines zentralen, für das ganze 
Reich arbeitenden Arbeitsnachweissystems. Sie lehnen Arbeitsämter 
mit paritätischer Besetzung ab 189) und glauben, daß nach dem Kriege 
die normale Situation überhaupt wieder die bisherigen Einrichtungen 
(also: einseitige Arbeitgebernachweise) schaffen werde 17°), 

Trotz die.er Anräherung der Werkvereine an die Gewerkschaften 
(oder umgekehrt) sind es hauptsächlich zwei Punkte, welche sie noch 
scharf scheiden: I. die optimistische Grundstimmung der Werkvereine. 
Sie behaupten, der Krieg habe zur Evidenz bewiesen, daß »das Unter- 
nehmertum alle die Arbeiterfragen während des Krieges betreffenden 
Notwendigkeiten, nicht nur mit Verständnis, sondern auch mit aner- 
kennenswertem Entgegenkommen behandelt« habe 171). Namentlich 
die reichliche Gewährung von Kriegsunterstützungen an Familien 
der Eingezogenen habe das bewiesen. So breiten Raum auch die Werk- 
vereinsorgane der Teuerung widmen, den großen Schwierigkeiten, 
welchen die Erlangung von Teuerungszulagen, selbst in Betrieben mit 
glänzendem Geschäftsgang, begegnet, wird nahezu keine Aufmerk- 


` samkeit geschenkt. Ein Vergleich der Bergarbeiter- und der Werk- 


vereinsorgane zeigt, daß sich in der Praxis des Tages weder hüben 
noch drüben viel geändert hat. 2. Aus dieser freundlichen, versöhnlichen, 
man kann sagen nachgiebigen Haltung den Unternehmern gegenüber 
folgt dann weiters, daß die Werkvereine nach wie vorden Gesichtspunkt 
der »Freiheit« festhalten. So wie sie gegründet sind, um die Arbeiter 
vor dem »Terrorismus« der Gewerkschaften zu schützen, lehnen sie auch 
alle Andeutungen oder Ansätze zu einem öffentlichen Organisations- 
zwang der Arbeiter ab. Die Kriegswirtschaft, welche gerade die 
Organisationsbildungen der Interessenten so stark in den Vordergrund 
gerückt hat, können sie freilich nicht ganz übersehen !7?). Nur sehen 





18) Neue Zeit, 3. IX. 1915. 
1%) Neue Zeit, 14. V. 1915. 
170) Der Bund, 11. II. 1916. 
1) Der Bund, 4. II. 1916. 
112) Der Bund, 2. VII. 1915. 


344 Sozialpolitische Chronik. 


sie deren Konsequenzen nicht in der Richtung einer Stärkung der 
Interessenverbände, sondern lediglich des Staates. Aus dem Staats- 
zwang dürfe nicht der Organisationszwang folgen. Das würde zu mittel- 
alterlichen Zuständen führen. Im Gegenteil, wer den staatlichen 
. Zwang wegen seiner Ziele und Notwendigkeit bejahe, müsse zur Ver 
neinung des Zwangs andrer Organisationen gelangen. Sie treten also für 
die Staatsomnipotenz, ohne Gegengewicht in der Organisation der 
Staatsbürger, ein. Auch erscheint ihnen der Zwang der Gewerk- 
schaften so weitgehend, so unerträglich, daß er gar nicht mit dem des- 
Staates verglichen werden könne. Denn die Werkvereine vertreten 
ja den idealen Standpunkt, daß aller Zwang des Staates nur materiell 
sei, da der Staat im übrigen politische und religöse Ueberzeugung 
gewähre und Freiheit in der Betätigung der gewonnenen Ueberzeugung, 
was bei den Gewerkschaften nicht der Fall sei. Die Gewerkschaft 
ist also das moderne Mittel der Knechtung des Geistes und wird von 
den Werkvereinen auf das äußerste gefürchtet, während die restlose 
Inanspruchnahme materieller und physischer Kräfte des Staatsbürgers- 
den Kopf freilasse 172). Ebenso wie die Werkvereine ablehnen, aus- 
dem Kriege die Konsequenzen für die gesellschaftliche Organisation 
zu ziehen, wollen sie auch in allen Maßnahmen des »Krieg sozialismus« 
lediglich Uebergangserscheinungen erblicken. Getreu der »exakten« 
Methode bezeichnen sie alle Versuche, im Krieg einen Wendepunkt der 
wirtschaftlichen Entwicklung zu sehen, als »unwissenschaftlich«. 
Denn bei diesen Versuchen handle es sich nicht um wissenschaftliche: 
Feststellung von Tatsachen, sondern um politische Forderungen !%). 
Das bisher Gesagte genügt wohl, um erkennen zu lassen, daB sich 
grundsätzlich — bei aller Annäherung im Ton — doch sehr wenig 
geändert hat. Die Distanz der Werkvereine von den Gewerkschaften 
hat sich, trotz aller »Mauserung« der Gewerkschaften nicht wesentlich 
verringert. Und selbst wenn die Gewerkschaften zu bloßen Interessen- 
verbänden werden, ihre Verbindung zur sozialistischen Partei völlig 
lösen sollten, so würde das noch immer nicht bedeuten, daß das »Prin- 
zip der Werkvereine« gesiegt habe. Dazwischen liegt noch die Möglich- 
keit einer energischen Interessenvertretung der Arbeiterschaft auf »rein 
wir:schaftlicher« Basis. Eine solche rechnet gewiß mit der Interessen- 
gemeinschaft als einem Element, sie rechnet auch mit der kapitalisti- 
schen Wirtschaft als der definitiven Form, aber sie betrachtet doch dem 
Interessengegensatz innerhalb der Gesellschaft für normale Zeiten 
und von nationalen Fragen abgesehen als das wesentliche Moment, 
das von den Werkvereinen erst in zweiter Linie gesehen und in seiner 
Bedeutung sehr gering eingeschätzt wird. 
u 173) Dicse Ablehnung jedem Organisationszwang gegenüber ist um so charak- 
teristischer, als ja der Staat gar kein Bedenken trägt, bereits den Organisations- 
zwang für gewisse wirtschaftliche Schichten auszusprechen (Zwangssyndikate, 
welche ebenso die persönliche Freiheit vernichten, wie die Gewerkschaften). 

174) Der Bund, 14. IV. 1956. Auch wenn man diesen Standpunkt zugibt, 
sc ist doch die Frage erlaubt, warum es gerade den Naticnalökonomen — selbst- 
verständlich im vellen Bewußtsein, daß es sich nicht um ein wissenschatftliches 
Resultat , sondern, um eine wirtschaftsp »litische Forderung handle — verwehrt 
sein soll, zur Frage der wirtschaftlichen Neugestaltung nach dem Kriege Stellung, 
zu nehmen ? 





345 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. 


Von 


MAX WEBER. 


Hinduismus und Buddhismus, 
(Fortsetzung.) 


I. Dieorthodoxen und heterodoxen Heilslehren der 
indischen Intellektuellen. — Antiorgiastischer und ritualistischer 
Charakter der brahmanischen Religiosität — Vergleich mit den hellenischen 
und konfuzianischen Intellektuellenschichten S. 345. — Das Dharma und das 
Fehlen des Naturrechtsproblems S. 353. — Wissen, Askese und Mystik 
in Indien S. 357. — Der Sramana und die brahmanische Askese S. 368. — 
Das brahmanische Schrifttum und die Wissenschaft in Indien S. 373. — Die 
Heilstechnik (Yoga) und die Entwicklung der Religionsphilosophie S. 378. — 
Die orthodoxen Erlösungslehren S. 381. — Die Heilslehre und die Berufs- 
ethik des Bhagavadgi:a S. 400. — Die heterodoxe Soteriologie des vornehmen 
Berufsmönchtums: ı. Der Jainismus S. 413. — 2. Der alte Buddhismus S. 428. 


Il. 


Für den Charakter der offiziellen indischen Religiosität war 
entscheidend, daß ihr Träger, der brahmanische Priesteradel, 


eine vornehme Bildungsschicht, später geradezu: eine Schicht 


vornehmer Literaten, war. Dies hatte vor allem jene Folge, 
welche in solchen Fällen immer — z. B. auch beim Konfuzianis- 
mus — eintrat: daß die orgiastischen und emotionell-ekstatischen 
Elemente der alten magischen Riten nicht übernommen wur- 
den und für längere Zeiträume entweder ganz verkümmerten 
oder als geduldete unoffizielle Volksmagie fortlebten. Reste der 
alten Orgiastik fanden sich im Veda wie namentlich v. Schrö- 
der!) nachgewiesen hat, in Einzelzügen. Trunkenheit und Tanz 
Indras und der Schwerttanz der Maruts (Korybanten) ent- 





1) Mysterium und Mimus im Rigveda 1908 (s. auch seine Bemerkungen 
zu Oldenbergs Religion des Veda in derWiıener Zeitschr. z. Kunde des Morgenl. IX). 


Archiv f. Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 2. 23 


346 Max Weber, 


stammen dem Heldenrausch und der Heldenekstase. Auch 
der große priesterliche Kultakt: das Soma-Opfer, war ursprüng- 
lich offenbar eine kultisch temperierte Rausch-Orgie, die vielbe- 
sprochenen Dialoglieder des Rigveda vermutlich verblaßte 
Reste kultischer Dramen ?). Aber das offizielle Ritual der Veden 
und alle ihre Lieder und Formeln ruhen auf Opfer- und Gebet, 
und nicht auf den typischen orgiastischen Mitteln: Tanz, 
sexuellem oder alkoholischem Rausch, Fleisch-Orgie, welche alle 
vielmehr sorgsam ausgeschieden und abgelehnt blieben. Ri- 
tuelle Begattung auf dem Acker als Mittel Fruchtbarkeit zu 
schaffen, und der Phallos-(Lingam-) Kult mit seinen phallischen 
Kobolden, den Gandharven, sind in Indien wie sonst uralt. Aber 
der Rigveda schweigt davon. Er kennt auch das dem kultischen 
Drama eigene leibhaftige Auftreten der Götter und Dämonen 
nicht, — zweifellos weil es schon den alten vornehmen priester- 
lichen Sängern der altvedischen Zeit), erst recht aber der brah- 
manischen Erb-Priesterschaft teils als vulgär, teils aber auch als 
bedenkliche Konkurrenz gegenüber ihrer eigenen auf Ritual- 
kenntnis ruhenden Zaubermacht erschien. Der alte Frucht- 
barkeitsgott Rudra mit seinem sexual- und fleisch-orgiastischen 
Kult, später als Civa einer der drei großen Hindugötter, einer- 
seits Patron des späteren klassischen Sanskrit-Dramas, anderer- 
seits durch den universell verbreiteten Lingam-Kult verehrt, ist 
im Veda diabolischen Charakters. Vischnu, sein Nebenbuhler 
in der späteren Trias und ebenfalls ein durch Pantomimen ver- 
ehrter großer Himmels- und Fruchtbarkeitsgott, Patron der Tanz- 
Dramen und erotischen Orgien des Krischna-Kultes, ist in den 
Veden eine Nebenfigur. Den Laien ist beim Opfer der »Kelch 
entzogen«: nur der Priester trinkt Soma. Aber auch das 
Fleisch: nur der Priester ißt Opferfleisch. Die im alten wie im 
modernen asiatischen Volksglauben so überaus wichtigen, weib- 
lichen Gottheiten: — Fruchtbarkeitsdämonen mit meist sexual- 
orgiastischem Kult —, schieben die Veden ganz in den Hinter- 
grund. Im Atharva-Veda: — in seiner literarischen Fixierung 
wesentlich jünger, dem Material nach aber wohl ebenso alt wie 
die anderen Veden, — tritt allerdings an Stelle des kultischen 
wieder der magische Charakter der Sprüche und Lieder hervor. 


2) Dies nachzuweisen ist ein Hauptzweck der zitierten Arbeit v. Schrö- 
der’s, welche aber zum Folgenden überhaupt zu vergleichen ist. ' 
3) v. Schröder a.o. O. p. 53. 





Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 347 


Dies hängt zusammen teils mit der Provenienz des Materials: 
aus dem Kreise der privaten magischen »Seelsorge«, und nicht, 
wie in den anderen Veden, des für den politischen Verband dar- 
gebrachten Opfers. Teils aber auch: mit der steigenden Bedeutung 
des Zaubers überhaupt, seit die alte Wehrgemeinde durch die 
Fürstenmacht und damit auch der alte Opferpriesteradel durch 
den fürstlichen Hofzauberer, den purohita, in den Hintergrund 
gedrängt war 4). Der Atharvaveda ist im einzelnen nicht ganz 
so spröde gegenüber den Figuren des Volksglaubens (z. B. den 
Gandharven) wie etwa der Rigveda. Allein auch bei ihm ist 
nicht Orgiastik und Ekstase, sondern die rituelle Formel das 
spezifische magische Mittel. Im Yajurveda ist der priester- 
liche Zauber das absolut beherrschende Element der Religiosität 
geworden. Die brahmanische Literatur schritt auf diesem Wege.. 
der formalistischen Ritualisierung_des Lebens immer weiter 
fort. Neben den Brahmanen stand, wie in China neben dem 
staatlichen Amtskult, der Hausvater (grihastha) als Träger 
wichtiger ritueller Pflichten, welche die Grihya-Sutras ein- 
gehend reglementierten und die Dharmasutras (Rechtsbücher) 
zogen dann die gesamten sozialen Beziehungen des Einzelnen in 
ihren Bereich. Das ganze Leben wurde so umsponnen von einem 
Netz ritueller und zeremonieller Vorschriften, deren wirklich er- 
schöpfend korrekte Ausführung zuweilen an die Grenzen des über- 
haupt Möglichen streifte. 

Im Gegensatz zu den Intellektuellen der althellenischen 
Polis-Kultur, mit denen sie in Vergleich gestellt werden müssen 5), 


EPERE 


y Diese Stellung ist in Indien alt. Oldenberg (Aus Indien und Iran, 1899, 

P. 67) erinnert mit Recht an den Gegensatz des Deborah-Liedes (welches 
den siegreichen Kampf der hebräischen bäuerlichen Eidgenossenschaft mit der 
städtischen Ritterschaft feiert), wobei Jahwe als Bundesgott voranzieht, gegen- 
über dem Siegeslied des König Sudas (Rigveda VII, 10), in welchem der Zauber 
des Priesters alles macht. 

5) Diese Vergleiche mit den parallelen Erscheinungen auf allen Gebieten 
immer wieder gezogen zu haben ist unter den lebenden Indologen vor allem H. 
Oldenbergs Verdienst (auch v. Schröder verschmäht es nicht). Bedenken da- 
gegen hat namentlich E. W. Hopkins erhoben. Ob in Einzelheiten mit Recht 
kann nur der Fachmann entscheiden. Für das Verständnis sind jedenfalls diese | | 
Vergleiche ganz unentbehrlich. Der allgemeine geistige Habitus der Intellck- 
tuellen ist in China, Indien und Hellas zunächst keineswegs grundverschieden. 
Wie die Mystik im Calten hina blühte, so die pythagoreische Esoterik und die 
Orphik in Hellas. Die Entwertung der Welt als einer Stätte des Leidens und der | 
Vergänglichkeit ist dem hellenischen Pessinismus von Homer bis Bakchylides | ' 
geläufig, ihre »Schuldhaftigkeit« bei Herakleitos konzipiert, die »Erlösunge | 
von dem »Rad« der Wiedergeburten findet sich in der Grabschrift von Sybaris, d 

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348 Max Weber, 


waren eben die Brahmanen (und die von ihnen beeinflußte In- 
tellektuellenschicht) an Magie und Ritual kraft ihrer Stellung 
gebunden. Den alten hellenischen gentilcharismatischen Priester- 
adel (etwa der Butaden) hatte die militärische Stadtentwicklung 
alles realen Einflusses entkleidet und er galt nicht als Träger 
irgendwelcher geistigen Werte (sondern, namentlich die »Eteo- 
butaden«, als Typus junkerlicher Dummheit). Die Brahmanen 
haben den Zusammenhang mit Opfer und Magie im Dienst der 
Fürsten stets bewahrt. In all diesen Hinsichten glich die innere 
Lage und daher auch des Verhalten und die Richtung des Ein- 
flusses der Brahmanen denjenigen der Träger der konfuzianischen 
Kultur. Beide Male war es ein vornehmer Literatenstand, dessen 
magisches Charisma auf »Wissen« ruhte. Und zwar auf einem 
Wissen zeremonieller und ritualistischer Art, niedergelegt in 
einer heiligen Literatur, die verfaßt war in einer den Alltags- 
sprachen fernstehenden heiligen Sprache. Bildungsstolz und die 


felsenfeste Ueberzeugung, daß ausschließlich und allein jenesWissen_ 


als Cardinaltugend alles Heil, Unwissenheit als das eigentliche 
Laster jegliches Unheil bedinge, folgten daraus in beiden Fällen 
in gleichem Maße. Und ebenso »Rationalismus« im Sinne der 
Ablehnung aller irrationalen Formen der Heilssuche. Die Ab- 
lehnung der Orgiastik in allen ihren Arten war bei Brahmanen 
und Mandarinen die gleiche. Und wie den konfuzianischen Lite- 
raten die taoistischen Magier, so galten den Brahmanen alle 
nicht durch die Schule der vedischen Bildung gegangenen Magier, 
Kultpriester und Heilsucher als unklassisch, verächtlich und im 
Grunde der Ausrottung wert, — die freilich in beiden Fällen 
nicht wirklich durchführbar war. Denn wenn es auch den Brah- 
manen gelang, die Entwicklung einer einheitlichen organisierten 
unklassischen Priesterschaft hintanzuhalten, so doch, wie wir 
bald sehen werden, um den Preis des Entstehens zahlreicher 
Mystagogen-Hierarchien teils ganz außerhalb, teils aber auch von 
innerhalb ihrer eigenen Schicht, und damit eines Zerfalls der Ein- 
heitlichkeit der Heilslehre in Sekten-Soteriologien. Dies und eine 
Reihe damit zusammenhängender andrer wichtiger Unterschiede 
gegenüber der Chinesischen Entwicklung hängt aber mit der Ver- 


“die Sterblichkeit der Götter bei Empedokles, die »Erinnerunge an frühere 
Geburten und die Erlösung durch Erkenntnis als Privileg des Weisen bei Platon, 
Es sind dies eben Vorstellungen, die jeglicher vornehmen Intellektuellenschicht 
sehr naheliegen. Die Unterschiede der Entwickelung sind durch solche der Inter- 


 «ssenrichtung und diese durch politische Umstände bestimmt. 





Die Wirtschaitsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 349 


schiedenheit_der sozialen Grundstruktur. beider Intellektuellen- 
stände zusammen. Beide haben Entwicklungsstadien durchge- 
macht, die zeitweise erhebliche Aehnlichkeiten aufweisen. Im 

Endstadium erscheint der Gegensatz äußerlich am schärfsten: 
dort, bei den Mandarinen, eine Beamten- und Amtsanwärter- 
schicht, hier, bei den Brahmanen, ein _ Literatenstand von teils 
fürstlichen Kaplänen, teils konsultierenden, respondierenden 
und lehrenden Theologen_und_Juristen, Priestern und Seelen- 
hirten. In beiden Fällen befand sich freilich nur ein Bruchteil 
des Standes in jenen eigentlich typischen Stellungen. Wie zahl- 
reiche chinesische Literaten ohne Amtspfründe teils in den Büros 
der Mandarinen, teils als Angestellte von Verbänden aller Art 
ihr Brot fanden, so fanden Brahmanen seit jeher in den ver- 
schiedensten Stellungen, darunter auch hohen weltlichen fürst- 
lichen Vertrauensstellungen Verwendung. Aber wir sahen, daß _ 
eine eigentliche »Amtslaufbahn« von Brahmanen nicht nur nichts 

Typisches, sondern geradezu etwas dem Typus Widerstreiten- 
des war, während sie für den Mandarinen als das allein Menschen- 
würdige galt. Die typischen Pfründen der vornehmen Brahmanen 
waren keine Staatsgehälter und 'patrimonialstaatlichen . Amts- 
sportel- und Erpressungschancen, sondern feste Land- und Abgabe- 
renten. Und diese waren_nicht, wie die Pfründen der Mandarinen, 
auf jederzeitigen Widerruf und im Höchstfalle auf kurze Zeit, 
sondern stets dauernd, — lebenslänglich oder auf einige Gene- 
rationen oder an einzelne oder Organisationen (Klöster, Schulen) 
für immer — vergeben. Aeußerlich am ähnlichsten sieht sich da- ' 
gegen die Lage der chinesischen und der indischen Intellektuellen- 
schichten an, wenn man die Zeit der Teilstaaten in China mit 
dem Zustand Indiens etwa in der Zeit der ältern Jatakas oder 
wieder in der Epoche der mittelalterlichen Expansion des Brah- 
manentums vergleicht. Damals waren in Indien die hinduisti- 
schen Intellektuellen in starkem Maße eine Schicht von Trägern 
literarischer und philosophischer Schulung, gewidmet der Speku- 
lation und Diskussion über rituelle, philosophische und wissen- 
schaftliche Fragen. Teils lebten sie in der Zurückgezogenheit 
grübelnd und Schulen bildend, teils zwischen den Fürsten und 
Adelshöfen wechselnd und wandernd, sich trotz aller Spaltungen 
doch als eine letztlich einheitliche Gruppe von Kulturträgern 
fühlend. Sie waren Berater der einzelnen Fürsten und Adligen 
in privaten und politischen Fragen, Organisatoren von Staaten 


350 Max Weber, 


auf der Basis der korrekten Lehre. Also ganz ähnlich wie dies 
in China in der Zeit der Teilstaaten die dortigen Literaten waren. 
Stets bestand aber ein gewichtiger Unterschied. 
Die ‚höchste Brahmanenstellung war in alter Zeit die des 
Hofkaplans; später und bis zur englischen Herrschait war 
der rangälteste consultierende Jurist: der brahmanische Ober- 
pandit, meist der erste Mann des Landes. Die chinesischen 
Literaten aller philosophischen Schulen scharten sich um ein 
als lebendiger Träger der heiligen Tradition geweihtes Ober- 
haupt: den kaiserlichen Oberpontifex, welcher als solcher, dem 
von der Literatenschaft vertretenen Anspruch nach, auch das 
einzige legitime weltliche Oberhaupt, der Oberlehensherr sämt- 
licher weltlicher Teilfürsten des chinesischen »Kirchenstaats« war. 
Etwas dem Entsprechendes gab es in Indien nicht. Die 
Literatenschicht stand hier in der Epoche der massenhaften 
Teilstaaten einer Vielheit von Kleinherrschern gegenüber, die 
keinen legitimen Oberherrn über sich hatten, von dem sie ihre 
| Macht ableiteten. Der Begriff der Legitimität war hier vielmehr 
‚lediglich der: daß der einzelne Fürst dann und insoweit als 
‚ein »legitimer«, d. h. rituell korrekter Herrscher galt, als er sich 
in seinem Verhalten, zumal gegenüber den Brahmanen, an die 
‚ heilige Tradition band. Andernfalls war er »Barbar« ebenso wie 
ja auch die Feudalfürsten Chinas an dem Maßstab ihrer Kor- 
rektheit gegenüber der Literatenlehre gemessen wurden. Kein 
König Indiens aber, so groß auch — wie wir sahen — seine fak- 
tische Macht selbst in rein 'rituellen Dingen sein mochte, war 
je als solcher zugleich ein Priester, Und zwar geht dieser 
Unterschied gegenüber China offenbar in die ältesten auch nur 
hypothetisch erreichbaren Zeiten der beiderseitigen Geschichte 
zurück. Schon die altvedische Ueberlieferung bezeichnet die 

schwarzhäutigen Gegner der Arier im Gegensatz zu diesen als 
= »priesterlos« (abrahmana). Bei den Ariern steht dagegen von An- 
“ fang an neben dem Fürsten selbständig der im Opferritual geschulte 
_ Priester. Dagegen weiß die älteste Ueberlieferung der Chinesen 

von selbständigen Priestern neben einem rein weltlichen Fürsten 
‚nichts. Bei den Indern ist das Fürstentum ersichtlich aus der 
_ rein weltlichen Politik, aus den Kriegszügen charismatischer 
; Kriegshäuptlinge, herausgewachsen, in China dagegen, wie wir 
` sahen, aus dem Oberpriestertum. Welche historischen Vorgänge 

die Entstehung dieses überall höchst wichtigen Gegensatzes der 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 351 


Einheit oder Zweiheit der politischen und priesterlichen höch- 
sten Gewalt in diesem Falle erklären, dafür ist es wohl ausge- 
schlossen jemals auch nur bis zu hypothetischen Vermutungen 
zu gelangen. Es findet sich der gleiche Unterschied ja auch bei 
ganz sprimitivene Völkern und Reichen, und zwar auch in un- 
mittelbarer Nachbarschaft voneinander und bei sonst gleicher 
Kultur und Rasse. Er Er ist offenbar oft durch ganz konkrete und 
in d diesem Sinn historisch. »zufällige« Umstände > ursprünglich } her-, N X 
Deigeführt un und wirkte dann fort, 
Die Folgen dieses Unterschiedes nun waren in jeder Hin- 
sicht höchst bedeutende. Zunächst äußerlich für die soziologische 
Struktur der beiderseitigen Intellektuellenschichten. In der Zeit 
der Teilstaaten entstammten die chinesischen Literaten fak- 
tisch noch in der Regel den alten gentilcharismatisch quali- 
fizierten »großen« Familien, wennschon das persönliche Charisma 
der Schriftbildung doch bereits so bedeutend war, daß — wie 
wir sahen — Parvenus in Ministerstellen zunehmend häufig er- 
schienen. Als nun das kaiserliche Oberpontifikat die Fülle der 
weltlichen Macht wieder in sich vereinigte, war der Monarch, als 
Oberpontifex, in der Lage, seinem Machtinteresse entsprechend, 
die Zulassung zum Amt an die rein persönliche Qualifikation 
der korrekten Schriftbildung zu binden und dadurch den Patri- 
monialismus gegenüber dem Feudalsystem endgültig zu sichern: 
die Literatenschicht wurde nun eine — in vieler Hinsicht, sahen 
wir, eigenartige — Bürokratenschicht. In Indien war der Gegen- 
satz zwischen Gentilcharisma und persönlichem Charisma noch 
in historischer Zeit ebenfalls, wie wir sahen, nicht wirklich er- 
ledigt. Immer aber war es die gelernte Priesterschaft selbst, 
deren Ansichten über die Qualifikation des Novizen maßgebend 
waren. Mit der vollen Angleichung des Brahmanentums an den 
vedischen Priesteradel entschied sich dann die Frage des Charisma 
mindestens für die offizielle Lehre. Als die ersten Universal- 
monarchien entstanden, hatte sich die selbständige Priesterschaft 
als gentilcharismatische Zunft, d.h. als »Kaste« mit fester Bil- 
dungsqualifikation als Voraussetzung des Amtirens, schon so 
in den sicheren Besitz der geistlichen Autorität gesetzt, daß 
daran nicht mehr zu rütteln war. 
Im Yajur-Veda ist diese erst im Atharva-Veda auftauchende ' 
Stellung der Brahmanen volldurchgebildet. »Brahman«, im Rig- 
veda das Gebet, ist jetzt »heilige Macht« und »Heiligkeit«. Die 











-< — m- 


352 Max Weber, 


Brahmanas führten das nur weiter aus: »Die Brahmanen, welche 
den Veda gelernt haben und ihn lehren, sind menschliche Götters 
heißt es 6). Kein hinduistischer Fürst oder Großkönig konnte eine 
pontifikale Gewalt beanspruchen und die späteren — islamischen 
— Fremdherrscher waren erst recht disqualifiziert und auch 
weit entfernt davon es zu tun. Derjenige Punkt, in welchem 
dieserGegensatz der gesellschaftlichen Strukturen der chinesischen 
und indischen Intellenktuellenschicht wichtige Folgen hatte, 
war »weltanschauungsmäßiger« und praktisch ethischer Natur. 

Ein theokratischer Patrimonialismus und ein Literatentum 
von staatlichen Amtsanwärtern waren in China der geeignete 
Boden für eine rein utilitarische Sozialethik. Der »Wohlfahrts- 
staats«-Gedanke mit stark materieller Wendung dieses Wohl- 
fahrtsbegriffs folgte zwar vor allem aus der charismatischen Ver- 
antwortlichkeit des Herrschers für das äußere, meteorologisch 
bedingte Wohlergehen der Untertanen. Daneben aber aus der 
Stellung der sozialphilosophisch interessierten und dabei bil- 
dungsstolzen Literatenschicht gegenüber den bildungsfremden 
Massen. Die Banausen können ja nichts Andres als mate- 
rielle Wohlfahrt erstreben, und materielle Versorgung ist auch 
das beste Mittel der Erhaltung von Ruhe und Ordnung. 
Schließlich folgte sie auch aus dem Pfründner-Ideal der Büro- 
kratie selbst: dem gesicherten festen Einkommen als der Grund- 
lage der Gentleman-Existenz. Der ständische Gegensatz der 
Bildung gegen die Unbildung und die Reminiszenzen leiturgi- 
scher Bedarfsdeckung führten dabei zu einer gewissen Annähe- 
rung an »organische« Gesellschafts- und Staats-Theorien, wie 
sie naturgemäß jeder politischen Wohlfahrtsanstalt nahe liegen. 
Aber: der nivellierende chinesische Patrimonialbürokratismus hielt 
dabei diese ganz unverkennbaren Ansätze in mäßigen Schranken. 
Nicht etwa die organische Ständegliederung, sondern die patriar- 
chale Familie war das Bild, unter welchem die soziale Schichtung 
vornehmlich gesehen wurde. Autonome soziale Mächte konnte 
die patriarchale Bürokratie sich gegenüber nicht anerkennen. 
Die in der Wirklichkeit lebendigen »Organisationen«, vor allem: 
die Gilden und gildenartigen Verbände und die Sippen, waren, 
je mächtiger und autonomer sie tatsächlich waren, desto weniger 
von der Theorie als Grundlage einer organischen Gesellschafts- 
gliederung verwertbar. Sie blieben für sie vielmehr in ihrer reinen 

$) Cathapatha Brahmana II, 2, 2, 6. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 353 


Faktizität einfach abseits liegen. Die typische »Berufs«-Konzeption 
der organischen Gesellschaftsauffassungen war daher in China 
nur in Ansätzen vorhanden und blieb vor allem der herrschen- 
den vornehmen literarischen Intellektuellenschicht — wie wir 
sahen — fremd. 

Sehr anders in Indien. Hier hatte die selbständig neben 
den politischen Herrschern stehende Priestermacht mit der ebenso 
selbstherrlich neben ihr stehenden Welt der politischen Gewalten 
zu rechnen. Sie erkannte deren Eigengesetzlichkeit an, — ein- 
fach weil sie es mußte. Denn das Machtverhältnis zwischen Brah- 
manen und Kschatriyas war, wie wir sahen, lange Zeit hindurch 
sehr schwankend. Und auch nachdem die ständische Superiorität 
der Brahmanen, in der offiziellen Theorie der letzteren wenig- 
stens, feststand, blieb die Gewalt der inzwischen entstandenen 


m 


Großkönige doch eine selbständige und dem Wesen nach rein 


weltliche, nicht hierokratische, Macht. Zwar war der Pflichten- ` 


kreis der Könige wie der jedes Standes gegenüber der brahmani- 
schen Hierokratie bestimmt durch ihr Dharma, welches Bestand- 


teil des brahmanisch regulierten heiligen Rechts war. Aber dies ) 


Dharma war eben bei jedem Stand, und so auch bei den Königen, | 


ein anderes und — mochte es auch, der Theorie nach, nur von! 
den Brahmanen maßgebend zu interpretieren sein — doch nach | 


deren eigenen Maßstäben ein durchaus eigenes und selbständiges, ' 


nicht etwa mit dem Dharma der Brahmanen identisches oder aus 


ihm abgeleitetes?). Es gab keine universell gültige, sondern ’ 


durchaus nur eine ständisch besonderte private und Sozialethik, ` 
die wenigen unbedingt allgemeinen rituellen Verbote (vor allem: 
der Kuhschlachtung), von denen früher geredet wurde, ausgenom- 


men. Die Konsequenzen waren sehr weitreichend. Denn da nicht | 
nur die Kastengliederung der Welt, sondern ebenso die Abstu- ` 
fung göttlicher, menschlicher, tierischer Wesen aller Rangstufen ' 
von der Karmanlehre aus dem Prinzip der Vergeltung vorge- 
taner Werke abgeleitet wurde, so war für sie das Nebeneinander- : 


bestehen von ständischen Ethiken, die untereinander nicht 
nur verschieden, sondern geradezu einander schroff widerstrei- 
tead waren, gar kein Problem. Es konnte — im Prinzip — ein 


Berufs-Dharma für Prostituierte, Räuber und Diebe ganz ebenso ` 





”) Wenn auch allerdings manche Pflichten der beiden anderen »wiederge- 
borenen« Kasten in vielen Punkten als Abschwächung der Pflichten aer Brah- 
Marenkaste konstruiert wurden. 


au 


354 >- Max Weber, 


geben wie für Brahmanen und Könige. Und es gab die allerernst- 
haftesten Ansätze zu diesen äußersten Konsequenzen auch tat- 
sächlich. Der Kampf des Menschen mit dem Menschen in allen 
seinen Formen war prinzipiell ebensowenig ein Problem, wie sein 
Kampf mit den Tieren und auch mit den Göttern und wie die 
Existenz des schlechthin Häßlichen, Dummen und des — vom 
Maßstab des Dharma eines Brahmanen oder sonstigen »Wieder- 
geborenen« aus gesehen — schlechthin Verwerflichen. Die Men- 
schen waren nicht — wie für den klassischen Konfuzianismus — 
\ prinzipiell gleich, sondern wurden zu allen Zeiten ungleich geboren, 
ų so ungleich wie Menschen und Tiere. Allerdings hatten sie alle 
die gleichen Chancen vor sich: Aber nicht in diesem Leben, 
sondern auf dem Wege der Wiedergeburt konnten sie entweder 
hinauf bis in den Himmel oder hinab bis in das Tierreich oder die 
; "Hölle gelangen. Die Konzeption eines »radikal Bösen« war in dieser 
 Weltordnung überhaupt nicht möglich, denn eine »Sünde schlecht- 
ı hin« konnte es ja nicht geben. Sondern immer nur einen rituellen 
, Verstoß gegen das konkrete, durch die Kastenzugehörigkeit 
bedingte Dharma. Es gab in dieser_in ihrer Abgestuftheit ewigen 
"Welt keinen seligen Urstand und kein seliges Endreich, und des- 
halb auch keine — im Gegensatz zur positiven Sozialordnung — 
»natürliche« Ordnung der Menschen und Dinge, also auch kein 
»Naturrecht« irgendwelcher Art. Sondern es gab — für die Theo- 
| rie zum mindesten — nur heiliges, ständisch besondertes, aber 
| positives Recht und innerhalb der von ihm — als indifferent — 
| unreglementiert belassenen Gebiete positive Satzungen der Für- 
' sten, Kasten, Gilden, Sippen und Vereinbarungen der Indivi- 
| | duen. Die Gesamtheit aller Probleme, welche im Occident das 
' »Naturrecht« ins Leben riefen, fehlte eben vollständig und 
prinzipiell. Denn es gab schlechthin eben keinerlei »natürliches 
Gleichheit der Menschheit vor irgendeiner Instanz, am aller- 
wenigsten vor irgendeinem überweltlichen »Gott«. Dies ist die 
negative Seite der Sache. Und diese ist die wichtigste: sie 
schloß die Entstehung sozialkritischer und im naturrechtlichen 
Sinn »rationalistischer« Spekulationen und Abstraktionen voll- 
ständig und für immer aus ?) und hinderte das Entstehen irgead- 


~ 


8) Spuren »naturrechtlichere Gedanken finden sich oft, namentlich in der 
epischen Literatur, die ja unter anderem auch eine fortwährende innere Au 
einandersetzung mit den brahmanenfeindlichen Strömungen der Zeit der Erlö- 
sungsreligionen enthält. So namentlich in der Klage der Draupadi im Maha- 
bharata: Die Quelle des »ewigen Rechtse, gagvata dharma, heißt es, ist versiegt 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 355 


welcher »Menschenrechtes. Schon weil ja das Tier und der Gott, 
wenigstens bei konsequenter Durchführung der Lehre, nur andre, | 
ebenfalls Karman-bedingte Inkarnationen von Seelen waren 
und es für die Gesamtheit aller dieser Wesen offenbar abstrakt 
gemeinsame »Rechte« sowenig geben konnte wie gemeinsame 
»Pflichten.. Es gab nicht einmal den Begriff »Staat« und 
»Staatsbürger« oder auch »Untertan«, — sondern nur das stän- 
dische Dharma: die Rechte und Pflichten des »Königs« und der 
anderen Kasten, einer jeden in sich und jeder im Verhältnis zu den 
anderen. Dabei wird dem Kschatriya, als dem Patron des Ra- 
yat (sClienten«), das Dharma der Fürsorge für den »Schutze 
der Bevölkerung — immerhin nur wesentlich: des äußeren 
Sicherheitsschutzes — zugeschrieben und ihm die Pflicht der 
Sorge für die Rechtspflege und die Redlichkeit des Verkehrs 
und was damit zusammenhängt, als ethisches Gebot auferlegt. Im 
übrigen gilt es für den Fürsten wie für andere, aber für ihn im 
eminenten Sinn, als allererste Pflicht, die Brahmanen zu unter- 
halten und zu fördern, vor allem ihnen bei ihrer autoritären Rege- 
lung der sozialen Ordnung gemäß den heiligen Rechten seinen Arm 
zu leihen, Angriffe auf ihre Stellung aber nicht zu dulden. Die Be- 
kämpfung von brahmanenfeindlichen Irrlehren ist selbstverständ- 
lich verdienstlich und wird verlangt und geleistet. Aber das ändert 
daran nichts, daß der Stellung des Fürsten und der Politik in 
eigentümlich penetranter Art ihre Eigengesetzlichkeit gewahrt 
bleibt. Die chinesische Literatur kennt für die Epoche der Teil- 
fürsten wenigstens in der Theorie — wie einflußlos diese gerade 
in dieser Hinsicht auch sein mochte — den Begriff »gerechter« 


und dieses daher nicht mehr erkennbar. Das positive Recht ist immer zweifelhaft, 
(of. I, 195, 29), jedenfalls aber wandelbar (XII, 260, 6 ff.). Die Macht regiert die 
Erde und eine göttliche Gerechtigkeit gibt es nicht. Es handelt sich freilich im 
gegebenen Fall um Taten schnöden Bruches aller Sitte innerhalb des engsten 
Sippenkreises, 

Im übrigen kommt das Bedürfnis nach einer »Urstandse-Lehre innerhalb der 
orthodoxen Lehre nur in der Form auf seine Rechnung, daß nach der Lehre des 
Epos von den 4 Zeitaltern, welche die Welt zwischen jeder Zerstörung und Reab- 
sorption durch die pralaya (Götterdämmerung) durchmacht, jedesmal das erste: 
das Krita-Zeitalter, am höchsten, das letzte: das Kali-Zeitalter, am tiefsten steht. 
Die Kastenunterschiede zwar bestehen auch im Krita-Zeitalter, aber jede Kaste 
tut ihre Pflicht gern und Ohne Erwartung von Verdienst und Lohn um ihrer selbst 
willen. Es gibt auch weder Kauf noch Verkauf. Daher ist die Erlösung allen zu- 
gänglich und ein Gott (eka deva) ist der gemeinsame Gott aller Kasten. Im Kali- 
Zeitalter umgekehrt ist die Kastenordnung umgestürzt und der Eigennutz herrscht 
— bis die pralaya kommt und Brahma in Schlaf verfällt. Die Lehre ist in dieser 
Form durch die später zu besprechende Bhagavata-Ethik beeinflußt und spät. 


BE | 


356 Max Weber, 


und »ungerechter« Kriege und eines »Völkerrechtse, als Ausdruck 
der chinesischen Kulturgemeinschaft. Der zum Alleinherrscher 
aufgestiegene kaiserliche Pontifex vollends, der die Weltherr- 
schaft, auch über die Barbaren, beanspruchte, führte nur sge- 
rechte«e Kriege. Denn jeder Widerstand gegen ihn war Rebellion. 
Unterlag er, so galt dies als Symptom dafür, daß ihm das Charisma 
vom Himmel versagt sei oder er es verwirkt habe. Aehnliches 
galt nun auch für den indischen Fürsten. Auch wenn er unter- 
lag oder wenn es seinen Untertanen andauernd nicht gut ging, 
war dies ein Beweis für magische Verfehlungen oder mangeln- 
des Charisma. Der Erfolg des Königs entschied also. Aber das 
hatte nichts mit seinem »Recht« zu tun. Sondern mit seiner per- 
sönlichen Eignung und, vor allem: der Zauberkraft seines Brah- 
imanen. Denn diese, und nicht sein ethisches »Recht«, verschaffte 
dem König den Sieg, wenn eben der Brahmane sein Handwerk ver- 
stand und charismatisch qualifiziert war. Auch in Indien hatte, 
wie im Occident, die ritterliche Konvention der epischen Kscha- 
triya-Zeit gewisse Standessitten für die Fehde geschaffen, deren 
Verletzung als verwerflich und. unritterlich galt, wenn auch wohl 
niemals im indischen Ritterkampf so weitgehende Courtoisie 
geübt worden ist, wie sie der berühmte Heroldsruf der französi- 
schen Ritterschaft an die Gegner vor der Schlacht von Fontenoy 
repräsentiert: »Messieurs les Anglais, tirez les premiers.« Im ganzen 
herrschte das Gegenteil. Nicht nur die Menschen, auch die Götter 
(Krischna) setzen sich im Epos um des Erfolges halber höchst 
unbekümmert auch über die elementarsten Regeln ritterlichen 
| Kampfes hinweg. Und wie in der hellenischen Polis der klassi- 
i schen Zeit °), so galt auch für die Fürsten schon des Epos und der 
| Maurya-Epoche, erst recht aber der späteren Zeit der nackteste 
| »Macchiavellismus« in jeder Hinsicht als selbstverständlich und 
i ethisch gänzlich unanstößig. Das Problem einer »politischen 
| Ethik« hat die indische Theorie nie beschäftigt und, in Ermange- 
lung einer Universalethik und eines Naturrechts, auch nicht 
beschäftigen können. Das Dharma des Fürsten 1°) ist, Krieg 


”) Der Dialog des Athener und Melier bei Thukydides ist das bekannte Bei- 
spiel. 

10) Klassische Formulierung dieses »Macchiavellismuse außer im früher zi- 
tierten Kautaliya Arthasastra besonders im Yätr& des Varähamihira (übersetzt 
von H. Kern in Webers Indischen Studien). Yäträ oder Yogayatra heißt zunächst 
die Kunst deı Angabe der Vorbedeutungen, die ein in den Krieg ziehender Fürst 
zu beobachten hat. An diese Wissenschaft schloß sich die »Staatskundee an, 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus, 357 


zu führen um des Kriegs und um der Macht rein als solcher 
willen. Er hatte den Nachbar durch List, Betrug und alle noch 
so raffinierten, unritterlichen und heimtückischen Mittel, durch 
Veberfall, wenn er in Not war, durch Anstiftung von Verschwö- 
rungen unter seinen Untertanen, Bestechung seiner Vertrauten zu 
vernichten, die eigenen Untertanen aber durch Spionage, Lock- 
spitzel und ein raffiniertes System von Tücke und Argwohn 
im Zaum zu halten und fiskalisch nutzbar zumachen. Das Macht- 
pragma und der für unsre Begriffe durchaus »unheilige« Egois- 
mus des Fürsten war hier, gerade von der Theorie, ganz und gar 
seinen eigenen Gesetzen überlassen, alle theoretische Politik 
gänzlich amoralische Kunstlehre von den Mitteln, politische Macht 
zu erlangen und zu erhalten, weit hinausgehend über alles, 
was wenigstens die Durchschnittspraxis selbst der Signoren der 
italienischen Frührenaissance in dieser Hinsicht kannte und 
jeglicher »Ideologie« in unserem Sinn des Wortes gänzlich bar. 
Die gleiche Erscheinung wiederholt sich nun für alle pre pro- 
fanen Lebensgebiete. Sie befähigte den Hinduismus, im Gegen- 
satz zur Fachmenschenfeindschaft des Konfuzianismus, allen 
einzelnen Lebens- und Wissensgebieten ihr gesondertes Recht 
zuteil werden zu lassen und also wirkliche »Fachwissenschaften« 
zu schaffen. So — neben bedeutenden mathematischen und 
grammatischen Leistungen — vor allem eine formale Logik als 
Kunstlehre des rationalen Beweises (hetu, daher hetuvadin, der 
Logiker,. Eine eigene Philosophenschule: Nyaya!) befaßte 
sich mit dieser Kunstlehre des Syllogismus und die als orthodox 
anerkannte Vaigeshika-Schule 12) gelangte unter Anwendung dieser 
formalen Hilfsmittel auf dem Gebiet der Kosmologie zum Ato- 
mismus. Im hellenischen Altertum wurde die weitere Pflege der 
Atomistik nach Demokritos und die Entwicklung zu einer mo- 
dernen Naturwissenschaft trotz viel weitergehender mathe- 
matischer Unterbauten durch den stark sozial bedingten Ein- 
bruch und Sieg des ihr feindlichen, ausschließlich sozialkriti- 
schenund sozialethischen Interesses seit Sokrates gehemmt. In In- 
dien wurde umgekehrt durch die sozial verankerte Unerschütter- 
lichkeit gewisser metaphysischer Voraussetzungen alle Philosophie 
nachdem (cf. a. o. O. I, 3) infolge der Karman-Lehre feststand, daß das Horoskop 
durch Karman determinieıt werde, also keine selbständige Bedeutung habe, 


1) Gestiftet von Gotama. 
'"\ Gestiftet von Kanada (Vebersetzungen von Röeıl, Z. D. M. G. 21 /z.) 





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358 Max Weber, 


in die Bahnen individuellen Erlösungsstrebens gedrängt 13). 
Das wirkte als Schranke sowohl für die Fachwissenschaften wie 


“ für die Fragestellungen des Denkens überhaupt. Die konsequent 


sorganische« Gesellschaftslehre des Hinduismus konnte das Dharma 
jedes»Berufes«, inErmangelung anderer Maßstäbe, nur den Eigenge- 
setzlichkeiten seiner Technik entnehmen und schuf daher überall 
nur technische Kunstlehren für Spezialberufe und Sondersphären 
des Lebens, von der Bautechnik bis zur Logik als Kunstlehre 
des Beweisens und Disputierens und bis zur Kunstlehre der Ero- 
tik 14). Dagegen keinerlei Prinzipien einer universellen, für das 
Leben in der Welt im allgemeinen Anforderungen stellenden 
Ethik. Diejenige Literatur der Inder, welche man mit den philo- 
sophischen Ethiken des Abendlandes in Parallele stellen kann, 
war — oder richtiger: wurde im ‘Verlauf der Entwicklung — 
vielmehr etwas ganz anderes: eine metaphysisch und kosmologisch 
unterbaute Kunstlehre von den technischen Mitteln, aus 
dieser Welt heraus erlöst zu werden. An diesem Punkt 
verankerte sich letztlich alles philosophische und theologische 
Interesse in Indien überhaupt. Die Ordnungen des Lebens und 
sein Karman-Machanisms waren ewig. Eine religiöse Eschatologie 
der Welt war hier sowenig möglich wie im Konfuzianismus. 
Sondern nur eine (praktische) Eschatologie des Einzel-Indivi- 
duums, welches jenem Mechanismus und dem »Rade« der Wieder- 


geburten zu entrinnen trachten wollte. 


Die Tatsache dieser Ideen-Entwicklung sowohl wie ihre Art 
stehen wiederum im Zusammenhang mit der sozialen _Eigenart 
der indischen Literatenschicht, welche ihr Träger war. Denn wenn 
die Brahmanen ebenso wie die Mandarinen ihr Standesgefühl 
aus dem Stolz auf ihr Wissen um die Ordnungen der Welt speisten, 
so blieb doch der gewaltige Unterschied bestehen: daß die chi- 
nesischen Literaten eine politische Amtsbürokratie darstellten, 


13) Die dualistische Samkhya-Philosophie lehnte die Atomistik ab, weil durch 
Unausgedehntes nichts Ausgedehntes hervorgebracbt werden könne, in Wahrheit 
aber deshalb, weil sie — wie später zu erörtern — auch die seelischen Vorgänge 
zur Materie rechneten. Für die Vedanta-Schule andererseits waren die Vorgänge der 
empirischen Welt, als der kosmische Illusion (Maya) zugehörig, ganz uninter- 
essant. Entscheidend aber war, daß die Stellungnahme der Philosophie zu allen 
Problemen, wie sich immer wieder zeigen wird, ausschließlich durch das Erlö- 
sungsinteresse beherrscht wurde. 

14) Ueber das Raffinement dieser kann man sich leicht aus der betreffenden 
Literatur, mit der sich Richard Schmidt eingehend befaßt hat, orientieren 
und wird H. Oldenberg’s Urteil bestätigt finden. 


HL. 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 359 


welche mit magischer Technik nichts zu tun hatten, diese ver- 
achteten Künste vielmehr den taoistischen Zauberern überließen, 
während die Brahmanen der Herkunft und dem bleibenden Wesen 
nach Priester, und das heißt: Magier waren. Darauf beruhte ge- 


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Mystik. 

Der Konfuzianismus_verschmähte diese je länger je ener- 
gischer als eine dem Würdegefühl des vornehmen Mannes wider- 
streitende gänzlich nutzlose und barbarische, vor allem: para- 
sitäre, Gaukelei. In der Epoche des amtsfreien Literatentums ` 
zur Zeit der Teilfürsten blühte zwar das Anachoretentum und 
die Kontemplation der Philosophen, und gänzlich sind diese Be- 
ziehungen auch später nicht abgerissen, wie wir sahen. Aber mit 
der Umwandlung in eine diplomierte Amtspfründnerschicht 
steigerte sich die Verwerfung jeder solchen, innerweltlich und 
sozal-utilitarisch angesehen, wertlosen Lebensführung als un- 
klassisch. Reminiszenzen der Mystik geleiteten den Konfuzianis- 
mus nur als sein schattenhaftes heterodoxes Gegenbild. Die 
eigentliche Askese aber starb so gut wie völlig ab. Und endlich 
die wenig wichtigen orgiastischen Reste in der Volksreligiosität 
änderten an der prinzipiellen Ausrottung dieser irrationalen Mächte 
nichts. Dagegen konnte das Brahmanentum die historischen 
Beziehungen zur alten Magier-Askese, aus der es hervorgewachsen 
war, nie ganz abstreifen. Der Name des Novizen (bramacharin) 
ist von der magischen Novizenkeuschheit abgeleitet und die Vor- 
schrift kontemplativenWaldlebens als — so zu sagen —»Altenteilss- 
Existenz entstammte der gleichen Quelle 14°}. Sie sind in den klas- 
sischen Quellen auf die beiden andern wiedergeborenen Stände 
erstreckt 15), aber wohl ursprünglich Bestandteile nur der 
Magieraskese gewesen. Beide Vorschriften sind heute und wohl 
schon seit langer Zeit obsolet. Aber ihre Fixierung in der klassi- 
schen Literatur blieb bestehen. Und vollends die kontemplative 
Mystik vom Typus der Gnosis, die Krone klassisch-brahmanischer 
Lebensführung, stand als Ziel vor jedem Brahmanen voller 





1) Nämlich der typischen Altersklassengliederung. 

15) Die praktischen Zwecke der Regel waren damals vielleicht im wesent- 
lichen oder doch weit mehr die: den zur Erlösung von der Welt durch Asketen- 
leben drängenden Heilssuchern die Pflicht, erst alssHaushalter« Nachkommen zu 
erzeugen, einzuschärfen, als die umgekehrte, das Vanaprastha-Leben vorzuschrei- 
ben. Denn darum: ob man unmittelbar vom Novizen zum Asketen werden dürfe, 
drehte sich damals die Diskussion (s. u.). 


360 Max Weber, 


Bildung, mochte auch die Zahl derer, welche sich ihr wirk- 
lich voll zuwendeten, in der mittelalterlichen Vergangenheit oft 
bereits ähnlich gering sein wie sie es heute durchweg ist. Wir 
müssen uns der Stellung der brahmanischen Bildung zu Askese 
und Mystik und, soweit dabei der Zusammenhang es unentbehr- 


lich macht, auch gewissen Vorstellungskreisen der Philosophie, 


welche in Verbindung damit auf dem Boden jener Bildung ge- 
wachsen ist, etwas näher zuwenden. Denn teils auf Grundlage 
der Kgonzeptionen, welche hier entstanden, teils im charakteristi- 
schen Gegensatz zu ihnen — jedenfalls aber nur in enger Beziehung 
dazu — konnten die hinduistischen Erlösungsreligionen mit 
Einschluß des Buddhismus entstehen. 

Die indische Askese war technisch wohl die rational ent- 
wickeltste der Welt. Es gibt fast keine asketische Methodik, 
welche nicht in Indien virtuosenhaft geübt und sehr oft auch zu 
einer theoretischen Kunstlehre rationalisiert worden wäre, und 
manche Formen sind nur hier bis in ihre letzten, oft für uns 
schlechthin grotesken Konsequenzen hineingesteigert werden. Das 
Kopfabwärtshängen des Urdhamukti-Sadhus und das Lebendig- 
Begraben (Samadh) sind noch bis ins rọ. Jahrhundert geübt 
worden, die Alchemie bis in die Gegenwart 19). Der Ursprung der 
klassischen Askese war hier wie überall die alte Praxis der Magier- 
Ekstase in deren verschiedenen Funktionen und ihr Zweck dem 
entsprechend ursprünglich durchweg: die Erlangung magischer 
Kräfte. Der Asket weiß sich im Besitz von Macht über die Götter. 
Er kann sie zwingen, sie fürchten ihn und müssen seinen Willen 
tun. Will ein Gott Ausnahmsleistungen vollbringen, so muß auch 
er Askese üben. So hat das höchste Wesen der älteren Philo- 
scphie, um die Welt zu gebären, mächtige asketische Anstren- 
gungen machen müssen. Daß die magische Kraft der Askese 
(Tapas) als durch eine Art von (hysterischer) Bruthitze bedingt 
galt (wie der Name zeigt) kam dieser Vorstellung entgegen. Durch 
hinlängliche Grade außeralltäglicher asketischer Leistungen kann 
man schlechthin jede Wirkung erzielen. Mit dieser Voraussetzung 
wird bekanntlich noch in der klassischen Sanskrit-Dramatik als 
mit einer Selbstverständlichkeit gearbeitet. Da das Charisma, 
in eine der magisch relevanten Zuständigkeiten zu geraten, höchst 

16) Auch sie in strengem Zusammenhang mit asketischem Leben; der Schüler 


eines Alchemisten, der eine Geschlechtssünde begeht, wird alsbald verstoßen, 
denn das magische Charisma haftet am korrekten Leben. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 361 


persönlich und an keinen Stand gebunden war, so rekrutierten sich 
diese Magier sicherlich auch (und gerade) in den frühesten uns 
zugänglichen Epochen nicht nur aus einer offiziellen Priester- 
oder -Magier-Kaste, wie die Brahmanen es waren. Vollends des- 
halb war dies schwer möglich oder wurde immer schwerer möglich, 
weil und je mehr das Brahmanentum zunehmend ein vornehmer 
Stand von Ritualkundigen wurde, dessen soziale Ansprüche auf 
Wissen und vornehmer Bildung beruhten. Je mehr dies der Fall 
war, desto weniger konnte das Brahmanentum alle Arten magi- 
scher Askese umspannen. Der immanente Rationalismus des 
»Wissens« und der »Bildung« sträubte sich wie überall gegen irra- 
| tionale, orgiastisch-ekstatische Rausch-Askese und der Stolz 
eines vornehmen Bildungsstandes gegen die würdelose Zumutung, 
ekstatischetherapeutischePraktiken vollziehen und neuropathische 
Zustände zur Schau stellen zu sollen. Es mußte also hier un- 
vermeidlich jene schon eingangs erwähnte Entwicklung ein- 
setzen, welche in teilweise ähnliche Bahnen führte, wie wir sie 





bei der chinesischen Magie fanden. Ein Teil der magischen ` 


Praktiken, und zwar die akut-pathologisch- und emotionell- ' 
ekstatischen, in diesem Sinn sirrationalene unter ihnen, wurde | 


als unklassisch und barbarisch entweder ausdrücklich abgelehnt 
oder doch tatsächlich innerhalb des Standes nicht geübt und 


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durch die Art seiner Lebenspraxis ausgeschlossen. Dies ist, wie : 


wir sahen, tatsächlich weitgehend geschehen und insoweit besteht ` 


die Parallele zur Entwicklung der chinesischen Literaten. Wesent- 
lich anders aber konnte eine vornehme Intellektuellenschicht den 
apathischen Formen der Ekstase (den Entwicklunsgkeimen der 
Kontemplation«) und ebenso allen rationalisierbaren Praktiken 


der Askese gegenüberstehen. Sie waren zwar für ein staatliches 


Mandarinentum unverwertbar, nicht aber für eine Priesterschatft. 


Diese konnte sich ihnen gar nicht entziehen. Derjenige Teil der 


Magier-Askese und -Ekstase nun, den die Brahmanen rezipierten 
oder, richtiger, beibehielten und beibehalten mußten, weil sie 
im Unterschied zu den Mandarinen keine politische Amtsanwärter- 
schicht, sondern eine Magierkaste waren, wurde in ihrer Pflege, 
je mehr sie eine vornehme Literatenschicht wurden, desto syste- 
matischer rationalisiett. Dies war eine Leistung, welche die 
chinesischen Literaten, die nach ihren Traditionen jeder Askese 
fremd gegenüberstanden, nicht vollbringen konnten, sondern 


in den Händen der von ihnen geduldeten und verachteten Berufs- 
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 2. 24 


1 


362 Max Weber, 


magier und der Taoisten verkümmern lassen mußten. Der ent- 
scheidende Gegensatz des Ausgangspunktes der beiderseitigen 
politischen Entwicklung schlug auch bier durch. Die brahmanische 
Philosophie bewegt sich, in höchst auffallendem Gegensatz gegen 
die chinesische, durchweg um Probleme, welche in der Art der 
Fragestellung sowohl wie in der Art der Beantwortung oft uner- 
klärlich wären ohne Berücksichtigung der Tatsache, daß ratio- 
nalisierte Askese und Ekstase einen grundlegenden Bestandteil 
jeder korrekt brahmanischen Lebensführung bildeten. 

Denn nicht nur das Leben des bramacharin (Novizen) war, 
mit seiner strengen persönlichen Unterordnung unter die Auto- 
rität und häusliche Disziplin des Lehrers 17), dem Keuschheits- 
und Bettelgebot, durchaus asketisch geregelt. Und nicht nur 
galt als Ideal der Lebensführung des alternden Brahmanen die 
Rückkehr in den Wald (als Vanaprastha) und schließlich die 
Einkehr in ein ewiges Schweigen als Einsiedler (Asrama) und 
die Erreichung der Qualifikation als Yati (von der Welt 
innerlich befreiter Asket). Sondern in starkem Maße asketisch 
: reglementiert war auch die innerweltliche Lebensführung des 

klassischen Brahmanen selbst als Grihastha (Haushalter). Neben 
er Fernhaltung von den plebejischen Formen des Erwerbs, vor 
V allem von Handel und Wucher und der persönlichen Ackerarbeit, 
stehen zahlreiche Vorschriften, welche sich später bei den welt- 
ablehnenden hinduistischen Erlösungsreligionen wiederfinden. 
Die Einschärfung des Vegetarismus und der Alkoholabstinenz 
ist offenbar aus der Gegnerschaft gegen die Fleischorgien er- 
wachsen; die sehr strenge Verpönung des Ehebruchs und die 
Mahnung zur Zähmung des Sexualtriebs überhaupt hatte ähn- 
liche, antiorgiastische Wurzeln. Zorn und Leidenschaft war hier 
wie in China durch den Glauben an die dämonische und dia- 
bolische Herkunft aller Emotionen verpönt. Das Gebot strenger 
Reinlichkeit, namentlich beim Essen, entstammte magischen 


m 


1?) Der Gehursam fand nur eine Grenze, wenn der Lehrer eine Todsünde 
verlangte oder etwas lehrte, was nicht im Veda stand. Im übrigen ist er fuß- 
fällig zu verehren. In seiner Gegenwart darf ein anderer Lehrer nicht verehrt 
werden. Verboten waren dem Brahmacharin: Fleisch, Honig, Wohlgerüche, 
Spirituosen, Wagenfahren, Untertreten bei Regen, Kämmen, Zähneputzen; 
geboten: regelmäßiges Baden, das periodische Atem-Anhalten (entsprechend 
der späteren Yoga-Technik) und die Andacht für die Silbe Om. Der alte Aus- 
druck für »Studieren« heißt »Keuschheit üben«e. Der Upanayana-Zeremomonie 
bei der Aufnahme als Novize entsprach, als Abschluß, das Samavartana-Sakra - 
ment. Vgl. K. Glaser Z. D.M. Ges. 66, 1912. 8. ı6f. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 363 


Reinheitsregeln. Die Gebote der Wahrhaftigkeit und der Frei- 
gebigkeit und das Verbot, sich an fremdem Eigentum zu vergreifen, 
waren letztlich nur Einschärfungen der universell für die Be- 
sitzenden geltenden Grundzüge der alten Nachbarschaftsethik. 
Man darf natürlich die asketischen Einschläge der Lebensfüh- 
rung der innerweltlich lebenden Brahmanen in historischer Zeit 
nicht übertreiben. Während die Russen im 17. Jahrhundert bei 
Einführung der occidentalen Kunstformen protestierten: ein Hei- 
liger dürfe nicht »dick sein wie ein Deutscher«, verlangte die 
indische Kunstübung umgekehrt: ein Mahapuruscha müsse dick 
sein 18), — weil sichtbar guter Nahrungsstand als Zeichen von 
Reichtum und Vornehmheit galt. — Vor allem durfte überhaupt 
nie die Schicklichkeit_ und Eleganz des vornehmen Kavaliers ver- 
letzt werden. Die praktische Alltagsethik der Brahmanen ähnelt 
darin gelegentlich der konfuzianischen. Man soll sagen, was wahr 
und angenehm ist, nicht was unwahr und angenehm ist, aber 
möglichst auch nicht, was wahr und unangenehm ist, wird wieder- 75 
holt in der klassischen Literatur ebenso wie in den Puranas 19) 
empfohlen. Wie die Brahmanen, so legten alle vornehmen Intel- 
lektuellen — auch die Buddhisten sehr ausdrücklich — Gewicht 
darauf, »Arya« zu sein. Der Ausdruck »Arya« wird bis heut, auch 
in seinen Zusammensetzungen, etwa im Sinne der Kalokagathie 
des »Gentleman« gebraucht. Denn schon die epische Zeit kannte 
den Grundsatz, daß man »Arya« nicht durch Hautfarbe, sondern 
durch Bildung und nur durch sie sei ?2°%). Sehr ausgeprägt war bei 
den Brahmanen die maskuline Ablehnung der Frau, in ähnlichem 
Sinn wie bei den Konfuzianern, jedoch mit einem Einschlag 
asketischer Motive, der dort gänzlich fehlte. Das Weib war 
Trägerin der als würdelos und irrational abgelehnten alten Sexual- 
orgiastik und seine Existenz eine ernstliche Störung in der heil- 
bringenden Meditation. Gäbe es noch einen Trieb von solcher ; 
Stärke, wie den Sexualtrieb, so wäre Erlösung unmöglich, soll l 
auch der Buddha geäußert haben. Aber die Irrationalität der 
Frauen wird auch später von brahmanischen Schriftstellern scharf 
betont, — weit stärker sogar als vermutlich in der Zeit der 
höfischen Salonkultur der Kschatryia. Ein Mann solle seine Frau 


18) Grünwedel, Die buddhist. Kunst in Indien, 2. Aufl. 1900, p. 138 (Maha- 
puruscha ist der Gott Vischnu). 
29) Vischnu Purana III, 12 a. E. 
20) Ebenso die Rechtsbücher (Gautama X, 67). 
24* 


364 Max Weber, 


nicht respektlos behandeln und nicht ungeduldig sein, sagt z. B. 
das Vischnu-Purana ?!). Aber er solle ihr keine wichtigen Geschäfte 
anvertrauen und ihr nie ganz trauen.. Denn — darüber sind alle 
indischen Autoren einig — aus sethischen« Gründen sei keine 
Frau ihrem Mann treu. Im Stillen beneide jede Matrone die 
geistreiche Hetäre, — was man den Matronen bei der im Salon 
privilegierten Lage der Hetären und bei dem Schimmer von 
Poesie, den die im Gegensatz zu China raffinierte indische 
Erotik, die Lyrik und auch die Dramatik um sie legten, kaum 
verdenken konnte ?3). 

Neben jenen relativ sasketischens Zügen der geregelten 
Alltagslebensführung des Brahmanen steht nun die rationale 
Methodik zur Erringung der.außeralltäglichen heiligen Zuständ- 
lichkeiten. Zwar gab es eine als orthodox geltende Schule (die 
von Jaimini gestiftete Mimamsa-Philosophie), welche den zere- 
moniösen Werkdienst rein als solchen als Heilsweg anerkannte. 
Allein die klassische brahmanische Lehre ist dies nicht. Für 
diese kann vielmehr in der klassischen Zeit wohl als grundle- 


sı) III, 12. 

22) Die indischen Tänzerinnen, Deva-Dasa (portugiesisch balladeiras, darnach 
französisch bayaderes) der mittelalterlichen Zeit sind aus den Hierodulen, der 
hieratischen — homöopathischen, mimischen oder apotropäischen — Sakti- und 
Tempelprostitution durch den Priester (und der überall daran anknüpfendenP rosti- 
tution durch die Wanderkaufleute) hervorgegangen und noch heute vornehmlich 
mit dem Civa-Kult verknüpft. Sie hatten Tempeldienst durch Gesang und Tanz 
zu leisten und mußten, um das zu können, schriftkundig sein — bis in die neueste 
Zeit als einzige Frauen Indıens. Bei zahlreichen Tempelfesten, ebenso aber — 
wie in klassisch-hellenischer Zeit — bei aller vornehmen Geselligkeit, sind sie noch 
jetzt unentbehrlich, bildeten und bilden Sonderkasten mit eigenem Dharma 
und besonderem Erb- und Adoptionsrecht und sind zur Tischgemeinschaft mit 
Männern aller Kasten zugelassen, im Gegensatz zu den, nach universell antiker 
' Art, davon ausgeschlossenen ehrbaren Frauen, für welche auch die Schrift- und 
Literaturkunde, weil sie zum Dharma der Tempeldirnen gehörte, als schändend 
galt und teilweise noch gilt. Die Dedikation der Mädchen an den Tempel er- 
folgte kraft eines Gelübbdes oder kraft universeller Sektenpflicht (so bei manchen 
Civa-Sekten), auch als Kastenpflicht kommt sie (bei einer Weberkaste eines Orts 
der Provinz Madras) vereinzelt vor, während im ganzen in Südindien heut wenig- 
stens diese Praxis als unehrenhaft gilt. Engagement und auch Mädchenraub 
kamen daneben vor. Die gewöhnlichen Dasi im Gegensatz zu den Deva-Dasi 
waren wandernde Prostituierte niederer Kasten ohne Beziehung zum Tempel- 
dienst. Der Uebergang von hier bis zur feingebildeten, dem Typus der Aspasia 
entsprechenden Hetäre der klassischen Dramatik (Vasantasena) war natürlich 
wie überall durchaus flüssig. Der letztgenannte Typ gehört ebenso wie die ganz 
innerhalb der Gesellschaft stehenden feingebildeten Schülerinnen und Propa- 
gandistinnen der Philosophen und noch Buddhas (nach Art der Pythagoreerinnen) 
der alten vornehmen Intellektuellenkultur der vorbuddhistischen und früh- 
buddhistischen Zeit an und verschwand mit der Herrschaft der Mönchs-Gurus. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 365 


gende Anschauung gelten: daß rituelle und andere tugendhafte 
Werke allein lediglich zur Verbesserung der Wiedergeburts- 
chancen, nicht aber_zur »Erlösung« führen können. Diese ist 
stets durch ein außeralltägliches, über die Pflichten in der Welt 
der Kasten qualitativ hinausgehendes Verhalten bedingt: durch 
die weltflüchtige Askese_ oder Kontemplation. 

Ihre Entwicklung bedeutete im wesentlichen, wie bei einer 
Intellektuellenschicht zu erwarten, eine Rationalisierung und 
Sublimierung der magischen _Heilszuständlichkeiten. In drei 
Richtungen verlief diese: Einmal, wurde, statt magischer Ge- 
heimkräfte zur Verwendung im Zaubererberuf, zunehmend ein 
persönlicher Heilszustand: die »Seligkeit« in diesem Sinn des 
Wortes, erstrebt. Zweitens gewann diese Zuständlichkeit einen 
bestimmten formalen Charakter, und zwar, wie zu erwarten, den- 
jenigen einer Gnosis, eines heiligen Wissens, wesentlich, wenn 
auch nicht ganz ausschließlich, auf Grundlage der apathischen 
Ekstase, welche ja eben am besten dem Standescharakter der 
Literatenschicht adäquat war. Alle religiöse Heilssuche auf 
solcher Grundlage mußte in die Form mystischer Gottsuche, 
mystischen Gottesbesitzes oder endlich mystischer Gemeinschaft 
mitdemGöttlichen ausmünden. Alle drei Formen, vornehmlich aber 
doch die letztgenannten, sind tatsächlich aufgetreten. Die Ver- | 
einigung mit dem Göttlichen trat in den Vordergrumd, weil die 
Entwicklung der brahmanischen Gnosis zunehmend in die Bah- 
nen einer Verunpersönlichung des höchsten göttlichen Wesens 
einlenkte. Dies geschah teils entsprechend der in aller kontem- 
plativen Mystik liegenden Tendenz zu dieser Konzeption, teils 
weil das brahmanische Denken am Ritual und dessen Unver- 
brüchlichkeit verankert war und daher in der ewigen, unab- 
änderlichen, unpersönlichen gesetzlichen Ordnung der Welt, nicht 
aber in den Peripetien ihrer Schicksale, das Walten des Gött- 
lichen fand. Der ältere Vorläufer Brahmas ist ursprünglich der 
»Gebetsherr«, der Funktionsgott der magischen Formeln. Mit 
deren steigender Bedeutung stieg er zum höchsten göttlichen 
Wesen auf, ebenso wie die irdischen Gebetsherrn, die Brahmanen, 
zur höchsten ständischen Rangstufe. — Die rationale Ausdeutung 
der Welt an der Hand ihrer naturgesetzmäßigen, sozialen und 
Tituellen Ordnungen war dann diedritteSeite desRationalisierungs- 
prozesses, den die brahmanische Intellektuellenschicht an dem 
eligiös-magischen Material vollzog. Eine solche Art von Aus- 


« 


`- weisen König belehrt werden. Und die Beteiligung der alten 


- 


366 Max Weber, 


deutung aber mußte zur Entstehung einer in China, wie wir sahen, 
zwar nicht fehlenden, aber an Bedeutung weit zurücktretenden 
ontologischen und kosmologischen Spekulation: zur rationalen Be- 
gründung £ der. Heilsziele und Heilswege, führen, Tatsächlich hat 
sie denn auch der indischen Religiosität den Stempel aufgeprägt. 
Gerade auf diesem spekulativen Gebiete aber standen die 
Brahmanen vielleicht nie, jedenfalls nicht dauernd, konkurrenz- 
los da. Sondern wie neben dem brahmanischen Opfer- und Ge- 
betsformel-Kult die später und bis in die Gegenwart scheinbar 
neu als Massenerscheinung auftretende volkstümliche individuelle 
ekstatische Magie und die Orgiastik: — die spezifisch unklassischen 
emotional-irrationalen Formen heiliger Zuständlichkeiten — sicher 
nie geschwunden waren, so stand neben der vornehmen brah- 
manischen Heilssuche diejenige der vornehmen Laien. Für die 
'heterodoxen Erlösungsreligionen, vor allem tür den Buddhis- 
mus, ist es sicher, daß sie ihren Halt gerade in ihrer Frühzeit in 
den Kreisen der vornehmen Laien hatten. Inwieweit das gleiche 
für die Entwicklung der klassischen indischen Philosophie gilt, 
ist unter den Indologen bestritten und schwerlich einwandfrei 
auszumachen. Man hat Gewicht darauf gelegt, daß die klassi- 
¿sche Literatur zweifellos, und keineswegs nur vereinzelt, Fälle 
zeigt, wo Brahmanen über philosophische Grundfragen von einem 


literarisch feingebildeten Ritterschaft, der klassischen Kschatriya 
in der Zeit vor dem Aufkommen der Großkönigtümer, an der 
philosophischen Gedankenarbeit steht außer allem Zweifel. 
In der Zeit, als die Diskussion der Probleme der indischen Natur- 
und Religionsphilosophie ihren Höhepunkt erreichte — etwa seit 
dem 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung 2?) — gehörte die vor- 
_nehme Laienbildung sicherlich mit zu ihnen wichtigsten Trägern. 
“Nur kann aus allgemeinen Gründen keine Rede davon sein, daß die 


| _Brahmanen jemals eine untergeordnete Rolle dabei gespielt hätten. 


Die Priestermacht war schon in der vedischen Zeit außer- 
ordentlich groß ?$) und ist seitdem nicht gesunken, sondern ge- 


23) Mithin fast gleichzeitig mit dem Beginn der ersten Blüte auch der helleni- 
schen und chinesischen Philosophien und der israelitischen Prophetie. An eigent- 
liche »Entlehnungen« ist nicht zu denken, (ganz zu geschweigen der gelegentlichen 
seltsamen Andeutungen Ed. Meyer’s über gemeinsame kosmisch- biologische 
Bedingtheit der zeitlichen Koinzidenz cieses Entwicklungsstadiums). Ueber mög- 
liche babylonische Einflüsse s. später. 

24 Vgl. Oldenberg, Aus Indien und Iran a. a. O. 


nn, 


a he in 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 367 


stiegen. Sie mochte örtlich und periodisch weit zurückgedrängt 
und zeitweise auf bestimmte Gebiete in Nordindien,während der 


“ Herrschaft der Erlösungskonfessionen vielleicht auf Kaschmir, 


eingeschränkt sein: ihre Tradition ist nie abgerissen. Und vor 
allem: sie, nicht die wechselnden politischen Bildungen, trug 
Indiens Kultur. Wie einst — ganz entsprechend dem althelleni- 
schen »homerischen« Zeitalter — die Rischi und heiligen Sänger 
durch die Herrschaftsgebiete der arischen Burgenkönige hin- 


— nn m e 
—— e u = =æ æ ea 


der Arier getragen hatten, so in der Zeit der stadt- und burgen- 
sässigen Ritterschaft, der Kschatriya, die Brahmanen diejenige 
des damaligen, örtlich teils verschobenen, teils erweiterten Kul- 
turkreises Nordindiens. Ganz wie im China der Teilfürstenzeit 
die Literaten. 

Den (vermutlich) anfänglichen streng esoterischen Charak- 
ter ihres Wissens haben die Brahmanen nicht zu behaupten ver- 
mocht, — im Gegenteil haben sie offenbar später die Er- 
zichung der ritterlichen Jugend durch einen Einschlag vedischen 
Wissens ergänzt und gerade dadurch ihren unverkennbar starken 
Einfluß auf das Laiendenken gewonnen. Und trotz aller schroffen 
Gegensätze der Philosophenschulen, welche damals zuerst ent- 
standen, hielten sie die ständische Einheit durch die indischen 
Einzelstaaten hindurch aufrecht. Wie die hellenische gymna-” 
stisch-musische Bildung — und nur sie — den Hellenen, im Gegen- 
satz zum Barbaren, so machte die vedisch-brahmanische Bildung 
den »Kulturmenschen« im Sinn der Voraussetzungen der klassi- 
schen indischen Literatur. Ein kaiserlicher Oberpontifex, wie 
er ın China als Symbol der Kultureinheit und ebenso im Islam 
und im christlichen Mittelalter existierte, fehlte in Indien wie 
bei den Hellenen. Beides waren Kulturgemeinschaften nur kraft 
sozialer Organisation (der Kaste hier, der Polis dort) und kraft 
der ‚Erziehung ihrer Intellenktuellenschichten, deren Einheit 
aber in Indien, anders als bei den Hellenen, vornehmlich durch 


die Brahmanen garantiert wurde. Im übrigen aber standen sicher- 


lich Brahmanen und Laien als Träger der Philosophie neben- 


einander, ähnlich wie Mönchs- und Weltgeistlichkeit und, mit Be- 


ginn des »Humanismus«, zunehmend auch vornehme Laienkreise 
im Occident. 

Daß jedenfalls nicht nur, vielleicht nicht einmal vornehmlich, 
Laienkreise die Zersetzung der alten ungebrochenen brahmani- 


all u 


368 ; - Max Weber, 


schen Religionsphilosophie förderten, tritt noch im Epos deut- 
lich zutage. Die Skeptiker (tarkavadins), mit welchen sich das Ma- 
habharata als mit gottlosen Schwätzern und gewinnsüchtigen 
Sophisten befaßt, die ihre brahmanenfeindliche Weisheit im 
Lande umherziehend verkaufen, — sie entsprechen tatsächlich 
den hellenischen Sopbisten der klassischen Zeit, — waren im 
wesentlichen asketische Wanderlehrer, die namentlich jener, an 
sich als orthodox anerkannten, brahmanischen Schule (Nyaya) ent- 
stammten, die den Syllogismus und die rationale Logik und dia- 
lektische Kunst als Fachlehre pflegte. 

So wenig wie das Monopol der Philosophie und Wissenscha ft 
behaupteten . die Brahmanen das Monopol der . persönlichen 
mystischen Heilssuche. Daß sie es in Anspruch nahmen, steht 
fest. Sie taten dies schon deshalb, weil der mystische Heilssucher, 
zumal der. Anachoret, in Indien wie überall als Träger heiligen 
Charismas selbst Verehrung als Heiliger und Wundertäter genoß 
und sie diese Machtstellung für sich zu monopolisieren trachten 
mußten. Bis in die Gegenwart möchte die offizielle Theorie 
von allen »Sadhus (Mönchen) 25) nur die Sannyasi, im älteren 
S< | Wortsinn2%): die aus der brahmanischen Kaste zum Mönchs- 

leben Uebergetretenen, als vollwertige »Sramana« oder »Samanas 

remiten) anerkennen. Mit größter Schroffheit hielt die ortho- 
doxe Lehre stets erneut dies Monopol der Brahmanen aufrecht. 

Am schroffisten natürlich gegenüber den unteren Schichten. Im 

Ramayana, findet sich, daß einem Asketen von großer Wunderkraft 

vom Helden der Kopf abgeschlagen wird, weil er ein Cudra ist 
und es dennoch gewagt hat, sich diese übermenschlichen Fähig- 

zeiten zuzueignen. Allein gerade diese Stelle zeigt, daß selbst 
nach der orthodoxen Lehre zur Zeit des Epos der Cudra eben 
doch als an sich fähig galt, die magische Wunderkraft durch 

Askese zu erringen. Und jener offiziell nie aufgegebene Mongpol- 

Anspruch 2‘) ist niemals wirklich durchgesetzt worden. Ja, es ist. 

nicht einmal sicher erweislich, ob die Organisation der späteren 

eigentlichen Klöster (Math) zuerst von brahmanischen Sramana 


25) Wie sehi viele generelle Namen für Heilige und Asketen ist auch dieser 
Name heut zur Bezeichnung einer am ehesten den Quäkern vergleichbaren zelnen 


Sekte Nordindiens geworden. 

2°, Denn heute wird dieser Naıne oft ganz unterschiedslos von allen oder doch 
von allen givaitischen indischen Mendikanten gebraucht. 

26) Noch heut lehrt der Brahmane höchster Kaste nur »wiedergeborene« 
Schüler oder gar nur Brahmanen. 


— a 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 369 


erfolgt ist oder erst in Nachahmung heterodoxer Institutionen 
eingeführt wurde. Immerhin darf das Erstere als nicht ausge- 
schlossen gelten, da der brahmanische Asrama (Einsiedler), 
wenn er die Qualität als »Yati« (Voll-Asket) erreicht hatte, 
sicher von jeher I. als Lehrer und 2. als magischer Nothelfer 
auftrat, Schüler und Laienverehrer um sich sammelte. Nur 
ist es fraglich, inwieweit man in der vorbuddhistischen Zeit 
schon von »Mönchen« und »Klöstern« zu sprechen berechtigt 
ist. Neben dem Altersasketen kennt die ältere Tradition zwar 
den Einsiedler und den isolierten.Berufsasketen. Ebenso kennt 
sie sicherlich — denn sonst wäre die Entstehung gewisser 
Lehren nicht möglich — die »Schule« als eine Gemeinschaft, 
später »parishad« genannt, welche nach den im Spät-Hinduis- 
mus geltenden Regeln 21 geschulte Brahmanen umfassen sollte, 
in älterer Zeit aber oft auch nur 3—5 umfaßte. Die Gurus noch 
der epischen Zeit, welche die Knaben der vornehmen Geschlech- 
ter unterrichteten, nahmen nach der Tradition nur 5 Schüler 27). 
Das dürfte schon damals nicht mehr die Regel gewesen sein; es 
zeigt aber, wie fern dem Brahmanentum der vorbuddhistischen 


Zeit noch Massenprogaganda lag. Teils die Einsiedler und Welt- J 


geistlichen mit ihren persönlichen Schülern, teils jene förmlich 
organisierten Schulen waren Träger der Entwicklung der Speku- 
lation und Wissenschaft Das spätere »Kloster« (Math) ist als 


systematisch verbreitete Massenerscheinung erst eine Erscheinung | 


der Zeit der Sektenkonkurenz und des Berufsmönchtums. Immer- 


u u 


hin war der Uebergang von der Philosophenschule zum Kloster : 


angesichts der alten Askese der Novizen (Bramacharin) flüssig, 
wenigstens wenn überhaupt eine cönobitische Form der Lehr- 
tradition gewählt wurde, die wohl sicher, alt sein dürfte. 

Die durch Stiftung gesicherte Schule oder klosterartige 
Organisation diente vor allem dazu, den Brahmanen die Mög- 
lichkeit zu sichern, ohne Sorge für den Unterhalt ihr Veda- 
wissen sich zu erhalten. Auch wo die Pfründen später, wie 
oft, appropriiert wurden, blieb daher die (erbliche) Zugehörig- 
keit zur alten Schule oder Klosterpfründnerschicht oft Vor- 
aussetzung der Kasten- oder Unterkastenzugehörigkeit zum 
Vollbrahmanentum: das heißt zu derjeniger Brahmanenschicht, 


welche zur Vollziehung der Riten einerseits und — 


?7) Im Epos streiken Schüler eines Brahmanen, der mehr annehmen will E 


(XI, 328, 41). 


- ~ 
- 


| 


370 Max Weber, 


| dem entsprechend — zur Annahme von Dakshina 
(Geschenken und Stiftungen) andrerseits quali- 
fiziert waren. Die anderen galten als Laien und hatten diese 
wichtigsten Privilegien der Vollkastengenossen nicht ®). 

Die Art der späteren normalen Klosterorganisatign sowohl 
wie des Mönchtums ?®) überhaupt scheint ebenfalls dafür zu 
sprechen, daß jene formal ganz freien Schulgemeinschaften 
von Lehrern mit ihren Schülern nebst di demjenigen Laienanhang, 
welcher durch Unterhaltsgewährung und Geschenke an die Ge- 
meinschaft für sich diesseitige und jenseitige Vorteile zu erwerben 
suchte, den historischen Ausgangspunkt bildeten. Es fehlte 
offenbar noch die systematische Organisation in Gemeinschaften 
mit festen »Regelne. Die rein persönliche Beziehung bildete 
die Grundlage des Zusammenhalts, soweit ein solcher bestand. 
Selbst der alte Buddhismus zeigt ja die Spuren dieser patriar- 
chalen Struktur, wie wir sehen werden. Das Pietätsband, wel- 
ches einen solchen heiligen Lehrer und Seelsorger, den »Gurus 
oder »Gosain« 2), mit seinem Schüler und Seelsorge- Klienten 
verband, war in der hinduistischen Ethik so außerordentlich 
streng, daß diese Beziehung fast allen religiösen Organisationen 
zugrunde gelegt werden konnte und mußte. Jeder Guru genoßB 
gegenüber dem Schüler eine Autorität, welche der väterlichen vor- 
anging 3°). Er war, wenn er als Sramana lebte, Objekt der Hagio- 
latrie der Laien. Denn nach unbezweifelter Lehre gab das rich- 
tige Wissen magische Macht: der Fluch des Brahmanen ging 
in Erfüllung, wenn er die richtige Veda-Kenntnis hatte und 
ob er sie hatte, dazu war er gegebenenfalls zum Gottesurteil (Feuer- 
Ordal) bereit. Die heilige Gnosis machte ihn wunderkräftig. 
Berühmte wundertätige Gurus haben wohl sicher von jeher 
kraft des Prinzips des Gentilcharisma ihre Würde als Lehrer 
vererbt oder sie haben ihren Nachfolger designiert, und nur aus- 
hilfsweise trat die »Wahl«, d.h. die Feststellung und Akkla- 
mation des charismatisch Qualifizierten durch die Jüngerschaft 
ein. Daß man ausschließlich von einem Guru die rechte Weisheit 


28) Einige solcher Unterkasten, namentlich die, welche unreine Kasten 
bedienten, galten geradezu als unrein, 

289) Der spätere und bis heute typische Name des Mönchs (auch des brah- 
manischen) ist bhikkhu. 

29) »Gosaine bedeutet den, der seine Sinne beherrschte. Die erblichen Gurus 
mancher Sekten führen diesen Titel. Daher ist er heute in gewissen großen 
Brahmanenfamilien erblich. S. später. 

30) So ausdrücklich Manu II, 233. 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 371 


erfahren könne, stand wenigstens in der Zeit der Upanischaden 


als ganz selbstverständlich fest. Ein sehr großer Teil aller mit 


Namen bekannten Stifter philosophischer Schulen und Sekten 
hat demgemäß hierokratische Dynastien hinterlassen, welche ihre 
Lehre und Technik der Gnosis oft durch Jahrhunderte weiter 
pflegten. Soweit die bis heute in Indien überaus zahlreichen, 
meist kleinen, Klöster und klosterartigen Gemeinschaften in einer 
organisatorischen Beziehung zueinander standen, war diese meist 
— charismatischen Prinzipien entsprechend — nach dem Filia- 
tionssystem ®!) hergestellt, wie bei den Klöstern unseres Mittel- 
alters bis zur Cisterzienserzeit. Das hinduistische _Mönchtum 
hat sich aus wandernden Magiern. und Sophisten entwickelt 32). 
Es blieb stets der Masse nach wanderndes _Bettelmönchtum. 
Formal stand auch der gänzliche Austritt aus dem Kloster dem 
Mönch fast immer grundsätzlich jederzeit frei 33). Die Disziplin 
der $ Superioren (Mathenats) und die Klosterordnungen waren 
demgemäß oft — aber nicht immer — Jax und relativ formlos 34). 


3t) Das zeigen schon die Inschriften z. B. Ep. Ind. III, 263 (10. Jahrh.). 

3) Man kann ihm rein äußerlich am ehesten die Kyniker vergleichen. 

33) So noch heut die Sannyasi-Cönobiten in Bengalen, aber auch sonst meist. 

34) Auf der anderen Seite finden sich im Mittelalter auch Klöster mit rück- 
sichtsloser Strenge der Disziplin. So hatte z. B. in einer südindischen Inschrift der 
dortige Superior das Recht über Leben und Tod der Kloster-Insassen. 


Im allgemeinen aber waren die älteren hinduistischen Mönche Wandermönche, “ 


die nur zur Regenzeit zeitweilig, dauernd erst im Alter in ihrem Math residieren. 
Der Mathanat wird aus den ältesten residierenden Chelas #Schülern«) gewählt cder 
ist erblich oder die Würde geht einfach im Turnus um. Der Mathanat des in der 
Filiation ältesten Klosters war Oberhaupt der Filiationsklöster. — Die Urkunden 
der Stifter von Klöstern lassen zwar zuweilen das Streben nach möglichst 
straifer Disziplin erkennen, zeigen aber zugleich, daß die Klostergründung hier 
ebenso wie in Byzanz und die» Vakufse im islamischen Orient in typischer Art einem 
charakteristischen durchaus außerhalb der Sphäre des Religiösen liegenden Zwecke 


diente. Nämlich: durch die einem Zugriff der politischen Gewalt entzogenen ` 


Rechtsstellung des dem Kloster gestifteten Landes — dessen Konfiskation oder 
Steuerüberlastung Sacrileg gewesen wäre — auch die Rente, welche der Stifter 
sich und seiner Familie bei der Stiftung vorzubshalten pflegte, für alle Zeit 
zu sichern: der Fideikommißstiftung also. (Solche Fälle namentlich bei Champ- 
bel Oman, The Mystics, Ascetics and Saints of India 1903: es werden zwar 
die Vermögensüberschüsse der »Verwaltungen«, vor allem also der eventuellen 
Grundbesitz-Renten und der Erträge der täglichen Bettel-Expeditionen, — im 
Geheimen auch Handelserträge — in Klöster- oder Tempelgründungen angelegt, 
aber der Gründer hat Anteil am Gewinn; das Recht der Bewirtschaftung 


ist erblich, aber unteilbar, das Recht der Erbfolge durch Statut bestimmt.) Das 
Mittel ist für patrimonialbürokratische, zumal theokratische, Staatsordnungen - 
mit ungenügenden formalen Privatrechtsgarantien typisch; das Klosterland i 


(meist nicht sehr ausgedehnt; einige hundert Rupien im Jahr waren schon eine 
gute Rente) war steuerfrei. — Im weiteren Verlauf der Entwicklung trat bei zahl- 
reichen hinduistischen (orthodoxen und heterodoxen) Klöstern (auch den buddhi- 


me en un r 


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N 


372 | Max Weber. 


Irgendwelche Arbeitspflichten der Mönche konnte es nach 

der Natur der hinduistischen — orthodoxen und heterodoxen 

— Heilswege nicht geben. Kein Mönch »arbeitetes. Die inhalt- 

, lichen Gebote 35) für die Lebensführung der Mönche waren — 
\ soweit sie nicht, wie das Verbot, zur Regenzeit zu wandern und 
die Vorschriften über Tonsur und andere Aeußerlichkeiten reine 
Ordnungsvorschriften darstellten — Steigerungen der brah- 
manischen Alltagsaskese, und zwar teils einfach dem Grade, 
teils aber auch der Art und dem Sinn nach. Das letztere ist 
bedingt durch den Zusammenhang mit der brahmanischen Heils- 
hre, wie sie die Brahmanas und Upanischaden entwickelten: 

Das Gebot der Keuschheit, der Enthaltung von süßer Nahrung, 

der Beschränkung auf Essen schon abgetrennter Früchte, der 
völligen Eigentumslosigkeit, also: Verbot, Gütervorräte zu halten 

und Leben vom Bettel, — später meist unter Beschränkung auf 

die Ueberbleibsel des Essens des Angebettelten, — das Gebot des 
Wanderns, — später oft mit der Verschärfung: ‘daß man in einem 
Dorf nur eine Nacht oder auch gar nicht schlafen durfte —, die 
Beschränkung der Kleidung auf das Notwendigste, dies Alles 

\ waren nur Steigerungen der Alltagsaskese. © Das bei einigen der 
späteren Erlösungsreligionen bis ins’ Extrem”gesteigerte, aber 

' anscheinend schon vorher bei den klassischen brahmanischen 
Asketen, nurin verschieden großer Strenge, auftauchende Gebot des 
yahimsa«: der unbedingten Schonung des Lebens jeder Kreatur, 
war "dagegen mehr als nur eine quantitative Verschärfung des 
antiorgiastischen Vegetarismus und nicht nureine Konsequenz der 
Beschränkung des Opferfleischgenusses auf die Priester 36). Viel- 
mehr spielte hier offenbar die religionsphilosophische Ueber- 
zeugung von der Einheit alles Lebenden eine maßgebende Rolle, 
verbunden mit der universellen Ausbreitung der Verehrung und da- 
mit der Immunität gerade eines der als unbedingt »rein« gelten- 
den Tiere: des Rindes. Auch die Tiere standen im Bereich von 


stischen) der typische Verpfründungsprozeß ein: die Mönche verheirateten sich 
und behiclten ihre Stellen erblich bei, so daß sich z. B. bei den (vornehmen) 
Deschaschth-Brahmanen heute vielfach eine Bhikkschu-(Mönchs-) und eine Laien- 
Kaste findet, welche sich vor allem dadurch unterscheiden, daß nur die eigent- 
lichen Mönche die Qualifikation zum Priestertum besitzen. 

3) S, dieselben in den Rechtsbüchern, z. B. besonders übersichtlich bei 
Baudhayana II, 6, 11 ff. 

36) Denn den Kostenpunkt als dafür als maßgebend anzusehen, wie 
dies E. W. Hopkins seinerzeit tat, erscheint schon deshalb unhaltbar, weil ge- 
rade die niederen Schichten auch später die Fleischorgien beibehalten haben. 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 373 


Samsara und Karman. Auch sie hatten je nach ihrer Gattung ihr 
Dharma und konnten also — in der ihnen eigenen Art — »Frömmig- _ 
keit üben« 3°). Und wenn die Art, wie die Selbstbeherrschung: — 
Imzaumhalten von Augen und Mund — empfohlen wurde, zu- 
nächst wesentlich nur disziplinären Charakter hatte, so waren 
Gebote wie: nichts für die eigene leibliche oder seelische Wohl- 
fahrt zu tun, doch darüber hinaus wieder durch den allgemeinen 
philosophischen Sinn der Askese als Heilsweg mitbestimmt. 

Diese Wendung der klassisch-brahmanischen Askese vom 
magischen zum soteriologischen Zweck vollzog sich innerhalb 
der religiösen, an die Vedasammlungen anschließenden Lite- 
ratur: der Brahmana, welche das Opfer und Ritual inter- 
pretierend. behandeln und insbesondre der an sie sich anschließen- 
den Aranyaka, der sim Wald geschaffenen Werke«. Sie sind Pro- 
dukte der auf dem »Altenteil« in der Waldeinsamkeit lebenden 
Brahmanen-Kontemplation und ihre spekulativen Teile, die 
Upanischaden, »Geheimlehren«, enthalten die soteriologisch ent- 
scheidenden :. Teile des brahmanischen Wissens 38). Dagegen 
enthält die Sutra-Literatur die Ritualvorschriften für den prak- 
tischen Gebrauch: die Srautagastra das heilige Ritual, die Smar- 
tacastra das Ritual des Alltagslebens (Grihyasutra) und der 
sozialen Ordnung (Dharmagastra) 39). 

Diese ganze Literatur steht nun der konfuzianischen über- 
aus heterogen gegenüber. | 

Zunächst in einigen Aeußerlichkeiten. Auch die Brahmanen 
waren in einem spezifischen Sinne »Schriftgelehrte«. Denn auch 
die hinduistische heilige Literatur, wenigstens die orthodox- 
brahmanische, ist in einer dem Laien fremden ?°) Sakralsprache, 


31) Diese Grunaüberzeugung kam in einer für uns grotesken Art besonders 
im alten Buddhismus — aber nicht nur bei ihm — zum Ausdruck. Eine In- 
schrift erzählt, daß der König nach einem Siege seine Elefanten freigegeben habe, 
die dann smit Tränen in den Augen« sich beeilten, ihre Genossen im Walde wieder 
aufzusuchen. Der Bericht des chinesischen Pilgers Hiuen Tsang (aus dem 7. Jahr- 
hundert nach Chr.) erwähnt in Kaschmir Elefanten, »qui pratiquent la lois (in 
St. Juliens Uebersetzung). 

8) Sie sind Inanakanda: »Gnosise, im Gegensatz zur Karmakanda, der 
Ritualkunde. ‚ı 

®) Es kann irreführend wirken, wenn man die Smarta-Literatur als »sprofan« 
bezeichnet. Auch ihre Regeln sind heilig und unverbrüchlich, nur wenden sie 
sich nicht an die Fachgeschultheit der Priester als solche, sondern an die Haus- 
halter und Juristen, 

4) Aber nicht — wie angenommen wurde — in einer künstlich geschaf- 
ienen »Skaldensprachee, sondern in dem Idiom der alten Priestergeschlechter 
des Ursprungsgebiets der Literatur. In der vedischen Zeit galt Sanskrit als 


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374 Max Weber, 


dem »Sanskrit« abgefaßt, wie die chinesische. Aber die hinduisti- 
sche geistige Kultur war wesentlich weniger reine Schriftkultur 
als die chinesische. Die Brahmanen (und meist auch ihre Kon- 
kurrenten) haben außerordentlich lange an dem Grundsatz 
festgehalten: daß die heilige Lehre nur von Mund zu Mund über- 
liefert werden dürfe. Die spezifische Schriftgebundenheit der 
chinesischen Geistigkeit erklärt sich, wie wir sahen, aus dem 
frühen Eindringen der offiziellen höfischen Annalistik und Ka- 
lendertätigkeit, schon zu einer Zeit, als die Technik der Schrift- 
zeichen sich noch im Hieroglyphenzustand befand. Ferner aus 
dem Schriftlichkeitsprinzip der Verwaltung. Dies fehlte in Indien, 
Das Gerichtsverfahren war mündlich und kontradiktorisch. Die 
Rede spielte von jeher eine bedeutende Rolle als Interessenver- 
tretungs- und Machtmittel. Durch Zauberei suchte man sich den 
Sieg im Redekampf zu sichern 41) und alle hinduistische oder 
unter hinduistischem Einfluß stehende Kultur kennt die Reli- 
gionsgespräche, Preisredekämpfe und Redekampf-Uebungen der 





"Schüler als eine ihrer charakteristischen Einrichtungen. Während 


das chinesische Schrifttum sich, als hieroglyphisch- kalligraphi- 
sches Kunstwerk, an Auge und Ohr zugleich wendet, wendet 
sich daher die indische sprachliche Komposition vor allem an 
das (akustische, nicht: visuelle) Gedächtnis. Die alten Rhapsoden 
waren durch die Vyasas (Kompilatoren) einerseits, diespekulativen 
Brahmanen andererseits abgelöst worden. Beide wurden später 
durch Dichter und Rezitatoren, welche dievKavya«-Formen: Erzäh- 
lung mit Belehrung verbunden, pflegten, ersetzt: teils Pauranikas 
und Aithiasikas: Erzähler erbaulich ausgestatteter Mythen _für 
ein wesentlich intellektualistisches bürgerliches Publikum, teils 
Dharmapatakas, die Rezitatoren der Rechtsbücher, welche wohl an 
die Stelle der alten Gesetzessprecher traten (und bei Manu und im 
Epos an der Kommission zur Abgabe von Gutachten für Zweifels- 
ı fälle beteiligt sind). Aus diesen Rezitatoren entwickelten sich 
etwa im 2. nachchristlichen Jahrhundert die zünftigen brahmani- 
:__ schen Pandits.. schon wesentlich eine Schriftgelehrtenklasse. In 
jedem Falle hat bis tief in das indische Mittelalter die mündliche 
Ueberlieferung und Rezitation die Hauptrolle gespielt. Dies 


hat formal gegenüber der chinesischen heiligen Literatur einige_ 


Sprache der Gebildeten; im Rigveda motiviert ein Prinz seine Sanskritrede 
damit, daß er »gebildet« sei. Rayson J. R. A. S. 1904, p. 435. Thomas ebenda, 
pag. 747- 

#1) Atharva Veda II, 27 (gemeint ist offenbar ein Prozcßgegner). 


MA 





Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus, 375 


wichtige Folgen gehabt. Alle indische heilige Literatur (ein- 
schließlich der buddhistischen) war auf die Möglichkeit leichter 
Einprägung und _ jederzeitiger Reproduktion zugeschnitten. Sie 
bediente sich dafür teils der epigrammatischen Formel, — so in der 
ältesten philosophischen #!*) und Sutra-Literatur —, welche aus- 
wendig gelernt und vom Lehrer mit dem Kommentar, dessen sie 
dringend bedurfte, versehen wurde. Teils der Yersform,_ welche 
einen großen-Teil der nichtphilosophischen Literatur beherrschte. 
Kerner der Refrains: — endloser wörtlicher Wiederholungen einer 
Gedanken- oderVorschriften-Kette mitModifikation jeweils oft nur 
eines einzelnen Satzes oder Wortes entsprechend dem Fortgang 
der Erörterung. Sodann in außerordentlichem Umfang des Zahlen- 
schematismus, oft der Zahlenspielerei: denn anders wird ein euro- 
päischer Lehrer diese Art der Verwendung von Zahlen kaum 


empfinden können. Endlich der, so zu sagen: gedankenrhyth- 





mischen, auf den europäischen Leser als äußerst pedantisch wir- 
kenden Syst ik der Darstellung. Diese, in ihren Anfängen 


wohl rein mnemotechnisch bedingte, Art der brahmanischen 

Schriftstellerei hat sich nun im Zusammenhang mit der »organi- 

zistischen« Besonderheit des indischen Rationalismus zu einer 

die ganze Eigenart ihrer für uns wichtigsten Teile bestimmenden 

Manier gesteigert. Gegenüber dem Zusammenwirken von knappef ` 
sachlicher »Rationalität« der Sprachmittel und anschaulichem 
ästhetischem Duktus der Bilderschrift in der Art der stets auf | 
die Anmut der epigrammatischen Prägung bedachten, dabei 
sprachlich nüchtern wirkenden chinesischenFormulierung entstand | 
in Indien in der religiösen und ethischen Literatur ein Wuchern 

unermeßlichen Schwulsts, das nur dem Interesse systematisch : 
erschöpfender Vollständigkeit diente. Endlose Häufungen von 
schmückenden Beiwörtern, Vergleichen, Symbolen, Streben nach 
Steigerung des Eindrucks des Großen und Göttlichen durch 
Riesenzahlen und wuchernde Phantasmen ermüden den euro- 
päischen Leser. Wenn er aus der Welt des Rigveda und dann der 
volkstümlichen Fabeln, die, im Panchatantra gesammelt,“ die 
Quelle fast des gesamten Fabelschatzes der Welt sind, oder selbst 
aus der weltlichen Kunst-Dramatik und -Lyrik in die Gebiete 
der religiösen Dichtung und der philosophischen Literatur tritt, 
wartet seiner ein mühsamer Weg. Die meisten Upanischa- 





. 4°) Nachklänge der Methode besonders in den Sankhya-Aphorismen, die 
Kapila zugeschrieben wurden. 


376 - Max Weber, 


den nicht ausgenommen, stößt er in diesem Wuste von ganz 
unanschaulichem, weil rational gewolltem, symbolistischem 
Ueberschwang der Bilder und innerlich dürren Schematismen 
nur in langen Zwischenräumen auf den frischen Quell einer 
wirklich — und nicht nur, wie sehr oft, scheinbar — tiefen Ein- 
sicht. Während die Hymnen und. Gebetsformeln der Veden um 
ihrer magischen Erprobtheit willen nicht verändert werden konnten 
und daher ihre Ursprünglichkeit in der Ueberlieferung bewahrt 
haben, ist die alte epische Ritterdichtung, nachdem sich die Brah- 
manen ihrer angenommen hatten, zu einer unförmlichen ethischen 
Paradigmatik angeschwollen. Das Mahabharatha ist nach Form 
und Inhalt ein Lehrbuch der Ethik an Beispielen, keine 
Dichtung mehr. — Diese Eigenart der spezifischen brah- 
manischen, aber auch der gleichartigen heterodoxen indischen 
religiösen und philosophischen Literatur hat nun, obwohl sie als 
Ganzes an solchen Erkenntnissen, welche auch der europäische 
Denker als unbedingt »tiefe werten wird, sicherlich überreich 
ist, doch an ihrem Teil auch dazu beigetragen, ihrer Entwick- 
lung innerliche Schranken zu ziehen. Das hellenische Bedürf- 
nisħnach absoluter begrifflicher Klarheit ist in der Erkenntnis- 
theorie über die sehr beachtenswerten Ansätze der Logik der 
Nyaya-Schule nicht hinausgekommen. Und zwar zum Teil eben 
infolge dieser Ablenkung des rationalen Bemühens in die Bahn 
des Pseudo-Systematischen, welche durch die alte Traditions- 
technik mitbedingt war. Der Sinn für die empirische Tatsache 
rein und schlicht als solche wurde durch die wesentlich rhetorische 
Gewöhnung, das Bedeutsame im Uebertatsächlichen, Phantasti- 
schen zu suchen, unterbunden. Ausgezeichnetes hat dennoch 
die indische wissenschaftliche Literatur auf dem Gebiet der 
Algebra und der Grammatik (einschließlich der Deklamations- 
lehre, Dramaturgie und — weniger — der Metrik und Rhetorik) 
geleistet, Beachtenswertes auf dem Gebiet der Anatomie, der 
Medizin (mit Ausnahme der Chirurgie, aber mit Einschluß der 
Tierheilkunde) und Musikwissenschaft (Solfeggieren!). Die Ge- 
schichtswissenschaft dagegen fehlt aus den schon früher erwähn- 
ten Gründen ganz #2). Und die indische naturwissenschaftliche 
Arbeit steht auf vielen Gebieten auf der Höhe etwa unseres 
14. Jahrhunderts: sie ist nicht, wie schon die hellenische, auch 


4) Die ersten Historiker Indiens waren die Buddhisten, weil Buddhas Er- 
scheinen eine »historisches Tatsache war. 


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T 5 N Zr > E E a E  r Zen BE 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus, 377 


nur bis in die Vorhöfe des rationalen Experiments gelangt. Sie hat 
in allen Disziplinen, auch der für Ritualzwecke gepflegten Astrono- 
mie und in der Mathematik außer auf dem Gebiet der Algebra 
etwas mit den Maßstäben occidentaler Wissenschaftlichkeit 
gemessen, Wesentliches aus Eigenem nur geleistet, wo sie Vor- 
züge genoß durch « das Fehlen gewisser Vorurteile der occiden- 
talen Religiosität (z. B. des Auferstehungsglaubens gegen die 


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Leichensektion 43), Oder wo die Interessen der auf raffinier- 
ter Kontrolle des psychophysischen Apparats ruhenden Contem- 
plationstechnik sie zu Studien anregten, welche dem Occi- 
dent, der diese Interessen nicht kannte, fernlagen. Alle Wissen- 
schaft von. menschlichem Zusammenleben blieb bei ihr polizeiliche 
und kameralistische Kunstlehre. Diese kann sich mit den Lei- 
stungen der Kameralistik unseres 17. und der ersten Hälfte des 
18. Jahrhunderts durchaus messen. Auf naturwissenschaft- 
lichem und eigentlich fachphilosophischem Gebiet hat man dage- 
gen den Eindruck, daß die beachtenswerten Entwicklungsansätze 
irgendwie gehemmt worden sind #%°). Abgesehen davon, daß auch 


4) Ueber die indische Medizin am bequemsten Jolly in 'Bühlers Grund- 
riB (1901). 

t) Einen ungefähren Eindruck erlangt der Nicht-Indologe am ehesten aus 
dem von SudhindranathaVasu in den Sacred Books of the Hindu, Band XIII, über- 
setzten und Band XVI, ı. unter dem Titel: The positive background of Hindu 
Sociology (bis jetzt Book I) kommentierten, mit Appendix von Brajendra Nath 
Seal versehenen Sukraniti. »Sukranitie wird, ganz charakteristisch, als sporganische 
Sozialwissenschafte so, wie Comte sich den bekannten Stufenbau der Wissen- 
schaften dachte, aufgefaßt. Und in der Tat mußte diese freilich völlig un- 
wissenschaftliche sorganischee Systematik des sogenannten »Positivismuse dem 
indischen Denken die kongenialste sein. Notiert sei Folgendes: In der Mechanik 
blieb alles auf dem vorgalileischen Standpunkt. In der Mineralogie blieb die 
indische Wissenschaft wesentlich der Sieben-Metall-Lehre treu, die auch der 
Occident kannte. In der Chemie sind drei praktische Erfindungen: ı. die Schaf- 
fung stetiger Pflanzenfarben durch Behandlung mit Alaun, — 2. die Indi- 
gotin-Extrakte, — 3. die Stahlmischung, auf welcher die Damaszener-Klingen 
beruhen, ihr gutzuschreiben (Seal, The Chemical Theories of the ancient Hindu). 
Im übrigen hat die Tantra-Literatur hier alchemistische, auf dem Gebiet der 
Medizin aber vor allem anatomische, speziell nervenanatomische Kenntnisse 
von ganz erheblichem Umfang gezeitigt: Stoffwechsel- (nicht: Blutumlaufs-, 
nicht: Lungenstoffwechsel-) Throrien, die Kenntnis der Lage der Nervenbahnen: 
Meditation über diese Bahnen sollte nach der Tantristik magische Kräfte geben: 
das Gehirn (wie bei Galen), nicht mehr (wie bei Aristoteles und ebenso bei den 
bedeutenden indischen Naturforschern Charaka und Susrutu) das Herz, als Zen- 
tralorgan traten den schon vorher bedeutenden osteologischen Kenntnissen zur 
Seite. Befruchtung und Vererbung (anschließend an die sehr bedeutende kame- 
ralistische Pferde- und Elefantenkunde) wurden auch theoretisch (palinge- 
netisch, nicht epigenetisch) erörtert. DasLeben, welches dieMaterialisten (Charvaka) 
durch Urzeugung, die Sankhya-Lehre durch Retlex-Aktivität und Resultante der 

Arch. für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 2. 25 


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—— 


378 Max Weber, 


alle diese naturwissenschaftlichen Studien zum erheblichen Teil 
nur im Dienst rein praktischer: therapeutischer, alchemischer, 
kontemplationstechnischer, politischer Zwecke betrieben wurden, 
und daß der Naturwissenschaft hier wie in China und sonst das 
mathematische Denken der Hellenen, ihr unvergängliches 
Erbe an die moderne Wissenschaft, fehlte, ist auch die Ge- 
pflogenheit jener rhetorischen und symbolischen Pseudosyste- 

= matik offenbar eine der Kompenenten dieser Gehemmtheit 
‘ gewesen. Die andere, wichtigere freilich ging von der Inter- 
essenrichtung des indischen Denkens aus, welches den Tatsäch- 

’ lichkeiten der Welt als solchen im letzten Grunde indifferent 
gegenüberstand und jenseits ihrer, in der Erlösung von ihr, durch 
-~ Gnosis, das suchte, was allein not tat. Diese Denkrichtung ist 


formal bestimmt durch die Techniken.der. Kontemplation der 


| Intellektuellenschichten: Damit haben wir es nun zu tun. 

EG Wie alle Methodiken der apathischen Ekstase fußten diese 
sämtlich irgendwie auf jenem theoretischen Grundsatz, den nech 
die Quäker so formulierten: daß »Gott in der Seele nur spricht, 
wenn die Kreatur schweigt« Praktisch lagen ihnen zweifellos 
alte Erfahrungen der Magier über die Wirkungen autohypnoti- 


Einzelenergien, das Vedanta aber auseiner besonderen »Lebenskraft« erklärten, gab 
ebenso Anlaß zur Annahme von »adrista«, »ungesehenen« und das heißt: sunbe- 
kannten« Ursachen wiez. B. der Magnetismus. Und während die Fachwissenschaft 
der Züchtungspraktiker sich mit der Feststellung der sUnbekanntheit« der Ur- 
sachen begnügte, hat die spätere Nyaya-undVaicgeshika-Schule naturgemäß in diese 
Erkenntnislücken den ethischen Karman-Determinismus der indischen Theodi- 
zee eingeschoben, genau wie bei uns die »Grenzen« der Wissenschaft Raum geben 
für theologische Konstruktionen. Ueber die Medizin noch: Thakore Sahib 
of Gondal, History of Aryan Medical Science, London 1896 und jetzt Hoernle, 
Studies in the Medicine of ancient India, Oxfcrd 1907 (mir beide nicht zugäng- 
lich gewesen). Die Botanik war wesentlich Pharmakologie. — Ueber die bedeu- 
tenden grammatischen Leistungen der Inder, vor allem vgl. Liebich’s Panini (Leip- 
zig 1891). 

Ueber die Mathematik und Astronomie s. die Darstellung im Bühler’schen 
Grundriß (Thibaut, 1899): alles Entscheidende (außer in der Arithemtik und im 
Algebra) Fortbildung griechischer Einwirkungen (Grad und Zeit freilich sehr 
bestritten). Auf rein indischem Boden wuchs nur Empirie ohne ratio- 
nalen »Beweis« (dies das Entscheidende). Der »Beweise wurde durch Appell 
an die Anschauung geführt, etwa so wie manche extreme moderne Anhänger 
des »Anschauungsunterrichtese die formale logische Schulung des Denkens aus- 
schalten würden, wenn sie siegten. 

Ueber die kameralistisch-politischen Schriften (vor allem Kautalya Artha- 
sastra): Narendranath Law, Studies in ancient Hindu polity, London 1914 (mir. 
ebenfalls unzugänglich). Der »Rationalismuse der Verwaltungstechnik konnte an 
Raffinement nicht überboten werden. Aber damit wird sie selbst nech nicht: 
rational. Das lehren diese Schriften. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus, 379 


‚scher und diesen verwandter psychologischer Techniken und 
physiologische_Erprobungen über die Wirkung der regu- 
lierenden Verlangsamung und temporären Stillestellung der 
Atmung auf die Gehirnfunktionen zu Grunde Jene Ge- 
fühlszuständlichkeiten, welche sich bei derartigen Praktiken 
ergaben, wurden als selige Entrücktheit der Seele und also als 


_ 


heilig gewertet. Sie bildeten die psychologische Grundlage der : 
philosophischen Heilslehren, welche nun die Bedeutung jener 


Zustände im Rahmen der metaphysischen Spekulationen ra- 
tional zu begründen unternahmen. Unter den mannigfachen Spiel- 
arten der apathisch-ekstatischen Techniken ragt eine schon da- 
durch hervor, daß sie von einer als orthodox anerkannten Philo- 
sophenschule getragen wurde: das Yoga (=Anspannung, Askese). 
Sie war die Rationalisierung der alten ekstatischen Zauberer- 
praxis. Es ist hier nicht die Aufgabe, diese vielbesprochene 
Erscheinung eingehender zu erörtern #). Sie galt ursprünglich 
als spezifische Laienaskese: der Heros Krischna sollte sie dem 


Vivasvat, dem Stammesgott der Kschatriya-Kaste, dieser sie. 


— 


den alten Weisen des Kriegerstandes mitgeteilt haben. Sie be- 


darf hier der Erwähnung, weil sie, in verschiedenartig abgewan- 
delter Form, sowohl in den orthodoxen wie in den heterodoxen 
Heilslehren mehr als irgend eine andere zu Einfluß gelangte und 
die typischste Form der Intellektuellen-Heilstechnik war. Ob 
sie wirklich mehr innerhalb oder außerhalb des Brahma- 
nentums ihren Hautpsitz hatte, kann schwerlich entschieden 


werden. In historischer Zeit war sie jedenfalls weit über dessen 


Kreise hinaus verbreitet. Sie wurde, wie später zu besprechen, durch | 
die klassische brahmanische Heilstechnik überholt, und heute 


werden als »Yogins« eine nicht sehr große, aber ziemlich verbreitete 
Schicht von Magiern ohne vedische Bildung bezeichnet, welche 
von den Brahmanen nicht als ihres gleichen anerkannt werden und 
daher — dem früher erörterten Entwicklungstypus entsprechend 
— eine eigene Kaste bilden 45). Die Yoga-Technik stellt in den 
Mittelpunkt die Atmungsregulierung und die ihr verwandten 


“) Die literarische Fixierung als »Schuldoktrine durch Pataßijali ist relativ 


jung. Die Sache selbst ist zum mindesten älter als die Entstehung des Buddhismus. 


Sie ist dem Namen nach in den alten, den Lehren nach in späteren Upanischa- 
den erwähnt. Vgl. für alles Nähere: Garbe, Sankhya und Yoga, in Bühlers 
Grundriß 1896. 

“) In Bengalen nehmen die Oberkasten ihr Wasser nicht, sie tragen aber den 
heiligen Gürtel. Zum Teil sind sie magische Aerzte, zum Teil aber auch hausie- 
tende Instrumentenmacher. 

25 * 


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380 Max Weber, 


Mittel apathischer Ekstase, in Verbindung mit Konzentration 
der bewußt ablaufenden seelischen und geistigen Funktionen 
auf teils sinnhafte, teils sinnfremde oder mit einem unbestimmten 
Gefühls- und Andachtscharakter ausgestattete, aber stets durch 
Selbstbeobachtung kontrollierte Erlebnis-Abläufe bis zur völligen 
Entleerung des Bewußtseins von allem in rationalen Worten 
Greifbaren, zur bewußten Herrschaft über die Innervations-Vor- 
züge von Herz und Lunge und schließlich zur Authypnose. 
Die Yoga-Technik ruhte ‚gedanklich _ auf, der Voraussetzung: 
daß das Erfassen des Göttlichen ein irrationales, durch irratio- 
nale Mittel herbeizuführendes seelisches Erlebnis sei, welches 


' mit rational demonstrabler »Erkenntnis« nichts zu tun habe. 


Der klassische brahmanische Intellektualismus hat dieseAuffassung 
nie ganz geteilt. Fürihn stand »Wissen«als solches im Mittelpunkt 
aller Heilswege. Zunächst das zünftige Wissen um das Ritual. Für 
die Erlösungsuchenden Brahmanen aber darüber hinaus die meta- 


physisch-rationale gnostische Deutung seines kosmolagischen 


Sinns. Die Entwicklung dieser Auffassung ist allmählich aus der Ri- 
tualisierung und Sublimierung.der heiligen Handlungen heraus ein- 


“ getreten. Wie in anderen Religionen die richtige (ethische) »Ge- 
' sinnung« an Stelle des nur äußerlich korrekten Handelns trat, so hier 


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— dem spezifisch brahmanischen Prestige des Wissens und Den- 
kens entsprechend — der richtige »Gedanke«. Es wurden demam- 
tierenden Brahmanen nun (worauf Oldenberg aufmerksam gemacht 
hat) bei gewissen Ritualhandlungen geradezu bestimmteGedanken 
als Bedingung der magischen Wirksamkeit vorgeschrieben. Rich- 
tiges Denken und richtige Erkenntnis galten nun als Quelle ma- 
gischer Macht. Hier wie sonst behielt dabei diese Erkenntnis 
nicht den Charakter eines gewöhnlichen verstandesmäßigen 
Wissens. Das höchste Heil konnte nur eine höhere Erkenntnis: 
eine Gnosis, wirken. 

Das erstrebte Ergebnis der Yoga-Methodik waren in erster 
Linie magische Zuständlichkeiten und Wunderkräfte. So z.B. 
die Aufhebung der Schwerkraft: die Fähigkeit zu schweben, 
Fermerhin: »Allmacht« in dem Sinn, daß vorgestellte Ereignisse 
unmittelbar, ohne äußeres Handeln, kraft der bloßen magischen 
Macht des Wollens des Yogin, sich realisieren sollten. Endlich: 
»Allwissenheit«, d. h. Hellsehen, vor allem über die Gedanken 
anderer. Die klassisch brahmanische Kontemplation erstrebte 
dagegen die Seligkeiten des gnostischen Erfassens des Göttlichen. 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 381 


Alle intellektualistischen Heilstechniken verfolgten eben 
einen der beiden Zwecke; Entweder 1.‘ durch »Entleerung« des 
Bewußtseins, Raum für das Heilige zu schaffen, welches dann 
mehr oder minder unklar, weil unaussagbar, gefühlt wurde. 
Oder 2 durch eine Verbindung von innerlich isolierenden Techniken 
mit konzentrierter Meditation zu einem Zustand zu gelangen, der 
nicht als Fühlen, sondern als gnostisches Wissen empfunden 
wurde. Der Gegensatz ist kein scharfer. Aber es ist unverkennbar, 
daß die klassisch-brahmanische Kontemplation, entsprechend 
dem Nimbus des Wissens, dem zweiten Typus zuneigt. So 
sehr, daß die Nyaya-Schule geradezu die von ihr gepflegte 
rationale empirische Erkenntnis als Heilsweg ansehen Konnte, 
was freilich dem klassisch-brahmanischen Typus keineswegs 
entsprach. Für diesen stand der metaphysische Charakter der 
Gnosis und daher der Wert mechanischer Medidationstechnik 
zur Herbeiführung des auf dem Wege empirischer Beweise nie 
zu gewinnenden »Schauens« als eines seelischen Ereignisses 
jest. Sie hat daher Yoga-Praktiken nie ganz abgelehnt. In 
der Tat war ja auch das Yoga in seiner Art eine höchste 
Form spezifisch intellektualistischer Eroberung des Göttlichen. 


Denn das von ihm in stufenweiser Steigerung der Konzentration ' 


(samadhi) erstrebte Fühlen mußte zunächst eben möglichst be- 


wußt erlebt werden und zu diesem Zweck wurden die Gefühle 


der »Freundschaft« (zu Gott), des »Mitleids« (mit der Kreatur), 
der Seligkeit und schließlich der Indifferenz (gegenüber der Welt) 
planmäßig und rational durch Meditations-Exerzitien innerlich 


erzeugt. Erst die höchste Stufe ist dann die Katalepsie. Das . 


klassische Yoga lehnte die irrationale Kasteiung: atha Yoga, der 
reinen Magier-Askese ab. Es war. seinerseits eine rationalsyste- 
matisierte Form der methodischen Gefühls-Askese, darin etwa 
den Exerzitien des Ignatius vergleichbar. Es war in dieser Sy- 
stematik der klassisch-brahmanischen Kontemplation an Rationali- 
sierung wesentlich überlegen, welche ihrerseits wieder hinsichtlich 
des erstrebten Habitus (»Wissen«, nicht »Gefühl«) rationaler war. 


Aber die klassisch-brahmanische Lehre konnte schließlich ' 


auch die virtuosenhaften Kasteiungen der weltflüchtigen Ana- 
choreten nie gänzlich als heterodox verwerfen, weil der magische 
Charakter der Gnosis auch für sie feststand und weil überdies 
das populäre Prestige des »Tapas« als Mittel des Götterzwanges 
unerschütterlich war. Nur für den brahmanischen Normal- 


382 Max Weber, 


menschen, so zu sagen: den »Weltgeistlichen«, hat sie die tempe- 
rierten Mittel der Kontemplationstechnik bevorzugt. Wie weit 
historisch die andächtige Konzentration auf die alte heilige 
Gebets-Silbe »Om« 286) und die »Meditation« darüber — in Wahr- 
heit: die Entleerung des Bewußtseins durch die mechanische 
Wiederholung dieses magisch wirksamen Wortes — zurückgeht, 
ist nicht feststellbar. Sie herrschte in orthodoxen wie hetero- 
‚doxen Soteriologien Indiens. Und neben diesen Techniken andere 
| mit ähnlichen Zielen. Immer handelte es sich darum, von der 
: Welt der Sinne, der seelischen Erregungen, Leidenschaften, 
' der Triebe und Strebungen, der nach Mitteln und Zwecken 
| geordneten Erwägungen des Alltagslebens loszukommen, um 
dadurch die Vorbedingungen zu schaffen für einen Endzustand, 
der ewige Ruhe bedeutet: die Erlösung (moksha, mukti) von 
iesem Getriebe, die Vereinigung mit dem Göttlichen. Eine ewige 
himmlische Existenz nach Art der christlichen paradiesischen 
Seligkeit konnte für die klassische Soteriologie der Inder nicht 
als Ziel in Betracht kommen. Zunächst und vor allem wäre ihrem 
Denken naturgemäß der Gedanke zeitlich sewiger« Belohnungen 
und Strafen für Handlungen oder Unterlassungen einer Kreatur 
; in diesem vergänglichen Leben als ein blöder Unsinn, als jeder 
ethischen Proportionalität und gerechten Vergeltung widerspre- 
chend, erschienen.. Auch im Himmel konnte man für endliche 
Verdienste nur endliche Zeit sein 4). Außerdem aber waren die 
vedischen und auch die späteren hinduistischen Götter so wenig 
tugendhaft wie die Menschen, und nur mächtiger wie der Alltags- 
mensch. Das konnte unmöglich der Endzustand für das brah- 
manische Erlösungsstreben sein. Wirklich gelöst von der Welt 


war innerhalb des Bereiches des Erlebten ‚die Seele_nur im 


Zustand traumlosen Tiefschlafes., Wo sie dann weilte, — wer 
konnte das wissen? Jedenfalls war sie dann nicht verflochten 
in das innerweltliche Getriebe. Also wohl in ihrer außerwelt- 
lichen Heimat. 

Alle, sei es orthodoxe oder heterodoxe, den Intellek- 
tuellenschichten entstammende, Heilstechnik Indiens hat_diesen. 








#) Ursprünglich wohl Gemeinde-Responsion, etwa entsprechend, unserem 
»Amen« später mystisch interpretiert. 

#7) Um dogmatisch diesen Punkt sicherzustellen, griff das Mahabharatha 
zu dem Mittel, für die Zeit des Aufenthalts im Himmel die Erwerbung von Kar- 
man auszuschließen: für die neue Wieaergeburt war nur das frübere Verhalten 
auf der Erde maßgebend. 





Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 383 


Sinn einer Abwendung vom Alltagsleben, darüber hinaus vom 
Leben undder Welt überhaupt, mit Einschluß auch des Paradieses 


— m - 


und der Götterwelt. Im Paradiese muß man ja, da auch das 


Leben dort endlich ist, vor dem Augenblick zittern, wo der Ueber- ' 


schuß der Verdienste aufgebraucht ist und nun unfehlbar wieder 
eine irdische Wiedergeburt eintritt ?®). Die Götter sind der magi- ` 


schen Gewalt des richtig angewandten Rituals unterworfen. 
Sie stehen in diesem Sinn unter, nicht über dem Wissenden, der 
sie zu zwingen weiß. Sie sind so wenig ewig wie die Menschen, 
sind leidenschaftlich begehrend und handelnd wie sie, und können 
also nicht identisch mit jenem Göttlichen sein, zu dem die Exer- 
zitien der Heilstechniker hinstreben. Die brahmanische Erlösung 
ist in ihren klassischen Formen stets Erlösung von der Welt als 
solcher schlechthin und unbedingt. Sie unterscheidet sich da- 
durch von aller chinesischen Haltung zur Welt, einschließlich 
derjenigen Laotses und der anderen dortigen Mystiker. Dieser 
äußerste Radikalismus der Weltablehnung ist durch das Welt- 
bild der indischen Religionsphilosophie bestimmt, welches der 
Sehnsucht nach Erlösung, konsequenterweise, eine andere Wahl 
als diese gar nicht ließ. 


Denn was durch das Erlösungsstreben abgelehnt wurde, war . 


nicht das Leiden oder die Sünde oder die Lieblosigkeit oder Un- 
vollkommenheit der Welt, sondern ihre Vergänglichkeit. 
Sie haftet an allen wie immer gearteten, sinnlich wahrnehmbaren 
oder von der Phantasie vorstellbaren irdischen, himmlischen 
und höllischen Gestalten und Dingen: an der gesamten Welt des 
Geformten. Die Welt ist ein ewiges, sinnloses »Rad« von 
Wiedergeburt und .Wiedertod, gleichmäßig abrollend in alle 
Ewigkeiten der Zeiten hinein. Und nur zwei unvergängliche Wesen- 
heiten sind in ihr auffindbar: die ewige Ordnung selbst, und die- 
jenigen Wesen, welche durch die Flucht der Wiedergeburten 
hindurch als Träger der Wiedergeburt gedacht werden müssen: 
die Seelen. Um die Struktur und die Beziehung dieser Wesen 
zur Welt und zum göttlichen Wesen dreht sich die Gesamtheit 
der hinduistischen Philosophie %9) mit der ausschließlichen Frage; 


®) Atmapurana XIV, 91—93 bei Gough, The Phil. of the Upanishads. 

#) Wer sich mit der indischen Philosophie vertraut machen will, muß zu dem 
etwas unförmlichen, aber mit großer Hingabe geschriebenen Werk von Deussen 
greifen, dessen gre Be Verdienste unbestritten sind. Die für unsern Zweck wich- 
tigen Zusammenhänge freilich wird man besser in den zitierten Schriften von 
Garbe und Oldenberg finden. Auch die (Missionars-) Schrift von Dilger (Die Er- 
lösung nach Christentum und Hinduismus) ist nicht unbrauchbar. 


384 Max Weber, 


: wie die Seelen der Verstrickung in die Karman-Kausalität 


Ä "und dadurch in das Rad der Welt entzogen werden können? 


| 


Denn daß dies die einzig denkbare Aufgabe einer »Erlösung« 


' sein könne, stand seit der Vollentwicklung der Karman- und 


Samsara-Lehre schlechthin fest. 

Dieser Entwicklungszustand voller innerer Konsequenz 
ist freilich erst allmählich und keineswegs überall erreicht worden. 
Wenn Karman und Samsara gemeinsamer Hinduglaube ge- 
worden sind, so doch ‚nicht die Unpersönlichkeit des höchsten 
Göttlichen und die Unerschaffenheit der Welt. Diese letztere 
wurde freilich selbst da, wo persönliche Weltgötter geglaubt 


wurden, die Regel. Die späteren Kosmologien — wie sie die 


Puranas enthalten — lassen meist eine Reihe von Zeitaltern, im 
Vischnu Purana: Krita, Treta, Dvapara, Kali, unaufhörlich auf- 
einander folgen. Im Kali-Zeitalter verfallen die Kasten, die Cudra 
und die Häresien kommen hoch, weil Brahma schläft. Vischnu 
nimmt dann die Form Rudra’s (Civa’s) an und zerstört alle 
Existenzformen: die Götterdämmerung bricht an. Dann aber er- 
wacht Brahma in der Form Vischnus, des gnädigen Gottes, und 
entsteht die Welt aufs neue. Die älteren Kosmologien kennen 
solche höchsten Götter nicht oder unter anderen Namen und sind 
| mannigfacher, hier nicht interessierender Art. Sehr allmählich 
hat das unpersönliche E Brahman, ursprünglich: die magische Ge- 
betsformel, dann: eine magische Weltpotenz entsprechend der 
magischen Kraft des Gebets, den älteren persönlichen Vatergott 
und Weltschöpfer (Prajapati) verdrängt. Dabei aber neigte es 
immer wieder dazu, selbst die Züge eines persönlichen über- 


‘ weltlichen Gottes — Brahma — anzunehmen, der allerdings nach 


è 


der klassischen Lehre die Welt nicht mehr aus nichts geschaffen 
hat, sondern aus dem sie durch Individuationen emaniert ist. 
Seine Uebergöttlichkeit wurde für die Theorie vielleicht dadurch 
fixiert, daß er als Funktionsgott des Gebets nicht selbst Gegen- 
stand des magischen Zwanges im Gebet sein konnte. Unterhalb 
der Kreise der philosophisch geschulten brahmanischen Intel- 
lektuellenschicht und selbst in ihrer eigenen Mitte erstand aber, 
wie sich später zeigen wird, stets in irgend einer Form neu der 
eigentlich unklassische Glaube an einen höchsten persönlichen güti- 
gen Schöpfergott oberhalb des Gewimmels der Lokal- und Funk- 
tions-Gottheiten: — das »Ekantika Dharma« (der »Monotheismusse, 
würden wir sagen) — und vor allem der Glaube an Heilande und 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 385 


paradiesische Erlösung. Speziell die Yoga-Praxis mit ihrer irrationa- 
istischen Askese und dem gefühlsmäßigen Erlebnischarakter ihres 
Heilsbesitzes hat daher, wenigstens in der Form, welche Patanjali 
ihr gab, den persönlichen höchsten Gott (Isvara, »Herrschere) 
nicht ausgeschaltet. Freilich: streng logisch konnte seine Existenz 
mit Karman und Samsara kaum vereinbar erscheinen. Es ent- 
stand ja nun sofort die Frage nach dem »Sinn«der Schöpfung und 
Regierung dieser mit Leiden, Qual und Vergänglichkeit belasteten 
Welt durch einen "höchsten Gott. Neben minder konse- 
quenten Lösungen ist diese Frage einmal (in der Maitrayana 
Upanischad) «uch dahin beantwortet worden: daß der höchste 
Gott sie zum Zeitvertreib für sich: um »die Dinge zu genießen« 
ins Leben gerufen habe. Der gelegentlich von Nietzsche, aber mit 
jenem negativ moralistischen Pathos, welches so oft einen pein- 
lichen Rest von bürgerlicher Philistrosität auch in manchen 
seiner größten Konzeptionen verrät, hingeworfene Gedanke von 
dem sArtistengott« trat hier als sehr ernsthafte metaphysische 
Hypothese auf. Er bedeutete den ausdrücklichen Verzicht auf 
einen »Sinne der empirischen Welt. Ein mächtiger und zugleich 
gütiger Gott könne eine solche Welt nicht geschaffen haben: — 
dessen wäre nur ein Schurke fähig, lehrte in harter Klarheit 
die Samkhya-Philosophie 5%). Andererseits hätte die von der 
Orthodoxie angenommene Möglichkeit einer Erlösung von Seelen 
aus dem Rad der Wiedergeburten hinaus die zeitliche Endlich- 
keit der Welt, wenigstens des Ablaufs der Wiedergeburten, nach 
sich ziehen müssen, wenn die Zahl der überhaupt vorhandenen 
Seelen als endlich angenommen wurde. Tatsächlich wurde denn 
auch, um dem zu entgehen, von der konsequentesten Lehre 5t), 
die Zahl der Seelen als unendlich angenommen, so daß die 
Zahl derjenigen, welche zur Seligkeit der Erlösten gelang- 
ten, nicht nur, wie auch im Christentum, klein, sondern schlecht- 
hin: unendlich klein wurde. Das Pathos dieser Vorstellung 
mußte jenen religiös-sindividualistischen« Zug, der jeder mysti- 
schen Heilssuche ihrer Natur nach anhaftet: daß der Ein- 
zelne letztlich nur sich selbst helfen kann und will, aufs höchste 
steigern: welchen Sinn konnte irgendeine Erlösungs-Mission gegen- 
über einer zahlenmäßigen Unendlichkeit von Seelen haben? Die 
Teligiöse Einsamkeit der Einzelseele ist, außer im Prädestinations- 





*%) S. die bei Garbe, Samkhya-Philosophie S. 192 /3 übersetzten Stellen, 
51) In diesem Fall: deı Sanıkhya-Philosophie. 


— 
— - 


—: 


386 Max Weber, 


glauben, niemals auf einen solchen Resonanzboden gestellt worden, 
wie in dieser Konsequenz der brahmanischen Lehre, die dabei ge- 
rade umgekehrt wie der Gnadenwahlglaube das Schicksal je- 
der einzelnen Seele gänzlich deren eigenes Werk sein ließ. 

Die für die ganze Erlösungstheorie grundlegenden Lehren: 
(Seelenwanderung und ethische Vergeltungskausalität) sind 
— wieschon erwähnt — gleichfalls erst allmählich entwickelt wor- 
den. Die erste findet sich in den Brahmanas noch in sehr unent- 
wickelter Verfassung 5?), die letztere überhaupt erst in den Upani- 
schaden. Einmal unter dem Druck des rationalen Bedürfnisses 
der Theodizee konzipiert, mußten freilich diese Lehren sofort 
auf den Sinn alles asketischen und kontemplativen Heilsstrebens 
entscheidend hinüberwirken. Durch sie wurde nicht nur die 
Vergänglichkeit als der entscheidende Grund der Weltent- 
wertung konstituiert, sondern auch der Gedanke festgelegt: daß 
die Vielheit der Welt, ihre Formung und Individuation, das ent- 
scheidende Merkmal des Abfalls oder der Ferne vom Brahman 
(und nicht mehr wie einst: dessen Schöpfung) sei. Dadurch ge- 
wann das Brahman, bei konsequentem Denken, die Qualität 
als das unpersönliche Alleine und — da es hinter der Vielheit 
der Erscheinungen verschwand — doch zugleich Verborgene, 
der Welt gegenüber Negative. Und auch ethisch entschied sich 
dadurch endgültig die Qualität und der Sinn der Weltentwertung. 
Im fundamentalen Gegensatz gegen das Christentum konnten 
nicht »Sünde« und »Gewissen« die Quellen der Heilssuche sein. 
Die »Sünde« war im Volksdenken eine Art magisch-dämonischer 
Stoff, wie Tapas (Askese) auch. Im Rigveda war sie die Ueber- 
tretung der vom Gott des Rechts geschützten Gebote, über welche 
namentlich Varuna wachte®®). In der späteren Literatur tritt der 








52) Ueber die ganze Frage neuerdings: Schrader in der Z. D. Morg. G. 64 
P. 333 f. Er sucht darzulegen, daß Yajäavalkya noch nicht, wie meist angenommen 
wird, Samsara, dagegen schon Karman und Erlösung gelehrt habe: er stebe 
zwischen den Brahmanas und Upanischaden in der Mitte. Die Seelenwanderung 
hält er für einen »antiklerikalen«e Begriff gegenüber der Brahmana-Lehre, wo- 
nach das Ritual das Jenseits (zweifelhaft ob dauernd oder zeitweise) gewährt habe, 
Es muß aber dcch wohl angenommen werden, daß die Lehren der Upanischaden, 
dem Schwergewicht nach, die Ergebnisse der Kontemplation der Vanaprastha- 
Asketen, als welche sie sich geben, wirklich darstellen. Diese waren dem Ritual- 


‚ dienst entrückt und konnten sebr wohl Träger eine: (relativ) ritualfeındlichen 
' Lebre sein. 


53) Seine Späher wachen über den Menschen und seine Satzungen sind unver- 
brüchlich. Er weiß alles (Atharva-Veda IV, 16,2) und straft die Sünde. Vgl. 
v. Schıöder, Reden und Aufsätze S. 17. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 387 


Begriff ganz hinter dem des »Uebels« zurück. Nicht das Böse 
entwertet die Kreatur, sondern die metaphysische Wertlosig- 


— nern 


keit der vergänglichen todgeweihten Welt und der Ueberdruß : 


des Wissenden an ihrem sinnlosen Getriebe. 
Je mehr sich die brahmanische Philosophie diesem Stand- 
punkt näherte, desto mehr wurde die zentrale theoretische Frage 


für sie die nach dem Wesen und Wege der Individuation und ihrer. 


Wiederaufhebung. Die indische Philosophie ist daher dem Schwer- 
gewicht nach eine Theorie von der_metaphysischen Struktur 
der Seele, als der Trägerin_ der 'Individuation. Sehr verbreiteten 
Vorstellungen entsprechend galt ursprünglich der Atem als 
Stoff des — sozusagen — Immateriellen, »Seelischen« und 
»Geistigen« im Menschen, undder ursprünglich daran anknüpfende 
Begriff »Atman« wurde daher zur verborgenen, immateriellen, 
magischen Einheit des »Selbst« sublimiert. In der Mudeka- 
Upanischad 54) besteht das innere Selbst noch aus »Atem«, welcher 
auch in der Khandogya-Upanischad noch allen anderen Organen 
gegenüber als etwas Besonderes, zum Leben spezifisch Unent- 
behrliches, dabei aber schon Körperloses gilt. Daneben findet 
sich in der letzteren schon der Astralkörper eines geistigen Selbst ®°). 
Und in der Maitrayana-Upanischad 58) heißt es schlechthin: »was 
ein Mann denkt, das ist er«. Die Gedanken allein verursachen den 
Umtrieb der Geburten, wenn sie auf die Welt statt auf das Brahman 
gerichtet sind. Der Gedanke hat eben magische Kraft: »Mit 
Kenntnis, Glaube und Upanischad vollbringt man das Opfer 


wirksamer«, sagen die Upanischaden. Der einfache, aber wichtige 


| 


Schritt zur Identifikation dieses magischen Trägers des selbst- 
bewußten Einzellebens mit der magischen Weltpotenz, dem | 


Brahman, wurde schon von der Esoterik der älteren Upani- . 
schaden vollzogen. Die berühmte Stelle in der Khandogya 


Upanischad (I, ı, 10), in welcher der Lehrer den Schüler durch das 
Reich des Lebendigen, vom Samenkorn bis zum Menschen, 
hindurchführt, ihm immer wieder die innerlich gewendete 
sfeine Essenz« des Lebens, »kraft welcher alles da ist, was ein 
Selbst hat« (die indische Fassung der »Entelechie«) aufweist, mit 
dem steten Refrain: »Das ist das Wesen, das ist das Selbst, — und 
du, o Svetakatu, das bist du« (»tat tvam asi«), — gehört in der 
Tat zu den eindrucksvollsten Formulierungen der altbrahmani- 
er 

8) I, 1, IO. 

*) VI, 34, 3. 


388 Max Weber, 


schen Weisheit. Die enge Beziehung des klassischen brahmani- 
schen Denkens zur Magie hinderte dabei jene sehr naheliegende 
und in der genannten Stelle nahezu vollzogene Materialisierung 
der höchsten Weltpotenz zur »Substanz«, welche der helleni- 
schen Philosophie eignete. Das durfte nicht sein: das Prestige 
der magischen Kraft stand für das brahmanische Denken fest. 
Von hier aus wird die schroffe Ablehnung aller materialistischen 
Spekulationen — welche ja in ähnliche Bahnen geführt hätten 
— als heterodox leicht verständlich. Andererseits hatte die 
Rationalisierung der apathischen Ekstase zur Meditation und 
Kontemplation, wie sie die Selbstkonzentrations- (Yoga-) Technik 
zuerst konsequent durchführte, jene Fähigkeiten im Indertum 
geweckt, in welchen es nahezu unerreicht dasteht 57): das vir- 
tuosenhafte intellektualistisch bewußte Erleben eigener seelischer 
Vorgänge, vor allem: Gefühlslagen. Die Gewöhnung, sich 
bei dem Getriebe und Gedränge des eigenen inneren seelischen 


Geschehens als interessierten, aber selbst unbeteiligten Zuschauer. 


zu fühlen, welche durch die Yoga-Technik 58) gepflegt wurde, 
mußte ganz natürlich zu Konzeptionen führen, welche das »Ich« 
als eine jenseits aller, auch der »geistigen« Vorgänge innerhalb 
des Bewußtseins, ja auch jenseits desjenigen Organs, welches 
das Bewußtsein und dessen »Enge« trägt 5%), stehende Einheit 
auffaßte. Aehnlich dem chinesischen Dualismus des Yang und 


Ying taucht daher in den jüngern Upanischaden als Quelle der, 


Individuation die Zweiheit der Weltpotenzen auf: das männliche, 
geistige Prinzip, der » »purusha«, ist verstrickt i in die Gemeinschaft 


Eee materiell ge- 
dachten seelischen und geistigen Kräfte der empirischen Welt 
schlummern, mit Einschluß vor allem auch der drei Grundkräfte 
der Seele, der drei »Gunas«: »satvas, die göttliche Helle und Güte, 


5) Im Occident waren die christlichen Mystiker und später gewisse Spiel- 
arten des Pietismus Träger einer ähnlichen intellektuellen Raffinierung des 
Seelischen ins bewußt »Erlebie« hinein. 

58) Oder, wenn man deren Entstehung in den ihr eigentümlichen Zusammen- 
hängen später ansetzen will, durch ihre Vorläufer, was praktisch auf das gleiche 
hinauskommt. 

6) In der Samkhya-Philosophie mußte die Endlichkeit des zwischen der 
materiellen Welt und dem Geist vermittelnden Organs die Enge des Bewußt- 


seins begründen, die auch noch in der Theorie des Buddhismus eine Rolle - 


spie!t (als Erklärung dafür, weshalb der allwissende Buddha dennoch noch babe 
meditieren müssen). 


en SI 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 389 


srajase, menschliches Streben und Leidenschaft, und »tamass, 
die bestialische Finsternis 6°) und Dummheit. Wie auf deren 
Wirken dann in fast der ganzen, auch späteren, hinduistischen 
Literatur in der üblichen schematischen und pedantisch-phan- 
tastischen Manier alle denkbaren Arten des inneren Sichverhal- 
tens, als auf Mischungen jener drei Kräfte, zurückgeführt wurden, 
soll uns hier nicht näher interessieren. Wichtiger war, daß der 
purusha schon in den Upanischaden als der am Getriebe der 
Welt und der Seele, welches die prakriti heraufbeschwört, durch 
keinerlei eigene Aktionen beteiligte Zuschauer erscheint. Aber 
freilich als ein Zuschauer, der das Leben »erleidets. So lange wenig- 
stens, als er den Zusammenhang nicht durchschaut und sich in 
dem irrigen Glauben befindet: er selbst sei es, der handle und um 
seine Interessen drehe sich dieses ganze seelische Getriebe. 
Freilich: sobald er einmal zum Wissen gelangt und die prakriti 
und ihr Treiben als das sieht, was sie ist, — so wird sie sich so 
verhalten, »wie ein Weib aus guter Familie, welches man nackt 
erblickte: sie wird sich zurückziehen und ihn frei geben für jene 
ewige unbewegte Ruhe, die seinem Wesen eignet. 

Die brahmanische Spekulation fand sich mit diesen Konse- 
quenzen mehreren wichtigen Schwierigkeiten gegenübergestellt, 
die jeder Mystik überhaupt, namentlich aber jeder gnostischen 
Mystik anhaften. Aus einer solchen war — das ist die eine Seite 
— keinerlei Ethik für das Leben innerhalb der Welt abzuleiten. 
Die Upanischaden enthalten nichts oder fast nichts von dem, was 
wir Ethik nennen. Und außerdem — das ist die zweite — trat 
diese Erlösung allein durch gnostisehes Wissen in die schärfste 
Spannung gegen den überlieferten Inhalt der heiligen Schriften. 
Sie entwertete nicht nur die Götterwelt, sondern vor allem auch 
das Ritual. Wie sich die Orthodoxie half — und auch allein helfen 
konnte — ist aus dem bisher Gesagten im wesentlichen schon zu 
entnehmen: durch »organische« Relativierung. Es gibt keine 
sEthiks schlechthin, sondern nur ein ständisch und beruflich, 
nach Kasten also, differenziertes»Dharma«. Zwar hat man nicht 
auf alle und jede Formulierung allgemeiner Tugendlehren für den 
Gentleman (Arya) verzichten können und wollen. Namentlich die ` 
Rechtsbücher (weniger die Hausritualbücher, die grihyasutras) 
konnten diese nicht gut entbehren. Aber die Tugendensind, bald 





t0) Es war allgemein indische Vorstellung, daß die Finsternis etwas im 
gleichen Sinn Materiales sei, wie das Licht. 


390 Max Weber, 


in 8, bald in Io Nummern vorgetragen, ungemein farblos: Barm- 
herzigkeit, Geduld, Freiheit von Neid, Reinheit, Ruhe, korrektes 
Leben, Freiheit von Begierde und von Habsucht sind di: 8 guten 
Qualitäten .der Seele in Gautamas Rechtsbuch (dem ältesten, 
vielleicht vorbuddhistischen), und etwas positiver gewendet bei 
Manu: Zufriedenheit, Geduld, Selbstbeherrschung, nicht stehlen, 
Reinheit, Herrschaft über Begierde, Frömmigkeit, Wissen, Wahr- 
haftigkeit und Freiheit von Jähzorn. Oder ganz konkret zusammen- 
gefaßt in fünf Geboten für alle Kasten: kein lebendes Wesen ver- 
letzen, die Wahrheit sagen, nicht stehlen, rein leben, die Leiden- 
schaften beherrschen. Ganz ähnliche Gebote gab es als erste 
Stufe des Yoga. Indessen beseitigt war die Spannung 
mit solchen Geboten nicht. Die Frage des Werts des vedischen 
Rituals für den Erlösung suchenden und die Frage der Erlösungs- 
chancen des zur Einübung des gnostischen Wissens nicht fähigen 
Laien bestanden. Es ist namentlich von E. W. Hopkins in ver- 
dienstvoller Art gezeigt worden, wie sie sich. durch die klassische 
Literatur hinzog. Die Brahmanen durften zum mindesten dem 
Laien gegenüber das vedische Ritual, dessen Träger sie selbst 
waren, nicht entwerten lassen. Für die Hausritualbücher (gri- 
hyasutras) ist das Ritual begreiflicherweise das Ein und Alles 
geblieben. Aber auch für die Rechtsbücher sind die vedischen 
Gottheiten und die Opfer, die Himmel und Höllen als Beloh- 
nungs- und Strafmittel die entscheidenden und meist die letzten 
Realitäten und der Ahnenkult eine zentrale Angelegenheit. 
Während in den Upanischaden das Ritual — es handelte sich für sie 
vor allem um das alte politische Soma-Ritual des ritterlichen 
Kults — allegorisch umgedeutet wurde, ist davon in den Haus- 
ritual- und Rechtsbüchern — für welche alle das Feuer-Ritual 
am häuslichen Herd im Mittelpunkt stand — keine Rede. Der 
altbrahmanische Rationalismus hatte über dem Gewimmel 
der Funktionsgötter einen »Vatergott«, den Prajapati, als 
Weltregenten postuliert. Nun war in der Esoterik das unper- 
sönliche »Brahman« als Weltpotenz in den Mittelpunkt ge- 
treten. Die Schaffung der Figur des »Brahma« als persön- 
lichen höchsten Gottes war dann wohl wesentlich eine Kon- 
zession an die Laienbedürfnisse. Aber in den Rechtsbüchern 
ist die dadurch geschaffene Lage keineswegs einheitlich. Zwar 
ist Brahma, als höchster Gott und — meist — identisch 
mit Prajapati, rezipiert. Aber er war schon damals und wurde 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 391 


zunehmend ein »roi fain&ant«, wie man mit Recht gesagt hat. 
Das »Atman« ist, und zwar als Kultobjekt, in den Rechtsbüchern 
im Sinn der Fhilosophie rezipiert, während die Hausrituale sich 
um diese Konzeption begreiflicherweise wenig bekümmern. Sam- 
sara und Karman sind wenigstens in den Rechtsbüchern selbst- 
verständliche Voraussetzung, in den jüngeren übrigens stärker 
als in den älteren in den Vordergrund tretend. Aber die religi- 
ösen Zuchtmittel sind doch: längerer oder kürzerer Aufenthalt 
in Hölle und Himmel, die Freude und das jenseitige Glück der 
Ahnen im Fall der Tugend, dagegen ihr jenseitiges Elend im Fall 
der Uebeltaten des Nachkommen ê), — und, wie sich von selbst 
versteht: im Fall eines durch den Nachkommen verschuldeten 
Uebelergehens die Rache des Ahnengeistes gegen ihn. 
Entsprechend der Bedeutung des Ahnenkults und also der 
Nachkommenschaft für die Grabesruhe und Seligkeit der Vor- 
fahren mußte nun eine besonders heikle Fragesein: ob man ohne 
‘Nachkommen. gezeugt zu haben, ein Sramana werden dürfe. 
Denn, wenn man auch selbst der Ahnencpfer für sich nicht mehr 
zu bedürfen glaubte, so durfte man doch nicht die Vorfahren ohne 
Versorgung durch Nachkommen lassen. Die Rechtsbücher setzen 
denn auch im Allgemeinen als selbstverständlich voraus, daß der 
Einzelne alle Stadien, einschließlich des Haushalter-, also: des 
Ehe-Stadiums, durchmachen müsse, um jenseitiges Verdienst 
zu erlangen. Selbst die Vorstellung, daß das »jenseitige« Fort- 
leben oder die »Unsterblichkeit« in gar nichts anderem bestehe, 
als in dem Fortleben in den eigenen Nachkommen, taucht auf 83). 
Es wird bemerkt, daß es Brahmanen gebe, welche lehren: daß 
ein Asket nicht nötig habe, zuerst Haushalter zu sein, ehe er zum 
Mönchsleben übergehe. Es wird gelegentlich dagegen und gegen 
die Bedeutung des »Wissens« überhaupt als höchsten Heilswegs _ 
protestiert ®) und der sophistische Wortklauber des Heils 
für verlustig erklärt %), ebenso wie der der Weltlust Ergebene. 
Aber im ganzen wird die Erscheinung eben doch als bestehend ak- 

A) Vasischtha 16, 36. 

2) Apastamba 23 v. 8ff. Auf diese wie die andern hier zitierten Stellen hat 
Hopkins a. a. O. S. 252 ff. hingewiesen. Die Rechtsbücher s. jetzt in den Ueber- 
setzungen in den Sacred Books of the East. 

*) Apastamba 10, v. 14—ı5. Dies Rechtsbuch, welches die meisten Wieder- 
sprüche dieser Art gegen die Kontemplationstechnik enthält, ist freilich, wie 
Bühler (S. B. of the East, Einleitung zur Ausgabe) nachweist, südindischen, also 


der Heimat der alten V Pamiec hadet: Philosophie fremden Ursprungs. 
“) Vasischtha 10, 4. 


392 Max Weber, 


zeptiert, Regeln für die Mönche gegeben, welche denen der heterodo- 

xen (jainistischen) Mönche ziemlich ähnlich sind %°), und wenn über- 

haupt eine Stellungnahme hervortritt, so ist es ungefähr die: 
daß eben mehrere Wege und auch mehrere Ziele der Heilssuche 
gegeben seien: der Mönch strebe nach jenseitigem persönlichen 

Heil, der in der Welt bleibende ritualistisch korrekte Laie nach 

_ diesseitigem Heil für sich, jetzt und in der Wiedergeburt, für seine 

\ Vorfahren und für seine Nachkommen. 

Pa Daß es der Heilssuche der Sramana dergestalt gelang, die 

ni / magische Sippengebundenheit durch den Ahnenkult zu durch- 
brechen, gehört zu den wichtigsten und außerordentlichsten 
Erscheinungen underklärt sich nur auseinem Umstand: aus den 
von niemand bezweifelten magischen Kräften, welche der Asket 
besaß. Dies Prestige des sramanistischen magischen Charisma 
hat in Indien — und dies ist der wichtigste Gegensatz gegen 

\ China — die Pietätspflichten gegen die Familie überwogen. 

N Wie früh diese Entwicklung eingetreten ist und wie stark 
die Widerstände waren, vermag heute niemand mehr zu sagen. 
Die Dinge waren wohl durchweg stark im Fluß, und das während 
der ganzen Brahmana-Periode vermutlich noch andauernde 
kolonisierende Vordringen in Nordindien, welches die Familien- 
bande lockern mußte, hat vielleicht dazu beigetragen, jene Ent- 
wicklung zu ermöglichen. Mit ihr erst war aber die ungehernmte 
Bildung von brahmanischen Schulen, Asketengemeinschaften, 
Klöstern überhaupt möglich gemacht und die mystische Heils- 
suche der Philosophen wirklich ganz freigegeben. 

Die philosophische Heilslehre ihrerseits, die sich als Cruti: 
Offenbarung, von Cmriti: dem traditionellen Ritual, geschieden 
wußte, hat jene Relativierung der Heilswege je nach der 
Absicht und dem persönlichen Charisma der Heilssucher 
akzeptiert: Die Götter sind da und sind mächtig. Aber 
ihre Himmelswelt ist vergänglich. Durch korrektes Ritual 
kommt der Laie zu ihnen. Ebenso derjenige, der korrekt 
die Veden studiert, weil seine Geisteskraft zu mehr nicht 
reicht. Aber wer das Charisma der Gnosis hat, der kann her- 
aus aus dieser Welt der Vergänglichkeiten. Ist Gnosis das 
höchste soteriologische Mittel, so kann diese doch inhaltlich 
zweierlei verschiedene Wege gehen. Entweder sie ist Erkennt- 


*) Namentlich bei Baudhayana, ein Umstand, auf den wiederum schon 
Hopkins hingewiesen hat. 


—— — D 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus, 393 


nis der materiell - seelisch - geistigen Vorgänge der Wirklichkeit 
als einer, dem ewig unveränderlichen und qualitätslosen Selbst 
gegenüber, heterogenen, aber wirklich existierenden Welt des 
qualitativ Besonderten, Individuellen, ewig Werdenden und 
Vergehenden, von der das Selbst sich abwendet. Dann ist der Dua- 
lismus von erkennendem Selbst und erkannter Materie (einschlieB- 
lich der sog. »geistigen« Vorgänge) der grundlegende metaphy- 
sische Tatbestand. Oder die Erkenntnis ist »Gnosis« in einem 
weit spezifischeren Sinn: Die Welt der-Wirklichkeit, des ewigen 
Werdens und Vergehens, kann gar nicht »wahr« sein. Sieist Schein 
(Maya), ein Trugbild, welches von einem dämonischen Schein- 
wesen, dem Demiurg (Isvara), der Erkenntnis vorgezaubert wird. 
Maya also sschafft« recht eigentlich die Welt. Realität hat nicht 
dies scheinbare Werden und Vergehen, sondern das in allem schein- 
baren Wandel beharrende Sein, natürlich: ein überwirkliches, 
göttliches Sein: das Brahman. Seine durch die (zur Scheinwelt 
gehörenden) Erkenntnisorgane entstandene Individuation ist der 
Einzelgeist. Wird durch Erkenntnis diese kosmische Illusion 
zerstört, so ist die Befreiung vom Leiden an ihr vollzogen. Der 
enmal zur Gnosis gelangte Geist bedarf nichts weiter. Und es 
bedarf nur der geeigneten Hilfsmittel, ihn in jenen Zustand 
zu bringen: Die Gnosis ist nicht ein gewöhnliches Wissen, sondern 
ein »Haben«. Also, — und darin liegt der eigentliche religiöse 
Unterschied beider Auffassungen, der praktisch wichtiger ist 
als die formalen erkenntnistheoretischen Gegensätze —: bei dieser 
Auffassung von der Trugnatur der Realität kann befreiende Er- 
kenntnis nur durch eine mystische Wiedervereinigung des 
nur durch seine kosmische Illusion individualisierten Geistes 
mit dem göttlichen Alleinen, dem Brahman, erfolgen. Wäh- 
rend bei der dualistischen Anerkennung der Wahrheit des Wirk- 
lichen ein Brahman für den erstrebten Heilserfolg letztlich 
überflüssig ist und dieser durch systematische Schulung 


des Erkennens im Sinne der Yoga-Praxis erreicht wird. Die 


dualistische Lehre befaßt sich daher nicht mit dem Brahman 
und ist in diesem Sinn »atheistisch«: die befreite Seele versinkt 
in ewigen traumlosen Schlaf, aber sie verschwindet nicht. Die 
monistische Brahman - Lehre könnte »pantheistisch« genannt 
werden, wenn man die ganz spezifische metaphysische »Ueber- 
weltlichkeit« des Brahman als des einzig Realen gegenüber dem 


kosmischen Schein als durch jenen eigentlich dafür recht un- 
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 2. 26 


wi 


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CC ix 3 it Be 


394 Max Weber, 


geeigneten Ausdruck mit gedeckt gelten lassen wollte. Die dua- 

listische Lehre von der Realität der Wirklichkeit hat die von 

m pflegt, die monistische Lehre vom kosmischen Schein ist unter 
Fe dem Namen des »Vedanta« bekannt. Die Samkhya- -Lehre ist 
vorgeformt schon in den Upanischaden und war ohne Zweifel der- 

einst und vor der Vedanta-Lehre die klassische Philosophie 

der indischen Intellektuellenschicht. Das beweisen schon ihre 
Beziehungen zum Yoga, dessen Technik für ihre Konstruktionen 

die Vorbedingungen schuf, und daneben der Einfluß, den sie 

er \ gerade auf die älteren Sektenbildungen und Heterodoxien, 
er ‚darunter auch den Buddhismus, geübt hat. Ferner die Tatsache, 
a s ‚ Í daß wichtige Teile des Mahabharata ganz offensichtlich zuerst 
Pa | unter dem Einfluß der Samkhya-Lehre und erst später des Ve- 

` danta gearbeitet sind. Endlich auch äußerliche Umstände, wie 

die Zeit der ältesten systematischen Redaktionen ®) der Lehre, und 

noch mehr: daB in der täglichen Wasserspende des Brahma- 

| nen noch jetzt Kapila und die alten Samkhya-Heiligen es 
T sind, welche angerufen werden. Dagegen ist das Vedanta, 


kommentiert von dem bedeutendsten Philosophen der Schule: 

Çankara, das klassische System des späteren orthodox-brahmani- 
ı schen Hinduismus geworden. Dies hat gewiß nichts Erstaun- 
liches. Die stolze Ablehnung jeder Form des Gottesglaubens 
und die Anerkennung der Realität der Wirklichkeit in der Sam- 
khya-Lehre mußte einer aus Brahmanen und ritterlichen Laien 
zusammengesetzten vornehmen Intellektuellenschicht, wie sie 
| die Zeit vor der Großkönigstumsentwicklung kannte, leichter 
, zusagen als einer reinen Priesterkaste, zumal wenn diese unter 
dem Schutz patrimonialer Großkönige stand. Für sie war die 
Existenz und der mystische Zutritt zur göttlichen Macht von 
 zentralem Interesse. Und sie vermochte ihre Lehre auch leichter 
in Einklang mit den Voraussetzungen der vedischen Litera- 
tur zu bringen, — wie dies ja der Name (Vedanta = Ende, Ab- 


! 
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66) Das älteste erhaltene Werk der Schule, das Samkhya-Karika des Isvara- 
krishna, hat Bechanarama Tripathi in den Benares Sanskrit Series (Nr. 9), Benares 
1883) übersetzt. Mir waresunzugänglich. Die Aphorismen (angeblich) des Kapila 
sind ins Englische übersetzt von Beal. 

67) Offiziell wird als Gründer der Schule »Vyasa« (= der Schaffer der Dispo- 
sition) genannt, ein Sammelname, der auch für den Redakteur der Mahabharata 
und den Sammler der Veden angegeben wird. 


niedergelegt €?) in den Brahmasutras des Bädarayäna, später 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 395 


schluß des Veda) auch als Ziel erkennen läßt. Der Versuchung, 
die in ihrer Art sehr großartigen Konzeptionen des Vedanta 
hier näher zu analysieren, muß widerstanden werden, da 
für unsern Zusammenhang nur die allgemeinsten Grundlagen 
von Bedeutung sind. Gewarnt werden muß vor der Vorstel- 
lung: daß diese Lehren nur rationale Umschreibungen einer 
»pessimistischen«, »weltverachtenden« Gefühlslage seien. Der- 
artiges findet sich, wie bei den Hellenen, so auch in der altbrah- 
manischen und schon der altvedischen Literatur. Aber als wirk- 
liche grundlegende Gefühlslage erst in späten Upanischaden 88). 
Die großen indischen Lehrsysteme waren vielmehr rationale 
Konzepticnen s stolzer und in ihrer Art konsequenter Denker. Und 
der mystische Charakter des Heilsguts, welcher ihre Lehren 
allerdings stark bestimmte, war die Folge der inneren Lage einer 
dem Leben als Denker über seinen Sinn, nicht als praktisch 
handelnd an seinen Aufgaben beteiligt, gegenübergestellten 
Intellektuellenschicht. Die Gefühls- und Empfindungslage und 
das »Weltgefühl« war mindestens zum Teil erst Folge, teils des 
rational erschlossenen Weltbildes, teils aber der durch Kontem- 
plation erstrebten Heilszuständlichkeit. Wenn in einer der Upani- 
schaden 6°) als die drei Kardinaltugenden der Inder: Selbstbezäh- 
mung, Freigebigkeit und »Mitleid« bezeichnet werden, so ist die 
an zweiter Stelle genannte ritterlichen, die erste brahmanisch- 
ständischen Ursprungs, das »Mitleid« aber offenbar das Produkt 
der bei der apathischen mystischen Ekstase typisch sich ein- 
stellenden liebesakosmistischen Euphorie, welche später im 
Buddhismus zu universeller ethischer Bedeutung gelangte. 
Unter den offiziellen sechs orthodoxen Veda-Schulen 79) waren 
Samkhya und Vedanta so sehr die vornehmsten, daß die Meta- 
physik der übrigen hier ganz beiseite bleiben kann. Auch die 
Lehre der beiden großen Schulen geht uns ja nur insoweit 





*#) Maitrayana Upan. I, 2—4 ff. pflegt dafür angeführt zu werden. `i}, 
®) Brihadaranyaka Up., V, 2, eine Stelle, auf welche Wintermitz. 
Gesch. der indischen Literatur, aufmerksam macht, der sıch dabei auch über den 
Mangel ethischen Gehaltes der Upanischaden und ihren Grund ausspricht. tl 
70) In der üblichen Aufzählung: Jaiminis Mimamsa, Kapilas Samkhya, 
»Vyasase Vedanta, Gotamas Nyaya, Kanadas Vaigeshika, Patafijalis Yoga. 
Das Vedanta wird dem alten Mimamsa, dem die Veden ritualistisch auslegenden 
»Purva (frühen) Mimamsas auch gegenübergestellt als» Uttara (späteres) Mimamsa« 
(Mimamsa bedeutet schulmäßige Forschung schlechthin). Denn als schlechthin 
im höchsten Sinn klassisch galten nur die beiden Mimamsa (Purva Mimamsa 
und Vedanta). 
26* 


396 Max Weber, 


etwas an, als sie die praktische Ethik in einer für unsern Zusam- 
menhang wichtigen Art bestimmte. 

Die »Orthodoxie« aller sechs Schulen äußerte sich darin, 
daß sie die Autorität der Veden, das heißt — wie früher dar- 
gelegt — insbesondere die Verbindlichkeit der in der brahmani- 
schen Literatur entwickelten Ritualpflichten nicht bestritten 
und die Stellung der Brahmanen nicht anfochten. 

Die orthodoxen Philosophenschulen 7!) haben stets die 

:! Pluralität der Heilswege (marga) anerkannt. Rituelle Werke, 
| | Askese, Wissen waren die drei von Anfang an als klassisch aner- 
.! kannten von ihnen. Nur die beiden letzten aber führten über die 
Karman-Verkettung hinaus. Und zwar vor allem: das Wissen. 
Dies Wissen war Gnosis, »Erleuchtung«, für welche die Ausdrücke 
Bodhi und Buddha gelegentlich vorkommen. Seine magische 
Bedeutung (namentlich bei den Yogins) lernten wir schon kennen. 
Seine soteriologische Bedeutung lag darin, daß es die unheilvolle 
Verknüpfung des Geistes mit der Materie, die »Materialisation« 
(Upadhi) des Ich, aufzuheben vermochte. Den Zustand völliger 
Beseitigung aller »materialen Unterlage« (Upadhi) bezeichnete 
man später als Nirvana 7?): ein Habitus, der dann eintritt, wenn 
alle Verknüpfung mit der Welt gebrochen ist. In der außer- 
buddhistischen Vorstellung wird es nicht, wie im alten Buddhis- 
mus, mit völligem »Verwehen« der Individualität gleichgesetzt, 
sondern mit dem Ende des Leidens durch Unrast: es ist nicht 
ein Verlöschen der Flamme, sondern ein stetiges, rauchloses 
und nicht flackerndes Brennen, wie es eintritt, wenn aller Wind 
sich gelegt hat 73). 
Das Nirvana und die ähnlichen durch andere Worte be- 
! zeichneten Seligkeitszustände sind nicht notwendig jenseitige 
: in dem Sinn, daß sie erst nach dem Tode des Erlösten eintreten 7$). 
| -aj Im Gegensatz zum Loka Yata, der als heterodox angesehenen Schule 
der »Materialistene, welche Charvaka (etwa im 3. Jahrh. v. Chr.) begründete. 
Sie Ichnte alle Metaphysik und deshalb die Autorität der Veden ab und lehrte 
den reinen Hedonismus. 
75) Dazu Oldenberg a. a. O. 
33) So z.B. im Mahabharata (VI, 30, 49). Das Bhagavadsita kennt den Zu- 
stand in diesem Sinn. 
74) Ganz naturgemäß mußte eine Metaphysik, welche das Nichthandeln und 
Nichtfühlen als Hauptmerkmal der Befreiung vom Irdischen ansah, an den traum- 
losen Schlaf als die diesem Zustand nächststehende Verfassung anknüpfen. Aller 


Animismus behandelt den Schlaf als ein Fortwandeın der Seele und die Upani- 
schaden behandeln denn auch mchrfach den traumlosen Schlaf und Ekstase 





Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus, 397 


Ganz im Gegenteil werden sie gerade für das Diesseits, als Resul- 
tate der Gnosis, erstrebt. Dem klassischen Sramana verlieh 
die vollendete Erreichung der Gnosis vor allem eine überaus 
wichtige Qualität: die hinduistische »certitudo salutis«. Der hin- 
duistischen Metaphysik entsprechend bedeutete dies zweierlei: 
Einmal den schon gegenwärtigen Genuß der Seligkeit. Vor allem 
das Vedanta legte auf diese überirdische Wonne des mit dem 
Brahman Vereinigten das entscheidende Gewicht 75). Dann aber: 
die schon diesseitige Befreiung von der Karman-Verkettung. 
Der durch vollkommenes Wissen erlöste »jivanmukti« 786) war 
dem ethischen Vergeltungsmechanismus entronnen: san ihm 
haftet keine Tate. Das bedeutete, daß er im hinduistischen Sinn 
»sündlos« war. »Ihn quält die Frage nicht mehr: was habe ich 
für Gutes, was für Uebles getan?« Es ist daraus geradezu die 
für die Mystik charakteristische anomistische Konsequenz gezogen 
worden: daß das Ritual ihn nicht mehr binde, er über ihm stehe 
und daß er tun könne was immer 7), ohne seine Seligkeit zu ge- 
fährden. Namentlich den metaphysischen Gedankengängen 
der Samkhya-Schule mußte diese Konsequenz nahe liegen, die aber 
auch von den Vedartisten (z. B. im Taittireya-Upanischad) ge- 
zogen wurde 78). Diese Folgerungen scheinen nun freilich keines- 
wegs restlos anerkannt worden zu sein. Und ganz begreiflicher- 
weise: die Entwertung, welche das Ritual dadurch erfuhr, war 
eine zu grundstürzende. Aber jene Vorstellungen dürften bei 
der Entstehung der heterodoxen, ritualfeindlichen, Erlösungs- 
religionen eine überaus wichtige Rolle gespielt haben, wie ja jede 
Mystik, als Selbsterlösung, wegen eben dieser anomistischen 
Konsequenzen, den Priesterschaften unvermeidlich gefährlich 





ın dieser Hinsicht als gleichwertig (Stellen bei Gough, Philosophy of the Upani- 
shades p. 30). 

35) Vgl. z. B. Mzitr. Brahm. Up. VI, 34, 9. Das Glück der Seele, welche in 
dieser Meditation reingewaschen ist von aller Unreinheit und in dem Selbst auf- 
gegangen ist, ist unbeschreibbar. Das. 10: »Wasser ist Wasser, Feuer ist Feuer, 
Aether ist Aether, — man kann nichts Einzelnes darin unterscheiden; so auch 
bei dem, der im Selbst aufgegangen ist.¢ Im Epos wiegt nicht in gleichem Maß 
die Schilderung des Brahman als cines seligen Gefühlshabitus vcr, sondern es 
erscheint mehr als ein intellektuelles Leuchten, etwa wie die Quelle von Platons 
Gnosis in der Politeia. Sonst wird es auch einfach dem Tiefschlaf verglichen. 

’*) Der Ausdruck selbst gehört erst der neueren Sprache an, die Sache ist 
alt, 

”) Selbst Vater- und Muttermord. Nur werde er, heißt es, dergleichen zu 
begehen eben ganz außer stande sein. 

18) Vgl. dazu G»>ugh, Philosophy of the Upanishades, p. 66 ff. 


ee 


398 Max Weber, 


zu werden pflegt. Tatsächlich fühlten sich die Sramana als 


die »Wissendene den Brahmanen als bloßen Ritualtechnikern 
‚ überlegen, zumal das Prestige ihrer persönlichen, sichtbaren 
'; Heiligkeit bei den Laien das weitaus größere war. Dies Spannungs- 
= verhältnis innerhalb des brahmanischen und brahmanisch be- 


einflußten Intellektuellentums lag eben ganz ebenso in der Natur 
der Sache, wie die Spannung zwischen Weltpriestern, ordinierten 
Mönchen der anerkannten Orden und Laien-Asketen im Oc- 


cident. 


Dagegen war die Stellung des religiösen Virtuosentums inner- 
halb des Hinduismus trotz mancher Aehnlichkeit eine etwas 
andere als sie innerhalb des katholischen Christentums es war, 
nachdem das Christentum endgültig den Charakter der kirch- 
lichen Gnadenanstalt angenommen hatte. Zwar findet sich 
der, logisch gewertet, gegenüber dem Karman-Determinismus 
unkonsequente Gedanke der opera supererogatoria auch im Hin- 
duismus. Aber zum mindesten fehlt das Anstaltsorgan, welches 
aus dem Thesaurus dieser Leistungen hätteGnaden spenden können. 
Und in aller Regel blieb daher an Stelle jener Konzeption vielmehr 
die alte einfache unmittelbare Hagiolatrie bestehen: Die Ver- 
ehrung und Beschenkung des Sramana war ein rituell gutes Werk, 
welches Verdienst erwarb. Der große Asket wurde Directeur de 
l'âme (Guru, Gosain). Eine feste Beziehung zu einem Kirchen- 


` oberhaupt aber fehlte. Und wenigstens als Grundsatz blieb be- 


stehen: daß der Einzelne ausschließlich durch eigene Leistungen, 
nicht durch Anstaltsgnade ex opere operato, das Heil erwerben 
könne, so daß der Sramana für Dritte nur entweder magisch 
oder exemplarisch heilsbedeutsam wurde. Entsprechend den 
organisch abgestuften Heilsständen: der Erlösten (jivanmukti), 
der die Erlösung durch Askese oder Kontemplation außerwelt- 
lich Erstrebenden, der rituell korrekten vedisch gebildeten 
Brahmanen und weiterhin der einfachen Laienstände, wurde 
naturgemäß versucht, auch die Stufen der außerweltlichen 
soteriologischen karmanfreien Heilssuche und die innerweltliche 
Karman-Ethik zueinander in ein organisches Stufenverhältnis 
zu bringen. : In der Samkhya-Soteriologie beispielsweise galten 
stufenweise, von unten nach oben, als Mittel der Vollkommenheit: 
I. Freigebigkeit — entsprechend der alten vedischen Tugend, 
— 2. Verkehr mit weisen Freunden, — 3. eigenes Studium, — 
4. Unterweisung anderer, — endlich 5. Meditation (üha, Vernunft- 





Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 399 


überlegung). Wer wirklich nach dem höchsten Ziel strebt, soll 
unbedingt Ataraxie (viräga) erstreben. Denn Begierde und 
Kummer machen der Belehrung unzugänglich. Er soll daher 
den Besitz aufgeben, vor allem aber sich der Gesellschaft mit 
Menschen entziehen, außer mit solchen, die im Besitz der Er- 
kenntnis sind. Die Erfahrung aller Virtuosenreligiosität über 
die ungleiche religiöse Qualifikation der Menschen fehlte natürlich 
schon dem alten Hinduismus nicht. Nach der Samkhya-Lehre 
ist sie in den Dispositionen des Denkorgans (welches zur prakriti 
gehört) begründet: aviveka, die» Nicht-Unterscheidung«, ist das 
je nach Veranlagung verschieden starke Hemmnis der All-Er- 
kenntnis. Indessen durch Konzentration, für welche später die 
Mittel des Yoga rezipiert wurden, kann man seiner Herr werden. 
Soziale Leistungen irgend welcher Art waren dagegen nach reiner 
Samkhya-Lehre für das Heil wertlos. Sogar die Anerkennung: 
daß die Erfüllung ritueller Pflichten positiven Heilswert auch 
für das Erlösungsstreben habe, scheint von dieser Lehre — ihrer 
Beeinflussung durch das Laiendenken entsprechend — erst spät 
rezipiert zu sein. 

Die Vedanta-Lehre hat deee Riten und »Werke«, d. h. 
die traditionellen sozialen Pflichten stets als wertvoll auch für 
das Streben nach Erlösung geschätzt. An Stelle des alten der 
Unverbrüchlichkeit des Rituals entnommenen Begriffs des »Rita«, 
der kosmischen Ordnung, welche zugleich Realgrund alles Seins 
war und also dem chinesischen Tao-Begrıff nahe stand, trat in der 
klassischen und späteren Literatur der Begriff des »Dharma«, 
des für den Einzelnen verbindlichen »Pfades« des sozial-ethi- 
schen Verhaltens, der »Pflicht«, in den Vordergrund, der aber 
nun seinerseits Neigung zeigte, zugleich »kosmische Ordnung« 
zu bedeuten. Die Wendung war durch die zunehmende Not- 
wendigkeit, die innerweltlichen, vor allem rituellen, Pflichten 
der Laien priesterlich zu reglementieren, gegeben. Auch im Ve- 
danta war aber die Anerkennung der Bedeutung der äußern 
Pflichten nur so gemeint: daß die korrekte Erfüllung der rituellen, 
vor allem der Opferpflichten auch die Erlangung des rechten Wis- 
sens indirekt ermögliche, nicht: daß sie selbst ein Weg zur Er- 
lösung sei. Nach dem klassischen Vedanta sind sie in jenem in- 
direkten Sinn freilich auch dafür ganz unentbehrlich. Nur wer das 
Wissen und damit die Seligkeit bereits voll erlangt hatte, dem 
nutzten nunmehr, auch nach dem Vedanta, die Riten nichts mehr. 


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400 ° Max Weber, 


Wenn so Alltagspflichten und Heilsweg in ein für die brah- 
manische Auffassung leidlich befriedigendes organisches Stufen- 
verhältnis zueinander gebracht waren, so konnte doch diese 
Lösung den Bedürfnissen der gebildeten Laienschaft keineswegs 
genügen. Vor allem nicht: der Ritterschaft. Wenn der Brahmane 
die Meditation neben seinem rituellen Alltagsberuf, als dessen sinn- 
volle Steigerung ins Außeralltägliche oder als esoterische Ergän- 
zung betreiben und, vor allem, damit innerlich vereinbar finden 
konnte, so doch nicht der Krieger. Dessen ständisches Dharma 
war mit jeder Art von Weltflucht unvereinbar. Er konnte aber 
nicht gesonnen sein, sich um deswillen als schlechthin. religiös 
minderwertig behandeln zu lassen. Dieses Spannungsverhältnis 
zwischen Alltags-Dharma und religiösem Heilsstreben hat teils 
zur Entstehung jener heterodoxen Erlösungsreligionen beigetragen, 
von welchen später zu reden sein wird, teils aber zu einer weiteren 
Entwicklung der Soteriologie -innerhalb der Orthodoxie. Von 
dieser ist schon jetzt zu sprechen. Einerseits deshalb, weil ihre 
Anfänge sicherlich bis in die Zeit vor der Entstehung jener 
Heterodoxien hinaufreichen ®) oder neben ihnen hergehen. 
Andererseits aber weil sie noch charakteristische ‚Züge der alten. 
Intellektuellensoteriologie an sich trägt, freilich — in der uns 
allein überlieferten Form — schon mit Ansätzen der späteren Hei- 
landsreligiosität verbunden. Ihr klassischer literarischer Ort ist 
freilich erst das (in endgültiger Redaktion etwa aus dem 6. Jahr- 
hundert nach Christus stammende) Mahabharatha und insbe- 
sondere eine jener dialogischen philosophischen Einschiebungen, 
an welchen dieses von Priesterhänden zu einem Kompendium 
der Ethik umgestaltete Werk so überaus reich ist. Sie sind aber 
offenbar, wenigstens zum Teil, priesterlich umgearbeitete und 
angepaßte Reminiszenzen und Niederschläge jener Diskussionen, 





welche in der hochgebildeten Kschatriya-Gesellschaft der Klein- 


fürstenzeit über das Problem der Theodizee stattgefunden haben®®). 


: Wir finden in ihnen einerseits Reste des jedem Kriegsheldentum 


naheliegenden Glaubens an ein »Verhängnis« und an ein wahlloses 
Spiel des Schicksals mit dem Menschen 9), welches nur schwer 


79) Buddhistische Einflüsse finden sich im Epcs erst in ganz späten Partien. 

80) Gerade ein Teil der entscheidenden Züge des Bhagavadgita muß der alten 
Ritterzeit entstammen, vor allem die »Schicksals-Ethik« des Rittertums. 

81) Namentlich kämpft mit der Vorstellung, daß die Sünde doch letztlich 
im Menschen selbst liege, die andre, daß die Sünde, eine unvermeidliche Frucht 
der Taten abgelebter Zeiten, wie ein Fatum über dem Menschen schwebe, der 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 401 


mit der Karman-Lehre vereinbar ist. Ferner, namentlich in den i 
Unteredungen König Yudhischthiras mit seinen Helden und mit 
der Draupadi, Erörterungen über die »Gerechtigkeit« des indi- 
viduellen Heldenschicksals und über das »Recht« des Krieges. 
Viele von ihnen zeigen, daß die rein eigengesetzliche (smacchia- 
vellistische«) Auffassung des Fürsten-Dharma erst eine Folge- 
erscheinung teils der politischen Verhältnisse der späteren Signo- 
nie-Epoche, teils der konsequenten brahmanischen Rationali- 
sierung war. Ausführlich und etwa in der Art des Buchs Hiob 
erörtert im Epos in seinem unverschuldeten Unglücke König 
Yudhischthira ®) mit seiner Gemahlin das göttliche Weltregi- 
ment. Die Frau kommt zu dem Ergebnis: daß der große Gott 
mit den Menschen nur spiele nach seiner Laune. Und eine wirkliche 
Lösung wird hier so wenig wie bei Hiob gefunden: man solle der- 
artiges nicht sagen, denn durch die göttliche Gnade erhalten 
die Guten Unsterblichkeit und — vor allem — ohne diesen Glau- 
ben würde sich das Volk nicht tugendhaft verhalten. Das klingt 
wesentlich anders, als die Philosophie der Upanischaden, die von 
einem solchen Weltregiment eines persönlichen Gottes nichts weiß. 
Es ist Uebernahme des alten Göttervaters der Brahmanas, 
der über den unethischen, vedischenGöttern steht, und diese Ueber- 
nahme ist teilsweise bedingt durch die in der Zeit der Endredaktion 
des Epos schon wieder aufgelebte Sektenreligiosität mit ihren 
persönlichen Göttern. Der persönlich gedachte Brahma ist dabei 
mit Prajapati identifiziert. Die vedischen Götter sind alle da. 
Aber sie sind machtlos. Der Held fürchtet sie nicht. Sie können 
ihm nicht einmal helfen, nur die Stirn kühlen und ihn bewundern. 
Er selbst ist — z. B. Arjuna — Göttersohn. Aber ihn kümmert 
auch der Vatergott wenig. Er ist von der Bedeutung des »Ver- 
hängnisses« überzeugt, auch wo er äußerlich sich zu der Philo- 
sophie der Brahmanen bekennt®?). Das alte Walhall, der Krieger- 
himmel des Indra, ist, scheint es, sein eigentliches Ziel und daher 
der Tod auf dem Felde der Ehre, der es ihm — hier wie überall 
— verschafft. Das ist, wird wenigstens an einer Stelle gesagt, 
besser als Askese und das Land, welches durch sie erreichbar ist. 
Tugend, Gewinn und Genuß sucht der Mann, und Handeln ist 
Mensch nur das Werkzeug sei, durch welches entweder ein dunkles Verhängnis 
oder — korrekt — die Verkettung von Karman sich vollstrecke. (Mahabh. 
XII, 22, ı1 ff. zu vgl. mit 59, 13 ff., ferner IV, 5 und andere Stellen.) 


33) JII, 29, 38 ff. Gerade dies ist ein als alt geltender Bestandteil des Epos, 
*) So E. W. Hopkins, Rel. of India p. 417. 


F 


402 - Max Weber, 


besser als Nichtstun. Da nun aber dennoch auch der Held Askese 


REPAR ya a 


übt und da die Macht des Asketen und die Bedeutung des heili- 
gen Wissens auch ihm völlig feststeht, so kann diese reine Helden- 


' ethik offenbar nur eine Seite der Sache sein. So ist es in der Tat. 


Ausführlich wird die Frage des ethischen. Sinns—-des_ 
Heldendharma, also des Krieges, abgehandelt in jener hochbe- 
rühmtenin Indien bis in die Gegenwart zum Repertoire jedes Rezi- 
tators gehörigen Episode, die unter dem Namen Bhagavadgita be- 
kannt ist®®). Aeußerlich ist sie ein unmittelbar vor dem blutigen 
Kampf der miteinander blutsverwandten Gegner stattfindendes Ge- 
spräch zwischen dem Helden Arjuna, dem Bedenken über die Recht- 
mäßigkeit des Tötens so nahestehender Verwandter in der Schlacht 
kommen, und seinem Wagenlenker Krischna, der sie ihm mit 
Erfolg ausredet. Krischna gilt aber dabei. dem Dichter bereits 
[als menschliche Inkarnation (avatar) des höchsten göttlichen 
| Wesens, des Bhagavat (»Erhabenen«) und wir befinden uns also 
: schon auf dem Boden jener Epiphanien, welche die unklassische 
| volkstümliche Heilandsreligiosität des späteren Hinduismus be- 
herrschen. Immerhin stecken die weiter unten zu besprechenden 
charakteristischen ‘Gefühlszüge dieser wichtigsten Religiosität 
des indischen Mittelalters noch in den Anfängen ®°, und handelt 
es sich in den wesentlichsten Punkten doch um ein Er.eugnis der 


= vornehmen Intellektuellenschicht der älteren Zeit. Es wird wohl 


mit Recht angenommen, daß eine alte Gemeinschaft der Bha- 
gavata-Verehrer Träger der Soteriologie war, welche das Bha- 
gavadgita wiedergibt 8%). Die Samkhya-Lehre liegt, wie Garbe schön 
nachgewiesen hat, der ursprünglichen Fassung zugrunde. Erst 
nachträglich hat eine klassizistisch-brahmanische Redaktions- 
tätigkeit korrekt vedantistische Züge hinzugefügt. Nun galt 
das Gedicht als Ausdruck rezipierter orthodoxer Lehre. Wie die 
Gestalt Krischnas historisch aufzufassen sei, ist bestritten. Nach- 
dem er gelegentlich (ebenso wie Buddha vor der urkundlichen 
Feststellung seiner historischen Persönlichkeit) für einen alten 
Sonnengott gehalten worden war, traten hervorragende Forscher 


84) In fast alle Sprachen der Erde übersetzt. Deutsch mit vorzüglicher Ein- 
leitung von Garbe (Leipzig r901). 

8) Denn nicht die Gefühlsandacht des bhakti (wovon später), sondern der 
Gedanke der göttlichen Gnade (prasada) ist offenbar das alte und vorbuddhi- 


stische am Bhagavadgita. (So auch E. W. Hopkins.) 


85*) Darüber jetzt R. G. Bhandakar, Vaisnavism, Saivism and minor re- 


ligious systems (Bühler’s Grundriß, Straßburg 1913). 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 403 


dafür ein, daß er vielmehr der vergottete Stifter der Bhagavata- 
Religion gewesen sei 8). Der Nichtfachmann kann das nicht ent- 
scheiden. Zwingende Gründe aber gegen die einfachste Annahme: 
daß die Gestalt der alten epischen Ueberlieferung entnommen und 
von einem Teil der Kschatriya als Standesheros verehrt worden sei, 
scheinen nicht eigentlich vorzuliegen. — Die Heilslehre des Bha- 
gavadgita nun ist in ihren für uns wesentlichen Zügen die fol- 
gende: 

Auf Arjunas Bedenken dagegen, nahe Verwandte in der 
Schlacht zu bekämpfen, antwortet Krischna, genau angesehen, 
mit mehreren, untereinander heterogenen Argumenten. Ein- 
mal 8”): der Tod dieser Feinde sei ohnedies beschlossen und würde 
auch ohne Arjunas Zutun erfolgen, also: mit dem Verhängnis. 
Dann 88): Arjunas Kschatriya-Natur würde ihn auch ohne sein 
Wollen in den Kampf treiben; er habe darüber gar keine Gewalt. 
Hier wird die ethische Determiniertheit des Kasten-Dharma zur 
Kausalität umgedeutet, — eine Konsequenz, welche sonst auch 
im Samkhya, dem sie als Folgerung aus der rein materiell- 
mechanischen Natur aller Komponenten des Handelns nahe lag, 
nicht gezogen zu werden pflegt. Ferner — und dies ist das 
theoretische Hauptargument: — was nicht da sei, könne man auch 
nicht wirklich bekämpfen. Das klingt nach der Vedanta-Illusion. 
Allein es wird, dem Samkhya gemäß, dahin interpretiert: daß 
nur der erkennende Geist »sei«, alles Handeln und Kämpfen aber 
nur an der Materie hafte. Da der Geist zum Zweck der Erlösung 
ja aus der Verstricktheit in die Händel der Materie befreit 
werden soll, scheint das Argument schwächer, als es vom Stand- 
punkt der Samkhya-Lehre aus war. Denn darnach ist eben das 
unterscheidende »Wissen« das, worauf es ankommt. Ist der passiv 
das Leben erleidende Geist einmal darüber zur endgültigen 


se) Kennedy, J. R. A. S. 1908 p. 506 vertritt diese Ansicht noch jetzt. ' Ebenso 
Grierson, Ind. Ant. 37, 1908, der ihn Krischna Vasudeva nennt, und annimmt, 
daß der alte Bhagavata-Gott Vasudeva erst später mit Vischnu identifiziert 
worden sei. — Macnicol, J. R. A. S. 1913 P. 145, nimmt an. daß Krischna ein 
alter (gelegentlich in Tiergestalt inkarnierter) Vegetationsgott gewesen sei und 
daher Pflanzen- statt Tieropfer erhalten habe (Ursprung des Ahimsa ?). Er verweist 
auf die späteren Krischna-Pantomimen, bei welchen Krischna und Gefolge, rot 
angestrichen (Sommer) gegen den weißen Dämon (den Winter) kämpften (entspre- 
chend dem Kampf von »Xanthos« und «Malanthos» in Griechenland). Die Sekte 
der Bhagavata-Verehrer gilt als im 4. vorchristl. Jahrhundert bezeugt, ihre 
Entstehung verlegt Garbe a. a. O. einige Jahrhunderte vor Buddha. 

°) XI, 32, 33. 

38) XVIII, 59. 


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404 Max Weber, 


Klarheit gekommen, daß nicht er handelt, sondern daß er nur 
das Handeln der Materie erleidet, so ist er in dessen Verdienst 
und Schuld, in den Karman-Mechanismus, nicht mehr verstrickt. 
‚Er wird, wie der klassische Yogin, zum Zuschauer seines eigenen 
Ä |! Handelns und aller seelischen Vorgänge in seinem eigenen Be- 
| wußtsein und dadurch frei von der Welt 8%). Es bleibt aber die 
Frage: warum denn Arjuna unter diesem Umständen überhaupt 
kämpfen solle. Das folgt zwar, korrekt hinduistisch, rein positiv 
aus dem Kasten-Dharma des Kriegers, auf welches ihn Krischna 
verweist 9%). Dem Krieger ist Kampf — in einer für die epische 
Zeit noch charakteristischen Wendung sagt Krischna: »gerechtere 
Krieg — gut: ihn zu meiden bringt Schande; wer im Kampfe 
fällt, kommt in den Himmel, wer darin siegt, beherrscht die Erde; 
beides müsse, meint Krischna, dem Krieger gleich gelten. Allein 
, das konnte nicht die letzte Meinung sein. Denn es fragte sich ja 
gerade, ob und in welchem Sinn das Handeln nach dem Kasten- 
` Dharma, ‚also: eine Tat der Materie, nicht des Erlösung 'suchenden 
' Geistes, Heilswert haben konnte. In der Antwort darauf erst 
. liegt die religiöse Originalität der Konzeption, welche das Bha- 
gavadgita wiedergibt. Uns ist das Minimisieren der Verflech- 
tung in die Welt, das religiöse »Incognito« des Mystikers bereits 
begegnet, welches die Folge der ihm eigenen Art von Heilsbesitz 
ist. Der alte Christ hat seine Güter und Frauen, »als hätte er sie 
nicht«. Im Bhagavadgita nimmt dies die besondere Färbung an: 
daß sich der wissende Mensch gerade im Handeln, richtiger: gegen 
sein eigenes Handeln in der Welt, bewährt, indem er das Ge- 
botene — das ist immer: das durch die Kastenpflichten Gebotene 
— zwar vollzieht, aber innerlich gänzlich unbeteiligt daran bleibt: . 
‚ handelt, als handelte er nicht. Das ist beim Handeln vor allem 
“dadurch bedingt, daß man es ohne alles und jedes Schielen nach 
dem Erfolge, ohne Begierde nach seinen Früchten, vollzieht. Denn 
diese Begierde würde ja Verstrickung in die Welt und also Ent- 
stehung von Karman bewirken. Wie der alte Christ »recht tut 
und den Erfolg Gott anheimstellt«, so tut der Bhagavata-Ver- 
ehrer das »notwendige Werk«, °?!) — wir würden sagen: sdie For- 
~ $) XIII, 23: Wer den Geist und die Materie kennt, der wird nicht wieder- 


geboren, wie auchimmer er gelebt habe. 


20) II, 31 ff. 

91) Gemeint ist mit diesem Ausdruck Krischnas, wie XVIII, 48 zeigt, die 
vangeborene«, also die durch Kasten-Dharma zugewiesene Obliegenheit, welche 
mit der vom göttlichen Schicksal bestimmten identisch ist. (Vgl. III, 8. XVIII, 


7, 9 23.) 


\ 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus, 405 


derung des Tages« —, die »von der Natur bestimmte Obliegen- ! 
heite Und zwar, — entsprechend der Exklusivität der Kasten- 
pflichten ®2), — nur- diese und keine andere °), ohne alle Beküm- 
mertheit um die Folgen und vor allem: um den Erfolg für ihn 
selbst. Den Werken kann man nicht entsagen, solange man 
einen Körper (mit Einschluß der von der Samkhya-Lehre ma- 
teriell gefaßten »geistigen« Funktionen) hat, wohl aber ihren 
Früchten 9). Auch Askese und Opfer sind nur bei innerem Ver- 
zicht auf ihre Früchte, also nur dann, wenn man sie »um ihrer 
selbst willene (wie Sir sagen würden) vollzieht, nützlich für 
die Erlösung #5). Wer beim Handeln den Hang zu den Früchten |: 
der Welt fahren läßt, »läd durch sein Handeln keine Schuld auf 
sich, weil er seine Handlung nur um des Körpers willen tut und 
zufrieden ist mit dem, was sich von selbst bietet«®). Ein sol- . 
ches Handeln bleibt Karman-frei. — Es ist verständlich, daß 
auch das Vedanta diese Lehren der Sachenach zu legitimieren in 
der Lage war. Von seinem Standpunkt aus ist das Handeln in 
der Welt des scheinbar Wirklichen ein Weben an den Trugge- 
weben des Maya-Schleiers, hinter welchem sich das göttliche 
All-Eine verbirgt. Wer den Schleier gelüftet hat undsich mit dem 
All-Einen eins weiß, der kann an diesem illusionären Handeln ` 
ohne allen Schaden an seinem Heil weiter illusionär teilnehmen; 
das Wissen macht ihn dagegen gefeit, dadurch in Karman ver- 
strickt zu werden und die Ritualpflichten ergeben die Regeln, 
durch deren Innehaltung man sich gegen die Gefahr gottwidrigen 
Handelns schützen kann. 

Wenn so diese Weltindifferenz gerade des innerweltlichen 
Handelns in gewissem Sinn die Krönung der klassischen indischen 
Intellektuellenethik bietet, so zeigt sich in dem Gedichte selbst 
der Kampf, unter welchem sie allmählich ihre endgültige Gestalt 
annahm. Zunächst gegen das altritualistische Brahmanentum: 


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#) Die Kastenpflichten bestehen in vollem Umfange. Kastenmischung z. B. 
führt (nach I, 41) zur Hölle, und zwar auch für alle Ahnen, da kein ebenbürtiger, 
also zur Verrichtung des Totenopfers qualifizierter, Nachkomme da ist. 

°) XVIII, 47 steht eine jener klassischen, schon früher angezogenen Stellen: 
èBesser ist selbst die mangelhafte Erfüllung der eigenen Pflicht, als die rechte 
Ausübung der Pflicht eines anderen. Wer die ihm von der Natur bestimmte Ob- 
liegenheit erfüllt, gerät nicht in Verschuldung.e Der zweite Satz ist die bhaga- 
vatistische Wendung jenes ethischen Grunddogmas des Hinduismus. 

») XVIII, ir. 

») XVIII, 5,6. Andernfalls wirken sie Karman. 

*) IV, 20, 21. 


406 Max Weber, 


Die Veda-Lehre ist getragen von Begierde nach Glück, sie betrifft 
die Gunas, die materielle Welt, nach deren Früchten sie strebt 9), 
Weiterhin aber blieb Problem die relative Bedeutung des der Heils- 
lehre entsprechenden, das heißt vom Erfolg absehenden und deshalb 
Karman-freien Handelns in der Welt gegenüber dem klassischen 
Erlösungsmittel der Kontemplation: die Stellung der innerwelt- 
lichen zur weltflüchtigen Mystik alsa, Ausübung der. Werke 
sei vorzüglicher a als das Aufgeben der Werke, heißt es ein- 
mal ®). Und die Herkunft der Bhagavata-Religiosität aus der 
Kschatriya-Ethik macht es wahrscheinlich, daß diese Rangord- 
nung die ältere ist gegenüber dem definitiven Standpunkt, der 
gelegentlich umgekehrt die Meditation als Angelegenheit der durch 
das entsprechende Charisma bevorzugten Heiligen höher stellt, 
im allgemeinen aber beide Heilswege: das jnanayoga (richtiges 
Erkennen) und das karmayoya (richtiges Handeln), jedes als 
dem betreffenden Kasten-Dharma entsprechend, einander gleich- 
ordnet. Auch in der vornehmen Laienbildung war eben die Stel- 
lung der methodischen Kontemplation als des klassischen Wegs 
zur Gnosis nicht mehr zu erschüttern. Und die Herkunft aus der 
vornehmen Intellektuellenschicht verleugnet sich nirgends. So 
in der absoluten Ablehnung der orgiastischen Ekstase und aller 
aktiven Askese. Die sinnlose Askese, voll Begier, Leidenschaft 
und Trotz, ist dem Bhagavadgita dämonischen Charakters °?) 
und führt ins Verderben. Dagegen ist die intime Beziehung der 
Bhagavata-Frömmigkeit zum klassischen Yoga ganz offensicht- 
lich, auch dem Samkhya-Dualismus von erkennendem Geist 
und erkanntem Bewußtseinsinhalt durchaus entsprechend und 
an zahlreichen Stellen des Gedichts bezeugt. Der Yogin ist mehr 
als ein Asket und — charakteristisch für die ursprüngliche Stel- 
lung zur klassischen brahmanischen Heilslehre — auch mehr 
als ein Erkennender 10%). Die Yoga-Technik der Atem- und 
Vorstellungs-Regulierung wird gepriesen 191). Allgemein hin- 
duistischen Grundsätzen entsprechen die Gebote der Welt- 
indifferenz: der Ablegung von Begierde, Zorn und Habsucht als 
von den drei Toren zur Hölle 1%), die innere Befreiung von der 

#7) II, 42. 

28) V, 2. 

»») XVII, 5. Vgl. VI, 16, 17. 

100) VI, 46. 


10t) V, 27,28. 
102) XVI, 21. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus, 407 


Zuneigung zu Haus, Gattin und Kindern 1%), die absolute Ata- 
raxie 1%) als sicheres Merkmal des Erlösten. Im Gegensatz 
mindestens zu den klassischen Grundsätzen des Yoga und auch 
unvedantistisch, vielmehr eine schroffe Samkhya-Formel ist 
der Satz, daß, wer Geist und Materie kenne, nicht wieder geboren 
werde, swie immer er auch gelebt habe«!%). Diese anomistische 
Konsequenz, welche wir als letzte Folge der Stellung des Er- 
lösten (jivanmukti) im klassischen Hinduismus schon kennen, 
wurde nun aber in der Bhagavata-Religiosität zu einem Motiv 


in Beziehung gesetzt, welches uns bisher noch nicht begegnet | 


ist und auch tatsächlich in der klassischen Lehre einen Fremd- 
körper bildet. 

»Gib alle heiligen Werke auf und nimm bei mir allein deine 
Zuflucht« sagt Krischna gelegentlich 1%). Selbst ein Bösewicht, 
der ihn, Krischna, richtig liebt, wird selig 10). Das Sterben mit 
der Silbe »Om«s und in Gedanken an Krischna gibt Sicherheit 
gegen jenseitiges Verderben 1%). Endlich und namentlich: jene 


wear 


- Lehre, daß das innerweltliche Handeln dann nicht heilschädlich, ; 
ja positiv heilwirkend sei, wenn es vollzogen werde mit absoluter ' 
Weltindifferenz, also mit Bewährung des mystischen Gnaden- _ 
standes des geistigen Ich gerade auch gegenüber dem (schein- ` 
bar) eigenen, durch Verflechtung in die materielle Welt bedingten : 


äußeren und inneren Tun und Sichverhalten, — diese mit den | 


allgemeinen Voraussetzungen der althinduistischen Erlösungs- 
lehre leicht vereinbare Lehre findet sich positiv dahin gewendet: 
das Handeln in der Welt ist dann und nur dann heilfördernd, wenn 
es ohne allen Hang am Erfolg und den Früchten ausschließlich 
auf Krischna bezogen wird, nur um seinetwillen und nur in Ge- 
danken an ihn geschieht. Es ist ein Typus der Glaubens- 


Religiosität, der da vor uns auftaucht. Denn »Glauben« im typi- 


schen religiösem Sinn ist nicht ein Fürwahrhalten von Tatsachen 


und Lehren: — dieses Fürwahrhalten von Dogmen kann nur 
Frucht und Symptom des eigentlich religiösen Sinns sein —, son- 
dern die religiöse Hingabe, der unbedingte vertrauensvolle Ge- 
horsam an und die Beziehung des ganzen Lebens auf einen Gott 

103) XIII, 9. 

104) XIV, 22. 

206) XIII, 23. 

106) XVIII, 66. 


10) IX, 30. 
108) XIII, 13. 


408 Max Weber, 


oder Heiland. Als ein solcher Heiland zeigt sich hier Krischna. 
Er übt durch Erlösung derer, welche zu ihm allein ihre Zuflucht 
nehmen, »Gnade« (prasada). Das ist ein Begriff, der dem alt- 
klassischen Hinduismus, bis auf vielleicht schwache Spuren 
in einigen Upanischads, fehlt, schon weil er den überweltlichen 
persönlichen Gott voraussetzt und, im Grunde, auch eine 
Durchbrechung der Karman-Kausalität oder doch mindestens 
des alten Grundsatzes: daß die Seele ihres eigenen Schicksal 
alleiniger Schmied ist, bedeutet. Nicht der Gedanke der Gnaden- 
spendung an sich ist der hinduistischen Religiosität ursprüng- 
lich fremd: der hagiolatrisch angebetete Magier spendete ja 
Gnaden Kraft seines Charisma und die Gnade des überweltlichen 
persönlichen Gottes oder vergötterten Heros lag mithin als die 
Transponierung vom Menschlichen ins Göttlicheansich nahe. Wohl 
aber ist der Gedanke, daß die Erlösung aus der Welt auf diesem 
Wege zu erlangen sei, eine neue Erscheinung. Dennoch scheint 
es nicht wohl möglich, die Entstehung dieser Heilands- und 
Glaubensreligiosität der späteren Zeit, nach Buddha, zuzu- - 
schreiben, in welcher sie freilich, wie sich zeigen wird, üppig 
emporwucherte. Die erste inschriftliche Erwähnung der Bha- 
gavat-Religion scheint 1°) sich allerdings erst im 2. vorchrist- 
lichen Jahrhundert zu finden 4%). Das Bhagavadgita ist aber 
bei näherem Zusehen so einheitlich durchtränkt von diesem Glau- 
ben und offenbar nur durch die Ueberzeugung von der Bedeut- 
samkeit gerade dieses Elements schon in seiner ersten Entstehung 
verständlich, es gibt sich ferner so sehr als eine esoterische Lehre 
einer religiösen Virtuosengemeinschaft hoher intellektueller Kultur, 
daß doch wohl angenommen werden muß: gerade dieses Moment 
sei der Bhagavata-Religiosität von Anfang an eigentümlich ge- 
wesen. Nun ist ja die Unpersönlichkeit des Göttlichen zwar 
die eigentlich klassische, aber vermutlich selbst in den Intellek- 


109) Nach Bhandakar, Ind. Ant. 41 (1912), S. 13. S. jetzt auch denselben in 
Bühlers Grundriß Vaishnavism Saivism and minor religious, 1913. 

110) Es ist da von dem Kult des Bhagavat Samkarshana auch Vasudeva (der 
typische Name tür den Krischna-Gott) die Rede. Kurz nachher findet sich, daß 
ein Grieche, Heliodor, in Taxila sich einen Bhagavata nennt (J. R. A. S. 1909, 
S. 1087 ff.). Die drei indischen Kardinaltugenden: dama (Selbstzucht), tyaya 
(Freigebigkeit), apranada (Bescheidenheit) werden von dem halbgriechischen 
Konvertiten auf einer Ehreninschrift für Vasudeva angenommen. (Z. D. M. G. 
63, S 587.) — Vorderasiatisch-iranische Einflüsse wären auch bei weit früherer 
Entstehung der Religiosität nicht ausgeschlossen, aber ihre Annahme ist nicht 
nötig. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 409 


tuellenschichten, selbst den brahmanischen, niemals ganz konse- 
quent alleinherrschende gewesen. Am wenigsten wohl in den 
Laienkreisen und besonders in dem in der Entstehungszeit des 
Buddhismus schon stark entwickelten vornehmen, aber unmili- 
tärischen Stadtbürgertum. Das Mahabharata als Ganzes ist 
eben in seinen alten Bestandteilen eine eigentümliche Mischung 
von Zügen alter stolzer humanistisch intellektualisierter Ritter- 
ethik: — »dies heilige Geheimnis verkünde ich euch: nichts ist 
edler als Menschentum«, sagt das Epos 11), — mit dem bürger- 
lichen Anlehnungsbedürfnis an die Gnade eines die Menschen- 
geschicke nach seinem Willen lenkenden Gottes und mit  priester- 
Jlich-mystischer Weltindifferenz. ‚In der unzweifelhaft der ratio- 
nalen Intellektuellenreligiosität angehörigen, in ihrer konsequenten 
Form satheistischen« Samhkya-Lehre scheint gelegentlich Vischnu 
als persönlicher Gott eine etwas unklare Rolle zu spielen. Das 
Yoga hielt stets, aus uns bekannten Gründen, am persönlichen 
Gott fest. Von den großen persönlichen Gottheiten des späteren 
Hinduismus ist jedenfalls außer Vischnu auch Civa keine Neu- 
schöpfung. Er war nur von dem altvedischen Brahmanentum 
literarisch, wegen des orgiastischen Charakters der alten Civa- 
Kulte, totgeschwiegen. Während später und bis heute gerade die 
orthodoxesten vornehmen brahmanischen Sekten givaitisch waren 
und sind, — nur eben unter Ausmerzung der orgiastischen Ele- 
mente aus dem Kult. Daß man zu einem Heiland als zu einer 
Inkarnation des Göttlichen »seine Zuflucht nimmt«, war ein 
Begriff, der wenigstens der heterodoxen Intellektuellen-Soterio- 
logie, vor allem der buddhistischen, von Anfang an geläufig 
und schwerlich von ihr zuerst erfunden war. Schon weil, wie ge- 
sagt, die Stellung des magischen Guru von jeher gerade diesen 
unbedingt autoritären persönlichen Charakter trug. Was der 
alten klassischen Bhagavata-Religiosität zunächst noch fehlte 
oder jedenfalls — wenn es in ihr schon existierte — von der vor- 
nehmen Literatenschicht nicht rezipiert wurde, war die brünstige 
Heilandsminne der späteren Krischna-Religiosität. Aehnlich 
wie etwa die lutherische Orthodoxie die psyıhologisch gleich- 
artige pietistische Christus-Liebe (Zinzendorf) als unklassische 
Neuerung ablehnte. 

Ihren Charakter als einer Intellektuellen-Religiosität be- 





u1) Hopkins hat diese Stelle zum Motto seines hier oft zitierten Werkes 
(Rel. of India) gewählt. 
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 2. 27 


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er 


410 Max Weber, 


währte die Bhagavata-Religiosität auch darin, daß sie die Gnosis 
und also den Heilsaristokratismus des Wissens zunächst unbe- 
dingt beibehielt. Nur der Wissende hat das Heil. Ja sie führte 
diese Konzeption erst in ihre letzten Konsequenzen durch, in- 
dem sie die Heilswege »organisch-ständisch« relativierte. Alle 
aufrichtig und mit ganzem Herzen beschrittenen Heilswege 
führen auch zum Ziel. Zu demjenigen nämlich, welches der Heils- 
sucher erstrebt. Die Unwisenden, »die am Werke hängen«, das 
heißt: die von dem Streben nach den Früchten des Handelns 
nicht loskommen: zur Weltindifferenz nicht gelangen, soll man 
dabei lassen. Der Weise zwar handelt in weltindifferenter Er- 
hebung (Yoga), aber er heißt die Weıke jener Unwissenden 
sgut« 112), Ganz ebenso wie der chinesische Mystiker die Masse 
bei ihren materiellen Genüssen beläßt und selbst nach dem Tao 
strebt. Und aus den gleichen Gründen: infolge der jedem reli- 
giösen Virtuosen selbstverständlichen Einsicht in die Unter- 
schiede der charismatischen Qualifikation. Die Veda-Kenner, 
die Soma trinken (die ritualistischen Brahmanen) kommen in 
den Himmel Indras 113) mit seinen zeiilich endlichen Freuden. 
Krischna zu erschauen ist freilich weder durch vedisches Wissen, 
noch durch asketische Bußübung möglich. Und direkt, durch das 
Streben der Vereinigung mit dem Brahman, zu Krischna zu ge- 


: langen — wie die Vedantisten wollen — ist sehr schwer 114). 


Die Erlangung jenes endlichen Heils, welches den aufrichti- 
gen Verehrern der Götter winkt, hat Krischna denen ver- 
liehen, welche, verlockt durch Begierde, — das heißt : durch Haften 
an der Schönheit der Welt — nicht imstande sind, ihm selbst 
so zu nahen 15). | 

Das Entscheidende für die Erlösung selbst ist die »Bestän- 


 digkeit« im Gnadenstande. »Unwandelbar« (aviyabhicärin) zu 


sein, die certitudo salutis zu haben, ist das, worauf alles ankommt: 
dann wird man auch in der Todesstunde Krischnas geden- 
ken und zu ihm kommen. Und diese Gnade verleiht er denen, 
welche richtig, d.h. nach dem Dharma, handeln ohne Rück- 
sicht auf den Erfolg und ohne persönliches Interesse an ihrem 
Tun. Man darf, occidental ausgedrückt, dem eigenen Handeln 
gegenüber nur die Fichtesche »kalte Billigung« seiner Richtig- 


112) III, 26. 
113) IX, 30. 
11a) XII, 3. 
116) VII, 21,23; 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 411 


keit, am Dharma gemessen, haben. Dann ist man wahrhaft welt- 
indifferent, also weltentronnen und dadurch karmanfrei. Be 

Das jedem Occidentalen Auffallende an dern Heiland Krischna 
und das, was ihm von den späteren, durchweg von der Sekten- 
theologie als sündlos hingestellten Heilanden scheidet, ist seine 
ganz unbezweifelbare und auch unbezweifelte Untugendhaftigkeit. 

Die allerärgsten und unritterlichsten Verstöße gegen Treu und 
Glauben gibt er im Mahabharata seinem Schützling ein. Darin 
zeigt sich wohl zunächst das relativ hohe Alter und die episch- 
heroische, nicht astrale (sonnengöttliche) Herkunft dieser Figur, 
deren vom alten Heldenepos geprägte Züge nun einmal nicht 
fortretouchiert werden konnten. Die Heilslehre fand sich mit der ! 
Tatsache dadurch ab, daß sie einerseits die Worte, nicht die | 
Taten, für das allein Wesentliche erklärte, andererseits die Welt- 
indifferenz auch darauf bezog: das nun einmal vom Schicksal | 
(in der orthodoxen Vorstellung: letztlich durch Karman) uner- 
forschlich Bestimmte geschieht und es gilt, wenigstens für einen | 
Gott, gleich, auf welchem Wege. 

Offensichtlich ist die innerweltliche Ethik des Bhagavadgita 
sorganisch« in einem wohl kaum noch zu überbietenden Sinn: die 
indische »Toleranz« ruht auf dieser absoluten Relativierung aller bs >“ 
ethischen und soteriologischen Gebote. Sie sind organisch re- 
lativiert nicht nur nach der Kastenzugehörigkeit, sondern auch 
nach dem Heilsziel, welches der Einzelne erstrebt. Und es han- 
delt sich nicht nur um negative Toleranz, sondern: I. um posi- 
tive — nur: relative und abgestufte — Schätzung der entgegen- 
gesetztesten Maximen des Handelns, 2. um Anerkennung der 
ethischen Eigengesetzlichkeit, des gleichmäßigen Eigenwerts der 
einzelnen Lebensgebiete, welcher daraus folgen mußte, daß sie alle 
gleichmäßig entwertet waren, sobald es sich um die letzten 
Probleme der Erlösung handelet. Daß diese Universalität des 
organischen Relativismus nichts nur, Theoretisches, sondern tief 
das Gefühlsleben eingedrungen waren, lehren die Dokumente, 
welche der Hinduismus aus der Zeit seiner Herrschaft hinter- 
lassen hat. In der sogen. Kanawsa-Vers-Inschrift des Brahmanen 
Sivagana 116) beispielsweise schenkt dieser zwei Dörfer zum 
Unterhalt einer von ihm gebauten Eremitage. Er hat durch 
seine Gebetskraft seinem König geholfen, ungezählter Feinde 
Herr zu werden und sie abzuschlachten: die Erde dampft in 


116) Ind. Art. XIX, 1890, S. 61 (aus dem 8. Jahrh. nach Chr.). 


27* 


412 Max Weber, 


diesen Versen, wie üblich, von Blut. Dann aber »baute er frommen 
Sinnes dieses Haus, auf welches seine Augen wendend ein Jeder 
in der Welt von dem Makel des Kali-Zeitalters befreit wirde. 
Er tat dies, weil er fand, daß das Leben belastet ist mit jeglicher 
Art von Leid, mit Alter, Trennung und Tod, und daß diese Art 
der Verwendung der einzige gute, allen Guten in der Welt be- 
kannte Gebrauch des Reichtums sei. »Er baute es«, heißt es 
in den folgenden Versen weiter, »in der Jahreszeit, in welcher der 
Wind den Duft der Acoka-Blüten trägt und die Mango-Schöß- 
linge sprießen. Schwärme schwankender Bienen erfüllen alles 
rundum und mehr als sonst erzählt das Blitzen aus den Augen- 
winkeln schöner Frauen von ihrer Liebe. Das Zeichen, das Liebe 
auf ihren runden Busen prägte, enthüllt sich und ihr Leib sprengt 
das Mieder, wenn sie, verwirrt, auf Schaukeln sitzen Angesicht 
in Angesicht mit ihrem Geliebten. Lächelnd schlagen sie hastig 
ihre halbgeschlossenen Augen nieder und nur das Zucken ihrer 
Brauen verrät die Freude, die in ihrem Herzen lebt. Die Frauen 
der Wallfahrer aber sehen das Land leuchten von Mango-Bäumen 
und hören es tönen vom Summen trunkener Bienen. Und ihnen 
kommen die Tränen.« Es folgt die Aufzählung der Abgaben für 
Weihrauch und andere Bedürfnisse der Eremitage und ihre 
Deckung. Man sieht, hie kommt alles, was das Leben enthält, 
zu seinem Recht. Die wilde Kriegswut des Helden, dann die 
Sehnsucht nach Erlösung vom immer neuen Trennungsschmerz, 
aus dem das Leben sich zusammensetzt, die Stätte der Einsam- 
keit für die Meditation und wieder die strahlende Schönheit 
des Frühlings und das Glück der Liebe, dies alles schließlich hinein- 
getaucht in die resignationsgetränkte wehmütige Traumstim- 
raung, welche der Gedanke des Maya-Schleiers erzeugen mußte, 
in den ja schließlich alles: diese unwirkliche und vergängliche 
Schönheit ebenso wie das Grausen des Kampfes der Menschen 
untereinander, verwoben war. Diese hier in einem offiziellen 
monumentalen Dokument 1") niedergelegte Stellung zur Welt 
durchzieht letztlich auch die charakteristischen Teile der indi- 
schen Literatur. Realität und Magie, Handlung, Räsonnement 
117) Die Inschrift steht damit keineswegs allein. Auch in einer Stiftungs- 
urkunde (Ep. Ind. I, S. 269 f.), durch welche die Kaufleute und Händler einer 
Stadt ein Kloster stiften für einen Civa-Asketen, derssuchend das höchste Licht 
des Gottes, frei von der Finsternis der Leidenschaft, nie demGift sinnlicher Freude 


unterworfen wars, wird als Vergleich (v. 69—70) das Bild junger schöner Frauen 
verwendet, welche beim Baden von Liebe zu einem Prinzen ergriffen werden. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 413 


und Stimmung, geträumte Gnosis und scharf bewußtes Fühlen 
gehen miteinander und ineinander, weil alle letztlich gleich un- 
wirklich und unwesenhaft bleiben gegenüber dem allein realen 
göttlichen Wesen. — 


Mit diesem auf religiöser Weltentwertung gegründeten Uni- ` 


versalismus und organischen Relativismus der »Weltbejahange 
befinden wir uns auf dem eigentlichen Boden der klassischen 
indischen Literatenanschauung, wie sie die Intellektuellenschicht 
der alten Adels- und Kleinfürsten-Epoche geschaffen hatte. Neben 


ihr aber gab es zweierlei andere Formen des Religiösen. Zunächst, 


und zwar von jeher, jene massive volkstümliche Orgiastik, wel- 
cher die Intellektuellen die Tür verschlossen hatten und die sie 
als ein Pudendum verabscheuten und verachteten oder die sie 
ignorierten, wie sie es nach Möglichkeit noch bis in die Gegen- 
wart hinein taten. Alkoholische, sexuelle und Fleischorgien, 
magischer Geisterzwang und persönliche Götter, lebende und 
apotheosierte Heilande und brünstige kultische Minne zu per- 
sönlichen Nothelfern, welche als Fleischwerdung großer er- 
barmender Götter galten, waren hier zu Hause. Wir sahen, daß 
die Bhagavata-Religion, obwohl in ihrer Struktur noch inner- 
halb der vornehmen Schicht heimisch, doch schon weitgehende 
Konzessionen an den Heilandsglauben der Laien und ihr Bedürf- 
nis nach Gnade und Nothilfe enthielt und werden später sehen, 
wie unter stark veränderten Machtverhältnissen die herrschende 
Intellektuellenschicht sich genötigt fand, jene viel weitergehenden 
Kompromisse mit diesen plebejischen Formen der Frömmigkeit 


zu schließen, welche die Quelle der spezifisch unklassischen E 


hinduistischen Sekten und namentlich der vorherrschenden Visch- 


nu- und Civa-Religiosität des Mittelalters und der Neuzeit waren. į 


Vorher aber haben wir uns noch zwei religiösen Erscheinungen 
zuzuwenden, welche in allem Wesentlichem auf dem Boden der 
alten Intellektuellenschicht gewachsen waren, aber von dem Brah- 
manentum als nicht nur unklassisch, sondern als ärgste und 
verwerflichste Ketzereien bekämpft, verflucht und gehaßt wur- 
den: einem Tiger zu begegnen, hieß es, sei besser als diesen 
Ketzern, weil er nur den Leib, sie aber die Seele verderben. Die 
beiden Glaubensformen sind rein geschichtlich deshalb wichtig, 
weil es ihnen während mehrerer Jahrhunderte gelang, — dem 
Buddhismus zeitweise in ganz Indien, dem Jainismus in beträcht- 
lichen Teilen Indiens, als herrschende Konfessionen anerkannt zu 


P~ 


414 Max Weber, 


werden. Dies war nur vorübergehend. Aber die eine von ihnen: 
der Buddhismus, entwickelte sich, wenn er auch in Indien — 
wenigstens in Vorderindien — wieder völlig verschwand, zu einer 
Weltreligion, deren teilweise die Kultur umwälzender Einfluß 
von Ceylon und Hinterindien über Tibet bis nach Sibirien 
reichte und China, Korea und Japan einschloß. Die andere: 
der Jainismus, blieb im wesentlichen auf das klassische Indien 
beschränkt und schrumpfte zu einer heute ziffernmäßig kleinen 
Sekte ein, welche jetzt von den Hindus als zu ihrer Gemein- 
schaft gehörig reklamiert wird. Sie bietet immerhin aber gerade 
in unseren Zusammenhängen ein gewisses Interesse dadurch, 
daß sie eine ganz spezifische Kaufmannssekte ist, so exklusiv 
und noch exklusiver als die Juden es im Occident waren. Hier 
also scheinen wir auf eine dem Hinduismus sonst offensichtlich 
gänzlich fremde positive Beziehung einer Konfessiom zum öko- 
nomischen Rationalismus zu stoßen. Der Jainismus 18) ist von 
den beiden Konfessionen, welche in schärfster Konkurrenz mit- 
einander standen und beide in der klassischen Kschatriya-Zeit 
im 7. und 6. vorchristlichen Jahrhundert entstanden, die ältere 
und ausschließlicher indische und wir wenden uns auch aus sach- 
lichen Zweckmäßigkeitsgründen der Darstellung ihm zuerst zu. 

Wie zahlreiche andere Heilslehrer der klassischen Zeit, so 
entstammte nach der Ueberlieferung auch der Stifter der Jaina- 
Askese, Inatriputra (Nataputta), genannt Mahavjra (gestorben 
um 600 vor Chr.), dem Kschatriya-Adel. Die ursprüngliche Her- 
kunft der Sekte aus dem alten vornehmen Intellektuellentum 
drückt sich noch in der Versicherung der rezipierten Biographie 19) 
aus: daß Arhats (Heilige) stets aus königlichem Geschlecht reiner 
Abkunft und niemals aus niederen Familien stammten. Auch 
nicht, wird hinzugesetzt, aus Brahmanenfamilien 130). Darin 
drückt sich der von Anfang an schroffe Gegensatz des aus Laien- 
kreisen stammenden Sramana gegen die vedisch-brahmanische 





— 


118) Aus der neuerdings ziemlich reichen Literatur ist recht schätzenswert: 
Mrs. Sinclair Stevenson, The Heartof Jainism. Diemonumentalen Haupt- 
quellen bietet Gue6rinots »Epigraphia Jaina« (Publications de l’Ecole frangaise 
de !’Extr&me Orient X, 1908). Einige der wichtigsten Sutras liegen in den Sacred 
Books of the East (Gaina Sutras, von Jacobi) übersetzt vor. Andere Literatur 
ist an gegebener Stelle zitiert. 

119) Im Kalpa Sutra, übersetzt in den Sacred Books of the East p. 17 ff. 

120) Nach dem Kalpa Sutra (S. 22) wurde Mahaviras Embryo deshalb 
durch ein Wunder aus dem Leibe seiner brahmanischen Mutter in den einer 
Kschatriya-Mutter überführt. 





Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 415 


Bildung aus. Die Ritualgebote und Lehren der Veden ebenso 


wie die heilige Sprache werden schroff abgelehnt. Denn sie | 


sind von nicht der geringsten Bedeutung für das Heil, welches 
vielmehr allein von der Askese des Einzelnen abhängt. In den 


allgemeinen Voraussetzungen: daß die Erlösung in der Befreiung. 


vom Rade der Wiedergeburten bestehe und daß sie nur durch 
Loslösung von dieser Welt der Vergänglichkeit, des innerwelt- 
lichen Handelns und des am Handeln haftenden Karman zu er- 
langen sei, stand die Lehre völlig auf klassischem Boden. Sie 
akzeptierte — im Gegensatz zum Buddhismus — im wesent- 
lichen die klassische Atman-Lehre !2!), ließ aber, ebenso wie die 
alte Samkhya-Doktrin, das Brahman, die göttliche Weltseele, 
ganz beiseite. Heterodox war sie vor allem wegen der Ablehnung 
der Veda-Bildung und des Rituals sowie des Brahmanentums. 
Denn der absolute Atheismus der Lehre, die Verwerfung jeder 
höchsten Gottheit und des gesamten hinduistischen Pantheon!?2), 
wäre kein unbedingt zwingender Grund dafür gewesen, da auch 
die sonstige alte Intellektuellen-Philosophie, vor allem die 
Samkhya-Lehre dem, wie wir sahen, zuneigte. Freilich verwarf 
der Jainismus auch alle orthodoxe Philosophie, die Vedanta- 
nicht nur, sondern auch die Samkhya-Doktrin. Dennoch stand 
er der letzteren nahe in gewissen metaphysischen Vorausset- 
zungen. So namentlich in der Ueberzeugung vom Wesen der Seele. 
Alle Seelen — dasheißt dieeigentlichen, letzten Ich-Substanzen — 
sind nach ihm dem Wesen nach einander gleich und ewig. Sie 
und nur sie, nicht eine absolute, göttliche Seele, sind »jivas, 
Träger des Lebens. Und zwar sind sie (im scharfen Unterschied 
gegen die buddhistische Lehre) eine Art von Seelen-Monaden, 


die unendlicher Weisheit (Gncsis) fähig sind. Die »Seele« ist nicht ` 


ein bloß passiv empfangender Geist, wie bei der orthodoxen 
Bhagavata-Religion, sondern, dem weit stärker ausgeprägten 
Zusammenhang mit der alten aktiven Selbstvergottungs-As- 
kese entsprechend, ein aktives Lebensprinzip, dem als Gegen- 
satz (ajiva) die Trägheit der Materie gegenübersteht. Der Leib 
als solcher ist das Uebel. Der Zusammenhang mit der Kastei- 
ungs-Magie blieb beim Jainismus, innerhalb der durch seine 

m) Die Existenz der Seele wurde scholastisch-ontologisch mittelst des 
Saptabhangi Nyaya; der Theorie, daß jede Behauptung siebenfach verschieden 
gemeint sein könne, bewiesen. 


. 31) Der spätere Jainismus hat zahlreiche einzelne Gottheiten des orthodoxen 
Hinduismus — u. a. die Kindergottheit (Ep. Ind. II, S. 315 /6) — übernommen, 


— 


416 Max Weber, 


intellektualistische, also antiorgiastische Herkunft gegebenen 
qualitativen Schranken, enger als bei irgend einer anderen Er- 
. lösungsreligion Indiens. Dies drückt sich schon darin aus, daß 
' der Jainismus anstatt der gänzlich entthronten Götterwelt die 
großen Virtuosen der Askese, der Stufenfolge nach: den Arhat, 
Jina, und als höchsten: den Tirthankara, bei Lebzeiten als Magier 
und nach dem Tode als exemplarische Nothelfer göttlich ver- 
ehrte 122), Von insgesamt 24 Tirthankaras war nach der Legende 
Parsvanatha (angeblich im 9. vorchristlichen Jahrhundert) der 
vorletzte, Mahavira aber der letzte. Das sprophetische Zeit- 
alter« ist mit ihnen geschlossen. Nach ihnen hat niemand mehr 
die Stufe der Allwissenheit und auch nicht mehr die vorletzte 
Stufe (manahparyaya) erreicht. Denn wie die Qualität der 
brahmanischen Gnosis sich in Stufen steigert, so stuft sich das 
jainistische Charisma nach dem Kalpa Sutra !24) ständisch sieben- 
fach ab je nach den Stufen des Wissens: von der Kenntnis der 
Schriften und heiligen Traditionen zur Stufe der Erleuchtung 
über die Dinge dieser Welt (Avadhi): der ersten übernatürlichen 
Wissensstufe, sodann zur Fähigkeit des Schauens (Hellsehens), 
dann zum Besitz magischer Kräfte und der Fähigkeit der Selbst- 
verwandlung, dann (5. Stufe) zur Kenntnis der Gedanken aller 
Lebenwesen (manahparyaya: der zweiten übernatürlichen Wissens- 
stufe), weiterzurabsoluten Vollkommenheit, Allwissenheit (kevala, 
höchste übernatürliche Wissensstufe) und Freiheit von allen 
Leiden (6. Stufe) und damit endlich (7. Stufe) zur Gewißheit der 
sletzten Geburt«. Von der Seele des vollkommen Erlösten sagt 
daher das Acharanga Sutra 12°), daß sie, qualitätlos, körperlos, 
tonlos, farblos, geschmacklos, gefühllos, ohne Auferstehung, ohne 
Kontakt mit der Materie, wissend und wahrnehmend »ohne 
Analogie« (also: bildlos und unmittelbar), ein sunbedingtes« Da- 
sein führen werde. Wer im Leben die rechte intuitive Erkennt- 
nis erlangt hat, sündigt nicht mehr. Er sieht, wie Mahavira, alle 
Götter zu seinen Füßen, ist allwissend. Mahaviras (irdischer) 


123) Diese Exklusivität der Heroolatrie wurde von den Vertretern der Ortho- 
doxie noch in der Spätzeit, welche doch die Inkarnationen orthodoxer Götter 
kannte, als spezifisch unklassisch und barbarisch empfunden. »Wie kann der 
Arhat, der nur zufällig zur Erde kam und durch Tugend Glück erhielt, mit Civa 
verglichen werden ?«e läßt eine Inschrift (Ep. Ind. V, S. 255 aus dem 12./I3. 
Jahrhundert) ein gefeiertes Schulhaupt des xr. Jahrhunderts im Religions 
gespräch gegen die Jaina ausrufen. 

124) A. a. O. S. 138 ff. 

135) I, 5, 6. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 417 


End-Zustand, in den der vollendete Asket eingeht, wird auch 12%) 
sNirvanas (in diesem Fall = dem späteren jivanmukti) genannt. 
Dieser Zustand des jainistischen Nirvana bedeutet aber — wie 
Hopkins zutreffend bemerkt hat — im Gegensatz zum buddhisti- 
schen nicht Erlösung von der »Existenz« überhaupt, sondern: 
sErlösung vom Leibee, der Quelle aller Sünden und Begierden 
und aller Begrenztheit der geistigen Kräfte. Man sieht sofort 
klar die geschichtliche Beziehung zur wunderkräftigen Magie. 
Daher ist zwar das Wissen auch bei den Jaina das höchste — in 
Wahrheit: das magische — Mittel der Erlösung, wie bei allen 
klassischen Soteriologien. Der Weg aber, es zu erlangen, ist 
neben Studium und Meditation in höherem Grade als bei anderen 
Literatensekten und ähnlich wie bei den Magiern: die Askese. . 
Sie ist bei ihnen geradezu auf die äußerste Spitze getrieben: die 
höchste Heiligkeit erlangt, wer sich zu Tode hungert !?”), Im 
ganzen aber ist sie gegenüber der alten primitiven Magier-Askese 
im Sinne der »Weltabkehrs spiritualisiert. »Hauslosigkeit« ist 
der grundlegende Heilsbegriff. Sie bedeutet Abbruch aller Welt- 
beziehungen, also vor allem Indifferenz gegen Sinneseindrücke 
und Vermeidung alles Handelns nach weltlichen Motiven 128), 
Aufhören üherhaupt zu »handeln« 12), zu hoffen und zu wün- 
schen 130), Ein Mann, der nur noch fühlt und denkt: »Ich bin 
Iche 131) ist »hauslos« in diesem Sinn. Er sehnt sich weder nach 
dem Leben noch nach dem Tod !32), — weil beides »Begierde« 
wäre, die Karman wecken kann —, hat weder Freunde noch 
verhält er sich ablehnend zu Handlungen Anderer ihm gegenüber 
(z. B. zu der üblichen Fußwaschung, die der Fromme am Heiligen 
vollzieht 133). Er handelt nach dem Grundsatz, daß man dem 
Uebel nicht widerstehen solle 1%) und daß sich der Gnadenstand 
des Einzelnen im Leben im Ertragen von Mühsal und Schmerzen 
zu bewähren habe. Die Jaina waren daher von Anfang an nicht 


126) Acharanga Sutra II, 15. 

17) Fälle sind inschriftlich bezeugt: Ep. Ind. UI, S. 198 (12. Jahrh.): ein 
Heiliger hat sich in Gegenwart der Gemeinde zu Tode gehungert. Ep. Ind. V, 152: 
ein Prinz aus dem Gangestal, der nach großen Kriegszügen Jaina-Asket wurde 
(10. Jahrhundert) tut das Gleiche. 

128) Ach. S.,I,4, 1. 

189) I, 2,2. 

130) I, 2, 4. 

131) Ebenda I, 6, 2: Gegensatz gegen das Tat tvam asi der Upanischaden, 

132) Ebenda, I, 7, 8. 

183) Ebenda, II, 2, 13. 
14) Ebenda, II, 16. 


418 Max Weber, 


eine Gemeinschaft von einzelnen, im Alter oder temporär sich 
dem Asketenleben hingebenden Weisen. Und auch nicht einzelne 
Virtuosen lebenslänglicher Askese. Auch nicht bloß einer Viel- 
heit einzelner Schulen und Klöster. Sondern ein besonderer 
` Orden von »Berufsmönchen«. Sie haben vielleicht zuerst, jeden- 
falls aber von den älteren vornehmen Intellektuellenkonfessionen 
am erfolgreichsten, die typische zwiespältige Organisation der 
hinduistischen Sekten: die Mönchsgemeinschaft..als Kern, die 
Laien (upasaka, ‚Verehrer) als Gemeinde unter der geistlichen 
Herrschaft der Mönche, durchgeführt. Die Aufnahme des No- 
vizen in die Mönchsgemeinschaft erfolgte in der klassischen Zeit 
unter einem Baum 135) nach Ablegung aller Juwelen und Gewän- 
der als Zeichen des Verzichts auf allen Besitz durch Ausraufen 
der Haare und Beschmieren des Kopfes und endete mit der Mit- 
teilung der Mantra (magischen und soteriologischen Formel) ins 
Ohr des Novizen durch den Lehrer 138). Die Strenge der Welt- 
flucht scheint gewechselt zu haben. Nach der Ueberlieferung 
müßte sie zunächst immer weiter gesteigert worden und ent- 
weder die absolute Besitzlosigkeit oder die unbedingte Keusch- 
heit — es ist streitig, welche von beiden — erst nachträglich 
als absolutes Gebot eingeführt worden sein. Indessen da diese 
nachträgliche Einführung dem Mahavira zugeschrieben wird, 
im Gegensatz zu den milderen Geboten des verletzten Tirthan- 
kara, ist sie eben mit der Stiftung des Mönchsordens selbst iden- 
tisch. Eine dauernde Spaltung des Ordens durch Neuerungen 
entstand zuerst im ı. Jahrh. unserer Zeitrechnung, als ein Teil 
der Mönche die Forderung absoluter Unbekleidetheit mindestens 
der heiligen Lehrer durchführten, ein anderer und zwar die 
Mehrheit sie ablehnte ??). Da die Gymnosophisten in vielen 
Punkten ihres Rituals die archaistischere Praxis haben, auch 
von den hellenischen Schriftstellern erwähnt werden — sie dis- 
putierten mit den hellenischen Philosophen — und da ihr spä- 
terer Name den indischen Quellen ursprünglich allein bekannt 
gewesen, der Name »Jaina« dagegen jüngeren Ursprungs zu 
sein scheint, so handelte es sich in diesem Fall wohl um eine 
Akkommodation der Mehrheit der Mönchsgemeinschaft an die 


135) Auch ein Symptom hohen Alters des Ordens. 

186) Wie alt dieser später für alle indischen Sekten typische Brauch ist, 
dürfte schwerlich feststellbar sein. 

137) Das Schisma führte zu einer völligen Trennung auch der kanonischen 
Literatur beider Teile und zu Sonderkonzilien. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 419 


Welt im Interesse der Erleichterung der Propaganda, die denn 
auch in dem folgenden Jahrhunderten die stärksten äußeren 
Erfolge hatte. Die Gymnosophisten trennten sich mit dem An- 
spruch, daß nur sie die eigentlichen »Nirgrantha« (Fesselfreien) 
seien, als »Digambaras (in Schatten — von dem Rest, 


a 


Eine we Spaltung enaid. als das Beispiel des Islam hier, 
wie einst in Byzanz, den Kampf gegen die Idole in die Gemeinde 
trug und eine bilderfeindliche Sekte entstand. Die Swetambara- 
Sekte umfaßte naturgemäß die Masse der Jaina, die Digambara 
hat im 19. Jahrhundert die englische Polizei aus der Oeffent- 
lichkeit verscheucht. 

Die klassischen Jaina-Regeln erlegten dem Mönch, damit er 
vor jeder Verstrickung in “Persönliche oder örtliche Beziehungen 
und Attachements bewahrt werde, die Pflicht ruhelosen Wan- 
derns von Ort zu Ort auf. Eine peinliche Kasuistik regelte die 
Art seines Bettelns so, daß die völlige Freiwilligkeit des Gebens 
und die Vermeidung jeden Kaıman erzeugenden Handelns des 
Gebers (für welches dann der Mönch verantwortlich gewesen 
wäre) gesichert schien. Der Mönch soll, um alles »Handeln« zu 
meiden, tunlichst nur von dem leben, was die Natur freiwillig 
im Ueberfluß bietet oder was beim »Haushalter« (Laien) ohne 
eine darauf gerichtete Absicht überflüssig vorhanden, also inso- 
fern der Naturgabe ähnlich ist 1%). Das Gebot der wandernden 
Heimatlosigkeit trug naturgemäß dazu bei, dem Orden eine ge- 
waltige missionierende Kraft einzuflößen. Die Propaganda wurde 
überdies geradezu empfohlen 13°). — In völliger Umkehrung des 
Wandergebots für die Mönche schärft dagegen die Regel für die 
Laien die Gefährlichkeit des Reisens ein: denn dadurch geraten 
sie in Gefahr, unkontrolliert und unwissend wie sie sind, in Sün- 
den zu verfallen. Dasunsschon bekannte hinduistische Mißtrauen 
gegen den Ortswechsel, wenigstens jeden Ortswechsel ohne Be- 


1388) Massenhafte Einzelvorschriften in allen Jaina Sutras. Nicht nur alle 
gute Nahrung und Wohnung muß abgelehnt werden (Ach. Sutra I, 7, 2), sondern 
esmuß auch vermieden werden, daß der Haushalter entweder aus Uebereifer, 
(I, 81) oder umgekehrt, weil der Mönch schmutzig ist und stinkt (II, 2, 2), 
irgend etwas eigens für den Bettelmönch herrichtet: denn daran haftet Karman, 
Die Regeln für Yatise (Lehrer) schärfen daher auch besonders ein, den Laien 
nicht zu fragen, ob er dieses oder jenes Objekt habe, denn er Könnte es sich im 
Eifer auf unrechtem Wege verschaffen. 

13) Ach. Sutra I, 6, 5. 


a. vu nt manner 


420 Max Weber, 


gleitung durch kontrollierende Seelsorger, wurde dadurch bei 
den Jainas auf die Spitze getrieben, Für jegliche Reise mußte der 
Guru die Erlaubnis und die Instruktionen geben, die Reiseroute 
und höchste Reisedauer sowie das erlaubte Höchstmaß der Reise- 
ausgaben vorher genau feststellen. Diese Vorschriften sind cha- 
rakteristisch für die Stellung der Jaina-Laien überhaupt. Sie waren 
schlechthin unmündig und wurden durch Inspektionsreisen des 
Klerus und der Sittenwächter unter Kirchenzucht gehalten. 
Der neben der »rechten Erkenntnis« zweite »Edelstein« des Jaina: 
die »rechte Einsicht«, bedeutete für den Laien blinde Unterord- 
nung unter die Einsicht des Lehrers. Denn im Gegensatz zu der 
immerhin weitgehenden »organischen« Relativierung im ortho- 
doxen Hinduismus gibt es in der klassischen Jaina-Soteriologie 
nur ein absolutes Heilsziel und also nur eine Vollkommenheit, 
der gegenüber alles Andere nur Halbheit, Provisorium, Unreife 
und Minderwertigkeit ist. Das Heil wird stufenweise erreicht 
— nach der verbreitetsten Jaina-Lehre nach 8 Wiedergeburten, 
gerechnet von der Zeit an, zu welcher man auf den rechten Pfad 
gelangt ist. Auch der Laie also soll täglich eine bestimmte Zeit 
(48 Minuten) meditieren, muß bestimmte Tage (4 mal monatlich 
meist) die volle Mönchsexistenz führen und außerdem es auf sich 
nehmen, bestimmte Tage besonders streng zu leben, das Dorf 
an ihnen nicht zu verlassen und nur eine Mahlzeit zu sich zu 
fiehmen. Das Laien-Dharma konnte eben nur eine möglichste 
Annäherung an das Mönchs-Dharma bedeuten wollen. Vor al- 
lem also: der Laie soll die ihm obliegenden Pflichten durch be- 
sonderes Gelübde auf sich nehmen. Die Jaina-Konfession gewann 
dadurch den typischen Charakter einer »Sekte«, in die man be- 
sonders aufgenommen wurde. 

Die Disziplin der Mönche warstreng. Der Acharya (Superior) 
des Klosters 140), meist nach dem Alter, ursprünglich aber nach 


140) Auch alle beständig wandernden Mönche waren, offenbar seit schon 
langer Zeit, je einem Kloster zugeteilt, welches sie kontrollierte. Die Boden- 
verleihungen, ohne welche Klöster auch im Jainismus nicht existieren konnten, 
wurden hier der Form nach als widerrufliche, periodisch ausdrücklich neu zu 
bestätigende Leihe konstruiert, um die Fiktion der absoluten Freiwilligkeit 
der Gaben und der Eigentumslosigkeit aufrecht zu erhalten. (Wie die Inschriften 
ergeben, vollzogen sich die Stiftungen meist so, daß der Stifter einen Tempel 
baute und das Land für den Lehrer stiftete: Ep. Ind. X, S. 57 ausdemg. Jahrh.) 
Dem Rang nach blieb der einsam lebende Sadhu dem Klostermönch gegenüber 
höher geschätzt. Auch der Upadhaya (Lehrer) stand hinter ihm zurück. Er darf 
nur die Texte verlesen, der Acharya hatte darüber hinaus das Recht, sie authen- 
tisch zu erklären. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 421 


Charisma vom Vorgänger designiert oder von der Gemeinde 
bestimmt 1%), nahm den Mönchen die Beichte ab und erlegte 
Buße auf. Der zuständige Klostersuperior 14?) kontrollierte das 
Leben der Laien, welche zu diesem Zweck in Samghas (Diözesen) 
diese weiter in Ganas (Sprengel) und diese endlich in Gachchas 
(Gemeinden) geteilt waren. Jede Laxheit eines Acharya rächte 
sich durch magische Uebel, Verlust des Charisma und namentlich 
Machtlosigkeit gegen die Dämonen 143). 

Dem materiellen Inhalt der Gebote nach stellte die Jaina- 
Askese, — der dritte Edelstein: die »rechte Praxis«, — an die 
Spitze aller Regeln das »Ahimsas: das absolute Verbot der Tötung 
(himsa) lebender Wesen. Bei den Jaina ist das Ahimsa zuerst 
wohl unzweifelhaft aus der Ablehnung der, unkonsequenterweise, 
aus dem alten vedischen Opferritual von den Brahmanen bei- 
behaltenen Fleischopfer entstanden. Neben der scharfen Polemik 
gegen diese vedische Praxis beweist dies gerade auch die uner- 
hörte Vehemenz, mit der von ihnen dies Gebot des Nichttötens 
durchgeführt wurde. Der Jaina durfte sich selbst das Leben 
nehmen und sollte es (nach der Ansicht mancher) tun, wenn er 
entweder seine heilswidrigen Begierden nicht zu beherrschen 
vermochte oder umgekehrt das Heil erreicht hatte 144). Aber er 
durfte fremdes Leben auch nicht indirekt und unwissentlich 
antasten. Aus dem ursprünglichen antiorgiastischen Sinn des 
Vegetarismus wurde dieses Verbot vielleicht hier zuerst in den 
Sinnzusammenhang der Einheitlichkeit alles Lebens transpo- 
niert. Als der Jainismus in einigen Königreichen offizielle Staats- 
religion wurde, -mußte eine Akkommodation stattfinden. Zwar 
lehnen noch heute korrekte Jaina es ab, in Kriminalgerichtshöfen 








14) In einer Jaina-Gemeinde entstand ein Schisma, weil der von einem Suri 
designierte Nachfolger vor diesem gestorben und nun sein Schüler als solcher 
kraft Charisma die Nachfolge verlangte, die Gemeinde aber es mit einem anderen 
hielt (Hoernle, Ind. Ant. XIX, 1890, S. 235 f.). 

14) Ein Acharya, der das Haupt einer Gachchha (Gemeinde) oder Sakha 
(Schule) war, hieß Suriund, wenn er lehrende Jünger um sich hatte, gant. Listen 
von Lehrern der einzelnen Gachchhas sind inschriftlich erhalten. S. z.B. Ep. 
Ind. IJI, S. 36 ff., III, S. 198 ff. 

u3) Ein korrekter Acharya heißt Tyagi-Acharya, ein laxer Sithilacharya. 
In einer Jaina-Chronik (Hoernle a. a. O. S. 238) schlägt eine Göttin (Deva) einen 
Acharya in einem Augenblick sittlicher Laxheit mit einem Augenübel. Wieder 
zu Kräften gelangt, bedroht er sie und bekehrt sie zu seiner Upasaka (Laien- 
schwester), worauf sie ihn — nachdem er ihr überdies Süßigkeiten gespendet hat 
— von seinem Augenübel befreit. 

1) Was nach ı2 Jahren Askese möglich war. 


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422 Max Weber, 


zu sitzen, während sie in der Zivilrechtspflege gut verwendbar 
sind. Aber für das Militär mußte ein Ventil geschaffen werden, 
ähnlich wie das alte Christentum es tat. Der König und die 
Krieger also durften nach der revidierten Lehre »Verteidigungs- 
kriege« führen. Die alte Vorschrift wurde nun dahin uminterpre- 
tiert, daß sie für Laien nur die Tötung »schwächerer« Wesen, 
nicht bewaffneter Feinde, ausschließe. In dieser Form ist das 
„Ahimsa der Jaina in die äußersten Konsequenzen getrieben wor- 
den. Korrekte Jaina brennen in der dunklen Jahreszeit kein 
Licht, weil es Motten verbrennen, zünden kein Feuer an, weil es 
Insekten töten würde, sieben das Wasser, ehe sie es kochen, 
tragen einen Mund- und Nasenschleier, um das Einatmen von 
Insekten zu hindern 14), lassen sorgfältig jede Stelle der Erde, die 
sie betreten, mit weichen Besen fegen, scheren Kopi und Leib 
nicht (raufen statt dessen die Haare mit den Wurzeln aus) 
um nicht Läuse mit der Scheere töten zu müssen) und gehen 


| nie durch Wasser, um nicht Insekten darin zu zertreten 1). 


"Das Ahimsa hatte zur Folge, daß die Jaina am Betrieb aller 


Gewerbe, bei denen Leben gefährdet wurde, also aller derjenigen, 
die Feuer verwandten, mit scharfen Instrumenten arbeiteten 
(Holz- oder Steinarbeit), vom Maurergewerbe und überhaupt 
von der Mehrzahl aller gewerblichen Berufe sich ausgeschlossen 
sahen. Gänzlich unmöglich war für sie natürlich der landwirt- 
schaftliche Beruf, vor allem das Pflügen, welches stets das Leben 
ven Würmern und Insekten gefährdete 148). 

Das nächstwichtigste Gebot für Laien war die Begrenzung 
des Besitzes. Man sollte nicht mehr als das »Nötige« haben. Das 


145) Man wäre versucht, bei dem bekannten Spottwort vom »Mückenseihens«, 
welches Jesus gegen die jüdischen Literaten anwendet, eine irgendwie in Vorder- 
asien verbreitete Kenntnis dieser indischen Praxis vorauszusetzen. Denn eine 
entsprechende Vorschrift existierte bei den Juden, soviel bekannt, nie. 

146) Die höchste Frömmigkeit ist, sich von Insekten peinigen zu lassen, ohne 
sie zu verscheuchen. Die großen Tierspitäler der Jaina sind bekannt, am berühm- 
testen jenes Spital, in welchem (auf Kosten der Stadt) 5000 Ratten unterhalten 
wurden (J. R. As. Soc. I, 1834, S. 96). ` 

147) Die Innehaltung dieser rituellenVorschrift trug angeblich mit zum 
Niedergang der Jaina bei. Der jainistische König Komarpal von Anhilvara 
verlor Thron und Leben, weil er seine Armee bei Regenzeit nicht marschieren 
lassen wollte. 

148) In dieser Hinsicht ist die Lage der Digambara (Gymnosophisten) und 
Sywetambara verschieden. Die ersteren stellen, da ihre Mönchsaskese wesent- 
lich strenger ist, ähnlich den Buddhisten mildere Ansprüche an die Laien, die 
bei ihnen dem eigentlichen Heil ohnchin fern bleiben. Ein Teil von diesen 
treibt Ackerbau. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 42 3 


Gebrauchsvermögen ist in manchen Jaina-Katechismen auf 
26 bestimmte Gegenstände beschränkt 14). Ebenso ist der Be- | 
sitz von Reichtum überhaupt, über das zur Existenz erfor- | 
derliche Maß hinaus, heilsgefährlich. Man soll den Ueberschuß : 
an Tempel oder Tier-Spitäler hingeben, um sıch Verdienst zu 
schaffen. Und dies geschah in den wegen ihrer Wohltätigkeits- 
Anstalten berühmten Jaina-Gemeinden im weitesten Umfang. 
Wohlgemerkt: der Erwerb von Reichtum an sich war kei- 
neswegs verboten, nur das Streben darnach, reich zu sein 
und das Kleben daran: ziemlich ähnlich wie im asketischen 
Protestantismus des Occidents. Wie bei diesem, war die »Besitz- 
freude« (parigraha) das spezifisch Verwerfliche, keineswegs der‘ 
Besitz oder Erwerb an sich. Und die Aehnlichkeit geht weiter: 
das bei den Jaina überaus streng genommene Verbot, Falsches 
oder Uebertriebenes zu sagen und die absolute Redlichkeit 
im ökonomischen Verkehr, das Verbot jeglicher Täuschung 
(maya) 150%) und jeglichen unredlichen Erwerbs, wozu vor allem 
jeder Erwerb durch Schmuggel, Bestechung und irgendwelche 
Arten unsolider Finanzgebarung gehörten (adattu dama) schloß 
die Sekte einerseits von der typisch orientalischen Beteiligung 
am spolitischen Kapitalismus« (Vermögensakkummulation der 
Beamten, Steuerpächter, Staatslieferanten) aus und wirkte 
andererseits — bei ihnen und bei den Parsen — ebenso wie bei 
den Quäkern im Occident gemäß der (frühkapitalistischen) 
Devise: »honesty is the best policy«. Die Redlichkeit der Jaina- 
Händler war berühmt 151). Und ebenso ihr Reichtum: es wurde 
früher behauptet, daß mehr als die Hälfte des Handels Indiens 
durch ihre Hände gehe !5?). Daß die Jaina — wenigstens die 
Swetambara-Jaina — fast durchweg Händler wurden, hatte, 
wie wir dies später ebenso bei den Juden sehen werden, rein 
rituelle Gründe: nur der Händler konnte das Ahimsa wirklich streng 
durchführen. Und auch die besondere Eigenart des Erwerbes 
war durch rituelle Gründe bestimmt: die — wie wir sahen — 


149) Darunter findet sich freilich als Nr. 21 der Gencefalposten »das sonst 
wirklich Nötigee. Bücher z. B. können nur auf Grund dieses Titels besessen werden. 

150) Wer Täuschung verübt, wird als Weib wiedergeboren. 

18t) Im übrigen ist die Pflicht, auch im Salon unbedingt die Wahrheit zu 
sagen, später insofern temperiert worden, als man zwar nichts Unwahres sagen 
darf, das Wahre aber, wenn es dem andern unangenehm ist, nicht unbedingt 
sagen muß. 

152) Balfours Cyclopaedia of India, s. v.» Jaine, Vol. II, S. 403, rechte Spalte, 
Mitte. Das trifft jetzt nicht mehr zu. 


424 Max Weber, 


bei ihnen besonders starke Perhorreszierung und Erschwerung 
des. Reisens beschränkte sie auf den Platzhandel, in erster Linie, 
wiederum wie die Juden, das Bank- und Geldleih- Geschäft. Der 
aus der Wirtschaftsgeschichte des Puritanismus bekannte »as- 
ketische Sparzwang« wirkte auch bei ihnen im Sinn der Verwer- 
tung des akkumulierten Besitzes als Erwerbskapital statt als 
‚ Gebrauchs- oder Rentenvermögen 159). Daß sie dabei in die 

Schranken des Handelskapitalismus gebannt blieben und keine 
Organisation des Gewerbes schufen, hatte — außer in den uns 
schon bekannten Schranken, welche ihre hinduistische Umge- 
bung mit ihrem Traditionalismus und daneben der patrimo- 
niale Charakter des Königtums dem in den Weg stellte, — wieder- 
um in ihrem rituell bedingten Ausschluß vom Gewerbe und außer- 
dem — wie bei den Juden — ihrer rituellen Isolierung überhaupt 
seinen Grund. Ihre starke Vermögensakkumulaticn, welcher 
das Gebot, nicht mehr als das »Nötige« zu behalten (Parigraha 
vıramana vrata) nur eine sehr elastische Schranke setzte 15), 
wurde, wie bei den Puritanern, durch den streng methodischen 
Charakter der ihnen vorgeschriebenen Lebensführung begün- 
stigt. Meidung von Rauschmitteln, Fleisch- und Honiggenuß, 
absolute Meidung jeglicher Unkeuschheit und strenge eheliche 
Treue, Meidung von ständischem Stolz, von Zorn und allen Lei- 
denschaften sind bei ihnen wie bei allen. vornehmen Hindus 
selbstverständliche Gebote. Nur der Grundsatz: daß jegliche 
Emotion als solche zur Hölle führt, ist wohl noch strenger durch- 
geführt. Und weit schärfer als bei andern Hindus wird bei ihnen, 
auch den Laien, die Warnung vor unbefangener Hingabe an 
vdie Welt«eingeschärft. Man kann die Verflechtung in Karman 155) 
nur meiden durch strengste methodische Selbstkontrolle und 
Beherrschtheit, durch Hüten der Zunge und überlegte Vorsicht 
in allen Lebenslagen. Ihre Sozialethik rechnet zu den Verdiensten 


153) Dies ist es, was als lobha (Geiz) verpönt ist. 

154) Mrs Sinclair Stevenson (Heart of Jainism) erwähnt das Gelübde eines 
Jaina aus der jüngsten Vergangenheit: »nicht mehr als 45 000 Rupiens erwerben 
und den Ueberschuß verschenken zu wollen, — wobei offenbar ganz selbstverständ- 
lich war, daß er diesen Betrag zu verdienen keine Schwierigkeiten haben werde. 

155) Karman faßte die Jaina-Dogmatik (vgl. das von Jacobi in der Z. D. M. G. 
60, 1906 übersetzte Kompendium Umasvatis) als einen materiellen Giftstoff 
auf, der durch Leidenschaft erzeugt werde. Es korrespondiert das mit der uns 
hier nicht weiter interessierenden Theorie von den gröberen und feineren Leibern, 
in welche die Seele gehüllt ist und von denen der feinste sie bei der Seelenwande- 
rung begleitet: Alles ziemlich archaische Vorstellungen, die für das hohe Alter 
der Sekte sprechen. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 425 


die Speisung der Hungrigen und Durstigen, die Bekleidung der 
Armen, die Schonung und Pflege der Tiere, die Versorgung der 
Mönche (der eigenen Konfession 156), Lebensrettung anderer und 
Freundlichkeit gegen sie: man soll von ihnen gut denken, ihr Ge- 
fühl nicht verletzen, sie durch eigene hohe Moralität und Höf- 
lichkeit zu gewinnen suchen. Aber man soll sich nichtan andere 
binden. Die fünf großen Gelübde der Mönche enthalten neben ` 
Ahimsa, Asatya tyaga (Verbot der Unwahrhaftigkeit), Ashaya 
vrata (Verbot, etwas zu nehmen, was nicht freiwillig geboten 
wird), Brahmacharya (Keuschheit), als fünftes: Aparigraha 
vrata: der Verzicht auf Liebe für irgend jemanden oder irgend 
etwas. Denn Liebe weckt Begehren und erzeugt Karman. 
Es fehlt trotz jener rituellen Gebote gänzlich der christliche Be- 
griffe der »Nächstenliebee. Und darüber hinaus sogar etwas, 
was der »Liebe zu Gott« entspräche. Denn es gibt keine Gnade 
und Vergebung, keine Reue, welche die Sünde auslöschte, und 
kein wirksames Gebet %°). Der wohlerwogene Heilsvorteil, 
welchen die Tat dem Täter bringt, ist Leitstern des Handelns. 
»Das Herz des Jainismus ist leer.« 
= Aeußerlich angesehen, kann diese Behauptung für die Jaina 
ebenso wie für die Puritaner irrtümlich erscheinen. Denn die 
Solidarität gerade der Mitglieder der Jaina-Gemeinden unter- 
einander ist und war von jeher sehr stark entwickelt. Mit auch 
darauf beruhte, wie bei vielen amerikanischen Sekten, ihre 
ökonomische Machtlage, daß die Gemeinde hinter dem Einzelnen 
stand, und daß er, wenn er den Ort wechselte, alsbald wieder bei 
seiner Sekten-Gemeinde persönlichen Anschluß hatte. Aller- 
dings aber war diese Solidarität ihrem inneren Wesen nach von 
der spezifischen altchristlichen »Brüderlichkeit« ziemlich weit 
entfernt und, ähnlich dem sachlichen Rationalismus der puri- 
tanıschen Wohlfahrtspflege, mehr ein Ableisten verdienstlicher 
Werke als Ausfluß eines religiösen Liebesakosmismus, von wel- 
chem der Jainismus vielmehr in der Tat nichts weiß. 
Trotz ihrer strengen disziplinären Unterordnung unter den 
Mönchsklerus war von jeher stark im Jainismus der Einfluß der 





156) Der Konfessionalismus der Jaina war darin stets stark ausgeprägt und 
kontrastierte mit der sonstigen hinduistischen Gepflogenheit, unterschiedslos 
die Heiligen aller Art zu beschenken. 

147) Vgl. Mrs Sinclair Stevenson a. a. O. S. 292: »Es wäre Sünde, wenn eine 
Mutter um Erhaltung des Lebens ihres Kindes beten würdee. Denn das wäre 
Begehren und weckt Karman. 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 4a. 2. 28 


Dam o 


426 Max Weber, 


Laien (Grevaka). Ebenso wie die buddhistischen klassischen 
Schriften wendet sich ihre Literatur ja an sanskritunkundige 
Kreise in deren Sprache. Die Laien waren es, — hier wie im 
Buddhismus, — welche in Ermangelung anderer Kultcbjekte 
die Hagioletrie und die Idolatrie einführten und durch um- 
fassende Bauten und Stiftungen die hieratische Architektur 
und das hieratische Kunstgewerbe zu außerordentlicher Blüte 
brachten 15°). Sie konnten dies, weil sie wesentlich den besitzen- 
den Klassen, vornehmlich dem Bürgertum, angehörten. Gilden- 
vorsteher werden schon in der älteren Literatur als Laienver- 
treter erwähnt, und bis heute sind die Jaina in den westindischen 
Gilden am stärksten vertreten. Der Laieneinfluß steigt heute 
wieder und äußert sich namentlich in dem Bestreben, die bisher 
isolierten Einzelgemeinden über ganz Indien hin zu einer Gemein- 
schaft zu verknüpfen. Die starke Organisation und Verknüpfung 
der Laien- Gemeinde mit den Mönchen war aber von jeher vor- 
handen und bildete für den Jainismus — im Gegensatz zum 
Buddhismus — das Mittel, die Konkurrenz der brahmanischen 
Restauration des Mittelalters und die islamische Verfolgung 
zu überdauern !°9). 

Auch die Entstehung der Sekte liegt ja dem ersten Auf- 
kommen der indischen Städte zeitlich nahe. Das bürgerfeind- 
liche Bengalen andererseits hat sie am wenigsten rezipiert. 

"f Aber man hat sich vor der Vorstellung zu hüten: daß sie ein 
| »Produkt« des »Bürgertums« gewesen sei. Sie entstammte der 
Kschatriya-Spekulation und der Laien-Askese. Ihre Lehre: die 
-= Anforderungen, welche sie an die Laien stellten, insbesondere 
aber ihre rituellen Vorschriften waren als Alltagsreligiosität nur 


für eine Händlerschicht dauernd erträglich. Aber sie erlegte auch 


einer solchen Schicht, wie wir sahen, höchst lästige Schranken 
auf, wie sie selbst sie aus ihrem ökonomischen Interesse heraus 
sich nie geschaffen oder auch nur ertragen hätte. Hochgekom- 
men ist die Sekte wohl zweifellos, wie alle hinduistischen ortho- 
doxen und heterodoxen Gemeinschaften, durch die Gunst von 
Fürster. Und es liegt außerordentlich nahe und wird mit Recht 
auch angenommen 160%): daß der Wunsch, sich von der lästigen 
158) Wesentliche Teile des buddhistischen hieratischen Bedarfes an Bauten 

und Paramenten fehlten allerdings den Jaina. 
159) Dazu zu vgl. Hörnle, Presid. Adress 1898 Royal Asiatic Soc. of Bengal 


und Mrs Stevenson a. a. O. 
160) Namentlich von Hopkins a. a. O. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 427 


Macht der Brahmanen zu befreien, für diese Fürsten das wich- 
tigste (politische) Motiv gewesen ist. Die größte Blüte der Jaina- 
Religion fällt nicht in die Zeit des Aufstieges des Bürgertums, 
sondern ze. in die Zeit abnehmender politischer Städte- und 


-e e > m m- 





nung, — eine "Zeit der Blüte auch für ihre Dati, — wo sie 
namentlich auf Kosten des Buddhismus Boden gewannen. Ent- 
standen scheint die Sekte in dem Gebiet östlich von Benares 
zu sein, von wo sie nach Westen und Süden wanderte, während 
sie in Bengalen und auch in Hindostan schwach blieb. In 
einigen südindischen und in dem Reich der westlichen Chalukya- 
Könige war sie zeitweise rezipierte Staatsreligion. Dort im Westen 
sind auch bis in die Gegenwart die Hauptstätten ihrer Pflege 
geblieben. 

Nach der hinduistischen Restauration entging auch der 
Jainismus in ziemlich weitem Umfang dem Schicksal der Hin- 
duisierung nicht. In seinen Anfängen hatte er die Kasten igno- 
riert. Sie haben zu seiner Soteriologie keinerlei auch nur indirekte 
Beziehung. Eine Verschiebung erfuhr dies schon, als unter dem 
Einfluß der Laien der Tempel- und Idol-Kult immer größere 
Dimensionen annahm. Dem genuinen Jaina-Mönch war die 
Pflege der Tempel_und Idole richt möglich, da sie Karman 
wirkte. Ihm ziemte neben der Beschäftigung mit seiner Selbst- 
erlösung nur die Stellung als Guru und Lehrer. Die Aufgabe der 
Pflege der Tempelidole fiel also in die Hände der Laien, und wir 
finden die eigentümliche Erscheinung, daß der Tempelkult mit 
Vorliebe in die Hände von Brahmanen !#) gelegt wurde, weil 
diese für soche Zwecke geschult waren. Die Kastenordnung be- 
mächtigte sich nun der Jaina. In Südindien sind sie voll- 
ständig in Kasten gegliedert, während im Norden die hinduisti- 
sche Auffassung dazu neigt, sie — dem uns bekannten Typus 
entsprechend — als eine Sektenkaste zu behandeln, was sie stets 
nachdrücklich ablehnten. In den nordwestindischen Städten 
aber standen sie noch aus den Zeiten der Gildenmacht her viel- 
fach im Konnubium mit sozial gleichgeordneten, also vor allem: 
Händler-Schichten. Die modernen Vertreter des Hinduismus 
sind geneigt, sie für diesen zu reklamieren. Die Jaina selbst haben 
auf eigentliche Propaganda verzichtet. Ihr »Gottesdienst« um- 





1) Naturgemäß, wie bei allen Tempel-Brahmanen, solcher von etwas 
degradiertem Rang. 
25 * 


(EEE EIERN, 


428 Max Weber, 


faßt eine Predigt, in der ein »Gott« nicht vorkommt, und Aus- 
legung heiliger Schriften. Ihr Laienglaube scheint !#) im allge- 
meinen dahin zu neigen, daB es wohl einen Gott gebe, dieser 
sich aber um die Welt nicht kümmere und sich begnügt habe, 
zu offenbaren, wie man sich von ihr erlösen könne. Die Zahl der 
Bekenner geht, wie eingangs gesagt, wenigstens relativ zurück. 

Diese eigentümlich schwankende Lage der Sekte lag zum 
Teil in den uns bekannten hinduistischen Verhältnissen, teils 
aber auch in ihrer ursprünglichen inneren Eigenart begründet. 
Ihre ritualistische Stellung war nicht völlig geklärt und konnte 
es in Ermangelung eines überweltlichen Gottes und einer an seinem 
Willen verankerten Ethik nicht sein, nachdem sie die Laien- 
gemeinde einerseits fest mit der Mönchsgemeinde verknüpft, 
andererseits doch als von ihr streng geschieden konstituiert 
hatte, ohne ihr doch ein festes eigenes Ritual zu geben. Und 
auch in der Heilslehre selbst lagen Unausgeglichenheiten. Denn 
sie war widerspruchsvoll insofern, als ihr höchstes Heilsgut ein 
nur durch Kontemplation zu erlangender geistiger Habitus, ihr 
spezifischer Heilsweg aber Askese war. Zum mindesten neben 
der Meditation und Kontemplation und ihr jedenfalls gleich- 
berechtigt standen die radikal asketischen Mittel. Die Magie 
wurde nie wirklich ganz abgestreift und die ängstliche Kontrolle 
der  ritualistischen und asketischen Korrektheit vertrat die 
Stelle einer vollkommenen und geschlossenen Durchrationali- 
sierung im Sinne einer innerlich einheitlichen Methodik, sei es 
einer rein kontemplativen Mystik, sei es einer reinen aktiven 
Askese. Die Jaina selbst haben sich stets als eine spezifisch 
asketische Sekte empfunden, und zwar insbesondere im 
Gegensatz gegen die, von eben diesem Standpunkt aus, von ihnen 
als »weltlich« geschmähten Anhänger des Buddhismus. 

Wie der Jainismus und noch deutlicher als er stellt sich auch 
der Buddhismus dar als entstanden in der Zeit der Städteent- 
wicklung, des Stadtkönigtums und Stadtadels. Sein Stifter 
war Siddharta, der Sakya Simha oder Sakya Muni, genannt 
Gautama 163), der Buddha 164), geboren in Lumbini im heute nepa- 


162) Nach Gesprächen J. Campbell Omans (Mystics, Ascetics and Saints 
of India 1903) mit jainistischen Kautleuten. 

169) Gautama ist der Name des brahmanjschen Rischi, von welchem die 
offenbar seit altem brahmanenfeindliche Sakya-Sippe abzustammen beanspruchte. 

164) Die Bezeichnung Buddha: der Erleuchtete, war alt. »Pratibuddha« war 
ein brahmanischer Mönch, der durch Meditation die Erleuchtung erlangt hatte 
oder suchte. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 429 


lesischen Gebiet am Fuß des Himaiaya. Seine Flucht aus dem El- 
ternhaus in die Einsamkeit, »der große Verzicht« (auf die Welt) 
gilt den Buddhisten als Stiftungszeit des Buddhismus. Er ge- 
hörte der adligen (Kschatriya-)Sippe der Sakya von Kapilavastu 
en. Gildevorsteher spielen auch in den alten literarischen Doku- 
menten der Buddhisten ebenso wie der Jainisten und erst recht 
unter inschriftlich erhaltenem Namen von Donatoren der buddhi- 
stischen Klöster eine hervorragende Rolle. Oldenberg macht 
darauf aufmerksam, wie die ländliche Umgebung, Vieh und Weide 
für die altbrahmanischen Lehrer und Schulen mindestens der älte- 
ren Upanischadenzeit, die Stadt und das Stadtschloß mit seinem 
auf Elefanten reitenden König aber für die Buddha-Zeit charak- 
teristisch sind und wie die Dialogform die hereingebrochene 
Stadtkultur widerspiegelt. In den jüngeren Upanischaden ist 
all dies ireilich schon im Werden. Aus dem literarischen Cha- 
rakter ließe sich hier offenbar ein Altersunterschied nicht leicht 
ableiten. Schon leichter aus der sachlich naturgemäßen Auf- 
einander- und Auseinanderfolge der Ideen hier und dort. Der 
alte Buddhismus weiß, wie die Samkya-Lehre und die Jaina- 
Sekte, vom Brahman nichts. Im Gegensatz zu beiden lehnt er 
aber auch das Atman und überhaupt diejenigen »Individuali- 
täts«-Probleme ab, mit welchen die philosophische Schulsote- 
riologie sich abgemüht hatte. Dies geschieht teilweise in so 
pointiert gegen diese ganze Problematik gerichteter Art, daß diese 
letztere schon voll durchgearbeitet gewesen sein muß, ehe sie 
in solcher Weise als nichtig und wesenlos abgetan werden konnte. 
Den Charakter als eine ganz spezifische vornehme Intellek- 
tuellensotericlogie trägt er an der Stirn geschrieben, ganz abge- 
sehen davon, daß alle Selbstzeugnisse ihn dahin stellen. Die 
Tradition läßt den Stifter um eine Generation jünger sein als 
Mahavira, den Stifter des Jaina-Ordens. Die Angabe ist wahr- 
scheinlich, weil nicht wenige buddhistische Ueberlieferungen 
die Konkurrenz des neuen Ordens gegen den alten und den Haß 
der Mitglieder des letzteren gegen die Buddhisten zur Voraus- 
setzung haben. Diesen Haß spiegeln gelegentlich auch jainisti- 
sche Ueberlieferungen wieder. Er ist außer durch die Konkur- 
renz an sich auch durch den inneren Gegensatz des buddhisti- 
schen Heilsstrebens gegenüber nicht nur dem klassisch brahmani- 
schen, sondern gerade auch dem jainistischen begründet. 
Der Jaina-Orden ist eine sehr wesentlich asketische 


430 Max Weber, 


Gemeinschaft in dem spezifischen Sinn, den wir mit »aktiver 
Askese« hier verbinden. Das Heilsziel ist, wie bei aller indischen 
Intellektuellensoteriologie, die ewige Ruhe. Aber der Weg ist 
Weltabkehr und Selbstabtötung durch Kasteiung. Kasteiung 
aber ist nicht nur mit äußerster Willensanspannung verknüpft, 
sondern trägt leicht emotionale und unter Umständen geradezu 
hysterische Konsequenzen im Schoße. Sie führt jedenfalls nicht 
leicht zu jenem Gefühl der Sicherheit und Ruhe, welches für eine 
auf Ablösung von dem Treiben und Sichquälen der Welt gerich- 
tete Heilssuche den entscheidenden Gefühlswert haben mußte. 
Diese »certitudo salutis« aber: der diesseitige Genuß der Ruhe der 
Erlösten, ist ja, pyschologisch angesehen, die von den indischen 
Religionen letztlich erstrebte Zuständlichkeit. Der indische-Heil- 
sucher will, sahen wir, als »jivanmukti« der Seligkeit des welt- 
entronnenen Lebens schon im Diesseits sich erfreuen., Es ist für 
die Beurteilung des alten Buddhismus "wichtig, im Auge zu 
behalten, daß seine spezifische Leistung es war: diesem und 
nur diesem Ziele nachgegangen zu sein, unter rücksichtsloser 
Beseitigung aller Heilsmittel, die mit ihm nichts zu tun hai- 
ten. Um deswillen hat er ebenso die asketischen Züge, welche 
der Jainismus trug, gänzlich ausgemerzt wie alle Spekulationen 
über irgendwelche Probleme, — diesseitige und jenseitige, soziale 
und metaphysische —, die nicht mit der Erlangung jenes Zieles 
zusammenhingen und ihm dienen konnten. Auch an der Begierde 
nach dem Erkennen haftet der echte Heilssucher nicht. 

Ueber die Eigenart des »primitiven« Buddhismus, — sei es, 
daß darunter die Lehre des Meisters selbst oder die Praxis der 
ältesten Gemeinde verstanden werden soll (was für uns gleich- 
gültig ist) — hat gerade die neueste Literatur eine ganze Reihe 
‚ausgezeichneter Arbeiten der Indologen aufzuweisen. Eine Eini- 


gung ist nicht in allem erzielt. Für unsere Zwecke empfiehlt es 


sich, zunächst den alten Buddhismus nach den zeitlich ältesten 
Quellen 165) in den für uns wichtigen Punkten systematisch und 
also im möglichst geschlossenen Gedankenzusammenhang wieder- 
zugeben, ohne Rücksicht darauf, ob er wirklich gerade in seinem 


_ Geburtsstadium diese rationale Geschlossenheit in vollem Umfang 


gehabt hat, was nur die Fachleute entscheiden können 166). 


165) Es geschieht dies an der Hand der Arbeiten namentlich von H. Oldenberg 
und Rhys Davids. 

166) Was dabei vor Allem notgedrungen, schon des Raumes wegen, vernach- 
lässigt wird, sind die bei allen indischen Intellektuellenphilosophien sehr wichtigen 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 431 


Der alte Buddhismus 167) ist in fast allen praktisch 
entscheidenden Punkten der charakteristische Gegenpol des Kon- 
fuzianismus sowohl wie etwa des Islam. Er ist die spezifisch 
unpolitische und antipolitische Standesreligion oder richtiger 
gesagt: religiöse »Kunstlehre« eines wandernden, intellektuell 
geschulten, Bettelmönchtums. Er ist, wie alle indische Philo- 
sophie und Hierurgie, »Erlösungsreligion«, wenn man den Namen 
sReligion« auf eine Ethik ohne Gott — oder richtiger: mit abso- 
luter Gleichgültigkeit gegen die Frage, ob es »Götter« gibt und wie 
sie existieren — und ohne Kultus anwenden will. Und zwar ist 
er, angesehen auf das »wie?« und »wovon ?« wie auf das »wozu ?« 
der Erlösung die denkbar radikalste Form des Erlösungsstrebens 
überhaupt. Seine Erlösung ist ausschließlich des einzelnen, Men- 


Beziehungen zur Magie. Eine ganze Anzahl scheinbar soteriologisch-rationaler 
Grundsätze pflegen bei ihnen, mindestens ursprünglich, durch magische Bedeut- 
samkeit bedingt zu sein. Andererseits lassen wir auch manche an sich wichtige 
rein durch die Macht der Tradition fortwirkende Einzelzüge beiseite. So ist 
die Heiligkeit der Kuh, insbesondere die expiatorische Wirkung des Kuhurins 
auch in der buddhistischen Mönchsregel, und jedenfalls seit ziemlich alter Zeit, 
selbstverständlich. 

167) Nachdem die für die buddhistische Ethik noch immer höchst wertvollen 
älteren Arbeiten (von Köppen, Kern und anderen) durch das Studinm des 
Pali-Kanons und die sonstigen, namentlich auch die monumentalen, Zeugnisse, 
welche die Geschichtlichkeit der Person des Buddha bestätigten, in einem Haupt- 
punkt erledigt waren, wendcte sich die Arbeit vor allenı der Verwertung des 
Quellenmaterials zu. Neben dem älteren grundlegenden Werk von H. Oldenberg 
(Buddha) geben die Arbeiten von Mr. und Mrs. Rhys Davids die lesbarsten und 
zugleich konstruktivsten Zusammenfassungen des seitdem errungenen Stand- 
Punktes. Daneben von kürzeren Darstellungen: die Schriften von Pischel und 
von Edv. Lehmann, welche weiteren Kreisen zugänglich sind. Populär 
auch: Roussel, Le Bouddhisme primitif, Paris r911 (Bd. I der v n Theologen 
der Dominikaner - Universität Freiburg herausgegebenen »Religions Orien- 
talese). Wissenschaftliche Gesamtdarstellung jetzt von F. Kern in Büblers 
Grundriß. Dazu die Darstellungen in den Sammelwerken über vergleichende 
Religionswissenschaft. Einzelzitate an den betreffenden Stellen. Ueber die 
Dogmatik des Buddhismus de la Vall&e-Poussin, Bouddhbism (Paris 
1909). Dazu das ältere Werk von Sénart, Origines Bouddhiques. Von dem 
Quellenmaterial zum alten Buddhismus liegt der Pali- Kanon (Tripithaka) in 
englischer Uebersetzung in den Sacred Books of the East vor. Die Reden 
und Gedichte Buddhas (die von der Tradition ihm zugeschriebenen Logia) hat 
Neumann in hervorragender Art ins Deutsche übertragen. Einen unmittelbaren 
Eindruck von der Eigenart altbuddhistischen Denkens liefert vielleicht am 
besten die Lektüre der » Questions of King Milindae und (schon mahayanistisch 
umgebogen) Acvagoschas Buddha Tscharita (beide in den Sacred Books of the 
East). Einzelzitate an den entsprechenden Stellen. Zur Einführung sind ferner 
sehr zu empfehlen die bescheiden als populäre Schriften Auftretenden, aber auf 
offenbar ausgebreiteter persönlicher Anschauung beruhenden Darstellungen 
von H. Hackmann in den »Religionsgeschichtlichen Volksbücherns (Der 
Buddhismus I., II. und III. Teil, III. Reihe, Heft 4, 5, 7, Tübingen 1906). 


432 Max Weber, 


u) 


schen eigenste Tat. Es gibt dafür keine Hilfe bei einem Gott_oder 
Heiland !#). Vom Buddha selbst kennen wir kein Gebet. Denn 
es gibt keine religiöse Gnade. Aber es gibt auch keine Prädesti- 
nation. Ausschließlich des eigenen freien Verhaltens Folge ist ja 
nach der die Theodizee ersetzenden, vom Buddhismus nicht be- 
zweifelten, Lehre vom Karman: der universellen Kausalität ethi- 
| scher Vergeltung, das Jenseitsschicksal. Und nicht die »Persön- 
lichkeite, sondern der Snn und Wert der einzelnen Tat ist 
das, wovon die Karman-Lehre ausgeht: es kann keine einzelne 
weltgebundene Handlung in der sinnvoll ethisch ablaufenden, 
aber gänzlich unpersönlichen kosmischen Kausalität verloren 
gehen. Man könnte glauben, eine Ethik aus diesen Prämissen 
müsse eine solche aktiven Handelns sein, es sei innerhalb der Welt 
(wie sie Konfuzianismus und Islam, jeder in seiner Art, be- 
sitzen), oder in Form passiver asketischer Uebungen, wie bei 
seinem Hauptkonkurrenten in Indien, dem Jainismus. Allein 
beides lehnt der alte Buddhismus gleichmäßig ab, weil das swo- 
von?« und das »wozu ?« der von ihm angestrebten Erlösung beides 
ausschließt. Denn aus jenen allgemeinen Prämissen der Anschau- 
ungsweise der indischen soteriologisch interessierten Intelligenz 
zieht die Lehre des Buddha — wie sie sich schon in der von Rhys 
Davids geistvoll interpretierten ersten Ansprache nach der sEr- 
` leuchtung« äußert — nur die letzte Konsequenz, indem sie die 
Grundursache aller erlösungsfeindlichen Illusionen in dem Glauben 
an eine »Seele« überhaupt als einer perennierenden "Einheit 
aufdeckt. Daraus folgert sie die Sinnlosigkeit des Haftens an 
allen und jeden mit dem »animistischen« Glauben zusammen- 
hängenden Neigungen, Hoffnungen und Wünschen: an allem 
diesseitigem und, vor allem, auch jenseitigem Leben. Das alles 
ist ein Haften an vergänglichen Nichtigkeiten. Denn ein sewiges 
Leben« wäre für das Denken des Buddhismus eine contradictio 
in adjecto: »Leben« besteht ja gerade in dern Zusammengeschweißt- 
sein der einzelnen Konsuenzien (Khandas) in die Form der 
selbstbewußten und wollenden Individualität, deren Wesen ja 
gerade darin beruht: in dem Sinn restlos vergänglich zu sein. 
»Zeitlos gültige« Werte irgend eines Individuellen aber 
anzuerkennen würde dieser — wie jeder indischen — Denkweise 


168) Denn die Heilands-Qualität des Buddha selbst war erst sekundäres Ent- 
wicklungsprodukt. An seiner zwar übernormalmenschlichen, aber nicht gött- 
lichen, nur exemplarischen Qualität bestand in der ersten Zeit des Ordens offen- 
bar nicht der geringste Zweifel. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 433 


als eine absurde und lächerliche Vermessenheit, der Gipfel psycho- 
latrischer »Kreaturvergötterung« (um einen puritanischen Begriff 
zu gebrauchen) erschienen sein. Nicht Erlösung zu einem ewigen 
Leben also, sondern zur ewigen. Todesruhe wird begehrt. Der 
Grund! dieses Erlösungsstrebens ist beim Buddhismus wie bei 
dem Indern überhaupt nicht etwa »Ueberdruß am Leben«, sondern 
»Ueberdruß am Tod«. Das zeigt am deutlichsten schon die Legende 
von den Erlebnissen, welche der Flucht des Buddha aus demEltern- 
haus, von der Seite der jungen Frau und des Kindes, in die Wald- 
einsamkeit vorausgingen. Was nutzt die Herrlichkeit der Welt 
und des Lebens, wenn sie unausgesetzt von den drei Uebeln der 
Krankheit, des Alters und des Todes bedroht ist? wenn alle 
Hingabe an die irdische Schönheit nur den Schmerz, und vor allem: 

die Sinnlosigkeit der Trennung, einer in einer Unendlichkeit 
stets neuer Leben immer erneuten Trennung, steigert ? Die abso- 
lut sinnlose Vergänglichkeit von Schönheit, Glück und Freude 
in einer ewig bestehenden Welt ist auch hier das, was die 
Weltgüter endgültig entwertet. Für den wenigstens, der stark und 
weise ist, — und nur für diesen, erklärt der Buddha wiederholt, 
sei seine Lehre. Daraus ergibt sich nun die spezifisch erlösungs- 
feindliche Gewalt. Ein gesinnungsethischer Sündenbegriff ist, 
wie dem Hinduismus überhaupt, so auch dem Buddhismus 
nicht kongenial. Gewiß gibt es für den buddhistischen Mönch 
Sünden, auch Todsünden, welche für immer aus der Gemeinschaft 
der zu den Zusammenkünften zugelassenen Genossen ausschließen, 
andere, welche nur Buße erheischen. Aber bei weitem nicht alles, 

was die Erlösung hindert, ist eine »Sünde«. Nicht sie ist die letzt- 
lich erlösungsfeindliche Macht. Nicht das »Böse«, sondern das 
vergängliche Leben als solches: die schlechthin sinnlose Unrast 
alles geformten Daseins überhaupt ist es, wovon Erlösung ge- 
sucht wird. Alle »Sittlichkeit« könnte dafür nur Mittel sein und 
hätte also auch nur Sinn, soweit sie Mittel dafür ist. Das ist sie 
aber letztlich nicht. Die Leidenschaft rein als solche, auch für 
das Gute und auch gerade in der Form des edelsten Enthusias- 
mus, ist, weil jedes »Begehren« ans Leben bindet, das schlechthin 
erlösungsfeindliche. Der Haß ist das im Grunde nicht in höherem 
Grade als alle Arten der Liebe zu Menschen und auch die leiden- 
schaftliche aktive Hingabe an Ideale es ebenfallssind. Unbekannt 
ist die Nächstenliebe zum mindesten im Sinn der großen christ- 
lichen Brüderlichkeitsvirtuosen. »Wie ein mächtiger Wind blies 


Tp. 


nt eu | 


434 Max Weber, 


der Gesegnete über die Welt mit dem Wind seiner Liebe, so kühl 
und süß, ruhig und zart« 169). Nur diese kühle Temperierung ge- 
währleistet ja die innere Loslösung von allem »Durst« nach Welt 
und Menschen. Der buddhistische mystische, durch die Euphorie 
der apathischen Ekstase psychologisch bedingte Liebesakosmis- 
mus (maitri, metta), das »unbegrenzte Fühlen« für Menschen 
und Tiere: so wie die Mutter für ihr Kind, gibt freilich dem Be- 
gnadeten magische seelenüberwindende Macht auch über seine 
Feinde 17%). Aber er bleibt dabei kühl und distant temperiert 171}. 
Dann letztlich muß der Einzelne, wie ein berühmtes Gedicht 172) 
heißt auch: dessen harte Haut gegen Gefühle haben. Die »Fein- 
desliebe« vollends ist dem Buddhismus notwendig ganz fremd. 
Sein Quietismus konnte solche Virtuosenkraft der Selbstüber- 
windung nicht, sondern nur das gleichmütige Nichthassen des 
Feindes und das »ruhevolle Gefühl freundlicher Eintrachte 
(Oldenberg) mit den Gemeinschaftsgenossen ertragen. Auch dies 
Gefühl ist nicht rein aus mystischer Empfindung geboren, 
sondern getragen auch durch das egozentrische Wissen: daß die 
Austilgung auch aller Feindschaftsaffekte der eigenen Erlösung 


: frommt. Die buddhistische Caritas hat den gleichen Charakter 


der Unpersönlichkeit und Sachlichkeit, wie er sich im Jainismus 


und, in anderer Art, auch im Puritanismus findet. Die eigene. 


certitudo salutis, nicht das Ergehen des »Nächsten«, steht in Frage. 


169) So in den gleich zu erwähnenden »Fragen des Königs Milindas« (IV, 1, 12). 

170) Quest. of K. Milinda IV, 4, 16: Wenn ein Buddhist »die volle Lieber 
hat, kann niemand ihm Uebles tun. Selbst physisch nicht. Denn diese Liebe 
ist allbezwingend. Man wird gut tun, diese Vorstellung — mindestens in ihrer 
primären Fassung — nicht im Sinn etwas des Dostojevskischen Starjez Ssossima 
oder des Tolstojschen Platon Karatajew zu fassen, obwohl sie gewiß dahin 
sublimiert werden konnte, sondern zunächst einfach magisch. Der Besitz des 
ekstatischen Liebesakosmismus ist eine magische Qualität. Kommt also, heißt 
es, ein Buddhist durch Schwert oder Gift um , so hatte er in diesem Augenblick 
dieses Charisma nicht. 

171) Ueber das Wesen der Maitri, die auch im Yoga eine Rolle spielte, hat 
zwischen Pischel und H. Oldenberg (Aus dem alten Indien, 1910) eine Diskussion 
stattgefunden, bei welcher, wie mir scheint, der letztere im Rechte blieb. »Fried- 
volles Wohlwollen« ist ihr Wesen. Auch in der Rangordnung der Laien-Tugen- 
den wird die Wohltätigkeit, wie Oldenberg hervorhebt, ihr gelegentlich voran- 
gestellt. Für den Mönch aber wird sie überhaupt nur nebenher erwähntund auch 
die Lyrik scheint sie nicht im entferntesten ähnlich zu durchtränken, wie bei 
uns in der bernhardinischen und pietistischen Lyrik. Das »Wissen« ist und bleibt 
eben der Erlösungsweg. 

173) Es findet sich u.a. in Neumanns zitierter Sammlung der »Reden des 
Gautomo Buddho«. 





Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 435 


Die Erlösung entsteht auch im Buddhismus durch »Wissen«. 
Nicht natürlich im Sinn der erweiterten Kenntnis irdischer oder 
himmlischer Dinge. Im Gegenteil forderte der alte Buddhismus 
gerade auf diesem Gebiet das äußerste an Unterdrückung des 
Wissensstrebens: den bewußten Verzicht auf das Forschen nach 
dem, was nach dem Tode des Erlösten sein wird, weil die Sorge 
darum ebenfalls »Begehren«: »Durst«, ist und dem Heil der Seele 
nicht frommt. Den Mönch Mälukya, der wissen will, ob die Welt 
ewig und unendlich sei und ob Buddha nach dem Tode weiter 
leben werde, verspottet der Meister: solche Fragen eines Uner- 
lösten seien gerade so, wie wenn jemand, der totkrank an einer 
Wunde liege, vom Arzt, ehe er die Wunde behandeln dürfe, zu 
wissen begehre: wie der Arzt heiße, ob er adlig sei und wer ihm 
die Wunde zugefügt habe. Das Forschen über das Wesen von 
Nirvana galt dem korrekten Buddhismus geradezu als Ketzerei. 
Im Konfuzianismus wird die Spekulation abgelehnt, weil sie der 
diesseitigen Vollendung des Gentleman nicht frommt und, utili- 
tarisch betrachtet, steril ist. Im Buddhismus: weil sie einen Hang 
am irdischen verstandesmäßigen Wissen dokumentiert und dies 
für die jenseitige Vollendung nicht frommt. Sondern das heil- 
bringende »Wissen« ist ausschließlich die praktische Erleuchtung 
durch die vier großen Wahrheiten über Wesen, Entstehung, Be- 
dingungen und Mittel der Vernichtung des Leidens. Während der 
alte Christ das Leiden als asketisches Mittel oder als Martyrium 

eventuell sucht, flieht der Buddhist das Leiden unbedingt. »Leiden « 
aber ist mit der Tatsache der Vergänglichkeit alles geformten Seins 
rein als solchen gleichgesetzt. Das aus dem Wesen des Lebens 
folgende, ebenso aussichtslose wie unvermeidliche Ringen gegen 
die Vergänglichkeit: der »Kampf um das Dasein« im Sinn des 
Strebens nach Behauptung der eigenen, von Anfang an doch tod- 
geweihten Existenz: das ist das Wesen des Leidens. Noch späte 
Sutras der »weltfreundlichen« Mahayana-Schule operieren mit 
dem Nachweis der völligen Sinnlosigkeit eines unvermeidlich in 
Alter und Tod abschließenden Lebens. Diese vom Leiden end- 
gültig befreiende Erleuchtung ist allein durch Andacht, durch 
die kontemplative Versenkung in die einfachen praktisch en Le- 
benswahrheiten zu erlangen. Das »Wissen«, welches jedem Han- 
delnden versagt und nur einem nach Erleuchtung Strebenden 
möglich ist, ist also zwar praktischer Art. Aber es ist dennoch 
nicht das »Gewissen«, — welches ja auch Goethe dem Handelnden 


ENTE EEE 


436 Max Weber, 


abspricht und nur »dem Betrachtenden« zugesteht. Denn der 
Buddhismus kennt einen konsequenten Begriff_des »Gewissense 
nicht und kann ihn nicht kennen, schon infolge der Karmanlehre | 
und seiner darauf beruhenden Ablehnung des Persönlichkeits- 
gedankens, die er besonders konsequent, etwa in der Art der 
Machschen Seelen-Metaphysik, durchgeführt hat. Was ist denn 
das »Ich«, mit dessen Vernichtung sich die bisherige Erlösungslehre 
abmüht? — Auf diese Frage hatten die einzelnen orthodoxen 
und heterodoxen Soteriologen verschiedene Antworten gegeben, 
von der primitiven, je nachdem mehr materialistischen oder 
spiritualistischen Anknüpfung an die alte magische Seelenkraft 
des Atman (im buddhistischen Pali: attan) bis zu der Konstruktion 
jenes unveränderlich konstanten, aber auch nur rezeptiven, Be- 
wußtseins der Samkhya-Lehre, welche alles Geschehen ohne 
Ausnahme der Materie, das heißt: der Welt des Veränderlichen, 
zuwies. Der Buddha kehrte von dieser soteriologisch und psycho- 
logisch ihn nicht befriedigenden intellektualistischen Konstruktion 
zu einer, im Effekt, voluntaristischen zurück. Aber in neuer 
Wendung. Neben allerhand Resten primitiverer Anschauungen 
findet sich der sinnhafte Kern der neuen Lehre besonders geist- 
reich in den »Fragen des Königs Milinda« 17°). Die innere Erfahrung 
zeigt uns, überhaupt kein »Ich« und keine »Welt«, sondern nur 
einen Ablauf von allerhand Sensationen, Strebungen und Vor- 
stellungen, welche zusammen die »Wirklichkeit« ausmachen. Die 
einzelnen Bestandteile, so wie sie erfahren werden, sind in der 
inneren Realität überhaupt nicht »unterschiedslos« (gemeint ist: 
»zu einer Einheit«) verbunden. Hat man das »Schmeckende« 
z. B. »heruntergeschluckt«, so ist es der Substanz nach noch da: 
— aber nicht mehr als »Schmeckendes« Und »Salz«, d.h. die 
salzige Geschmacksqualität, ist nicht sichtbar (III, 3, 6). Ein 
Bündel von lauter heterogenen Einzelqualitäten 174) also wird wahr- 
genommen, sowohl als äußere »Dinge«, wie, vor allen Dingen auch, 
im Wege der Selbstbesinnung, als das, was uns als einheitliche 


173) Menander, einer der vorderindischen (indoskythischen) Herrscher der 
frühbuddhistischen Zeit. Die Dialogsammlung ist herausgegeben in den Sacred 
Books of the East (The Questions of King Milinda, Vol. 35, 36). Inwieweit etwa 
die aristotelische Entelechielehre eingewirkt haben könnte, ist fraglich. Doch 
darf eine weitgehende Originalität des buddhistischen Denkens darin wohl 
immerhin angenommen werden, da gerade auf diesen Punkt großes Gewicht 
gelegt wurde. 

174) pSkandhas«. Auch spätere buddhistische Inschriften sprechen von der 
Seele als von einem » Aggregate von Bestandteilen (Ep. Ind. IV, S. 134). 





Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 437 


sIndividualität« erscheint. Dies der Sinn der Erörterung. Was 
nun ist es, das die Einheit herstellt? Wiederum wird von den 
Außendingen ausgegangen. Was ist ein »Wagen«? Offenbar nicht 
irgend einer seiner einzelnen Bestandteile (Räder usw.).'Und ebenso 
offenbar auch nicht sie alle zusammen, als bloße Summe gedacht. 
Sondern kraft der Einheit des »Sinns« aller Einzelteile 
allein erleben wir das Ganze als »Wagen« Genau ebenso bei der 
Individualität. Worin besteht diese? In den einzelnen Sensa- 
tionen gewiß nicht. Auch nicht in allen zusammen. Sondern in 
der Einheit des Zwecks und Sinns, welche diese beherrscht, wie 
die sinnvolle Zweckbestimmtheit den Wagen. Worin aber besteht 
bei der Individualität dieser Zweck und Sinn? In dem einheit- 
lichen Wollen_des existierenden Individuums. Und der Inhalt 
dieses Wollens? Die Erfahrung lehrt, daß alles Wollen der 
Individuen in hoffnungsloser Vielheit auseinander- und gegenein- 
anderstrebt und nur in einem einzigen Punkt einig ist: sie alle 
wollen existieren. Letztlich wollen sie eben gar nichts anderes 
als dieses. All ihr Kämpfen und Tun, wie immer sie es vor sich 
und anderen illusionistisch einkleiden mögen, hat letztlich 
nur diesen einen einzigen letzten Sinn: den Willen zum Leben. 
Er, in seiner metaphysischen Sinnlosigkeit, ist es also, der letztlich 
das Leben zusammenhält. Er ist es, der Karman erzeugt. Ihn 
ilt es zu vernichten, wenn man dem Karman entrinnen will. 
De WEHEN Leben, oder wie der Buddhismus sagt: der »Durst« 
nach Leben und Handeln, nach Genuß, Freude, vor allem nach 
Macht, aber auch nach Wissen oder nach was immer es sei, — 
der ist allein das »principium individuationis«. Er allein macht 
aus dem Bündel von psychophysischen Vorgängen, welches die 
»Seele« empirisch ist, ein »Ich«. Nach einer Art von (wie wir sagen 
würden) »Gesetz der Erhaltung der Individuations-Energie« 175) 


178) Genau so suchen — wie ich zufällig sche — moderne Buddhisten diese 
Lehre »wissenschaftliche akzeptabel zu machen. Vgl. Ananda Maitreya 
(Animism and Law) in den Public. of the Buddhasasana Samagana (Rangoon 
2446 S. 16 unten). Newton habe die animistischen Mythologien in der Mecha- 
nik, Faraday die ganz entsprechenden Vorurteile (Phloziston) in der Chemie, 
Buddha in der Theorie der seelischen Vorgänge bescitigt, die genau so gesetzlich 
(durch Karman bedingt) ablaufen wie jene. Natürlich aber könnten nicht die 
von den Vorfahren ereıbten letztlich physisch bedingten Dispositionen, 
sondern nur ein besonderes seelisches Agens (der »Durste) die Tatsache der 
Neuentstehung von seelischem Leben selbst erklären. — Die altbuddhistische 
Formulierung ist: daß das Ich »vijüanasamtanas sei: ein Komplex oder eine 

rie vnn Bewußtseinsvorgängen, während nach der orthodoxen Lehre Vijfiana, 


438 Max Weber, 


wirkt er über das Grab hinaus. Dies Individuum, das dann stirbt, 
kann freilich nicht neu erstehen. Auch nicht durch »Seelenwande- 
rung«. Denn eine Seelensubstanz gibt es nicht. Aber der »Durst« 
läßt, wenn ein »Ich« im Tode zerfällt, sofort ein neues Ich zu- 
sammenschießen, belastet mit dem Fluch der unentrinnbaren 
Karman-Kausalität, die für jedes ethisch relevante Geschehen 
einen ethischen Ausgleich verlangt 176). Durst allein hemmt, rein als 
solcher, die Entstehung der erlösenden, zur göttlichen Ruhe 
führenden, Erleuchtung. In diesem spezifischen Sinn wird alles 
Begehren in jener intellektualistischen Wendung, welche in 
irgendeiner Form alle Erlösungsreligionen Asiens auszeichnet, 
mit »Unwissenheit« (Avidya) gleichgesetzt. Dummheit ist die 
erste, Sinnlichkeit und böser Wille sind erst die zweite und dritte 


. der drei Kardinalsünden. Die Erleuchtung aber ist nicht ein freies 


göttliches Gnadengeschenk, sondern Lohn unausgesetzter medi- 
tierender Versenkung in die Wahrheit, zur Ablegung der großen 
Illusionen, aus denen der Lebensdurst quillt. Wer dadurch jene Er- 
leuchtung erlangt, der genießt — darauf kommt es an — im 








der Gedanke, weil Sitz der Ich-Individualität, als Einheit galt. (Vgl. de la Vallée- 
Poussin, Journal Asiat. 9. Ser. 20, 1902). 

176) Diese Konsequenz wird u.a. in den » Questions of King Milinda« (III, 
5, 7) gelehrt. Das Karman lastet auf der infolge des Handelns und Tuns der 
untergehenden Individualität entstandenen neuen, die an sich mit jener alten 
nichts gmein hat, außer daß sie durch den ungelöschten »Durste jener nach wei- 
terer Existenz gezwungen wurde, ihrerseits sich zu bilden. Die Konstruktion 
war geboten, weil die Karmanlehre als Grundlage alles Leidens und der Existenz 
selbst ganz außer Frage stand und es sich nur darum handelte, in deren Rahmen 
cine befriedigende Konstruktion zu geben. Was denn eigentlich letztlich der 
Erlösungsbedürftige für ein Interesse daran habe, das Entstehen eines ihm 
in jeder Hinsicht schlechterdings fremden Wesens nach seinem T de zu hindern, 
wurde daher gar nicht gefragt. Schließlich gilt ja aber das gleiche für die, wie 
alle Dokumente zeigen, so massive Scelenwanderungsfurcht der Inder überhaupt. 
Wirklich streng ist im Buddhismus jener Standpunkt nicht festgehalten worden. 
Daß der vor dem Eingehen im Nirvana stehende Erleuchtete allwissend ist und 
rückwärts die ganze Reihe seiner Wiedergeburten überschaue, ist eine schon 
ziemlich frühe buddhistische (und nicht nur buddhistische) Lehre. Vor allem aber 
findet sich in den literarischen und monumentalen Quellen auch der alten 
(Hinayana-)Buddhisten die Seelenwanderung ganz in hinduistischer Art —eben als 
eine »Scelenwanderunge — behandelt. — Was die Karman-Lehre anlangt, so 
sind später die Qu. of King Milinda bemüht, tatalistische Konsequenzen hintan- 
zuhalten. Entsprechend dem Grundsatz, daß die Erörterung unlösbarer meta- 
physischer Probleme »Durste und also heilsschädlich sei, wird gelehrt: niemand 
wisse, wie weit sich der Eınfluß des Karman erstrecke. Jedenfalls sei nicht jeg- 
liches Ungemach — etwa ein Splitter im Fuß Buddhas — Folge von Karman. 
Denn auch die äußere Natur habe ihre eigene Gesetzlichkeit. — Karman scheint 
sich also wesentlich auf die soteriologischen Interessen der Seele: auf Leben 
und seclisches Leiden, zu beziehen. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 439 


Diesseits die Seligkeit. Hohe Siegesfreude ist daher der Ton, 
auf den die Hymnen des alten Buddhismus gestimmt sind. Der 
»Arhat«, welcher am Ziele der methodischen kontemplativen 
Ekstase angelangt ist, ist frei von Karman 177) und fühlt sich 17°) 


erfüllt von einem starken und zarten (gegenstands- und also be- : 
gierdelosen) Liebesempfinden, frei von irdischem Stolz und phari- _ 


säischer Selbstgerechtigkeit, aber getragen von unerschütter- 
lichem, die Dauer des Gnadenstandes verbürgendem Selbstver- 
trauen, frei von Furcht, Sünde und Täuschung, frei von Sehn- 
sucht nach der Welt und — vor allem — nach einem jenseitigen 
Leben. Er ist dem endlosen Rade der Wiedergeburten inner- 
lich entronnen, dessen Darstellung in buddhistischen Kunst- 
werken die christliche Hölle vertritt. Man könnte in der Rolle, 
welche das »Liebesempfinden« in dieser Schilderung des Zu- 
standes des Arhat spielt, einen »feministischen« Zug vermuten. 
Allein das wäre falsch. Die Erlangung derErleuchterung ist eine Tat 
des Geistes und verlangt die Kraft reiner »interesseloser« Kontem- 
plation auf der Basis rationalen Denkens. Das Weib aber ist wenig- 
stens der späteren buddhistischen Doktrin nicht nur ein irratio- 
nales, der höchsten Geisteskraft unfähiges Wesen, die spezifische 
Versuchung für den nach der Erleuchtung Strebenden, — es 
ist vor allem jener »objektlosen« mystischen Liebes- 
stimmung gar nicht fähig, welche den Zustand des Arhat psycho- 
logisch charakterisiert. Ein Weib wird vielmehr, wo immer sich 
Gelegenheit bietet, in Sünde verfallen. Und wo sie, trotz der ge- 
gebenen Gelegenheit, einmal nicht sündigt, da kommt sicherlich 
irgendwelchen konventionellen oder anderen egoistischen Er- 
wägungen das Verdienst dafür zu. So die ausdrückliche Auffas- 
sung späterer mönchischer Moralisten. Der Meister selbst hat 
sich anscheinend nicht so geäußert. Im Gegenteil finden wir in 
der Frühzeit des Buddhismus — wenigstens nach der Legende — 
in der Umgebung des Meisters selbst ganz ebenso wie in allen 
Intellektuellen-Sekten der damaligen, in jeder Hinsicht noch 
weniger konventionell gebundenen, Zeit Frauen, auch solche die 
wandernd die Lehre ihrer Meister verkündigten. Die höchst 
subalterne Stellung des buddhistischen Nonnenordens, der den 
Mönchen durchaus untergeordnet ist, wird daher Produkt der 


17) Sein Handeln erzeugt als Folge nicht Karman, sondern nur »Kiriya«, 
welches nicht zur Wiedergeburt führt. 

179) Die Schilderung der psychologischen Qualitäten des Gnadenstandes 
in den Buddha selbst zugeschriebenen Reden (Neumann, Reden des Gautomo 





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440 Max Weber, 


späteren spezifischen klösterlichen Entwicklung sein 7%). Jene 
Unbefangenheit des intersexuellen Verkehrs der Intellektuellen- 
kreise bedeutete aber sicherlich keinerlei »femininen« Charakter 
der Botschaft des Meisters selbst. Diese verwirft irdischen Stolz 
und Selbstgerechtigkeit. Aber nicht zugunsten von erbaulicher 
Selbstdemütigung oder gefühlsmäßiger Menschenliebe im christ- 
lichen Sinn. Sondern zugunsten männlicher Klarheit über den 
Sinn des Lebens und der Fähigkeit, in »sintellektueller Recht- 
schaffenheit« die Konsequenzen daraus zu ziehen. Ein »soziales« 
Empfinden vollends im Sinn einer Sozialethik, welches mit dem 
»unendlichen Wert der einzelnen Menschenseele« operiert, mußte 
einer Erlösungslehre so fern wie möglich liegen, welche in jenem 
auf die »Seele« gelegten Wertakzent ja gerade lediglich die eine 
große verderbliche Grundillusion wiederfinden konnte. Auch die 
spezifische Form des »Altruismus« des Buddhisten: das universelle 
Mitleid, ist lediglich eine der Stufen, welche das Empfinden 
durchläuft beim Durchschauen der Sinnlosigkeit des Existenz- 
kampfs aller Individuen im Lebens-Rad, ein Kennzeichen 
fortschreitender intellektueller Erleuchtung, nicht aber Aus- 
druck aktiver Brüderlichkeit: es wird in den Regeln für die 
Kontemplation ausdrücklich dazu bestimmt, durch den kühlen, 
stoischen Gleichmut des Wissenden als Endzustand ersetzt 
zu werden. Natürlich wirkt es höchst sentimental, wenn jener 
siegreiche buddhistische König (9. Jahrh.) zu Ehren Buddhas 
seine Elefanten frei läßt, welche nun, wie die zitierte Inschrift 
besagt (Ind. Ant. XXI, 1892, S. 253) »mit Tränen in den Augen« 
ihre Genossen in den Wäldern wieder aufsuchen. Indessen jene 
Konsequenz aus dem »Ahimsa«ist an sich ein rein formaler Akt, — 








Buddho) sprechen (I. Teil, 2. Rede) von »Tiefsinn«, »Heiterkeit«, »Lindheite, 
»Innigkeit«, »Gleichmut«e auf Grundlage der Einsicht, von dem Fehlen der Hof- 
fart, aber auch jeder matten Müdigkeit (I. Teil, 8. Rede), von »innerer Meeres- 
stillee und »Einheit des Gemüts« in einer »aus Selbstvertiefung geborenen seli- 
gen Heiterkeit« (III. Teil, 6. Rede), in dem durch Arbeit an sich selbst (I. Teil, 
2. Rede) erlangten Bewußtsein: »Dies ist das letzte Leben und nimmer gibt’s 
ein Wiedersehn.« 

179) Schon relativ alte Quellen, wie das Tschullavagga, haben allerdings dem 
Meister selbst die unbedingte Ablehnung der Frauen untergeschoben: nur den 
Bitten seiner Tante und Pfiegmutter Mahapyapati haben diese es zu danken, 
daß sie überhaupt in subalterner Art zur Heilssuche zugelassen werden. Indessen 
mit anderen Quellen ist diese Annahme schwer vereinbar und es ist bei einem 
Mönchsorden wahrscheinlicher, daß er die (relative) intersexuelle Freiheit der 
alten vornehmen Kschatriya»Salons«e später wegretouchiert hat, als das Umge- 
kehrte. 


nn 


-_ 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus, 441 


wie die modernen Tierspitäler und Tierpensionen der Klöster. 
Und »Tränen« waren wenigstens der Frühzeit des alten Buddhis- 
mus relativ sehr fremd und flossen in Indien allgemein erst 
mit der pietistischen (bhakti-)Frömmigkeit reichlicher. — 

Für die Charakterisierung des buddhistischen Erlösungs- 
typus in seinen Wirkungen auf das Verhalten. nach außen_hin 
ist folgendes entscheidend. "Die "Versicherung des Gnaden- 
standes, das Wissen also um die eigene endgültige Erlösung, wird 
nicht durch Bewährung in irgendwelchem — »innerweltlichen« 
oder »saußerweltlichengs — Handeln, in »Werken« welcher 
Art immer, sondern im Gegenteil in einer aktivitätsfremden 
Zuständlichkeit gesucht. Dies ist ausschlaggebend für 


T ; 


die gesamte Stellung des »Arhat«-Ideals zur »Welt« des rationalen 
Handelns: es gibt von jenem zu diesem keine Brücke. Und eben- 
sowenig zu einem im aktiven Sinn »sozialen« Verhalten. Die Er- 


lösung ist eine absolut individuelle Leistung des Einzelnen aus 


‚igener Kraft 1° isu), Niemand und insbesondere keine soziale Ge- 
meinschaft kann ihm dabei helfen: der spezifisch asoziale Cha- 
rakter aller eigentlichen Mystik ist hier auf das Maximum ge- 
steigert. Eigentlich erscheint es schon als ein Widerspruch, 
daß der Buddha — dem die Stiftung einer »Kirche« oder auch 
nur einer »Gemeinde« ganz fern lag und der für sich ausdrücklich 
die Möglichkeit und die Prätension, eine Ordensgemeinschaft 
sleiten« zu können, ablehnte,— immerhin doch einen »Ordens 
ins Leben gerufen hat, — sofern diese Stiftung nicht vielleicht 
hier, wie im Christentum, vielmehr lediglich eine Schöpfung seiner 
Schüler war. Nach der Legende hat der Buddha auch die Ver- 
kündung seiner Erlösungslehre nicht aus eigenem Antrieb, son- 
dern auf besondere Bitte eines Gottes auf sich genommen. Die 
alte Ordensgemeinschaft bot den Brüdern in der Tat nur beschei- 
dene Nachhilfen in Gestalt von normgemäßer Lehre und Auf- 
sicht für den Novizen, Erbauung, Beichte und Buße für den Voll- 
mönch. Sie scheint im übrigen vor allem der Fürsorge für die 
standesgemäße »Wohlanständigkeit« des Verhaltens der Mönche 
zu dienen, um deren Charisma nicht vor der Welt kompro- 





380) Sucht nicht nach einer Zuflucht bei irgend jemand außer bei euch 
selbste heißt es im Mahaparinibhana Sutra (II, 31—35, S. B. of the East XI, 
S. 35 ff., auch deutsch bei Schulze, Das rollende Rad S. 96 ff., speziell S. 97). — 
Der Gegensatz des Buddhismus gegen das Christentum ist außer in zahlreichen 
Stellen von Oldenbergs Schriften, schön herausgearbeitet auch in v. Schröders 
Reden und Aufsätzen« (S. 109). 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 2. 29 


442 Max Weber, 


mittieren zu lassen. Im übrigen ist, wie bald zu erörtern, mit 
der größten Konsequenz und Absichtlichkeit die Organisation 
dieser sozialen Gemeinschaft und die Gebundenheit des Einzelnen 
an sie sminimisiert«. | 
Daß die Erlösung selbst nur der Weltflucht in Aussicht ge- 
stellt wurde, entsprach an sich den indischen Gepflogenhei- 
m ten, folgte aber beim Buddhismus aus dem ganz speziellen 
‘ Charakter der Erlösungsiehre. Denn eine Erlösung aus dem 
endlosen Kampf des individuell Geformten um seine stets 
gleich hoffnungslos verlorene Existenz zum Eingehen in die 
Unvergänglichkeit der Ruhe war ja nur durch die Abwendung 
von allem und jedem mit der Welt der Vergänglichkeit und des 
Kampfes um die Existenz verbindenden »Durste« erreichbar. 
Sie konnte selbstverständlich ausschließlich dem »hauslosen« 
! (pabbajita, d. h. dem wirtschaftslosen) Stande, nach der Gemeinde- 
lehre nur den wandernden Jüngern (später: Mönche, Bhikkhu 
enannt) zugänglich sein. Die. Stände der »Hausbewohners 
waren dagegen für die Gemeindelehre, — ähnlich etwa wie die 
tolerierten Ungläubigen im Islam, — im Grunde ausschließlich 
dazu da, den Buddhajünger, der den Gnadenstand zu erwerben_ 
trachtet, bis zu seiner Erreichung durch Almosen zu sustentieren.. 
Heimatlos wandernd, besitzlos, arbeitslos, sexuell und gegenüber 
Alkohol, Gesang und Tanz absolut enthaltsam, streng vege- 
tarısch, unter Meidung von Gewürzen, Salz und Honig, vom 
schweigenden Bettel von Tür zu Tür lebend, im übrigen der 
Kontemplation hingegeben, sucht er die Erlösung vom Daseins- 
durst. Die materielle Unterstützung des Erlösungsuchenden 
und nur sie war letztlich die höchste Verdienstlichkeit und Ehre, 
die dem »Upäsaka« (»Verehrer« Laien 18!)) zugänglich ist. Die 
Zurückweisung seiner Almosen durch Umkehrung der Bettel- 
töpfe war die einzige Strafe, die ihm von den Mönchen drohte. 
Upäsaka aber war jeder, der sich als solcher betätigte. Eine offi- 
zielle Anerkennung gab es dafür ursprünglich gar nicht. Später 
wurde die Erklärung: seine Zuflucht zum Buddha und zu der Ge- 
meinde (der Mönche) zu nehmen, als genügend behandelt. Wäh- 
rend für die Mönche ganz eindeutige Sittenregeln bestehen, be- 
schränkt sich der Stifter für die frommen Verehrer auf wenige 
empfehlende, und erst später allmählich zu einer Art von Laienetbik 


— nn 
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Pa 


181) Der Ausdruck ist technisch und findet sich in offiziellen Inschriften 
e. B. J. R. A. S. 1912, S. 119 und oft). 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 443 


ausgebaute Ratschläge. sConsilia evangelica« gab es hier also 
nicht für die opera supererogataria der Begnadeten, wie im Chri- 
stentum, sondern gerade umgekehrt als Unzulänglichkeits- 
ethik der Schwachen, welche die volle Erlösung nicht suchen wollen. 
Sie entsprachen in ihrem ursprünglichen Inhalt ungefähr dem 
Dekalog, jedoch mit umfassenderem, auf alle Verletzung lebender 
Wesen erstreckten Sinn des Tötungsverbots (Ahimsa) und des 
‚Gebots der unbedingten Wahrhaftigkeit (im Dekalog bekanntlich 
nur für das Gerichtszeugnis verlangt), und mit ausdrücklicher 
Verpönung der Trunkenheit. Für die getreue Innehaltung 
dieser Gebote der Laiensittlichkeit (insbesondere der 5 Kardinal- 
verbote: nicht töten, nicht stehlen, nicht ehebrechen, nicht lügen, 
nicht sich berauschen) werden dem frommen Laien innerwelt- 
liche Güter: Reichtum, ein guter Name, gute Gesellschaft, 
Tod ohne Angst und die Besserung seiner Wiedergeburtschancen 


in Aussicht gestellt. Günstigenfalls also: die Wiedergeburt in | 


jenem ebenfalls vergänglichen Götterparadies, welches der zum 
Eingang in Nirvana Erlöste verschmäht, welches aber dem Welt- 
kind besser zusagen mochte als jener vom Buddha in seiner 
näheren Bestimmtheit vielleicht problematisch gelassene, von 
der älteren Lehre aber zweifellos mit absoluter Vernichtung gleich- 
gesetzte Zustand 183). Der alte Buddhismus des Pali-Kanons 
war also lediglich ständische Ethik, oder richtiger: Kunstlehre, eines 
kontemplativen Mönchtums. Der Laie (rHausbewohner«) kann 
nur die sniedere Gerechtigkeit« (Adi-brahma-chariya) üben, 
nicht, wie der »Ehrwürdige« (arhat) die entscheidenden Erlö- 
sungswerke. — 

Es ist nun freilich sehr fraglich, ob die Lehre Buddhas von 
Anfang an als eine »Mönchs«- Religion gedacht war. Oder 
vielmehr: es ist so gut wie ganz sicher, daß sie dies keineswegs 
war. Es ist eine offenbar alte Tradition: daß der Buddha bei 


182) Daß für den alten Buddhismus Nirwana wenigstens nach dem Tode 
wirklich gleich »Verwehen«, »Auslöschen« der Flamme, und nicht gleich einem 
traumlosen Schlaf (wie meist im Hinduismus) oder gleich einem Zustand unbe- 
kannter und unaussprechbarer Seligkeit war, dafür sprechen hinlängliche An- 
zeichen. Noch in den Milinda-Fragen, welche (IV, 8, 69) Nirwana zweideutig 
als einen Zustand schildern, dessen Kühle den Lebensdurst stille, eine Arznei, 
grenzenlos wie der Ozean, welche Alter und Tod ende, eine Quelle der Schönheit 
und Heiligkeit, ewig, glanzvoll, die Vollendung aller Wünsche, wird doch (IV, r, 
12 f.) betont: die Verehrung der Reliquien Buddhas bedeute nicht, daß Buddha sie 
entgegennehme. Er sei mit jeglicher Spur aus dem Dasein ausgelöscht und man 
verehre sie vielmehr zur Anfachung des eigenen Feuers. Freilich ist die Brücke 
vom Nichtsein zum Uebersein in aller Mystik leicht geschlagen. 

29, * 


u 


444 Max Weber, 


Lebzeiten zahlreiche Laien, die nicht in einem Orden lebten, zum 
Nirvana habe gelangen lassen. Und es wird auch in den Fragen 
des Königs Milinda noch gelehrt, daß ein Laie Nirvana wenig- 
stens, wie ein gelobtes Land, von Angesicht zu Angesicht erschauen 
könne. Dabei wird auch die Frage erörtert, wie jemals Erlösung 
von Laien durch Buddha möglich gewesen seiund warum der Bud- 
dha dessenungeachtet doch einen Mönchsorden gestiftet habe 189). 
Die Gemeinde Buddhas war naturgemäß zunächst die Ge- 
folgschaft eines Mystagogen, jedenfalls mehr eine soteriolo- 
gische Schule als ein Orden. Die Diskussionen der Fachleute 184) 
machen wahrscheinlich, — was schon an sich naheliegt —, daß 
nach Buddhas Tode die nächsten Schüler zunächst, gegenüber 
ihren Anhängern, eine ähnliche Stellung eingenommen haben, 
: wie Buddha zu ihnen selbst: sie waren ihre spirituelle Väter, in 
' der üblichen indischen Terminologie: Guru, und maßgebende 
_ Interpreten seiner Lehre. Auf dem Konzil von Vaicali, welches 
zum Schisma führte, hatte man einen hundertjährigen Schüler 
des Ananda, des Lieblingsschülers des Meisters, herbeigeholt: 
den »Vater der Gemeinschaft«. Formelle Bestimmungen darüber, 
wer in den später, zur Schlichtung von Lehr- und Disziplin- 
streitigkeiten, gelegentlich berufenen »Konzilien«, den univer- 
sellen Versammlungen der Gemeinschaft, zu sitzen das Recht 
habe, fehlten zweifellos und von einer »Abstimmung« in unserem 
Sinn war keine Rede. Autorität entschied. Das Charisma der 
Arhatschaft, des sündlosen und daher mit magischen Kräften 
ausgestatteten Erlösten, war das entscheidende Merkmal: frei- 
lich aber hatte schon einer der vom Buddha selbst zugelassenen 
Schüler 185) ein Schisma verschuldet. Irgendwelche »Regeln« 
hatte der Buddha wohl sicher von Fall zu Fall gegeben: es wird 
gesagt, daß diese nun, nach seinem Tode, der unpersönliche »Herre 
der Gemeinde sein sollten. Unsicher ist nur, ob eine systematische 
Ordensregel, wie das spätere Pratimokscha es war, schon von 
ihm selbst stammte. Die unvermeidliche Disziplin erzwang 
dann festere Formen. Und ein Orden wurde die Gemeinschaft, 
weil wichtige Teile der Lehre als Geheimlehre überliefert wur- 


183) 0), of. K. Milinda Buch VI. Der Orden, wird geantwortet, fördere die 
Tugend und alle, die Buddha als Laien zur Erlösung habe gelangen lassen, seien 
wenigstens in einem früheren Leben Mönche gewesen. 

184) Minayeff, H. Oldenberg, de la Vallée Poussin. S. darüber abschlies- 
send den letztgenannten in Ind. Ant. 37 (1908), S. ı ff. 

185) S, über ihn Q. oí K. Milieda IV, ı, 2 ff. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus, 445 


den 1%), wie in den meisten alten Soteriologien Indiens. Es war 
ein Zugehörigkeitsmerkmal erwünscht. Schon bald nach Buddha 
muß der Orden mit Kopfschur und gelber Tracht konstituiert 
gewesen sein und nur in der relativ immerhin lockeren Organisa- 
tion erhielt sich die Spur des einstigen freien Gemeinschafts- 
charakters der alten Laien- Jüngerschaft. Es stand sehr bald 
fest, daß man zur vollen Einsicht 1%) und zur Arahat-Würde nie- 
mals gelangen konnte, ohne förmlich Mönch geworden zu 
sein 188), 

Eine rationale Wirtschaftsethik konnte eine derartig Ordens- 
religion nicht entwickeln. Sie ist, wie schon jetzt bemerkt sein 
mag, auch später nicht daraus entwickelt worden, als der alte 
Buddhismusschon auf dem Wege war, im »Mahayana« (»großen 
Schiff«, zum andern Ufer: der Erlösung, nämlich) im Gegen- 
satz zum rein mönchischen »Konventikel«-Buddhismus: Hinayana 
(skleines Schiff«) eine Laienreligion zu entwickeln. So werden im 
Lalitavistara dem frommen und gebildeten Laien (ärya) zwar 
Ratschläge gegeben, wie er in seinem Berufe (mägra) vorwärts 
kommen könnte, aber in äußerst — und (wegen der Ablehnung 
der Werkheiligkeit) wohl absichtsvoll — unbestimmter Form 
Es fehlen dabei »asketische« Regeln. In dem Dekalog der hindui- 
stischen Yoga-Sutra gehört zu den sozialethischen und also 
allgemeinverbindlichen Lebensregeln (den 5 »yamas«) auch Ge- 
ringschätzung von Reichtum und Geschenken, zu den soterio- 
logischen individual-ethischen Regeln der höheren, geistlichen 
Ethik (den 5 niyamas) Genügsamkeit und ethische Strenge. 
Die übliche spätere buddhistische »Dekalog« (dagagila) erwähnt 


156) Dag dies mindestens zeitweise der Fall war, ergibt sich aus Q. of K. 
Milinda IV, 4,6 (vgl. IV, 3, 4.). Daß es nicht das Ursprüngliche war, zeigt sich 
darin, daß in Ceylon auch die Laien die Vinaya-Texte lasen. Auch die Aufzäh- 
lung der Klassen, welche nicht zur Einsicht gelangen können, selbst wenn sie kor- 
rekt leben (IV, 8, 54): Tiere, Kinder unter7 Jahren, Häretiker, Vater- und 
Muttermörder, Mörder von Arhats, Schismatiker, Apostaten, Funuchen, 
Hermaphroditen, nicht rehabilitierte Todsünder usw. schließt eigentlich aus, daß 
von jeher nur Mönchen die Erlösung zugänglich gewesen wäre. 

187) Q. of K. Miliado IV, 1, 28 ergibt deutlich, daß nur ein Mönch Schis- 
matiker werden konnte, weil nur ein solcher die Lehre ganz kannte, 

188) O., of K. Milinda a. a. O. (eventuell also: ohne es in einem früheren Leben 


einmal gewesen zu sein). Ein Laie, der die Arhat-Würde erreicht, kann (nach `` 


IV, 3, 4) nur entweder am gleichen Tage sterben oder Mönch werden. Auch der 
unwürdigste Mönch empfängt von dem würdigsten Laien Verehrung deshalb, 


— 


weil nur der Mönch Träger der Tradition der Ordensregel ist. Am Anfang des 


Kapitels werden die Kschatriya verherrlicht. Das alles deutct auf die Umwand- 
lung einer ursprünglichen Laiengemeinschaft in einen Mönchsorden. 





446 Max Weber, 


dagegen von jener asketisch negativen Beziehung zum Reich- 
tum nichts, sondern beschränkt die 5 allgemein geltenden Ver- 
bote auf: Töten, Stehlen, Unzucht, Lüge und Alkoholgenuß, 
während den Aspiranten des geistlichen Standes außerdem das 
Essen außerhalb der erlaubten Zeit (einmal täglich), die Teil- 
nahme an weltlichen Vergnügungen, Putz- und Schmuckgebrauch, 
weiche Betten und Annahme von Geldgeschenken absolut ver- 
boten sind. Die späteren buddhistischen Suttas, welche sich ein- 
gehender mit der Moral befassen (oft werden die betreffenden 
Lehren, statt dem Buddha selbst, dessen Schüler Ananda in 
den Mund gelegt), suchen allerdings die Laienmoral als eine »Vor- 
stufe« der höheren, geistlichen Ethik zu behandeln. Innerhalb 
der stufenweise von der »niederen« zur »höheren« Moral auf- 
steigenden Sittenlehre wird die Verschmähung von Putz und die 
Enthaltung von der Teilnahme an Schauspielen und Wett- 
kämpfen für die »höhere« Moralstufe empfohlen. Aber diese 
v»höhere« Moral führt — das ist das Entscheidende — nicht zu 
zunehmend raticnaler Askese (außerweltlicher oder innerwelt- 
licher) und positiver Lebensmethodik. Denn jede »Werkheiligkeit« 
(kriyavada, karmavada) ist und bleibt verketzert. Sondern 
gerade umgekehrt tritt die aktive »Tugend« im Handeln immer 
stärker zurück gegenüber der »gila«, der Ethik des N ich t- 
Handelns zum Zweck. der Abstreifung von »rajas« (»Antrieb«) 
zugunsten der reinen Kontemplation. In den Schriften der 
orthodoxen »südlichen« (Hinayäna)-Buddhisten wird dem 
Meister selbst ausdrücklich das Anerkenntnis in den Mund gelegt: 
daß seine Ethik »dualistisch« sei, sowohl Quietismus als Werk- 
tätigkeit lehre. Aber die Art der angegebenen Lösung des Wider- 
spruchs: Quietismus in bezug auf schlechtes, Werktätigkeit 
in bezug auf gutes Wollen, ist geistliche Sophistik. In Wahrheit 
- klafft der Widerspruch zwischen: Ethik des Handelns und: Kunst- 
regeln der Kontemplation unlösbar und nur die letztere gibt 
die Erlösung. Die buddhistische Mönchsethik ist eben nicht, 
wie die spätere christlichen, ein auf besondere Gnadegaben 
gestütztes rational-ethisches Ueberbieten des in den sozialen 
Ordnungen verlaufenden, »innerweltlichen« ethischen Handelns. 
sondern sie verläuft nach der gerade entgegengesetzten, prinzipiell 
asozialen, Richtung. Und deshalb ist ein wirklicher Ausgleich 
zwischen Welt- und Mönchsethik im Wege der »ständischen« 
Relativierung, wie sie Bhagavata-Glaube und Katholizismus 





Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 447 


anternehmen konnten, niemals auch nur soweit gelungen wie |} 
dort. Die auf Laien zugeschnittene spätere Soteriologie konnte 
schon deshalb nicht den Weg einer innerweltlichen puritanischen 
Askese, sondern nur den einer sakramentalen, hagiolatrischen, 
idolatrischen oder logolatrischen Ritualreligiosität einschlagen. 
Immer blieb jedenfalls der Satz bestehen: »wer schöne Taten 
verrichten will, werde kein Mönch«. Im alten Buddhismus vol- 
lends fehlte auch fast jeder Ansatz einer methodischen Laiensitt- 
lichkeit. Der Laie soll bei der Annahme versprechen: Mord, Un- 
reinheit, Lüge und Trunk zu weiden. Wie alt diese Gebote sind, 
ist indessen nicht ganz sicher. Gewisse Gewerbe galten früh 
aus religiösen Gründen für den Upäsaka als unstatthaft: Waffen-, 
Gift- und Alkoholhandel (ähnliche wie gewisse mit heidnischen | 
Kulten zusammenhängende Gewerbe in der alten Christenheit), | 
der im ganzen Hinduismus als bedenklich geltende Karawanen- | 
handel überhaupt, der (für die Sexualmoral gefährliche) Sklaven- | 
handel und das Schlächtergewerbe (als Verletzung des Ahimsa). 
Von diesen Gewerben also waren wenigstens korrekte Laien aus- . 
geschlossen. Aber die spezifische Verwerflichkeit der Acker- l 
bauarbeit für den Mönch (wiederum wegen des Ahimsa: der 
Perhorreszierung der beim Pflügen und Hacken unvermeidlichen 
Verletzung irgendwelcher lebender Wesen, die ja im Kreislauf 
der Wiedergeburten mit dem Menschen vergemeinschaftet sind) 
hinderte diesen keineswegs, Ackerbauprodukte als Almosen 
anzunehmen: sie hat die Laienwirtschaft überhaupt nicht be- 
einflußt. Ebensowenig hatte die äußerst scharfe Ablehnung jedes 
Geldbesitzes für die Mönche Bedeutung für die Laiensittlichkeit. 
Irgend ein individualsittlicher oder sozialethischer Protest gegen 
Reichtumserwerb oder Luxusverbrauch findet sich, soweit die 
Weltsittlichkeit in Betracht kommt, im ältesten Buddhismus 
nicht. Auch nicht in jener Art von Empfehlung der Geringschätzung 
der Eitelkeit der Welt, also auch Reichtum und Putz, wie sie die 
zitierten spätern Suttas enthalten. Denn nicht ein Unrecht 
Sondern eine Versuchung, dem »Durst« zu verfallen, sind jene 
Dinge. Im Gegenteil wurde ja der Reichium als solcher, wie wir 
sahen, als eine Frucht der Laiensittlichkeit verheißen und die ` 
»Unterweisung des Sigäla« verpflichtet die Eltern ausdrücklich, 
ihren Kindern ein Erbteil zu hinterlassen. Irgend eine religiöse ! 
Prämie auf ein bestimmtes ökonomisches Verhalten fehlt auch 
sonst ir in jeder Richtung völlig. Es fehlte zunächst auch jedes 


at, 


y a 


Miere 7 ranan v ansman S 


448 Max Weber, 


Mittel der Kontrolle der Laiensittlichkeit. Die einzige ursprüng- 
liche, schon erwähnte, Strafe der s Umkehrung des Almosentopfs« 
war nicht für Laster, sondern ausschließlich tür Verletzung der 
Achtung gegen die Mönchsgemeinde in Aussicht gestellt. Gerade 
die ältesten, vielleicht auf den Stifter selbst zurückgehenden 
Regeln haben ganz ausschließlich diesen Sinn. Es gab ur- 
sprünglich für die Laien weder Beichte noch Kirchenzucht, weder 
Laienbrüder noch Tertiarier. 

Die buddhistische Mönchssittlichkeit ihrerseits aber kennt 
nicht nur die Arbeit nicht, sondern auch von den sonst üblichen 
asketischen Mitteln nur Nachhilfen, gerichtet auf Vertiefung 
der Kontemplation, Erbauung, Sicherung der wachen Selbst- 
kontrolle durch Beichte und Ermahnung des Schülers durch den 
Lehrer, des an Anciennität jüngeren durch ältere Mönche. Jede 


Form einer rationalen Askese lehnt der Buddhismus ap. Wie 
nicht jede rationale Askese »Weltflucht« ist, so ist auch nicht je jede | 


Tui rn a r E e EE ai 


»Weltflucht« rationale Askese: — davon kann man sich an 
diesem Beispiel überzeugen. — Weil für den Buddhismus der 
»Durst« nach einem Jenseits ganz ebenso ein Haften an der Welt 
ist, wie der Durst nach dem Diesseits, so steht auch mit der 
Hingabe an das diesseitige Glück die asketische werkheilige Selbst- 
abtötung um eines jenseitigen Glücks willen auf gleicher Stufe. 
Beiden gegenüber betritt der Buddha den »mittleren Pfade«. 
Der große Wendepunkt in seinem Leben war, nach der darin wohl 
sicher zuverlässigen Ueberlieferung, das Aufgeben der in der indi- 
schen soteriologischen Methodik hoch ausgebildeten Versuche, 
durch Unterernährung und andere physiologischen Mittel den 
Leib zugunsten der Erlangung eines ekstatischen Charisma ab- 
zutöten. Darin steht also der Buddhismus entwicklungsgeschicht- 
lich der jesuitischen Ablehnung der Mittel der alten Mönchs- 
kasteiung nahe 18%). Gerade diese Neuerung in seiner Lebens- 


186, Vjererlei Lebensführungen gibt es, lehrt ein Wort des Meisters: die erste 
bereitet gegenwärtiges Wohl und führt zum künftigen Wehe: sinnliche Lust. Die 
zweite bereitet gegenwärtiges Wehe und führt zum künftigen Wehe; die sinnlose 
Kasteiung. Diese zwei, also auch die irrationale Askese, führen nach dem Tode 
sabwärtse.. Gegenwärtiges Wehe, künftiges Wohl bereitet die dritte dem, der 
— seiner nun einmal so geartet natürlichen Anlage nach — ein heiliges 
Leben nur »mit Mühe« führen kann: er gelangt in den Himmel. Gegenwärtiges 
und künftiges Wohl bietet die vierte dem, der so veranlagt ist, daß er Zu hef- 
tigem Begehren nicht neigt und die »innere Meercsstille« leicht erreicht. Er ge- 
winnt Nirwana (5. Teil, 5. Rede bei Neumann, Reden des Gautana Buddha.) 
Ganz in jesuitischer Art wird die Ablehnung der irrationalen Kasteiungen 
motiviert in Acgvagoshas Buddha Tscharita (Sacred B. of the East 49) VII, 





Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 449 


führung wurde, ebenfalls nach alter WUeberlieferung, von 
seinen asketischen Genossen ebenso als Bruch der allerelemen- 
tarsten Voraussetzungen der Erlösung empfunden wie das ano- 
mistische Verhalten von Jesus von den Pharisäern. Es trug ihm 
zunächst offene Mißachtung und Zweifel an seinen Gnadengaben 
gerade in jenen Kreisen ein. Der unauslöschliche Haß der auf 
extreme asketische Abtötung und "Werkheiligkeit abgestellten 
jainistischen Mönche setzte an eben diesem Punkt ein. Die 
buddhistische Erlösung ist, wenn man — wie wir es hier tun wol- 
len 1—, »Askese« als rationale Lebensmethodik faßt, prinzipiell 
antiasketisch, Gewiß schreibt sie einen bestimmten Weg vor, 
auf dem allein man zur Erleuc htung kommen kann. Aber dieser 
Weg ist weder ein verstandesmäßiges Einsehen der — an sich 
ja unendlich einfachen — Lehrsätze, auf denen sie metaphysisch 
ruht, noch ein allmähliches Training zu immer höherer sittlicherVer- 
vollkommnung. Die Befreiung ist, wie wirsahen, ein durch metho- 


dische Kontemplation nur vorzubereitender plötzlicher »Sprungs 


in die Zuständlichkeiten der Stufen der Erleuchtung. Das 
Wesen dieses Sprunges ist, daß er den Menschen in seinem inner- 
sten praktischen Habitus in Einklang setzt mit seinen 
theoretischen Einsichten und ihm dadurch die buddhistische 
»perseveratina gratiae« und »certitudo salutis«: die Sicherheit, 
von dem »Lebensdurst« definitiv und ohne Rückfall 


erlöst zu sein, in diesem Sinn also: »Heiligkeit«, verleiht. Dies ` 


war, wie alle Ueberlieferungen zeigen, das Gnadenstandsbewußt- 
sein des Buddha selbst. Alle Vorschriften des Buddha sind 
solche für die praktische Erreichung dieses Gnaden- 
standes, also gewissermaßen propädeutische Novizenvorschrif- 
ten. — Alle seine eigenen als wahrscheinlich authentisch an- 
zusehenden Aeußerungen: speziell auch über den sedlen acht- 
fältigen Pfad«, enthalten nur allgemeine Angaben über die rechte 
Frlösungsgesinnung. Und es ist ganz wohl möglich, daß der 
Buddha, ebensowie Jesus, für den Stand der erreichten Gnaden- 
perseveranz (um es christlich auszudrücken) direkt anomistische 
Konsequenzen gezogen hat. Die Gegner (einschließlich der mo- 
dernen konfessionellen christlichen Kritiker) haben ihm ja sein 
»Wohlleben« immer wieder vorgehalten, und nach der Ueberliefe- 
rung ist er an verdorbenem Schweinefleisch gestorben. Wie dem 








98/9: sie stört die Möglichkeit der Scelbstbeherrschung und schwächt die Kräfte 
des Körpers, deren man bedarf, um die Erlösung erarbeiten zu können, 


| 


| 


450 Max Weber, 


nun sei, jedenfalls beschränkt sich die buddhistische »Methodik« 
auf die Anweisungen für Sicherung des Erfolges der Kontem- 
plation und liegt methodisches Handeln, es sei um dies- 


| seitiger oder jenseitiger Ziele willen, für den Buddhismus in der 


, Richtung nicht der Erlösung, sondern des »Weltdurstes«, von 
dem er ja gerade Erlösung bringen will. — Es ist vielleicht zweck- 
mäßig, die altbuddhistische Soteriologie hier abschließendin ratio- 
naler Form so zusammenzufassen, wie dies von modernen euro- 
päisch geschulten Buddhisten geschieht 190). 
Die Grundlage dafür ist die berühmte Predigt des Bud- 
dha in Benaras über die vier heiligen Wahrheiten. Die vier 
heiligen Wahrheiten beziehen sich auf ı. Leiden, 2. den Grund 
des Leidens, 3. das Ende des Leidens und schließlich, als Mittel 
dazu, 4. den edlen achtfältigen Pfad. — ı. Das Leiden haftet an 
der Vergänglichkeit als solcher und diese an der Individuation. 
Alle Herrlichkeit des Lebens ist nicht nur vergänglich, sondern 
ruht auf Kampf mit anderem Leben und entsteht nur auf 
dessen Kosten. — 2. Der Grund alles Lebens und damit 
alles Leidens ist der sinnlose »Durst« (trishna) nach Leben, nach 
Erhaltung der Individualität, selbst über den Tod hinaus in einem 
sewigen« Leben. Der Glaube an die »Seele«, und an deren Dauer 
ist nur die Folge dieses unstillbaren Durstes mit all den 
Sinnlosigkeiten, die er mit sich bringt. Sie ist auch die Quelle 
des Glaubens an einen »Gott«, der unsere Gebete erhört. — 3. Das 
Ende des Lebensdurstes ist das Ende jenes Leidens an der Ver- 
gänglichkeit und am Leben. Der Weg dazu aber ist — 4. der 
edle achtfältige Pfad. Seine Stufen sind: Sammadikhi — 
prechte Einsicht« — nämlich die zunächst verstandsmäßige, 
dann aber das ganze Leben durchdringende Einsicht darein: daß 
alle Konstituenzien des Lebens von Natur mit den Prädikaten 
des Leidens, der Vergänglichkeit und des Fehlens jeglichen »ewigen« 
Kerns (nach Art des brahmanischen Atman, der »Seele«) behaftet 
sind. — Die zweite Stufe ist Sammasankappa, »rechtes Wollen«, der 
erbarmungsvoll wissende Verzicht auf den Genuß des Lebens, 
der ja überall nur auf Kosten anderer Lebender möglich ist. — 








190) Allan Mac Gregor, als Konvertit und Mönch Ananda Maitreya genannt, 
The four noble Trtuhs, Public. of the Buddhasana Samayana Nr. 3 (Rangoon 
2446 der buddh. Acra, 1903). Es interessiert nicht so sehr, ob die primitive Form 
des Buddhismus hier historisch ganz richtig wieder gegeben ist, als: daß die 
Hinayana-Lehre heut diese Interpretation der alten Schriften, welche an sich 
möglich ist, als orthodox gelten läßt. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 451 


Die dritte Stufe ist Sammavaca, srechte Rede«, die Vermeidung 
unwahrhaften und lieblosen Redens durch Beherischung der 
eigenen leidenschaftlichen Natur. — Die vierte Stufe ist Samma- 
kam manta, srechte Lebensführung«, die Ausschaltung alles Unrei- 
nen und vor allem auch alles Schielens nach Erfolgen und Früch- 
ten des eigenen rechten Tuns, aus dem Handeln. Wer dies voll er- 
reicht hat, der gewinnt die fünfte Stufe, welche, christlich gespro- 
chen, die certitudo salutis gibt : die nicht mehr verlierbare Heiligkeit 
des Lebens: Samma ajivo. Die gewaltige Anspannung aller seiner 
Kräfte im Dienst des heiligen Zieles geben ihm eine seelische Macht 
des heiligen Wollens, welches weit hinausgeht über das für andere 
Erreichbare: Sammavayano, dierechte »Willensmacht«, diesechste 
Stufe. Wachend nicht nur, sondern auch schlafend hat er sich 


jetzt in der Gewalt, er weiß wer er ist und war. Und dieser innere . 


Habitus des heiligen Wissens führt ihn zur siebenten Stufe der 
Vollendung: Sammasati, auf welcher er anderen als heiligen Ge- 
danken und Gefühlen nicht mehr zugänglich ist. Und dadurch, 
` durch diese schon jenseits des normalen Bewußtseins liegende 
Fähigkeit wird er innerlich an die stodentrennenen Gestade« 
Nirwanas getragen: in die rechte Konzentration: Sammasamadhi, 
die letzte und höchste Stufe. 

Auch in dieser schon stark modernisierten!?!)und also abgeblaß- 
ten Form gibt die Heilslehredoch noch einen Begriff von der prak- 
tisch wesentlichsten Eigenart des Buddhismus: der gänzlichen 
Ausrottung jeder Art von innerweltlicher Motivation i im Handeln, 
sei sie nun irrationaler, leidenschaftlicher oder rationaler, zweck- 
bewußter, Art. Denn ein jegliches rationales Handeln »Handeln 
mit einem Ziel«) wird dem Prinzip getreu ausdrücklich verworfen. 
Es fehlt also der im occidentalen Mönchtum zunehmend ent- 
wickelte, für dessen Eigenart so wichtige Zug zur rationalen 
Methodik der Lebensführung auf allen Gebieten außer in der 
rein geistigen SE RE des konzentrierten Meditierens 


-m wa 


191) Die einen: der Meditationstechnik (Kammasthäna) liegt 
namentlich in der Verwischung des — mit den Maßtäben der modernen Medizin 
gemessen — immerhin noch stark »pathologischen« Charakters der entschei- 
denden Heilszuständlichkeiten im alten Buddhismus. Die Visionstechnik der 
10 Kasinas knüpfte an die Tatsache des Nachbilds bei geschlossenen Augen 
an, und die 4 Stadien der eigentlichen Ekstase führten schon in der zweiten Stufe 
zu einem künstlich erzeugten »torpor«e, der dann, bei Aufhören der Ekstase, 
einer als »volendete Heiterkeit« empfundene Euphorie und als höchstem Stadium 
einem absoluten Indifferenzgefühl Platz machte. 








(u 


I» 


452 Max Weber, 


mend bis zu dem in Indien auch sonst gepflegten Raffinement 
fortgebildet worden. Die spätere Entwicklung nahm aus der 
Yoga-Technik, welche dem Meister selbst wohl sicher bekannt 
war, zahlreiche Nachhilfen auf: von der Atemregelung bis zu 
den Stufenfolgen der Versenkung des Denkens durch den Kursus 
der vierzig Karmasthanas wurden alle Mittel methodisch ratio- 
nalisiert zur sukzessiven Erreichung der vier Rangstufen der Er- 
lösung. 

Die höchste Stufe erlangt nach der Lehre wenigstens der Ge- 
meinde, sahen wir, nur der Mönch. Der fromme Laie aber war 
sogar von den einzigen kultusartigen Veranstaltungen dieser 
ursprünglich notwendig gänzlich kultlosen Frömmigkeit: den 
Halbmonatsversammlungen und der Uposätha-Feier: — es sind 
im wesentlichen rein disziplinäre Beichtversammlungen der 
Mönche, — ausgeschlossen. Ihm blieb also nichts als die Vereh- 
rung der Mönche persönlich und der Reliquien durch Stiftung 
von Vihäras (Unterkunftshäusern, in alter Zeit noch ohne Klo- 
stercharakter), Bau von Stupas mit den daran sich zunehmend 
anschließenden Kunstobjekten, an die sich dann bald, als zunächst 


‚einzig mögliche Form der Laienfrömmigkeit, eigentlicher Re- 
liquienkult anschloß. Gerade die absolute Außerweltlichkeit 
_ und Kultlosigkeit der Mönchsfrömmigkeit und das Fehlen jeder 


: planmäßigen Beeinflussung der Lebensführung der ; Laien: — ein 


į sehr wichtiger Gegensatz des alten Buddhismus gegenüber dem 


l 


Jainismus, — mußte daher mit Notwendigkeit die Frömmigkeit 
der Laien in die Richtung der Hagiolatrie und Idolatrie 


: drängen, wie sie die Mehrzahl der späteren Mahayana-Sekten 


gepflegt hat. Der alte Buddhismus war zwar Zauberkünsten 


durchaus abgeneigt. Aber er hatte die Existenz der »Geister« 
(devata) nie bezweifelt, und daraus entwickelte sich sehr bald 
der Geisterzwang und die Kunst der Geomantik 192). Wie leicht 
andererseits der Umschlag von der mäcenatisch von Fall zu Fall 
versorgten Jüngergemeinschaft zum stiftungsmäßig mit Bau- 
grund und Baulichkeiten, dauernden Renten, Grundbesitz, 
Sklaven, Hörigen ausgestatteten Klosterleben, im Ergebnis also: 
zur klösterlichen Grundherrlichkeit erfolgte, zeigt schon die Ge- 
schichte des alten Buddhismus in Indien und den Nachbar- 
ländern und vollends die durchweg auf Klostergrundherrschaft 
ruhende Form, zu welcher, wie noch zu erzählen sein wird, der 


192) Vatthuwijja, dem chinesischen Fungschui entsprechend. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 453 


Buddhismus in Ceylon und Tibet gelangte. Als Gegenmittel ! 
gegen diese in der Tat fast unvermeidliche Entwicklung hat der 
alte Buddhismus neben dem Verbot des Besitzes: — welches aber 
zum mindesten für die Kleidervorräte, für welche eigene Ver- 
walter von Anfang an vorkamen, durchbrochen war, — das Gebot 
des Wanderns der Mönche und die Ablehnung jeder hierarchi- 
schen oder _parochialen, “überhaupt jeder bindenden Organi- 
sation aufrecht erhalten. Die Diözesen (Sima), für welche die . 
Halbmonats- und Uposätha-Feiern vom jeweils Aeltesten für 
die zufällig darin sich aufhaltenden Mönche angesetzt werden, 
waren keine exklusiven Sprengel. Eine Residenzpflicht oder Zu- 
gehörigkeit zu einem bestimmten Kloster gibt es ursprünglich 
nicht. Bei den Versammlungen gilt nur der Vorrang des Alters 
(als Voll-Mönch, nicht: des Lebensalters). Alle »Beamte« sind 
nur technische Hilfskräfte ohne imperium. Und die später 
verschwundenen sogenannten »Patriarchen« oder »Väter« der 
alten buddhistischen Kirche waren anscheinend ausschließlich 
durch Anciennität und Charisma qualifizierte Arhats in einem 
seiner alten Tradition entsprechend charismatisch geachteten 
Kloster. Ueber ihre Stellung scheint im übrigen Sicheres nicht 
bekannt zu sein. Da überdies die Aufnahme in den Orden, nach 
vorgängigem Noviziat: Lehre bei einem Mönch als Directeur 
de l’äme und förmliche Zulassung auf Ansuchen und Empfeh- 
lung des Lehrers, keinerlei dauernde Bindung enthielt, auch 
der Austritt jederzeit frei stand und jedem, dessen Kraft nicht 
ausreiche, empfohlen wurde 19°), — so verharrte der Buddhismus, 
alles in allem, infolge dieser absichtlichen, konsequent durchge- 
führten Minimisierung der Bindung und Reglementierung, in 
einer Strukturlosigkeit, welche die Einheitlichkeit der Gemein- 
schaft von Anfang an aufs schwerste gefährden mußte und auch 
tatsächlich sehr bald zu Häresien und Sektenbildungen geführt 
hat. Das einzige Gegenmittel dagegen: die Berufung von Kon- 
zilien, versagte bald und ist offensichtlich nur durch Unter- 
stützung der weltlichen Gewalt möglich geblieben. Es macht den 
Eindruck: daß selbst die wenigen schließlich geschaifenen Ele- 


a al en 

193) Auch große Lehrer des späteren orthodoxen Buddhismus haben nach der 
Tradition, sogar wiederholt, von der Macht der »Lüste« überwältigt, den Austritt 
aus der Gemeinde vollzogen und sich, nachdem den Leidenschaften ihr Recht 
geworden war, wieder aufnehmen lassen. Ein Beispiel in J- Tsing’s Reisebeschrei- 
bung. 34, Nr. 7. Diese Laxheit war allerdings zweifellos Verfallsprodukt und 
dem alten Buddhismus fremd. 


454- Max Weber, 


mente einer Organisation und Disziplin, also einer Ordensstif- 
tung, ebenso auch die Fixierung der Lehre, erst nach dem Tode 
des Stifters, entgegen seinen eigenen Absichten entstanden. 
Es steht aus der Tradition fest, daß Ananda sein Lieblingsjünger, 
also der » Johannes« des primitiven Buddhismus. war. Ebenso 
sicher aber ist den, sei es auch sonst noch so wenig brauchbaren, 
Traditionen über das serste Konzil« (nach seinem Tode) zu ent- 
nehmen: daß Ananda von den anderen Jüngern nicht nur bei 
Seite geschoben, sondern als nicht sündenfrei zur Buße gezwungen 
wurde und daß andere die Gemeindeleitung in die Hand nahmen, 
— ebenso wie in der urchristlichen Gemeinde. Die primitive 
Mönchsgemeinschaft wollte offenbar weder die spirituelle Suk- 
zession noch überhaupt die Aristokratie des Charisma in ihrer 
Mitte aufkommen lassen. Sie betonte deshalb das Anciennetäts- 
prinzip der (voll erlösten und also sündlosen) Arhats und außer- 
dem ein gewisses Mindestmaß von fixierter Ordnung, während 
Ananda vermutlich als Vertreter des ganz organisationsfreien 
charismatischen Prädikantentums galt. Nur nach der Zahl der 
»Was«, die er hat, das heißt, der seit dem Eintritt in das Kloster 
verflossenen jährlichen Eintrittsjahreszeiten (also: Jahre), richtete 
sich bis in die Gegenwart der Rang der im übrigen unterein- 
ander streng gleichgestellten Mönche in orthodoxen birmani- 
schen Klöstern: nach zehn Was (Jahren) wird der Mönch ein 
Vollmönch. Das ist sicher sehr alte Tradition. — 

Die orthodoxe Lehre der Gemeinde, wie sie noch mehr als 
ein Jahrtausend später im Hinayana-Buddhismus fortlebte, 
kannte außer der Anciennität nur ein ganz unbedingt und 
allerdings höchst wirksam bindendes Strukturelement: die Be- 
ziehung zwischen Lehrer (Upadhyaya) und Schüler. Der Novize 
hat die strengen Pietätsregeln des indischen Bramacharin gegen- 
über seinem Guru einzuhalten Auch der rezipierte Mönch durfte 
noch zu J- tsing’s Zeit (7. Jahrhundert nach Chr.) erst fünf Jahre, 
nachdem er den Inhalt des Vianya-Kanons nach Ansicht des 
Lehrers vollständig innehatte, sich überhaupt vom Lehrer ent- 
: fernen. Er bedurfte auch dann noch für alle und jede Handlung 
' der vorherigen Genehmigung des letzteren, dem er keine für sein 
Heil wichtige Regung vorenthalten durfte. Erst zehn Jahre 
nach der vollen Aneignung des Vinaya hörte diese Bevormundung 
auf. Wer aber den Kanon sich vorher gänzlich anzueignen nicht 
fähig war, blieb lebenslänglich unter jener absoluten Vormund- 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 455 


schaft. Gerade die Hinayana-Orthodoxie scheint an dieser 
Pietätsbeziehung besonders streng festgehalten zu haben. 

Die Anhängerschaft des alten Buddhismus in Indien selbst, 
welche die spätere Entwicklung der Klöster zur Grundherrschaft 
und der Erlösungslehre zu einer Laiensoteriologie perhorteszierte, 
rekrutierte sich, vom Stifter selbst angefangen, aus großen Adels- 
geschlechtern und reichen Bürgern zwar nicht ausschließlich, 
aber vorwiegend. Auch Brahmanen scheinen sich zu finden; aber 
es waren Vertreter der vornehmen Laien bildung der welt- 
lichen Honoratiorenschichten, welche die Mehrzahl seiner Jünger 
stellten 1%). Ansätze zur Entwicklung von Standeskonventionen 
liegen dem entsprechend weit zurück. Schon die vorgeschriebene 
Form des Bettelns war dem Würdegefühl und guten Geschmack 
eines wohlerzogenen Intellektuellen angepaßt. Niemals waren 
die Jünger Buddhas eine Horde kulturloser Bettler. Nicht nur 
die Kleidung war von Anfang an im Gegensatz zu anderen 
Sekten anständig reguliert und auch Gegenstand planmäßiger 
Vorsorge. Sondern die Anziehungskraft des Buddhismus gerade 
auf die oberen Schichten erklärt sich zum Teil wenigstens gerade 
durch seine durchgehende Rücksichtnahme auf Wohlanständig- 
keit. Das Prätimokkha der südlichen Buddhisten enthält eine 
Fülle rein konventioneller Anstandsregeln für die Mönche im Ver- 
kehr untereinander und mit der »Welt«, bis herunter zum Verbot 
des Schmatzens beim Essen. — 

Dem entsprach die innere Eigenart der Lehre. 

Ganz ungeheuer und grundlegend ist — wie man schon mehr- 
fach bemerkt hat (namentlich Oldenberg) — der Unterschied der 
Predigt des Buddha, von der man aus der Tradition immerhin 
eine ungefähre Vorstellung zu gewinnen in der Lage ist, von der- 
jenigen etwa von Jesus einerseits, Muhammed andererseits. 
Die typische Wirkungsform des Buddha ist der sokratische 


194) Das ergeben die literarischen Quellen und Legenden. Es wird auf die 
Zugehörigkeit besonders vornehme Leute ein erhebliches Gewicht gelegt. Aber 
sozial exklusiv war der Buddhismus jedenfalls insoweit nie, als die Laien 
in Betracht kamen. In späterer Zeit finden sich in den buddhistischen Inschriften 
(z. B. der von Bühler in der Ep. Ind. II S. gı ff. zitierten Safici-Inschrift) alle 
Stände vertreten; Adlige und Bauern eines Dorfes, Gildekaufleute (Sheth), ein- 
fache Händler (Vani), königliche Schreiber, Berufsschreiber, königliche Werk- 
stattvorsteher (Avesani), Soldaten (Asavarika), Werkleute (Kamika). Jedoch 
wiegen Kaufleute und Händler vor. In einer älteren, aus dem 2. oder ı. vor- 
Christ]. Jahrh. stammenden In.chrift (Ind. Antiq. XXI, 1890, S. 227) finden sich 
I Soldat, r Steinmetz, ı »Haushalters (Grihaspati) und zahlreiche geistliche 
Personen als Donatoren. 


Damme 


456 Max Weber, 


Dialog, durch welchen der Gegner im Wege eines wohlüberlegten 
Raisonnements ad absurdum geführt und zur Unterwerfung ge- 
zwungen wird. Weder das kurze Gleichnis oder die ironische 
Abfertigung oder gar die pathetische Bußpredigt des galiläischen 
Propheten, noch die auf Visionen ruhenden Ansprachen des 
| arabischen heiligen Heerführers finden irgenwelche Parallelen 
in jenen rein auf den Intellekt, die ruhige, sachliche, mit keiner 
inneren Erregung beteiligte Erwägung wirkenden, souveränen, 
| stets systematisch-dialektisch den Gegenstand erschöpfenden 
; Vorträgen und Gespräche, welche die eigentlichste Form des 
‘ Wirkens des Buddha gewesen zu sein scheinen. Es war schlechter- 
“dings unmöglich — und man kann sich davon leicht überzeugen 
— ohne ein recht erhebliches Maß von Schulung im spezifisch 
hinduistischen Denken ihnen zu folgen, obwohl der Buddha, 
und zwar für einen hinduistischen Denker mit Recht, versicherte: 
daß seine Lehre so einfach sei, daß jedes Kind sie zu verstehen 
vermöge. Denn jedenfalls galt dies nur für ein Kind aus einer, 
im althinduistischen Sinn, »sehr guten Kinderstube«. 

Der Buddhismus ist vollends mit keinerlei »sozialere Bewe- 
gung verknüpft oder parallel gegangen, hat auch nicht das minde- 
ste »sozialpolitische« Ziel aufgestellt. Die Ignorierung der ständi- 
schen Gliederung war nichts Neues. In den Gegenden der Ent- 
stehung des Buddhismus — Magadha und den benachbarten 
nordindischen Gebieten — war die Macht des Brahmann tums 
relativ schwach. Die vier alten »Stände« waren zweifellos längst 
im Zerfall — vor allem waren die freien Bauern (Vaigya) eine 
Fiktion geworden. Den Quellen der buddhistischen Zeit galten 
die Kaufleute als die typischen Vaicya, und der religiöse 
Abschluß von »Kasten« gegeneinander, insbesondere die Glie- 
derung der Gudras in Berufskasten, stand, wie es scheint, minde- 
stens in diesen Teilen Indiens teilweise erst in den Anfängen und 
ist dort erst vom späteren Hinduismus in alle Konsequenzen 
durchgeführt worden. Die individuelle Heilssuche der »Sramana«, 
deren asketische Leistungen in der religiösen Schätzung längst 
den zünftigen vedisch gebildeten Priestern gleichgeachtet wurden, 

' bestand als eine weit verbreitete Erscheinung. Die Nichtachtung 
_ der Unterschiede der Stände durch den Buddhismus bedeutete 
also keine soziale Revolution, — soweit sie überhaupt Realität 
= war, wie es allerdings scheint. Daß Angehörige der niedrigsten 

Schichten sich unter den Anhängern des ältesten Buddhismus be- 


Aa pamm 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 457 


funden hätten, ist nicht überliefert und sehr unwahrscheinlich. | 
Denn gerade die Sramana überhaupt entstammten ja von jeher | 


weit überwiegend jenen Kreisen vornehmer Laienbildung, die 
sich besonders stark aus dem stadtsässigen Kschatriyapatriziat 


rekrutierten, etwa so wie bei uns die Humanisten. Es scheint - 


im Gegenteil ziemlich sicher, daß der ursprüngliche Buddhismus 
genau wie der alte Jainismus zunächst an der Ueberzeugung fest- 
hielt, daß ein zur vollen Gnosis Befähigter nur in der Brahmanen- 
und Kschatryia-Kaste geboren werden könne. Auch der Buddha 
selbst wurde von der Legende sehr bald von einem Landadels- 
sprößling, der er historisch war, zu einem Königssohn erhoben. 
Das reiche Stadtpatriziat, aber auch zahlreiche Brahmanen gibt 
die Tradition als Proselyten seiner ersten Predigten an. Die 
vornehme Intellektuellenschicht, an welche sich Buddhas Lehre 
wendete, — die ja wie Oldenberg sich ausdrückt keineswegs für 
Arme im Geiste« bestimmt sein konnte, — fühlte sich wie wir 
schon sahen, innerhalb der damaligen indischen Kleinstaaterei in 
starkem Maße als eine durch alle jene zufälligen und wechselnden 
politischen Bildungen, welche das Pathos einer solchen Klasse 
unmöglich dauernd für sich beschlagnahmen konnten, hindurch- 
greifende Einheit, ähnlich der Intellektuellenschicht unseres 
Mittelalters. Die buddhisitsche Lehre selbst ist innerhalb eines 
Gebiets von damals relativ bedeutender adeliger und bürgerlicher 
Reichtumsentwicklung entstanden. Eine in dem Maß wie im 
späteren Hinduismus oder auch wie nach den Ansprüchen der 
älteren Brahmanen herrschende Pricsterschaft, welche dies 
Patriziertum hätte hindern können, sein Leben so zu führen, wie 
es ihm selbst behagte, und nach Belieben zu glauben oder nicht 
zu glauben was es wollte, war damals dort nicht vorhanden, und 
die weltlichen Gewalten konnten keinerlei Anlaß finden, gegen 
eine absolut unpolitische Bewegung, wie es deren schon massen- 
haft gab, Einwände zu erheben. Im übrigen ist die Regel Buddhas, 


> w 


welcher der Tradition als Schützling des Königs Bimbisara, der ' 


ihn verehrte, galt, darauf bedacht, alle Bedenken der weltlichen . 
Gewalt zu umgehen: Soldaten, Sklaven, Schuldverhaftete oder , 


Verbrecher fanden in dem Orden keinerlei Aufnahme. Ein . 


»Kampfe gegen die Brahmanen, wie etwa bei Christus gegen die 
Pharisäer und Schriftgelehrten, ist in Buddhas Predigt nicht 
zu spüren. Er läßt die Götter ebenso wie die Bedeutung der 
Kasten dahingestellt. Er besteht nach der Tradition, auf nach- 


Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 2. 30 








458 Max Weber, 


drückliches Befragen eines Brahmanen, nur darauf: daß nicht die 


Geburt, sondern das rechte Tun den Brahmanen zum wahren 


Brahmanen mache. Ebenso findet sich kein eigentlicher Kampf 
gegen das Opfer, wie er den Jaina eigentümlich war. Es hat 
nur für das Ziel, dem der Starke und Weise nachgeht, keinen Wert. 

Als Ganzes ist der alte Buddhismus Erzeugnis nicht etwa 
negativ, sondern vielmehr stark positiv privilegierter Schichten. 
Allerdings kann keinem Zweifel unterliegen, daß ein anti- 
hierokratischer Zug: die Entwertung des brahmanischen Ritual- 
wissens und der brahmanischen Philosophie, es war, welches 
den Fürsten und dem Patriziat die Lehre sympathisch machten. 
Daß gegen die Brahmanenhierokratie die auf die Dauer noch 
stärkere hierokratische Macht der Bettelmönche eingetauscht 
würde, war eine Erfahrung, die erst den späteren Geschlechtern 
aufging. Die Ueberzeugung von einer spezifischen Heiligkeit 
der Wandermönche und Asketen war längst Gemeingut aller 
sozialen Schichten in Indien, ebenso wie übrigens sehr vieler 
anderen Zeiten und Völker. Die Ordensregel schrieb zwar ge- 
wiß nicht absichtslos ausdrücklich vor: daß der Mönch auf dem 
Bettelgang unterschiedslos an die Türen der Armen und der 
Reichen klopfen solle. Innerhalb der Welt aber die soziale Ord- 
nung zu ändern hat weder der alte noch der spätere Buddhismus 


| versucht. Die Welt war für den Mönch indifferent. Nicht wie im 


| 
| 
| 
i 
N 





; alten Christentum deshalb, weil die eschatologische Erwartung 
' sie dazu stempelte. Sondern umgekehrt: weil es keinerlei eschato- 


logische Erwartung und — wenigstens nach der späteren Lehre — 


| auch keine Erlösung für den gab, dernicht Mönch werden wollte, 


: und andererseits für den Mönch kein Menschenschicksal, welches 
| seine eigene Erlösungschance irgendwie hätte beeinflussen können. 


Die Art der Erlösung, welche dem Bettelmönch versprochen 
wurde, war sicherlich nicht nach dem Geschmack sozial gedrück- 
ter Schichten, die vielmehr einen Entgelt im Jenseits oder aber 
zukünftige Diesseits-Hoffnungen verlangt hätten. Die Laien- 
sittlichkeit aber trug den Charakter einer äußerst farblosen »bür- 
gerlichen« Ethik und ihre diesseitigen Prämien: Reichtum und 
ein ehrenvoller Name, ebenfalls. Ein religiöses »Naturrechte 
höriger Bauern oder zünftiger Handwerker gar hätte anders ausge- 
sehen. Und daß eine in diesen Schichten als Heimat wurzelnde 
Erlösungsreligion oder überhaupt eine spezifische Laienreligiosi- 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 459 


tät der unteren Schichten einen gründlich anderen Charakter ge- 


habt hätte, bewies die bald zu erzählende Entwicklung der Folgezeit. / 


Die Propaganda durch Lehre gehört als spezifische Lebens- 
form dem rastlos wandernden Buddha ganz persönlich an. Ob 
sie ursprünglich für die Mönche als eigentliche »Pflicht« ange- 
sehen wurde, mag dahingestellt bleiben und ist eher unwahr- 
scheinlich.. Die ausdrückliche Pflicht der Mission knüpft 
als solche vielmehr wohl erst an die Wandlung des Erlösungs- 
ideals in den späteren Jahrhunderten an. 

Der Buddhismus wurde aber eine der größten Missions- 


religionen der Erde. Das muß wundernehmen. Denn rein rational 


angesehen ist kein Motiv zu entdecken, welches ihn dazu hätte 
bestimmen können. Was sollte einen nur seine eigene Erlösung 
suchenden und dafür ganz und gar auf sich selbst allein angewie- 
senen Mönch veranlassen, sich um das Seelenheil anderer zu 
kümmern und die Mission zu betreiben? Zumal gerade dem My- 
stiker, vollends unter dem Einfluß der Karman-Lehre mit ihrer 
Determiniertheit der Erlösungschancen durch Karman und durch 
die von da aus bedingten Unterschiede der Qualifikation, ein 
solches Unternehmen doch höchst unfruchtbar erscheinen muß- 
te. Lange schwankt in der Legende der Buddha, ob er auf 
Brahmas Bitte den Menschen die Erlösungslehre verkünden 


sollte. Schließlich bestimmt ihn dazu der Umstand: daß neben ` 


den nach ihrer Qualifikation zum Heil und den zum Unheil be- 
stimmten er doch eine große Zahl Menschen sieht, deren Quali- 
fikation nicht eindeutig ist und deren Heilsschicksal also durch 
Heilsverkündigung beeinflußt werden kann. Indessen dies war 


nur eine dogmatische Deutung. Wo aber lagen die realen prak- ' 


tischen Antriebe? Zunächst vermutlich in jenem rational nicht 
weiter deutbaren psychologisch (vielleicht physiologisch) be- 


dingten) Tatbestand, den wir kennen: Den großen Virtuosen | 
der mystischen Frömmigkeit eignet zumeist jener erbarmens- 


vollen Liebesokasmismus, der fast überall die psychologische Form 


des mystischen Heilsbesitzes: die eigentümliche Euphorie des 


gottinnigen Stillgewordenseins, begleitet. Er hat die Mehrzahl . 
von ıhnen, den rationalen Konsequenzen d der r mystischen Heils- - 
suche SE en, auf den W eg der Seelenrettung getrieben. In- | 


dessen ies Motiv, welches ganz offensichtlich auch in der buddhi- 
tischen Mitleidsethik sich äußert, bestand auch bei anderen 
indischen Mystikern. Daneben wirkte die Gepflogenheit wandern- 


30* 


fe 


$ —— 


460 Max Weber, 


den Disputierens, welches, wie allen indischen Soteriologen der 
alten Intellektuellenschicht, so auch, in charakteristischer Art, 
dem Buddha eignete. Indessen auch dies war eine allgemeine 
Erscheinung aller Soteriologien seiner Zeit. Entscheidend war 
für den E r f olg der Propaganda bei den Jaina wie'bei den Buddhi- 
sten: das Auftreten von »Berufsmönchen«.in der Form_von Ge- 
meinschaften. Das ; entscheidende Motiv aber für den Be- 
trieb der Pr. opaganda lag. natürlich in den materiellen Interessen 
der Mönche an der Vermehrung der N: ahrunggeber: der Upasaka. 
Auch dies Interesse zwar war den konkurrierenden Mönchsver- 
bänden, namentlich den Jaina, mit den Buddhisten gemeinsam. 
Aber hier kamen dem Buddhismus in der Zeit seiner Expansion 
einige Umstände zugute, welche auf der anderen Seite, prak- 
tisch angesehen, eine Schwäche darstellten, die ihm später, 
in Indien selbst wenigstens, gegenüber der Konkurrenz der ortho- 
doxen Berufsmönche zum Unheil ausschlagen sollte. Einerseits 
die überaus geringen Ansprüche, welche er an die Laien stellte. 
Andererseits das vollkommene Fehlen einer festen Organisation 
der Mönchsgemeinschaft und damit auch fixierter Pfründen- 
interessen der Mönche selbst. Für jede Konfession kommt die 
Krisis ihrer missionierenden Expansion in dem Augenblick, wenn 
der typische Prozeß der. »Verpfründung« an ihr vollendet ist. 
Das heißt: wenn ihre Org ganisation Te vorgeschritten ist, daß 
ihre Einkünfte einerseits, ihre Hocilsdarbietungen andererseits 
in festen Sprengeln nach Art einer »Kundschaft« oder »Rente« 
für ihre berufsmäßigen Heilsvermittler (Priester, Prediger, 
Mönche) fest verteilt sind. Dann überwiegt unvermeidlich das 
monopolistische Interesse der Inhaber jener »Kundschaften« 
und Präbenden über das gemeinsame Interesse an der Gewinnung 
von Neuland. Die Gemeinschaft erschwert dann die Aufnahme 
von Novizen, um die »Nahrungen« der schon vorhardenen Spren- 
gelinhaber nicht zu gefährden. Sie interessiert sich zwar für die 
Fernhaltung von Konkurrenz auf ihrem Nahrungsgebiet, aber 
ihre Pfründner sind keine gecigneten Propagandisten für die 
Mission auf Fremdgebieten. In der einen oder anderen Form 
läßt sich dieser Vorgang bei den meisten einstmals missionierer- 


' den Konfessionen verfolgen. Beim Buddhismus nun schloß die 


alte überaus »akosmistische« Organisation (oder: Organisations- 
losigkeit) in Verbindung mit der Ablehnung jeder Ordnung der 
Laienbeziehungen die Verpfründung zunächst direkt avs. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 461 


Und gerade der den Asketen älterer Observanz so ärger- 
liche rein parasitäre Charakter der buddhistischen Nahrungs- 
suche, der Anschluß an die damals aufblühenden Städte und an 
die größeren Ortschaften überhaupt, verbunden mit dem schr 
geringen Maß von Bindung sowohl der Mönche wie der Laien, 
die sie ernährten, an rituelle Regeln war ein, äußerlich wenig- 
stens, anfinglich sehr bedeutender Vorteil. Wir sahen, daß der 
alte Buddhismus, von der fest gegebenen Verschiedenheit der 
Qualifikation für die Erlösung als einer Grundtatsache ausge- 
hend, den Laien fast keinerlei Verpflichtung auferlegte als eben: 
den Unterhalt der Mönche zu bestreiten, daß er ursprünglich keine 
Abgaben an die Gemeinschaft, — aus welchen sehr schnell 
Präbenden der Mönche hätten werden und die Kontingentierung 
ihrer Zahl hätte hervorgehen müssen, — kannte, sondern nur Ge- 
schenke an den einzelnen Mönch. Erst allmählich trat darin eine 
Aenderung im Sinne der gewöhnlichen Klosterorganisation ein. 
Die Avasika: die nicht nur während der Regenzeit, sondern dauernd 
im Kloster residierenden, nicht mehr wandernden Mönche, sind 
zweifellos ebenso wie die festere Abgrenzung der Kirchspiele 
(sima) erst ein schon auf dem Weg zur Klostergrundherrschaft 
iegendes Ent wicklungsprodukt. Diesen residierenden Mönchen lag 
neben der Mcditation das Studium der Sutras und ferner wissen- 
schaftliche Arbeit ob. Der alte Buddhismus schätzte dagegen wie 
andere so auch die wissenschaftliche Arbeit nicht. Und vollends 
die Entstehung einer Literatur als Studienobjekt war bei der 
ursprünglich rein mündlichen Ueberlieferung unzweifelhaft erst 
sekundär. Solange dieser alte Zustand dauerte, mußte er zu 
einer Ueberschwemmung des Landes mit missionierenden Jün- 
sern und Mönchen führen und hat dies getan. 

Denncch hätte der Buddhismus mindestens seinen interna- 
tionalen Eroberungszug wohl nicht antreten können ohne die 
last das ganze indische Kulturgebiet beherrschten, sein leiden- 
schaftlicher Anhä nger wurde, wie bald zu berichten sein wird, 


462 


Aus der Frühzeit der modernen Gesellschaftsformen !). 


Von 


WERNER SOMBART. 


Literatur. 


Die Literatur der letzten Jahre über die Geschichte der modernen 
Gesellschaftsformen, namentlich über die Anfänge der »Aktiengesell- 
schaft«, ist reich und fruchtbar gewesen. Die Rechtshistoriker knüpfen 
mit Vorliebe an einerseits an das Buch von Max Weber, Zur 
Geschichte der Handelsgesellschaften des Mittelalters 1889, anderer- 
seits an die Schrift von Karl Lehmann, Die geschichtliche 
Entwicklung des Aktienrechts bis zum Code de Commerce. 1895. Den 
besten Ueberblick über den Stand der Forschung geben jetzt: . 

Hacman, Zur Entwicklung der offenen Handelsgesellschaft, in 
der Zeitschrift f. d. HR. Bd. 68 und 69. 

E.J.J. van der Heijden, De ontwikkeling van de nam: 
looze Vennotschaft in Nederland. Utrecht. Diss. 1908 (gibt in der Ein- 
leitung eine gute Zusammenstellung der bisherigen »Theorien« über 
den Ursprung der A.-G.). 

Ss. van Brakel, De Hollandsche Handelscompagnieen der 
XVIIe eeuw, hun ontstaan, hun inrichting. 1908. 

Diese beiden Werke sind gleichzeitig, unbeeinflußt das eine vom 
andern, erschienen. 

Derselbe, . Bijdrage tot de geschiedenes der Naamlooze 
Vennootschap, im Rechtsgeleerd Magazijn. 3I. Jaarg. 1912. 

Derselbe, Neuere Literatur über den Ursprung der Aktien- 
gesellschaften, in der Vierteljahrschrift f. Soz. u. WG. Bd. I0. IgI2. 

Vgl. auch die Arbeiten von Andre-E. Sayous, Le frac- 
tionnement du capital social de la Compagnie néerlandaise des J. O. usw. 
in der Nouvelle Revue d’Histoire du droit. IGgoI, und Les sociétés 
anonymes par actions. IQO2. 

Die Feststellung der geschichtlichen Zusammenhänge ist jetzt er- 
leichtert worden durch die erneute Zutageförderung einer Masse von 

1) Dieser Aufsatz bildet eine Fortsetzung und Ergänzung des im 41 Bande 
erschienenen Aufsatzes über die Entstehung der kapitalistischen Unternehmung, 
auf den ich den Leser verweise. 





Aus der Frühzeit der modernen Gesellschaftsformen. 463 


Quellenstoff in allen Ländern, namentlich für die Zeit des 16. und 
17. Jahrhunderts. 

Für Deutschland haben neues Material beigebracht: W.Mück, 
Der Mansfelder Kupferschieferbergbau. 2. Bce. ıgro. Walt.Möllen- 
berg, Die Eroberung des \Weltmarkts durch das Mansfeldische Ku- 
pfer. ıgıı. Bernh. Hagedorn, Betriebsformen und Einrich- 
tungen des Emder Seehandelsverkehrs in den letzten drei Jahrzehnten 
des 16. Jahrhunderts, in den Hans. Gesch.-Bl. Bd. 36 und 37. Jak. 
Strieder, Studien zur Geschichte kapitalistischer Organisations- 
Formen IQI4. 

Für Frankreich: Paul Masson Les compagnies du corail. 
1008. 
Für England: W. R. Scott, The constitution and finance of 
English, Scottish and Irish Joint Steck companies to 1720. 3 Vol. 
I9I0—IgI2. Die Sammlung: Select Charters of Trading Companies 
A. D. 1530—1707, im 28. Vol. der Publ. of the Selden Soc. (1913), 
zuder Cecil T.Carr eine vorzügliche Einleitung geschrieben hat, 
umfaßt die Statuten der verschiedenartigsten Gesellschaften: sowohl 
Handels- als Industrie-G., sowohl Reg.-Comp. als Joint Stock Co., 
sowohl Monopolerteilungen als Ansiellungsverträge. 

Für Holland : die oben genannten Werke. 

Aus der Literatur über die gemischten Gesellschaftsformen (IV), 
die bisher nur unter juristischem Gesichtspunkte gewürdigt sind, sind 
zu nennen: á 

L. Goldschmidt, De societate en commandite. 1851. 

Renard-Laband, Das Recht der stillen Gesellschaften. 
1885. Mit einer wertvollen historischen Einleitung. 

Hergenhahn, Die Kommanditgesellschaft auf Aktien, ins- 
besondere ihre Entstehungsgeschichte, rechtliche und wirtschaftliche 
Natur, in der Zeitschr. f. d. ges. HR. Bd. 42. 1874. 

I. Grundsätzliches zur Orientierung. 

Was eine kapitalistische Gesellschaftsform sei, werden wir 
ohne Schwierigkeit zu sagen vermögen, wenn wir uns klar ma- 
chen, daß es offenbar eine Wirtschaftsform ist, die zwei Merk- 
male in sich vereinigt, die nämlich sowohl eine kapitalistische 
Unternehmung als eine Gesellschaft ist. 

Den Begriff der kapitalistischen Unternehmung habe ich in 
dem vorigen Aufsatz entwickelt. Danach können wir folgende 
Erfordernisse aufstellen, die eine Wirtschaftsform erfüllen muß, 
damit wir sie als kapitalistische Unternehmung ansprechen 
können: 

I. sie muß von Dauer sein: Gelegenheitsunternehmungen kön- 

nen nie kapitalistische Unternehmungen sein; 

2. sie muß ein von der Person losgelöstes Geschäft sein; das 

aber hat zur Voraussetzung: 


464 Werner Sombart, 


a) eine Firma; 
b) ein Geschäftsvermögen;; 
c) eine systematische Buchhaltung. 

Als Gesellschaft im weiteren Sinne hingegen haben wir jede 
Kollektivunternehmung anzusehen, das heißt jede Unternehmung, 
die auf dem Vermögen mehrerer beruht. Es ist nun aber leicht 
ersichtlich, daß nicht jede Kollektivunternehmung auch eine 
kapitalistische Gesellschaft sein braucht. Vielmehr scheiden alle 
aus «Gemeinschaft» erwachsenen Verbände aus. Jede kapita- 
listische Gesellschaft ruht auf einem Gesellschaftsvertrage. 
Nicht als Gesellschaft betrachten wir (in Uebereinstimmung mit 
den Juristen) eine Unternehmung, deren Sachvermögen in der 
Weise von verschiedenen Personen zusammengebracht ist, daß 
die eine der andern, die allein Unternehmer ist, lediglich eine 
Summe geliehen hat. Vielmehr muß jeder, der einen Teil des 
Sachvermögens beigesteuert hat, mindestens mit der Gewinn- 
oder Verlustaussicht an dem Unternehmen beteiligt sein, damit 
eine gesellschaftliche Unternehmung vorhanden sei. 

Das System der kapitalistischen Gesellschaftsformen ergibt 
sich danach von selbst. Wir unterscheiden Personal- und Real- 
(oder Kapital-)Vereine. Jenes sind diejenigen Unternehmungen, 
die von mehreren mit ihrem persönlichen wie sachlichen Ver- 
mögen tätigen Unternehmern zum Zweck gemeinsamer Geschäfte 
gebildet werden. Bei ihnen ist das Wesentliche das Zusammen- 
wirken der verschiedenen Unternehmer, die ihre ganze Persön- 
lichkeit dem Unternchmen widmen. Ihr Sachvermögen, aus 
dessen Vereinigung das Kapital der Unternehmung gebildet wird, 
ist nur Zubehör zu der persönlichen Leistung. Ersichtlich, daß 
hier an diejenige Vereinigung gedacht wird, die die .Juristen 
unter dem Namen der Offenen Handelsgesellschaft kennen. 

Im andern Falle, bei der Realvereinigung, entsteht die 
Unternehmung durch die Zusammenfügung mehrerer Sach- 
vermögensbeträge (Geldsummen) zu einem Gesamtvermögen, das 
Kapitaleigenschaft dadurch bekommt, daß es von den Beauf- 
tragten der Teilhaber zur Grundlage einer kapitalistischen Unter- 
nehmung gemacht wird. Den Ausgangspunkt nimmt diese von 
dem Sachgütervorrat, der sich in Kapital verwandelt und (kon- 
struktiv! nicht dynamisch) ! aus sich heraus die Vergesellschaftung 
der produktiven Kräfte bewirkt. Ersichtlich, daß diese Form 


Aus der Frühzeit der modernen Gesellschaftsformen. 465 


der kapitalistischen Kollektivunternehmung rechtlich als Aktien- 
gesellschaft auftritt. 

Zwischen diesen beiden Grundtypen der kapitalistischen Ge- 
sellschaftsformen gibt es dann verschiedene Zwischenglieder: 
gemischte Formen. 

Wir können uns nun unsere Aufgabe, der Entstehung der 
kapitalistischen Gesellschaftsformen auf die Spur zu kommen, 
dadurch wesentlich erleichtern, daß wir sie nach den üblichen 
Gesichtspunkten der heutigen juristischen Doktrin unterscheiden, 
wobei ja, wie ich eben sagte, im wesentlichen auch vom ökono- 
mischen Standpunkt aus eine richtige Einteilung bewirkt wird, 
wenn auch die Gründe der Einteilung in beiden Fällen sehr ver- 
schiedene sind. 

Zur Verständigung möchte ich zuvor nur folgendes bemerken, 
um die Unterschiedlichkeit der juristischen und ökonomischen 
Betrachtung klar zu machen: 

I. Voraussetzung jeder Untersuchung über den Ursprung 
einer Einrichtung, man mag sie unter juristischem oder sozio- 
logischem Gesichtspunkte anstellen, ist immer die: daß man 
über einen scharf umrissenen Begriff jener Einrichtung in ihrer 
idealtypischen Vollendung verfüge. Man wird diesen Begriff in 
der Regel von der tatsächlichen Gestaltung der Dinge abziehen, 
wie sie sich am Ende derjenigen Entwicklung darstellt, deren 
Anfänge man bloßlegen möchte. Der Soziologe muß sich solchen 
Begriff, auf den die Untersuchung auszurichten ist, erst bilden, 
weil es ein synthetischer Begriff ist; der Jurist findet ihn fertig 
vor ın dem die Gegenwart gestaltenden Recht. Er braucht nur 
das HGB. aufzuschlagen und sich die auf die Offene Handels- 
gesellschaft, die Aktiengesellschaft usw. bezüglichen Artikel ein- 
zuprägen, um genau zu wissen: die Geschichte wovon er schrei- 
ben will. 

Natürlich darf nun der Rechtshistoriker nicht wähncen, daß 
er seiner Aufgabe schon gerecht würde, wenn er die Tatsachen 
der Vergangenheit mit dem einfachen: dem modernen Begriff 
gemäß — nicht gemäß schematisch aufteilen wollte 2). 

Der wissenschaftliche Takt muß ihm sagen, wie er die Ver- 
Sangenheit mit Hilfe seines Begriffes durchleuchten kann. Aber 





?) Siehe was darüber — in Entgegnung auf die Methode seines Landsmannes 
van der Heyden — jetzt wieder S. van Brakel in der Vierteljahr- 
schrift für Soz. u. WG. 10, 492 ff. bemerkt. 


466 Werner Sombart, 


er hat doch immer schon einen festen Ausgangspunkt für seine 
Untersuchungen in der Begriffsbildung des geltenden Rechts. 
Wir Wirtschaftshistoriker hingegen müssen uns hier, wie immer, 
diesen festen Maßstab erst durch eine synthetische Begriffsbildung 
schaffen. l 

2. Bei der Beschreibung des Werdegangs einer sozialen Ein- 
richtung wie der der Gesellschaftsformen ist die juristisch-dog- 
matische von der empirisch-historischen Betrachtung scharf zu 
trennen. Leider geschieht das selbst in rechtsgeschichtlichen 
Büchern nicht immer. Offenbar nämlich ist der Werdegang ein 
grundverschiedener, je nachdem er von dieser oder von jener 
Seite betrachtet wird. Die Rechtsgrundsätze, die die Rechts- 
dogmatik in logischer Reinheit auseinander entwickeln und zur 
Einheit fügen muß, stammen häufig aus ganz heterogenen Wirk- 
lichkeiten. Der maßgebende Rechtsgedanke ist oft auf einem 
wirtschaftlich weit abliegenden Gebiete entstanden. Dieselben 
_ Rechtsgrundsätze (man denke an den Grundsatz der solidarischen 
oder beschränkten Haftung!) können in ganz verschiedenen so- 
zialen Gebilden Geltung haben usw. 

3. Man muß sich hüten, die Geburtsstunde einer sozialen 
Einrichtung bestimmen zu wollen. Niemand kann sagen, wann 
die Offene Handelsgesellschaft, wann die Aktiengesellschaft ent- 
standen. Nicht in welcher Stunde, aber auch nicht an welchem 
Tage, nicht in welchem Jahre. Und zwar deshalb nicht, weil das, 
was wir jetzt unter jenen Einrichtungen verstehen (und wovon, 
wie wir sahen, unsere Untersuchung ausgehen muß, wenn sie 
Erfolg haben soll), sich in langsamer Aneinanderreihung der ein- 
zelnen Merkmale gebildet hat. Nicht einmal so, daß Merkmal 
zu Merkmal hinzugetreten wäre, sondern oft so, daß ein Merkmal 
hier, ein anderes dort auftaucht und daß einzelne Merkmale, auf 
verschiedene Gebilde verteilt, nebeneinander bestehen. 

4. Damit ist auch schon gesagt, daß man sich ebenso hüten 
muß, die Entwicklung solcher Rechtsinstitution an einen 
Punkt anzuknüpfen. Vielmehr kann es sehr wohl sein (und 
ist es gerade in den hier zur Rede stehenden Fällen gewesen), daß 
eine Institution sehr verschiedene Ausgangspunkte haben kann, 
und daß sie sich durch Vereinigung verschiedener Entwicklungs- 
reihen bildet. 

5. Soll man sich bewußt sein, daß mit den bildlichen 
Ausdrücken: »Anknüpfen«, »Erwachsen aus« sehr verschie- 


Aus der Frühzeit der modernen Gesellschaftsformen. 467 


denartige Zusammenhänge bezeichnet werden können. Will 
man mit den in jenen Ausdrücken enthaltenen Bildern Ernst 
machen, so müßte man »anknüpfen an« und »erwachsen aus« 
unterscheiden und mit jenem ein bloß äußerliches, mechanisches 
Verbundensein, mit diesem eine innerliche, organische Verbun- 
denheit bezeichnen. Daß man diese Unterscheidung nicht immer 
trifft, auch für beide Möglichkeiten das farblose Wort; »entstan- 
den aus« gebraucht, macht die Diskussion oft verschwommen 
und verurteilt sie zur Unfruchtbarkeit. 

6. Der Rechtshistoriker hat nur Interesse an der Gestalt, der 
Wirtschaftshistoriker auch am Inhalt der Institution. Deshalb 
fragt jener nur nach der Qualität (Art), dieser auch nach der 
Quantität. Die Aktiengesellschaft (oder irgendeine ähnliche Ein- 
richtung), für eine Zeit nachweisen, hat also für jenen und für 
diesen eine sehr verschiedene Bedeutung. Jener hat seine Auf- 
gabe erfüllt, wenn er einen einzigen Fall feststellt, in dem 
diese Gesellschaftsform vorkommt, dieses Aufgabe hebt dann 
erst an, weil ihm vor allem daran liegen muß, die Wichtigkeit 
solcher Einrichtung und ihre grundsätzliche Bedeutung in dem 
Gesamtzusammenhange zu ermitteln. 


II. Die Personalvereinigung (Offene Handels- 
gesellschaft). 


Eine kapitalistische Personalvereinigung entsteht, wenn 
mehrere Unternehmer mit ihrem ganzen persönlichen und sach- 
lichen Vermögen sich dauernd zu gemeinschaftlichem Geschäfts- 
betrieb auf Grund vertragsmäßiger Abmachungen vereinigen und 
damit eine kapitalistische Unternehmung, das heißt also ein 
selbständiges Geschätt unter eigener Firma mit eigenem (Sach-) 
Vermögen begründen. 

Das ist also das, was die Juristen (und mit ihnen der Gesetz- 
geber) als Offene Handelsg:sellschaft bezeichnen: 


»Eine Gesellschaft, deren Zweck auf den Betrieb eines Handels- 
gewerbes unter gemeinschaftlicher Firma gerichtet ist, ist eine offene 
Handelsgesellschaft, wenn bei keinem der Gesellschafter die Haftung 
gegenüber den Gesellschaftsgläubigern beschränkt ist.« (§ 105 HGB.) 

Dazu der Kommentar (F. Litthauer): 

I. Eine Gesellschaft kann nur durch Vertrag entstehen. 

2. Betrieb des Handelsgewerbes unter gemeinschaftlicher Firma 
ist wesentliches Erfordernis der o. HG. Fehlt es hieran, so liegt eine 
nach bürgerlichem Recht zu beurteilende Erwerbsgesellschaft vor. 


468 Werner Sombart, 


»Die o. HG. kann unter ihrer Firma Rechte erwerben und Ver- 
bindlichkeiten eingehen, Eigentum und andere dingliche Rechte an 
Grundstücken erwerben, vor Gericht klagen und verklagt werden.« 
($ 124 HGB.). 

Kommentar: Die o. HG. ist keine juristische Person; das Gesell- 
schaftsvermögen wird jedoch als eine zwar den Gesellschaftern ge- 
hörende, aber von ihrem sonstigen Vermögen gesonderte Vermögens- 
einheit angesehen. Entsch. des ROHG. vom 13. Mai 1879. 8. Dez. 
1880. 28. April 1886. RG. Bd. 3. 16. Dem einzelnen Gesellschafter 
steht ein Miteigentum an den einzelnen zum Gesellschaftsvermögen 
gehörenden Vermögensstücken nicht zu. Ein Gesellschafter, der 
vorsätzlich und rechtswidrig über Sachen, welche der o. HG. gehören, 
zu Seinem Vorteil verfügt, kann sich dadurch der Unterschlagung oder 
des Diebstahls an den Sachen, und zwar zu ihrem vollen Werte, Schul- 
dig machen. Entsch. vom 5. Juli 1882. RG. in Strafs. Bd. 7. Das 

Bestehen von Rechten und Verbindlichkeiten zwischen dem Gesell- 
schaftsvermögen und den einzelnen Socii ist möglich. Entsch. ROHG. 
5, 206. Vgl. M.Weber, a.a.0.S.7. 


Für den Juristen liegt also das Wesentliche dieser Gesell- 
schaftsform in dem Zusammentreffen einer Firma mit Solidar- 
haftung der einzelnen Gesellschafter. Die Firma unterscheidet 
sie von nicht handelsrechtlichen Vereinigungen, die Solidarhaft 
von der Aktiengesellschaft. Sind sie sich aber einig über die ein- 
zelnen Rechtsmerkmale der modernen Offenen Handelsgesell- 
schaft, so gehen ihre Meinungen über die Herkunft dieser Ge- 
sellschaftsform und ihre juristische Gesamtkonstruktion heute 
weiter auseinander denn je. 

Hatte bis vor kurzem die Gesamthandstheorie (M.W e ber, 
Lastig, Hergenhahn) ziemlich stark die Oberhand ge- 
habt, so machen sich jetzt wieder Stimmen zugunsten derjenigen 
Theorie geltend, die in der Offenen Handelsgesellschaft eine ju- 
ristische Person erblickt. Nach dieser Auffassung besteht das 
Wesen der Offenen Handelsgesellschaft einzig und allein im selb- 
ständigen Gesellschaftsvermögen, das, weil ausschließlich für die 
Zwecke der Gesellschaft bestimmt, ein Zweckvermögen genannt 
wird Laband, Randa)?). 

Mir ®cheint, daß ein nicht unerheblicher Teil des Streites 
auf jene verschiedene Auffassung von der Entstehung einer Ins- 
stitution zurückgeht, von der ich vorhin sprach. Unterscheidet 
man die verschiedenen Gesichtspunkte, unter denen man die 


3) Uebersicht gibt M. Hacman, a.a.0. Bd. 68. 1910. 





Aus der Frühzeit der modernen Gesellschaftsformen. 469 


Entstehung betrachten kann, so ergibt sich folgendes, wie ich 
glauben möchte, ziemlich deutliche Bild: 

Daß der Geist der Offenen Handelsgesellschaft nicht der Geist 
ist, aus dem die Familienverbände oder die Korporationen des 
Mittelalters erwachsen waren, dürfte außer Zweifel sein. Sie ist 
keine Vereinigung von »Genossen«, sie beruht nicht auf still- 
schweigender Abmachung »unter Brüdern«, sie ist nicht ein Aus- 
fluß und eine unter vielen Erscheinungsformen einer Lebensge- 
meinschaft, sondern sie ist eine Abmachung, ein Vertrag zwischen 
Fremden für ganz bestimmte, rein geschäftliche Zwecke. Sie ist 
also aus dem Geiste geboren, der die vielerlei Gelegenheitsgesell- 
schaften des Mittelalters aus sich erzeugt hatte, aus grundsätz- 
lich aufrührerischem, fremdartigem, zerstörendem Geiste; sie 
ist ein mechanistisches Gebilde, kein organisches; sie ist gemacht, 
nicht geworden; sie ist darum auch kapitalistisch. Darum möchte 
ich auch glauben, daß diejenigen Juristen recht haben, die die 
Solidarhaft in der Offenen Handelsgesellschaft 4) als eine Zweck- 
bildung ansehen, die aus dem Interesse an einem gesicherten 
Verkehr, zum Schutz der Gläubiger gegen Bankrotte usw. ent- 
standen ist und entstanden sein würde, wenn es auch nie vorher 
so etwas wie eine deutschrechtliche Gesamthand gegeben hätte; 
die sie im Schoße des Exekutionsrechts allmählich sich ent- 
wickeln und von dort in das Gesellschaftsrecht übergehen lassen 5). 

»Entstanden« kann die Offene Handelsgesellschaft aber auf 
schr mannigfache Weise sein und der Punkte, der schon vor- 
handenen Gesellschaftsformen, an die sie »yanknüpft« sind wahr- 
scheinlich viele. Wir können uns denken, daß eine Familien- 
gesellschaft eine Firma wird und ein Gesellschaftsvermögen 
absondert; wir können uns denken, daß eine mehrseitige Ge- 
legenheitssozietas zu einer dauernden Vereinigung der Gesell- 
schafter und damit zu einer kapitalistischen Unternehmung die 
Vorstufe bildet: wir können uns denken, daß eine Handwerker- 
oder Händlergenossenschaft mittels eines Gesellschaftsvertrages 
ihre Genossen zu einer Gesellschaft verbindet, in der die persön- 


t) Solidarhaft kann offenbar aus ganz verschiedenen Wurzeln wachsen, aus 
stundsätzlich entzegengesetzten Ideenrichtungen hervorgehen; hier aus dem 
Gemeinschaftscefühl der Sippe, dort aus der rein utilitarischen Gedankenfolge 
einer Kaufmannsswelt. 

5) Der jüngste und recht scharisinnige Vertreter dieser Auffassung ist H a c- 
mzn; z.B. S.g92 a.a. O. und öfters daselbst. Linen ähnlichen Standpunkt 
vertritt Karl Adler, Zur Entw., Lehre und Dogmatik des Gesellschafts- 
rechts. 1805. 


Bi 


ni 


470 WernerSombart, 


lich-korporativen Beziehungen allmählich zurücktreten gegenüber 
den Geschäftsinteressen: in allen Fällen würde eine Offene Han- 
delsgesellschaft an schon bestehende Gesellschaftsformen »an- 
knüpfen«. Wir können uns aber ebenso gut vorstellen, daß sie 
aus dem Nichts erwächst, das heißt als Kollektivunternehmung 
erst durch den Gesellschaftsvertrag ins Leben tritt. 

In welchem Zeitpunkt das der Fall ist, wird sich schwerlich 
wie ich schon sagte, mit Sicherheit feststellen lassen. Nur das 
scheint mir außer Zweifel zu sein: daß es grundverkehrt ist, die 
Anfänge der Offenen Handelsgesellschaft in das frühe Mittelalter 
zu verlegen, ja auch nur anzunehmen, daß sie vor dem 16. Jahr- 
hundert in irgend nennenswerter Anzahl verbreitet gewesen sei. 
Nur auf einen Mangel an begriiflicher Schärfe ist es zurückzu- 
führen, wenn immer wieder einmal das Mittelalter mit Offenen 
Handelsgesellschaften bevölkert wird, weil man Familiengesell- 
schaften, Handwerkergenossenschaften, Gelegenheitsgesell- 
schaften oder irgend sonst eine Gesellschaftsform, die bei ober- 
flächlicher Betrachtung einer Offenen Handelsgesellschaft ähnlich 
sieht, für eine solche hält. Wir müssen uns immer gegenwärtig 
halten, daß eine Offene Handelsgesellschaft jedenfalls nicht früher 
da sein konnte, als die Kapitalistische Unternehmung, deren 
Entstehung wir frühestens in das I6. Jahrhundert glaubten ver- 
legen zu sollen. Ehe nicht der Begriff der Firma in dem im 
vorigen Aufsatze angegebenen Verstande entwickelt war, ehe 
nicht die systematische Buchhaltung eingebürgert war, konnte es 
auch keine Offene Handelsgesellschaft geben. 

Ich möchte annehmen, daß die Offene Handelsgesellschaft ihre 
juristische Ausbildung im 16. Jahrhundert erfährt, weil erst in 
dieser Zeit die Juristen die Gedanken herausarbeiten: die Ab- 
sicht einer Sozietas mit Solidarhaftung einzugehen, sei daraus 
zu ersehen, daß die Betreffenden einen Kollektivnamen, die 
Firma, annehmen und mit ihm Kontrakte schließen ®); anders 
ausgedrückt: daß Kontrakte, die unter der Kollektivfirma ge- 
schlossen werden, Sozietätskontrakte seien. Erst damals war der 
Begriff der Firma so r.itwickelt, daß er zu einem tragenden 
Bestandteile für die juristische Konstruktion gemacht werden 
konnte. in diesem Augenblick schuf man durch Vereinigung 
dieser beiden Merkmale: Firma und Solidarhaft, das Rechtsinstitut 
der Offenen Handelsgesellschafft. 

6) Gut bei M. Weber, a.a.0.S.158 ff. 





Aus der Frühzeit der modernen Gesellschaftsformen. 471 


Wir dürfen aber nicht annehmen, daß die juristische Kon- 
struktion der Offenen Handelsgesellschaft wesentlich später er- 
folgt sei als ihre Verbreitung begonnen hätte. Die Tatsache, daß 
uns im 16. Jahrhundert die Gelcgenheitsgesellschaft noch so 
häufig begegnet, dürfte ein Beweis dafür sein, daß in dieser Zeit 
die Offene Handelsgesellschaft nur erst vereinzelt auftrat. Im 
17. Jahrhundert aber, scheint es, wurde sie häufiger. Ja, gegen 
das Ende dieses Jahrhunderts dürfte sie die herrschende kapita- 
listische Gesellschaftsform geworden sein. Die zahlreichen eng- 
lischen »Companies«: X. Y. and Company, die wir beispielsweise 
in dem London des ausgehenden 17. Jahrhunderts unter den 
Merchants antreffen, werden wohl in der Regel Offene Handels- 
gesellschaften gewesen sein 7). 

Auch in den italienischen, französischen und holländis hen 
Kaufmannsbüchern jener Zeit wird sie als die »gewöhnliche«, die 
»natürliche« Form der Handelsgesellschaften bezeichnet. So 
ist das einzige Schema einer Handelsgesellschaft (Compagnia di 
Negozio) das einer Offenen Handelsgesellschaft (genauer: Kom- 
manditgesellschaft) bei Peri®). So nennt sie Savary die 
»Societe ordinaires 9), Jean-Pierre Ricard: »la plus or- 
dinaire et la plus naturelle, qu’on nomme generale ou libre« 10), 

Trotzdem habe ich den deutlichen Eindruck, daß die Offene 
Handelsgesellschaft damals, also um die Wende des 17. Jahr- 
hunderts, selbst in den merkantil am weitesten fortgeschrittenen 
Ländern sich noch in statu nascendi befunden habe. 

Diesen Eindruck muß man gewinnen, wenn man die V orgänge 
genauer verfolgt, die zu der Kodifikation des Gesellschaftsrechts 
in der französischen Ordonnanz von 1673 geführt haben. 

Wir sind ja in der angenehmen Lage, in den Werken der beiden 
Savarys, namentlich aber im Parfait négociant des älteren S a- 
vary, eine Art von Motiven und Kommentar zum ersten französi- 
schen Handelsgesetzbuch zu besitzen, da Jacques Savary, 
nachdem er im Jahre 1670 zwei Denkschriften, von denen eine die 
Mißstände im Handel darlegte, die andere einen Gesetzentwurf für eine 


Kondifikation des Handelsrechts enthielt, eingereicht hatte, in die 
Kommission zur Beratung eines Handelsg: setzbuches berufen wurde 


m — m 


’) A Collection of the Names of Merchants living in and about the City of 
London. 1677 (reprinted 1878). j 

*}) Peri, Il negotiante (1082), Vol. I. Cap. XIII. 

’, Savar y, Le parfait nég. 2, 14. 

t10) J.P. Ricard, Le négoce d’Amsterdam, 367. R.s Kapitel über die 
Handelsgesellschaften ist übrigens nur ein ziemlich dürftiger und noch dazu nicht 
ganz genauer Auszug aus Savary. 


472 Werner Sombart, « 


(siehe die Préface zur 4. ed. des Parf. nég. [1697]) und in den späteren 
Auflagen seines berühmten Buches genauen Bericht über Veranlassung 
und Sinn der Bestimmungen der Ordonnanz von 1673, die offenbar im 
wesentlichen sein Werk war, erstattet hat. Aus diesem Berichte aber 
können wir entnehmen, daß die Ideen, die in der genannten Ordonnanz 
zum ersten Male Gesetzesgestalt annahmen, und die in der Tat die 
Offene Handeisgesellschaft im modernen Sinne begründen, doch zum 
guten Teile neue waren oder jedenfalls noch keineswegs als selbstver- 
ständlich angesehen wurden. Die Ordonnanz von 1673, das müssen 
wir im Auge behalten, sollte ja nicht nur ein bestehendes Gewohn- 
heitsrecht zum Gesetz erheben, sondern sie sollte dazu dienen, »Miß- 
bräuche im Handelzu beseitigen.« Und unter diese Mißbräuche 
rechnete Savary die Unbestimmtheit und Ungeregeltheit der 
Handelsgesellschaften. Mit anderen Worten: Savary empfand 
es als einen schlimmen Uebelstand, der der Entwicklung des Ver- 
kehrs im Wege stände, daß der Rechtsbegriff der Firma (den 
er : ehr‘ deutlich hatte unter der Bezeichnung raison de Société) noch 
keineswegs allgemein bekannt und anerkannt sei, und ebenso daß der 
Grundsatz der solidarischen Haftung bei den »Soc. ordinaires« noch 
immer wieder durchbrochen werde. Deshalb vor allem führt er den 
gesetzlichen Zwang zur Eintragung aller Handelsgesellschaften in 
das Handelsregister ein (art. 2, tit, IV). Die Begründung dieses Ar- 
tikels lautet wie folgt (Parf. nég. 2, 7): 

»La disposition de cet Article est de très grande consequence au 
commerce et pour la seureté publique car il se commet de 
grands abus dans les Societez. Premierement, en ce 
que assez souvent la raison de Société sera sous trois ou quatre noms 
collectifs, de Marchand et Negocians tous parens et alliez dont il n’en 
paroitra que deux dans les signatures des lettres et billets de change, 
en signant Pierre & Jacques & Compagnie et s’il arrive des faillites, 
les deux qui sont nommez dans le public sont sacrifiez pour les autres 
qui se retirent; et lon en ôte la connoissance au public, pour n’etre 
pa; tenus de payer les dettes deuës par la Société à leurs créanciers. 

Il est necessaire que tous les Marchands et Negocians sçachant 
la raison de Societez pour plus grande seureté de leur commerce et 
de l'exposition de leurs deniers sur la place, quand l'Extrait sera 
registré au Greffe de la Jurisdiction Consulaire, Royale, du Seigneur 
ou a l’Hotel Commun de la ville, et exposé en lieu public, personne 
n’en pretendra cause d'ignorance et on connoitra ceux qui composent 
les Societez et à qui on aura affaire ainsi personne ne sera deceù ni 
trompe.« 

Ebenso deutlich ersieht man aus der Fassung des art. 7 und seiner 
Begründung, daß der Firmenbegriff noch nicht in Fleisch und Blut 
des Kaufmanns eingedrungen war, und daß man noch häufig keinen 
Unterschied zwischen Privatunterschrift und Gesellschafts-(Firmen-) 
Unterschrift machte und deshalb auch die Solidarhaft für Gesellschafts- 
schulden nicht immer geleistet wurde. Deshalb bestimmt art. 7: »que 
tous Associez seront obligés solidairement aux dettes de la Société, 


Aus der Frühzeit der modernen Gesellschaftsformen., 473 


encore qu’il n’y en ait qu’un qui ait signé, au cas qu’il ait signé pour la 
Compagnie et non autrement.« Savary ist besonders stolz darauf, 
diesen letzten Zusatz gemacht zu haben, der erst Ordnung und Sicher- 
heit in den Handel bringen werde (Parf. nég. 2, 12). 


Daß aber die Offene Handelsgesellschaft gegen das Ende des 
17. Jahrhunderts noch keineswegs in ihrer heutigen Grundsätz- 
lichkeit bestand, daß sie sich vielmehr noch in einer Uebergangs- 
verfassung befand, ersehen wir auch aus den eigentümlichen 
Gesellschaftsverträgen, die unter ihrem Namen abgeschlossen 
wurden, die aber noch eine ganze Menge Bestandteile anderer, 
vorkapitalistischer Gesellschaftsformen enthielten. 


Savary teilt einzelne solche Verträge (als Schemate) mit, die 
Detaillisten untereinander abschließen, um eine »Societe ordinaire« 
einzugehen (also diejenige Gesellschaftsform, die wir als Offene Han- 
delsgesellschaft bezeichnen, wenn wir die Ord. von 1673 anführen). 
Danach ist die Verbindung noch halb Familiengesellschaft, noch halb 
Gelegenheitsgesellschaft. Die Socii, die ihren Vertrag auf nur sechs 
Jahre abschließen, begründen nicht nur ein gemeinsames Geschäft, 
sondem auch eine Wirtschaftsgemeinschaft — wohl- 
gemerkt in Paris! — für sich und ihre Familien, mit 
gemeinsamer Küche und gemeinsamen Mahl- 
zeiten, die auf Rechnung der Gesellschaft gehen. Ganz ähnliche 
Vertragsschemata für die Copartnership, die für die Londoner Gold- 
schmiede und Kaufleute gedacht sind, finden wir bei Jac. Giles, 
Lex mercatoria. 2. ed. 1729, Ch. X. Auch hier handelt es sich um eine 
Art von gemeinsamer Wirtschaftsführung der verschiedenen Teil- 
nehmer. Man sieht, wie sehr man Seine an den Zuständen der Gegen- 
wart gebildeten Begriffe modeln muß, wenn man Gesellschaftsformen 
auch nur des ausgehenden 17. und des beginnenden 18. Jahrhunderts 
Tichtig beurteilen will. Welcher Abstand von einer hochkapitalistischen 
Gestaltung noch damals! Strenger kapitalistisch muten die Vertrags- 
Schemata an, die Peri, 1l. c. mitteilt. Doch ist zu vermerken, daß 
auch er eine Dauer der Gesellschaft von fünf Jahren annimmt, mit 
Aussicht allerdings auf Verlängerung. 


Immerhin: die Offene Handelsgesellschaft ist seit dem 17. 
Jahrhundert eine Gesellschaftsform, die sich immer reiner zu 
einer kapitalistischen ausgestaltet und offenbar auch immer wei- 
tere Verbreitung erfährt. 


U. Die Kapitalvereinigung (Aktiengesell- 
schaft). 


In der Aktiengesellschaft erlebt die kapitalistische Kollektiv- 
unternehmung ihre höchste Vollendung. Die Aktiengesellschaft 


Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 2. 31 


474 Werner Sombart, 


als Kapitalvereinigung wird den im Kapitalismus wohnenden 
Tendenzen am meisten gerecht, ihre Form ist der kapitalistischen 
Wirtschaftsweise am besten angepaßt. Daraus ergibt sich ohne 
weiteres, was wir als das der Aktiengesellschaft Eigentümliche, 
Besondere, Wesentliche, sie von anderen Wirtschaftsformen 
Unterscheidende, zu sehen haben; was wir gleichsam als ihr 
innerstes Prinzip anerkennen müssen. Es kann kein Rechts- 
grundsatz sein, nicht die korporative Struktur, nicht der Gedanke 
der beschränkten Haftung, da diese Rechtsgrundsätze sich auch 
in andern Wirtschaftsformen wieder finden. Es kann aber auch 
nicht der sachlich-wirtschaftliche Umstand sein, daß die Aktie 
als der Anteil der Gesellschafter am Gesamtvermögen ein Divi- 
dendenpapier ist, wie das in feinsinniger Weise Karl Lehmann 
betont hat !!). Der Einwand, den übrigens Lehmann selbst 
gegen sich erhebt: daß es nämlich schon vor der Aktie »Dividen- 
denpapiere« gegeben habe, wie namentlich die Kuxe, scheint mir 
doch stichhaltig zu sein. Ich wüßte in der Tat nicht, was in dieser 
Hinsicht: daß sie nämlich beide Anteilscheine sind, die zum Be- 
zuge eines Gewinnes pro rata berechtigen, Aktie und Kux von- 
einander unterscheidet. Was mir vielmehr das kennzeichnende 
Merkmal der Aktiengesellschaft zu sein scheint, ist die folge- 
richtig durchgeführte Versachlichung des Kapitalverhälinisses; 
ist dieses, daß in der Aktiengesellschaft der Sachunternehmer, 
der »Kapitalist« losgelöst ist von dem Unternehmen oder viel- 
mehr: dank der der Aktiengesellschaft eigentümlichen Struktur 
losgelöst werden kann. Mit der Trennung des »Geschäfts« von 
der Person des Unternehmers wird in dieser Wirtschaftsform 
Ernst gemacht. Es gibt in der Aktiengesellschaft überhaupt 
keine Fersonen mehr, sondern nur noch ein Geschäft auf der 
Grundlage eines gleichsem automatisch funktionierenden Kapitals, 
das aus sich heraus Vorstand und Aufsichtsrat als seine eigenen 
Verwalter bestellt. Es liegt im Wesen der Aktiengesellschatt, 
daß niemand sagen kann: das ist der Mann cder das sind dir 
Männer, denen das Unternehmen zugehört. Niemand kennt den 
Träger dieses Unternehmens, weil ihn in der Tat niemand kennen 
kann: er ist eine unbestimmte Menge, die Inhaber der Anteil- 
scheine, die heute aus diesen, morgen aus jenen Menschen be- 
stehen kann. 


n) K.Lehmann, Gesch. Entw., 23 fi. 


Aus der Frühzeit der modernen Gesellschaftsformen. 475 


Alle früheren Gesellschaften waren entstanden durch den Zu- 
sammenschluß nahestehender, wenn nicht der Familiengenossen oder 
Berufsgenossen, so der Freunde und Bekannten, der Gönner und Be- 
gönnerten. Die Aktiengesellschaft wendet sich mit der Aufforderung 
zum Beitritt grundsätzlich an einen großen Kreis, an jedermann, an 
Herrn Toutlemonde, an das »Publikum«, das durch das Aktienprinzip 
vielleicht zum ersten Male in die Erscheinung tritt. Der öffent- 
licheAufrufzur Beteiligunganeinem geschäft- 
lichen Unternehmen istäußerlich vielleicht das entscheiden- 
de Kennzeichen der grundsätzlich neuen Form der Vergesellschaftung, 
wie sie in der Aktiengesellschaft sich verwirklicht. Schon bei den Vor- 
kompagnien der holländisch-ostindischen Kompagnie war wenigstens 
zur Hälfte der öffentliche Aufruf, zur andern Hälfte die persönliche 
Umfrage beliebt worden, um Mitglieder zu gewinnen. Bald darauf 
wird der öffentliche Aufruf zu dem recht eigentlich berufenen Mittel 
der Gesellschaftsbildung. Im Oktroi der dänisch-ostindischen Kom- 
pagnie (1616), das Lehmann, a.a.O. zum ersten Male veröffent- 
licht hat, lautet der Art. 8 wie folgt: »Daß Kgl. Maj. gn. erlauben will, 
an bequemen Stellen, wo den Verwaltern es gut scheint, öffentlich 
anschlagen und verkünden zu lassen, daß jeder, der sich in die Com- 
pagnie begeben will, das innerhalb einer gewissen Zeit tun soll, und 
einzeichnen lasse wie viel er gedenke einzulegen, nach Ablauf welcher 
Frist die nicht verpflichtet sein sollen, genannte aufzunehmen . . .« 


Und ebensowenig wie das Unternehmen zu diesen Unter- 
nehmern, haben diese Unternehmer zu dem Unternehmen irgend 
eine persönliche Beziehung. Als Aktionär brauche ich nicht ein- 
mal zu wissen, wo das Unternehmen licgt, geschweige, daß ich 
irgendwelche Sachkunde benötigte oder irgendwelches Geschäfts- 
interesse aufbringen müßte, um Aktionär zu sein. 

Diese Wesenheit der Kapitalvereinigung hat nun aber gewiß 
auch rechtliche Folgen; ja ich glaube, daß man die Aktiengesell- 
schaft auch juristisch aus diesem Umstand der Versachlichung 
des Kapitalverhältnisses am besten konstruieren kann. 


Unser HGB. vermeidet es, den Begriff der Aktiengesellschaft in 
Worte zu fassen. Wenn man aber den Eingangsparagraphen zu dem 
Abschnitt, der von der Aktiengesellschaft handelt, richtig und weit 
genug auslegt, so kann man aus ihm das Versachlichungsprinzip mühe- 
los herauslesen: »Die sämtlichen Gesellschafter der A.-G. sind mit 
Einlagen auf das in Aktien zerlegte Grundkapital der Gesellschaft 
beteiligt, ohne persönlich für deren Verbindlichkeiten zu haften.e 
(8 178.) Das heißt also: ı. im Anfang ist das Grundkapital: 2. Ge- 
Sellschafter ist, wer daran Anteil hat; 3. sonst hat er (persönlich) 
mit dem Unternehmen nichts zu tun. 

; 31* 


476 Werner Sombart, 


Die wesentliche Eigenart der Aktiengesellschaft erkennt man 
am ehesten, wenn man sie mit äußerlich ähnlichen, aber im Geist 
verschiedenen Wirtschaftsformen vergleicht, etwa mit der berg- 
rechtlichen Gewerkschaft. Diese ist auch auf dem Anteilsver- 
hältnis der Gesellschafter aufgebaut, sie kennt ebenfalls nur be- 
schränkte Haftung, aber sie ist doch eine Personenvereinigung, 
während die Aktiengesellschaft eine Kapitalvereinigung ist, und 
aus diesem obersten Gegensatz ergeben sich dann alle weiteren 
Verschiedenheiten. Die Aktiengesellschaft setzt zur Entstehung 
ein bestimmtes und vollgesichertes Kapital voraus; die Gesell- 
schaft ist gebildet, sobald mehrere Mitbeteiligte am Bergwerk 
vorhanden sind. Der Aktionär schießt gleich zu Anfang des 
Unternehmens ein bestimmtes, seine Rechte und Pflichten be- 
grenzendes Kapital vor; der Gewerke braucht zunächst nichts 
zu zahlen, er leistet vorher und nachher je nach Bedarf; er emp- 
fängt aber in der Ausbeute auch seine Einlage zurück, während 
der Aktionär eine Rückzahlung aus dem Grundkapital während 
der Dauer des Geschäfts nicht erhalten darf, sondern nur am 
Gewinne teilnimmt. Die Beziehung des Aktionärs zur Unter- 
nehmung besteht, nachdem er seinen Anteil am Geschäftsver- 
mögen einbezahlt hat, nur noch in seinem Gewinnanrecht; der 
Gewerke bleibt mit dem Unternehmen selbständig verbunden 
durch seine fortbestehende Zubußpflicht. Ein Kapital ist bei der 
Gewerkschaft gar nicht vorhanden, ebensowenig ein von den 
Gewerken losgelöstes Geschäft, also auch keine kapitalistische 
Unternehmung: die Aktiengesellschaft ist nur Kapital, nur 
Geschäft, reinste kapitalistische Unternehmung usf. 

Mit dieser Erkenntnis des inneren Wesens der Aktiengesell- 
schaft haben wir nun aber auch den richtigen Standpunkt ge- 
wonnen, um in dem lebhaften Streit, der überihregeschicht- 
liche Entstehung entbrannt ist, ein sicheres Urteil zu 
gewinnen. Wenn wir wieder die Frage nach dem organischen Er- 
wachsensein von der Frage nach der mechanischen Anknüpfung 
trennen, so werden wir jedenfalls mit Bestimmtheit sagen können, 
welche früheren Gesellschaftsformen allein als ihre geistigen 
Vorfahren in Betracht kommen können. Wir können mit Be- 
stimmtheit sagen, daß die Aktiengesellschaft nichts Wesenhaftes 
verbindet: weder mit den italienischen Montes, noch mit den 
Regulated Companies, noch mit den Handwerkergenossenschaften 
aller Art, nichts mit den Händlergenossenschaften, nichts mit der 


Aus der Frühzeit der modernen Gesellschaftsformen. 477 


Gewerkschaft, nichts mit der Reederei. Sie alle sind aus 
grundsätzlich anderem Geiste geboren. Die 
italienischen Monti sind Staatskreditanstalten und haben mit 
den spontanen Kapitalsassoziationen« 12), der Aktiengesellschaft 
überhaupt nichts zu tun. Die übrigen Kollektivunternehmungen, 
mit denen man die Aktiengesellschaft in Verbindung gebracht 
hat, sind aber alle aus handwerklich-genossenschaftlichem Geiste 
geboren. Die Aktiengesellschaft aus der Reederei oder der regu- 
lierten Kompagnie »ableiten«, heißt nichts anderes, als wenn 
man sagt: die Eisenbahn ist aus der Post, das Schießgewehr aus 
der Armbrust »entstanden«. 

Man kann damit höchstens nämlich die äußere An- 
knüpfung des einen Instituts an das andere im Sinne haben. 
Diese hat allerdings an verschiedene der früheren Gesellschafts- 
formen stattgefunden. Nicht an die Reederei, wie-man eine Zeit- 
lang annahm, wenn man nämlich unter Reederei eine Vermögens- 
organisation und keine Berufsorganisation versteht. 

Diese Unterscheidung ist nicht immer gemacht worden. Nament- 
lich auch liegt der Fehler der Lehmannschen Beweisführung in 
dieser Verwechslung der beiden Reedereibegriffe. Wenn er z.B. 
(a. a. O. S. 38) sagt: »Die Reederei war im 16. Jahrhundert in England 
wie sonst die maßgebende Gesellschaftsform, um eine größere Anzahl 
Personen zu gemeinsamem Wagnis, adventure, ihres Kapitals durch 
Seeunternehmungen zu vereinigen«, so ist das beschränkt richtig, 
wenn unter Reederei eine bestimmte Berufsorganisation verstanden 
wird, falsch, wenn damit die Reederei als Vermögensorganisation, also 
die Mitreederei oder Partenreederei gemeint ist. Denn die englischen 
Adventurers Gesellschaften waren, wie man weiß, entweder Händler- 
genossenschaften alten Stils oder Regulated Companies nach Art der 
Levante-Kompagnie. 

Wohl aber scheinen manche der großen Uebersee-Aktien- 
gesellschaften des 17. Jahrhunderts im Rahmen von regulierten 
Kompagnien erwachsen zu sein, in die man commendaartige Ver- 
hältnisse hineinbaute: als eine Kreuzung von regulier- 
ter Kompagnie und Commenda kann man viele 
der früheren Aktiengesellschaften bezeichnen: der Geist, der in 
ihnen lebendig wurde, war jedenfalls der Geist der alten Gelegen- 
heitsgesellschaft, in der allein die Keime an Spann Bl 
listischen Organisation schlummerten. > > were 


1 
ton i ate 


Dieser Auffassung am nächsten kommt die van der Hey- 


— 


12) Sieheschon Gierke, Gen. Recht ı, 992. 





478 Werner Sombart, 


dens. Wenn Brakel (Bijdrage, 272) gegen diesen geltend macht, 
daß die mittelalterliche Partecipatio immer nur zwischen zwei Personen 
bestanden hatte, so scheint mir damit doch der Begriff der Societas 
per modum partecipationis zu eng gefaßt zu sein. Brakel gibt 
übrigens zu, daß die Annahme von Commenda-ähnlichen Verhält- 
nissen in den Vorkompagnien der niederländisch-ostindischen Kom- 
pagnie für ein früheres Entwicklungsstadium richtig ist. Das genügt 
ja. Wenn Brakel selbst die Alktiengesellschaft mit der Offenen 
Handelsgesellschaft in Verbindung bringen will, so würde ich dagegen 
vor allem einwenden, daß es Offene Handelsgesellschaften vor der 
Aktiengesellschaft auch kaum gab, vor allem aber (diesen Einwand 
macht sich B. S. 295 selbst): daß alle Vorkompagnien, ebenso aber 
auch alle früheren Aktiengesellschaften in andern Ländern Gelegen- 
heitsgesellschaften waren. 


Den Zeitpunkt, in dem die Aktiengesellschaft »entstanden« 
ist, wird man nach den neueren Forschungen etwas vor den 
Beginn des 17. Jahrhunderts ansetzen müssen: es hat scheinbar 
in der Tat schon während des 16. Jahrhunderts in Deutschland 
und in England aktiengesellschaftsähnliche Gebilde gegeben. 
Aber noch weit energischer, als bei den oftenen Handelsgesell- 
schaften, möchte ich hier davor warnen, daß man aus dieser Auf- 
findung von ein Paar »Aktiengesellschaften« im 16. Jahrhundert 
den Schluß zöge: diese Gesellschaftsform sei etwa in dieser Zeit 
schon von irgendwelcher Bedeutung tür die wirtschaftliche Ent- 
wicklung gewesen. Das war sie noch lange Zeit nach ihrem Ent- 
stehen schon nicht wegen ıhrer außerordentlich geringen 
Verbreitung in den früheren Jahrhunderten. 


R. W. Scott, der wohl für England alle Aktiengesellschaften 
ermittelt hat, die es vor 1720 gegeben hat, gibt für die Zeit von 1553 
bis 1680, also für einen Zeitraum von 127 Jahren, 49 solcher Gesell- 
Schaften an, die er als Aktiengesellschaften bezeichnet. Viele davon 
verdienen den Namen Sicher nicht. Dann erlebte Großbritannien 
bekanntlich seine erste »Gründerperiode«; aber auch in dieser, die wir 
auf etwa 40 Jahre: von 1680 bis 1719, veranschlagen können, werden 
nur 56 Aktiengesellschaften ins Leben gerufen; in dem Jahre 1719/20 
tauchen dann Igo Projekte auf, die aber meist nicht verwirklicht 
werden: die Bubbles. 1720 aber wird die Begründung von Aktienge- 
sellschaften in England verboten, und dieses Verbot scheint bis zur 
Aufhebung der Bubbles Act im Jahre 1825 ziemlich streng eingehalten 
worden zu sein. 

Für die andern Länder besitzen wir eine annähernd so umfassende 
Darstellung wie die Scott’sche für England nicht. Wir sind hier 
auf Schlüsse angewiesen. 


Aus der Frühzeit der modernen Gesellschaftsformen. 479 


Da Scheint mir nun immerhin von Bedeutung zu sein, daß beide 
Savarys, die, wie wir wissen, dem Gesellschaftsrecht ihre ganz be- 
sondere Aufmerksamkeit widmeten, die Aktiengesellschaften in ihren 
Werken überhaupt nicht erwähnen. Diese Werke gelten 
aber für das Ende des 17. und den Anfang des 18. Jahrhunderts. Wir 
dürfen also wohl annehmen, daß bis zu diesem Zeitpunkt jedenfalls 
die Aktiengescllschaft in Frankreich sich nicht nennenswert entwickelt 
hatte, nachdem unter Heinrich IV. Versuche mit ihr gemacht worden wa- 
ren, die aber scheiterten: »Ce fut sous Henry IV que se produisaient les 
premiers tentatives pour fonder des sociétés par action, mais ces ten- 
tatives ne réussirent pas.« G. Fagniez, L’ccon. soc. de la France 
sous H. IV (1897), 245. 

Für Deutschland haben jetzt Möllenberg, Striederu.a. 
ein paar aktiengesellschaftsähnliche Gebilde im 16. Jahrhundert nach- 
gewiesen. Sollte sich die Zahl nicht verhundertfachen, was nicht 
wahrscheinlich ist, so kann man diese Wirtschaftsform für das 16. 
Jahrhundert auch in der deutschen Wirtschaftsgeschichte als be- 
langlos übergehen. Wahrscheinlich gilt das aber auch noch für das 
17. und 18. Jahrhundert. Denn was wir aus dieser Zeit von Aktien- 
gesellschaften kennen, sind ein paar Handelskompagnien (wie die 1719 
in Wien gegründete Orientalische Kompagnie, die Asiatische Kom- 
pagnie Friedrichs d. Gr., die preußische Seehandlungsgesellschaft) und 
ein paar Versicherungs- und Bankanstalten (wie die Assekuranz- 
kompagnie in Hamburg vom Jahre 1765). 

Bis tief ins ıg. Jahrhundert hinein blieb die Entwicklung der 
Aktiengesellschaft in Deutschland in den Anfängen stecken. Noch in 
den 1830er Jahren beurteilte ein sehr guter Kenner die Zustände in 
der am weitesten fortgeschrittenen Stadt Deutschlands wie folgt: 
»Ein eigentümlicher Zug im Charakter des hamburgischen Kaufmanns 
ist dessen große Abneigung gegen Aktienunternehmungen. Selten 
finden dahin gehörige Projekte Anklang bei den Hamburgern . . .« 
Ludolf Schleicher, Das merkantilische Hamburg (1 8 3 8!),41. 


Nun müssen wir uns aber ferner, um die Bedeutung der 
Aktiengesellschaft für die Wirklichkeit richtig zu ermessen, klar 
werden darüber, daß in allen früheren Jahrhunderten diese Ge- 
sellschaftsformnursehr unvollkommenihrinneres 
Wesen zur Entfaltung gebracht hat. Ich habe 
absichtlich von aktiengesellschaftsähnlichen Gebilden gesprochen. 
In der Tat ist man oft im Zweifel, ob man eine Gesellschaft, auch 
wenn sie »Aktien« ausgab, für eine Aktiengesellschaft im strengen 
Sinne ansehen soll oder nicht: so mangelhaft und undeutlich 
prägen sich die besonderen Züge der Aktiengesellschaft in ihr aus, 
so vielerlei ist aus anderen Gesellschaftsformen entlehnt. \Wäh- 
rend fast der ganzen frühkapitalistischen Epoche, jedenfalls bis 
tief ins 18. Jahrhundert hinein, stellt sich uns die Aktiengesell- 


480 Werner Sombart, 


schaft als eine werdende, unfertige Gesellschaftsform dar, be- 
findet sie sich gleichsam noch im Puppenstande. 

Diese Unfertigkeit der Aktiengesellschaft läßt sich vor allem 
daran erkennen, daß die Versachlichung des Kapitalverhält- 
nisses noch nicht völlig durchgeführt ist, daß in den Aktienge- 
sellschaften des I6. und 17., zum Teil auch noch des I8. Jahr- 
hunderts eine Menge persönlicher Beziehungen der Aktionäre 
untereinander und zu der Unternehmung erhalten geblieben sind. 
Sie bekommen dadurch im Ganzen eine stark persön- 
liche Färbung, die sie der vorkapitalistischen, genossen- 
schaftlichen Wirtschaftstorm verähnelt. Dazu trug bei: 

I. Die Kleinheit der Verbände, die allen früheren Ak- 
tiengesellschaften ihr besonderes Gepräge verleiht. So haben von 
den 49 englischen Aktiengesellschaften, die vor dem Jahre 1680 
gegründet sind, nur 4 mehr als IOo Aktionäre ??): 2 Kolonisations- 
gesellschaften (II7, IIo), die African Co. (198) und die ostindi- 
sche Kompagnie, die mit 900 bis IOooo damit allein unter anderem 
dem Wesen einer wirklichen Aktiengesellschaft sich annähert. 

2. Die örtliche oder soziale Begrenztheit 
der Aktienausgabe. Der Kleinheit der Verbände ent- 
sprach es, daß die Teilnehmer fast immer verwandt oder befreun- 
det oder sonstwie persönlich verbunden waren. Wir erfahren von 
den alten Jointstock-Companies in England, daß ihre Shares nur 
bei Personen untergebracht wurden, die sich kannten. Wir wissen 
ferner, daß in den Anfängen die Mitgliedschaft in der Regel auf 
Inländer oder sogar auf Stadtbürger beschränkt war. So bei den 
deutschen Aktiengesellschaften des 16. Jahrhunderts offenbar 
ganz allgemein. Wir erfahren es von der Leobener Allgemeinen 
Eisen-Handelsgesellschaft, von der Steyrer Allgemeinen Eisen- 
Handelskompagnie, von der Iglauer Tuch-Handelskompagnie, 
von der Amberger Zinnblech-Handelskompagnie. 


Im Jahre 1540 petitionierte die Gesellschaft beim Fürsten, er 
möge den Ausschluß der »Ausländer« gestatten. Sie würde gern die- 
jenigen Amtleute und Räte seiner fürstlichen Gnaden, mit deren »Dar- 
legung und Wagnis« die Gesellschaft erstlich in »den Gang und das 
Werk gebracht« und bisher erhalten worden sei, soweit sienoch 
im Fürstentum wohnhaft waren, in der Gesellschaft 
des Amberger Zinnblechhandels sehen. Aber anders verhielt sich die 
Sache mit denjenigen, die Sich außerhalb der Pfalz, in fremden Herr- 





23) R. W. Scott, 1. c. 3, 459 seg. 


Aus der Frühzeit der modernen Gesellschaftsformen. 481 


schaften häuslich niedergelassen hatten. Die strichen nur die Divi- 
dende ein, nützen konnten sie der Gesellschaft und ihrem Handel 
nichts (!). Darum sei es nicht anders als billig, wenn man sie aus der 
Sozietät entfernte. J. Strieder, Organ. Form., 150 /5SI. 
In dem Statut der Allgem. Eisenhandelskompagnie zu Steyr vom 
14. Sept. 1581 heißt es: »zum 5. Weiln die Gesellschaft in dem Eisen- 
handl als aines hieligen bürgerlichen Gewerbs angericht wirdet, so solle 
in dieselbe weder jetzo noch khünfftiglich niemandts anncer, als die 
alhie geschworne Bürger seien, mit ihrem Leggelt, des auch jedert- 
zit. . . allain par und anders gar nicht beschehen solle, zue- 
gelassen werden.« Abgedruckt bei Strieder, a.a.O. S. 390/91. 


Von starkem lokalpatriotischen Geiste sind aber selbst noch 
die »Kammern« erfüllt, aus denen die große holländisch-ostindische 
Kompagnie gebildet wurde. Diese »Kammern« entsprachen den 
Orten, in denen das Kapital aufgebracht war, bzw. die Aktionäre 
saßen: Amsterdam, Middelburg usw. Jede »Kammer« hatte ihr 
eigenes Kapital, d. h. es war stets vermerkt, welcher Kammer 
eine Aktie angehörte. Die »Kammer« nahm das Geld in ihrem 
Namen auf. Die erledigten «bewindhebberplaatsen» wurden im 
Rahmen der »Kammer« besetzt; ebenso ernannte die »Kammer« 
ihr eigenes Personal usw. Der Grund des »Kammer«systems 
war der Wunsch der einzelnen Städte, soviel als möglich für sich 
bei der Besetzung der Stellen, dem Bau der Schiffe usw. Nutzen 
zu ziehen 1). 

Vergegenwärtigt man sich nun noch, daß 

3. zahlreiche Aktiengesellschatten aus Händlcergenossen- 
schaften, »regulierten Kompagnien« und anderen Personenver- 
einigungen hervorgegangen waren, ja teilweise sich in deren Rah- 
men und unter ihrem Schutze entwickelt hatten, so wird man 
es begreiflich finden, daß die früheren Aktiengesellschatten noch 
jene stark persönliche Färbung tragen, die ich als ihre erste Ei- 
gentümlichkeit bezeichnete. 

Die persönliche Note in den Beziehungen der Aktionäre zur 
Unternehmung tritt aber vornehmlich in folgenden Punkten 
hervor: 

I. Die Aktie ist ursprünglich durchgängig Namensaktie; diese 
wiegt aber auch das ganze 18. Jahrhundert noch vor 3), 

2. Die Aktie ist zwar meist übertragbar, doch ist die Ueber- 
tragung häufig an beschränkende Bedingungen gebunden: bald 


1) S van Brakel, De holl. Handelscomp. usw. 71 ff, 76 ff. 
2) K. Lehmann, a.a.0. S. 78. 


482 Werner Sombart, 


ist die Uebertragung an die Genehmigung der Generalversamnı- 
lung geknüpft; bald steht der Kompagnie ein Vorkaufsrecht bzw. 
der Retrakt zu!5). Immer aber ging die Uebertragung unter sehr 
umständlichen Formalitäten vor sich. So mußte sich der Ver- 
käufer einer Aktie der englisch-ostindischen Kompagnie persön- 
lich zum East-India-House begeben und seine Verkaufsabsicht 
vor Zeugen anmelden; der Käufer mußte dann selbst hingehen, 
um sich von der Uebertragung zu überzeugen 16) usw. Ebenso um- 
ständlich war das Umschreibeverfahren bei der holländisch-ost- 
indischen Kompagnie 17). 

3. Bei manchen Gesellschaften war der Erwerb der Aktie von 
der Annahme der Einzeichnung abhängig: »de geteekende Bil- 
jetten die aangenomen werden«, heißt es in den Bedingungen 
der Kompagnie von Monikendam 18). 

4. Häufig bestand eine Nachschußpflicht der Aktionäre 1°). 

5. Die beschränkte Haftung der Gesellschafter setzt sich erst 
allmählich durch. Erst ein Akt von 1662 (14 Car. II. c. 24) be- 
stimmt in England, daß die Anteilhaber (Shareholders, subscri- 
bers) der ostindischen, afrikanischen und Fischereikompagnie 
nicht pro tanto dem Gesetz über Bankerott unterworfen sein 
sollen im Fall von Verlusten der Gesellschaft: ein Shareholder 
konnte seitdem also nur für den noch nicht einbezahlten Betrag 
seiner Shares haftbar gemacht werden 29. 

6. In der Verwaltung liegt der Schwerpunkt lange bei den 
Hauptpartizipanten; erst ganz allmählich wird die Generalver- 
sammlung nach rein mechanistisch-quantitativen Grundsätzen, 
das heißt gemäß der Zahl der Aktien, das ausschlaggebende Or- 
gan ?!). So haben beispielsweise in der Russia Co. (1553) die In- 
haber der Aktien überhaupt noch keine Rechte oder Pflichten ??). 

7. Zahlreiche Bestimmungen gaben der Gesellschaft der 
Aktienbesitzer ein ausgesprochen genossenschaftlich-korpora- 
tives Gepräge: 

a) Die Beteiligung an den Fonds setzt zuweilen die Mitglied- 


16) Siehe die genaue Beschreibung des Ucbertragungsaktes in dem Art. 
»Action« bei Postlethwazit, Dict. 1, I4. 

1) J.P.Ricard, Le nég. d’Anıst., 397—400. 

1) Lehmann, a.2.0. S. 70. 

19) Scott, 2, 387. 

I: ECHTE Í 270: 

21) Lehmann, 57fĆÍí. 

22) Scott 1, 21: 2, 36 ff. 


Aus der Frühzeit der modernen Gesellschaftsformen. 483 


schaft in der (gesondert bestehenden) Kompagnie voraus, so 
bei der englisch-ostindischen Kompagnie. 

b) Die sämtlichen Mitglieder derselben Kompagnie (230) 
mußten einen Eid schwören »before admitted to traffic as a free- 
man of this Company«. 

c) Die »Aktionäre« derselben Kompagnie heißen noch Brü- 
der »brothers«. 

d) Die in den Versammlungen Ausbleibenden zahlen Strafe. 

e) Bei besonderen Gelegenheiten werden Feste gefeiert 
usw. 23), 

Alle diese Bestimmungen sind offenbar auf cine regulierte 
Kompagnie zugeschnitten und stehen mit dem Grundgedanken 
der Aktiengesellschaft in schreiendem Widerspruch. 

Was aber von einer anderen Seite her den Aktiengesell- 
schaften der frühkapitalistischen Epoche den Stempel der Un- 
fertigkeit aufdrückt, ist der Umstand, daß sie nur ganz all- 
mählichdenCharaktervon kapitalistischen 
Unternehmungen bekommen. Ich habe schon in 
anderem Zusammenhange darauf hingewiesen, daß sie häufig 
als Gelegenheitsgesellschaften anfangen. Aber 
auch nachdem sie zu dauernden Verbänden geworden sind, fehlen 
ihnen lange Zeit wichtige Merkmale der kapitalistischen Unter- 
nehmung: sie haben kein Kapital, sie haben keine systematische 
Buchhaltung. 

Die Idee eines Kapitals, das erhalten bzw. ver- 
mehrt werden soll und folgeweise auch der Begriff der Dividende 
ist vielen der früheren Aktiengesellschaften durchaus un b e- 
kannt 24), Die Oktrois bestimmen meistens nur, daß bei einer 
bestimmten Höhe der Einnahmen eine Austeilung erfolgen soll: 
die niederländisch-ostindische Kompagnie sicht eine solche vor, 
wenn von den Retouren 5 % in der Rasse sind, die dänisch-ost- 
indische bei 15 %, die niederländisch-westindische bei 10 %, 
Die Kosten werden oft auf die einzelnen Anteile berechnet 25), 
Bekannt ist, daß die Gewinne in den Anfängen zuweilen in Wa- 
ren ausgeteilt wurden. 

Die Buchhaltung der sogenannten Aktiengesellschaf- 


—. 


22) Ande rson, Orig. of Comm. sub anno 1600. J. Bruce, Annals 
of the East India Company. 3 Vol. 1810. 1,8,jy. Scott 1,152. 

3) Für England siehe die Beispiele bei Scott T, 44. 00:2, 385. Vgl. Lch- 
mann, 07. 

33) Scott ı, 61. 


Werner Sombart, 


484 
ten des 16. Jahrhunderts können wir uns nicht primitiv genug 
vorstellen. In den Büchern der englischen Aktiengesellschaft 
bilden Additionsfehler »eher die Regel als die Ausnahme« 28). 
Von Bilanzen ist keine Rede. Aber selbst noch die großen Han- 
delskompagnien sind weit entfernt von einer systematischen 
Buchhaltung. Wir können deren Rückständigkeit am besten 
aus der Tatsache ersehen, daß feste Geschäftsjahre und regel- 
mäßige Rechnungsabschlüsse unbekannt waren. Selbst wiederum 
in einer der größten, der englisch-ostindischen Kompagnie, bil- 
dete die Rechnungslegung und Bilanzaufstellung ein seltenes 
Ereignis. Sonst hätte nicht der Verfasser der 1677 erschienenen 
Verteidigungsschrift (wahrscheinlich Jos. Child ?”)) auf eine 
Bilanz aus der Zeit sum das Jahr 1665« (in or about the year 1665) 
zurückgegriffen. Ob dann die Bilanz des Jahres 1685, die S a- 
vary mitteilt ®), die nächste war, ist nicht mit Bestimmtheit 
zu sagen, aber es ist wahrscheinlich. 

Aehnliche Zustände herrschten bei der französischen Com- 
pagnie des Indes. Diese schloß ihre Bücher offenbar immer nur 
ab (wie es in den Anfängen der systematischen Buchführung 
allgemein üblich war), wenn ein Hauptbuch zu Ende gegangen 
war. Wir können das aus dem Bericht über die Sitzungen der 
zur Prüfung des Geschäftsstandes der Gesellschaft im Jahre 1684 
durch Lettre de Cachet eingesetzten Kontrollkommission ent- 
nehmen. Diese fand nämlich an Büchern vor ?9): 

I. ein Hauptbuch, das mit der Bilanz vom 21. Mai 1675 
abschloß; 

2. ein zweites Hauptbuch, das mit dem Saldovortrag begann, 
der sich aus dem Abschluß des ersten Hauptbuches ergab und 
mit der Bilanz schloß, die die Herren Direktoren (auf Geheiß!) 
am 27. Mai 1684 aufgestellt hatten. 

Um eine Vorstellung vom Stande der Buchhaltung einer 
großen Kompagnie des ausgehenden 17. Jahrhunderts zu geben, 
zähle ich die Bücher auf, die die Kontrollkommission vorfand. 

Außer den beiden Hauptbüchern: 

3. das Kassabuch; 

4. das Kassakontrollbuch (le livre de contröle de la Caisse); 

26) S cotit 1, 158. 
27) The East India Trade a mosi profitable Trade to this Kingdom usw., im 


Auszuge bei Anderson, Orig. 3, 540 seg. 
22) Savary, Dict. de comm. T, 1343. 
29) Savary, Dict. de Comm. 1341 /42. 





Aus der Frühzeit der modernen Gesellschaftsformen. 485 


5. das Aktienbuch; 

6. das Magazinbuch von Port Louis (le livre des Effets de- 
posez dans les magasins du Port Louis pour l’equipement des 
Vaisseaux) ; 

7. das Buch des Komtors von Surate; 

8. das Buch der in Indien Angestellten (le livre des Engagez 
de la Compagnie aux Indes); 

9., Io. zwei Schiffsbesatzungsbücher; 

11. das Buch der Kommis, die in Frankreich angestellt waren. 

Die Direktoren der holländischen Aktiengesellschaften wur- 
den zum Teil erst durch lange Prozesse gezwungen, Rechnung zu 
legen 30). Von der Bilanz der branzenburgisch-ostafrikanischen 
Kompagnie aus dem Jahre 1683 sagt ein guter Kenner, daß 
sie smehr Phantasie verriet, als für die Interessen der Gesell- 
schaft gut war« 3!). 

Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts vervollkommnet sich 
dann die Geschäftstechnik der Aktiengesellschaft. Noch vor 
Toresschluß des Jahrhunderts erlebte die englisch-ostindische 
Kompagnie eine Reform durch die neue Charter von 1693, die 
im Hinblick gerade auf die mangelhafte und laxe Geschäfts- 

führung erlassen wurde. Der art. XII dieses neuen Statuts re- 
gelte die Buchhaltung und bestimmte ??): »A book to be here- 
after kept by the company wherein the value of their stock shall 
be entered, as attested upon oath, and to be viewed by all con- 
cerned; and the like as to all mortgages, alienations, transfers 
and assignments«. Daß solche — recht bescheidenen! — Vor- 
schriften nötig waren, beweist zur Genüge die Unzulänglichkeit 
der früheren Art der Buchhaltung. Auch in das Statut der Bank 
of England vom Jahre 1694 wurden Bestimmungen über Divi- 
dendenberechnung usw. aufgenommen ®?). 

Die im 18. Jahrhundert begründeten Aktiengesellschaften 
nehmen dann je mehr und mehr den Charakter kapitalistischer 
Unternehmungen an: sie haben ein ordnungsmäßig gebuchtes 
Kapital, verrechnen ordnungsmäßig Gewinn und Verlust, legen 
regelmäßig” ‚Rechnung ab, die Generalversammlungen stellen die 
Dividenden aufGrund der Rechnungsabschlüsse und Bilanzen fest 


3) Simcon, Bilanzen der A.-G., 43. 

3) Schück, Brandenburg-Preußens Kolonialpolitik 2, 180. 

3) Die Charter ist fast vollständig abgedruckt bei Anderson, Origins 
3, 598 seg. 

3) Abgedruckt bei Anderson 3, 605. 





486 Werner Sombart, 


usw. Solcherart Aktiengesellschaften, die den Anforderungen 
dieser Wirtschaftsform im wesentlichen gerecht wurden, waren 
beispielsweise die Lawsche Bank (1716), die französische Com- 
pagnie d’Occident (1717), die dänische Levante-Kompagnie (1763), 
die französisch-indische Kompagnie (1768), die preußische See- 
handlungskompagnie (1772) 3%). Damit nähern wir uns der hoch 
kapitalistischen Epoche. 2 

Zusammenfassend wird man sagen dürfen: daß die Aktien- 
gesellschaft in ihrer ausgebildeten Form als eine tonangebende 
Wirtschaftsform, ebenso wie die Kreditbank und die Eisenbahn, 
die Börse und die Dampfmaschine, die Kapitalkrisen und das 
Kokesverfahren nicht der frühkapitalistischen, sondern erst der 
hochkapitalistischen Epoche angehört, obwohl sie mit ihren An- 
fängen ein paar Jahrhunderte weiter zurückreicht. Will man 
aber sinnvoll Wirtschaftsgeschichte treiben, so muß man sich 
daran gewöhnen, jede Erscheinung nicht für sich besonders, 
sondern gleichsam in ihrer Stilzugehörigkeit zu begreifen. Und 
zum Stil des Frühkapitalismus paßt die Aktiengesellschaft ganz 
und gar nicht. 


IV. Die gemischten Vereinigungen (Stille 
Gesellschaft, Kommanditgesellschaft, Kom- 
manditgesellschaft auf Aktien). 


Aus der Gelegenheitsgesellschaft des Mittelalters, diesem 
Urquell aller kapitalistischen Gesellschaftsformen, insbesondere 
aus der einseitigen Kommenda, gehen während der frühkapita- 
listischen Zeit eine Rrihe von Gesellschaftstypen hervor, die 
man am besten als gemischte Vereinigungen bezeichnen kann: 
gemischt, weil sie die Merkmale der Personen- und der Kapital- 
vereinigung an sich tragen. Das sind die Stille Gesellschaft, die 
Kommandifgesellschaft und die Kommanditgesellschaft auf Aktien. 

Der Stufengang ihrer Entwicklung ist der, daß sich zunächst 
das reine Darlehnsverhältnis zwischen Kommendanten und Kom- 
mendatar in eine Societas des Particeps mit dem Kommendatar 
umbildet, eine Societas im römisch-rechtlichen Sinne: also ohne 
Wirkung nach außen, ohne gesondertes Geschäftsvermögen. 
Diese Stufe wird schon während des Mittelalters erreicht: auf ihr 
ist de Stille Gesellschaft stehen geblieben. 


3) Siehe noch die Zusammenstellungen bei Simon, a.a.O0. S. 44 Íi. 
und Lehmann, 2.2.0. S. 67 íí. 


Aus der Frühzeit der modernen Gesellschaftsformen. 487 


»Die Stille Gesellschaft hat mit der Kommanditgesellschaft den 
Zweck gemein, beschränkt und unbeschränkt beteiligte Gesellschafter 
zu vereinigen. Aber während die Kommanditgesellschaft als solche 
auch nach außen hervortritt, eine besondere Firma führt und ein 
selbständiges Gesellschaftsvermögen besitzt, geht die Stille Gesellschaft 
ın dem Vertragsverhältnisse zwischen dem stillen Gesellschafter und 
dem Inhaber des Handelsgewerbes auf.« Denkschrift zu dem Ent- 
wurf eines Handelsgesetzbuchs usw. (1897), Anl. zu den Sten. Ber. 
des deutschen Reichstages, 9. Leg.-Per. IV. Sess. Nr. 632. 


Dann wirkt das Interesse der Gläubiger allmählich dahin, 
daß sich die Societas in eine Compagnia palese umwandelt, das 
heißt eine nach außen hin sichtbare und wirksame Gesellschaft. 
Diese Wandlung beginnt sich seit dem 15. Jahrhundert in Italien 
zu vollziehen: um die Rückziehung der Einlagen zu erschweren, tntt 
Registrierungszwarg hinzv, schließlich wird eine Gesellschafts- 
firma angenommen: anscheinend zuerst 1555 in Lucca (stat. merc. 
c. 21), in Florenz 1577 (stat. merc. II. 10), in Bologna 1533 ®). 
Diese neuentstandene Gesellschaftsform, die Accomandita, emp- 
fängt dann ihre Weihe durch den Gesetzgeber in der französi- 
schen Ordonnanz von 1673, die in ihrem Titel IV die »Societe en 
commandite« neben der »Societe gen£rale« behandelt. Was unter 
einer »Societe en commandite« zu verstehen sei, wird nicht aus- 
drücklich gesagt; nur bestimmt art. 8, daß die »Associes en com- 
mandite« nur bis zum Betrage ihrer Einlagen haftbar zu machen 
sind. Savary?!) gibt dann den Kommentar zur Ordonnanz 
durch folgende Erklärung der Sociétés en commandite: »qui se 
fait entre deux personne, dont l'une ne fait que mettre son argent 
dans la Société, sans faire aucune fonction d’Associe et l'autre 
donne quelquefois son argent, mais toujours son industrie pour 
faire sous son nom le commerce des marchandises dont ils sont 
convenus ensemble«. Als der eigentliche Unternehmer wird aus- 
drücklich der Kommendant bezeichnet: »car c'est lui qui main- 
tient le Commerce, que lautre fait, par le moyen de son argent 
et de son credit, sans quoi il ne pourroit pas subsister« 37), 

Die Kommanditgesellschaft auf Aktien 
tritt zuerst in Frankreich, nicht vor dem Beginn des 18. Jahr- 
hunderts, auf. Als eine der ersten Kommanditgesellschaften auf 


e 
des HR. § O5. 
*) Savary, Parf. nég., 2 2. 
”)Savary,l.c.p.ıy4. Ganz übereinstimmend Ricard, Nég. d’Amst. 


488 Werner Sombart, 


Aktien ist die am 2. Mai 1716 unter der Firma »Law et Comp.« 
errichtete Bank anzusehen 3$). 

Diese gemischten Gesellschaftsformen, deren juristische Kon- 
struktion sicher noch lange Zeit unfertig und schwankend ge- 
blieben ist, scheinen im Zeitalter des Frühkapitalismus eine 
größere Bedeutung gehabt zu haben als heute; offenbar deshalb 
weil sie sich dem Uebergangscharakter des frühkapitalistischen 
Wirtschaftslebens am besten anpassen, weil sie den eigenartigen 
Anforderungen der Zeit am ehesten gerecht werden. Sie werden 
deshalb auch von den Wirtschaftstheoretikern des Frühkapitalis- 
mus ganz besonders gepriesen. Die Vorteile, die man in ihnen 
erblickte, waren vornehmlich folgende 39): 

I. jedermann, auch wenn er von Beruf kein Kaufmann ist, 
kann sich dieser Gesellschaftsform bedienen, um sein Geld ge- 
winnbringend anzulegen, ohne daß er sich des Wuchers schuldig 
macht: der Grund ist der, daß er sich während der Dauer der 
Gesellschaft des Eigentums an seinem Gelde begibt, um es im 
Handel zu verwerten und dabei das Risiko trägt, das diese Tätig- 
keit mit sich bringt; 

2. in diese Gesellschaften wird nur der Ueberschuß des Ein- 
kommens derjenigen gesteckt, die über beträchtliche Revenuen 
verfügen: Beträge, die ungenutzt in den Truhen ihrer Besitzer 
liegen blieben, wenn sie nicht durch ihre Verwertung zu Ge- 
sellschaftszwecken benutzt würden; 

3. Männer, die die Begabung für das Geschäftsleben besitzen, 
aber nicht Vermögen genug haben, um ein Unternehmen zu be- 
gründen, etablieren sich, indem sie solche Gesellschaften eingehen, 
vermittels welcher sie ihre Fähigkeiten ausnutzen, die sonst brach 
liegen würden; 

4. der Allgemeinheit nützen diese Kommanditgesellschaften, 
sofern sie das Geld aus den Börsen derjenigen herauslocken, die 
es sonst nur in Rente anlegen würden oder die es ungenutzt in 
ihren Kisten liegen ließen; die Handwerker in allen Gewerben 
finden auf diese Weise Beschäftigung; 

5. die Fürsten ziehen Vorteile aus diesen Gesellschaften, weil 
durch sie die Manufakturen und der Handel vermehrt werden usw. 

Dasselbe Urteil bei maßgebenden Persönlichkeiten finden 


3) Hergenhahn, Die KG. auf A., in der Zeitschr. f. d. ges. HR. 42, 
69 ff. 
3) Savary, Parf. nég. 2, 14 ff. Ricard, Neg. d’Amst., 368. 





Aus der Frühzeit der modernen Gesellschaftsformen. 489 


wir in dem England des 17. Jahrhunderts: »Wie viele Kaufleute 
und Inhaber von Läden haben mit wenig oder nichts begonnen 
und sind durch Arbeiten mit anderer Leute Geld reich geworden. « 

=». . . Durch diese Regsamkeit der Handeltreibenden wächst 
der Besitz des Staates, die Gelder der Witwen und Waisen, Edel- 
leute und Rechtsgelehrten werden im Außenhandel angelegt, so 
daß die Eigentümer mit der Verwaltung weiter nichts zu tun 
haben« 40). 

Diese Beweisführung läßt erkennen, daß der Hauptgrund, 
weshalb man die gemischten Gesellschaftsformen begünstigte, 
der war, daß man mit ihrer Hilfe den Prozeß derKapitalbildung 
beschleunigen zu können glaubte. Sie sind recht eigentlich die 
Erben der mittelalterlichen Gelegenheitsgesellschaften und dienen 
dazu, den »Gelegenheitshandel« für die Entwicklung des Kapita- 
lismus nutzbar zu machen. Ihre genauere Erforschung wäre eine 
dankbare Aufgabe für die Historiker des Frühkapitalismus. 

Der hiermit aufgeworfenen Frage nach der Aufbringung des 
Kapitals müssen wir aber noch unser besonderes Interesse zu- 
wenden. 


V. Die Aufbringung des Kapitals. 

Das in dieser Ueberschrift angedeutete Problem ist zwar 
nicht auf die kapitalistischen Gesellschaften beschränkt. 
Vielmehr tritt es auch bei der kapitalistischen Einzelunterneh- 
mung zutage, mag diese ausschließlich auf dem Eigenvermögen 
beruhen oder nicht. Aber es kommt doch bei der Gesellschafts- 
bildung erst zur vollen Entfaltung, so daß es füglich an dieser 
Stelle erörtert wird, was um so zweckmäßiger erscheint, als die 
Frage nach der Aufbringung des Gesellschaftskapitals die nach 
der Aufbringung des Kapitals der Einzelunternehmung offenbar 
mit umfaßt. 

Wir müssen zwischen der Entstehung des bürgerlichen 
Reichtums und der Aufbringung des Kapitals unterscheiden. 
Beide Erscheinungskomplexe stehen gewiß im Zusammen- 
hange, sind aber nicht ein und dasselbe. Einerseits verwan- 
delt sich der bürgerliche Reichtum keineswegs inallen Fällen 
in Kapital. Ebenso häufig dient er als Konsumtionsfonds: 
sei es im Rahmen der persönlichen Bedarfsgestaltung, sei 
- es auf dem Umwege des öffentlichen Kredits. Auch in diesen 


4) Th.Mun, Engl. Treasure (1664), Ch. XV. 
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 2. 32 





490 Werner Sombart, 


Fällen dient er unter Umständen der kapitalistischen Entwick- 
lung, indem er zur Umgestaltung des Bedarfs beiträgt. Der bür- 
gerliche Reichtum wird aber auch, ohne daß er sich in Kapital 
verwandelt, für die Entfaltung des kapitalistischen Wesens, da- 
durch bedeutsam, daß er die Grundauffassung vom Wesen des 
Reichtums und der Macht und ihren Beziehungen zueinander 
zugunsten der Reichtumsmacht verschiebt. Endlich aber ist 
er selbstverständlich auch ein wichtiges Förderungsmittel für 
die Kapitalbildung. Seine Bedeutung reicht also in verschiedene 
Entwicklungsgebiete hinein. 

Andrerseits ist aber das Problem der Kapitalbildung ebenso- 
wenig völlig eingeschlossen in das Problem der Entstehung des 
bürgerlichen Reichtums. Die früher allgemein verbreitete, simpli- 
zistische Ansicht: das ursprüngliche Kapital sei im wesentlichen 
aus Handelsprofit und Wuchergewinn gebildet worden, wäre 
schon dann nicht aufrecht zu erhalten, wenn man die Herkunft 
des Kapitals auf die eine Quelle des bürgerlichen Reichtums 
beschränken wollte. Denn wie ich an anderer Stelle ausführlich 
dargelegt habe, ist dieser aus vielen andern Quellen gespeist 
worden. Sie ist aber um so mehr zu verwerfen, als wir nun- 
mehr feststellen müssen, daß das Kapital keineswegs nur aus 
bürgerlichem Reichtum sich herleitet, sondern selbst wiederum 
auf zum Teil ganz andere Ursprünge zurückgeht. 

Die Frage nach dem Ursprung des Kapitals läßt sich beim 
heutigen Stande unseres Wissens noch nicht erschöpfend be- 
antworten. Dazu bedürfte es umfassender, im wesentlichen sta- 
tistischer Untersuchungen, die bis heute fehlen und die vielleicht, 
mangels genügender Unterlagen, nie werden angestellt werden 
können. Auf alle Fälle möchte ich das Augenmerk der jungen 
Wirtschaftshistoriker, die nunmehr auch besser als bisher das 
Problem der Vermögensbildung von dem Problem der Kapital- 
bildung sondern müssen, auf diesen Punkt richten, indem ich 
ihnen gleichzeitig die Richtlinien für ihre Untersuchung vor- 
zeichne. Bei dieser Gelegenheit kann ich dasjenige feststellen, 
was wir schon heute über Kapitalbildung im Zeitalter des Früh- 
kapitalismus wissen. 

Die drei Fragen, auf die wir unser Interesse vornehmlich zu 
lenken haben, nachdem wir oben die Bildungs formen des 
Kapitals schon kennen gelernt haben, sind folgende: 


Aus der Frühzeit der modernen Gesellschaftsformen. 


491 

ı. nach der Größe der Vermögen, die zur Kapitalbildung 
beitragen ; 

2. nach dem Wohnort der Geldgeber, aus deren Vermögen 
das Kapital stammt: 

3. nach dem sozialen Charakter dieser Geldgeber. 

Es scheint ein Kennzeichen der frühkapitalistischen Epoche 
zu sein, daß in viel weiterem Umfange als heute der Kapital- 
bildung die Vermögensbildung vorausgehen mußte. Das heißt 
also, daß ein gewisser Reichtumsgrad bei den einzelnen Wirt- 
schaftssubjekten erreicht sein mußte, ehe sie als Kapitalbildner 
in Betracht kamen, noch anders gewandt: daß in viel höhe- 
rem Grade als später an der Kapitalbildung nur wohl- 
habende (reiche) Leute beteiligt waren. Der 
Grund dieser Tatsache war der, daß in jener früheren Zeit die 
Organisationen noch nicht geschaffen waren, die dazu dienen, 
die kleinsten Geldbeträge, auch ehe sie zur Bildung eines großen 
Vermögens geführt haben, zur Kapitalbildung heranzuziehen. 
Das geschieht heute in der Form der verzinslichen Bankdepositen. 
Und diese sind während der ganzen frühkapitalistischen Epoche 
nur zu geringer Entwicklung gelangt. 

Wir hören zwar gelegentlich von einem weitverzweigten 
Depositenwesen auch in der früheren Zeit: so berichtet uns schon 
Villani, daß bei den Banken der Baldi und Peruzzi breite 
Schichten der Bevölkerung beteiligt waren: »wer Geld in Flo- 
renz hatte, verlore. Das kann sich aber doch nur auf die ver- 
möglichen Leute bezogen haben. Aus dem 16. Jahrhundert haben 
wir dann genauere Kunde, wenn uns der Chronist berichtet: 

»Zu Ambrosius Höchstetter haben (seit dem Ende des 15. 
Jahrhunderts) Fürsten, Grafen, Edelleute, Bürger, Bauern , 
Dienstknechte und Dienstmägde gelegt, was sie 
an Geld haben, und er hat ihnen dafür 5 vom Hundert gezahlt. 
Viele Bauernknechte, die nicht mehr gehabt haben als 10 fl., die 
haben es ihm in seine Gesellschaft gegeben. So soll er eine Zeit- 
lang eine Million Gulden verzinset haben.« 

Aber ich möchte annehmen, daß ein derartiger Zus.and eine 
seltene Ausnahme gebildet habe. Ich halte es für einen sehr 
richtigen Gedanken, wenn Strieder zu den obigen Worten 
des Chronisten die Anmeıkung macht, daß man gerade aus der 
Entrüstung, mit welcher Clemens Sander über jenes Geschäfts- 
gebaren des Ambr. Höchstetter, sich von überall her auch in 


32* 


492 Werner Sombart, 


kleinen Beträgen Geld zu verschaffen, berichtet, auf die Selten- 
heit solcher Fälle schließen müsse 41). In der Tat spricht alles, 
was wir sonst über die Kapitalbeschaffung in jenem Jahrhundert 
wissen, gegen die Annahme, daß dabei die Sammlung kleinster 
Beträge mittels Depositen eine irgend nennenswerte Rolle ge- 
spielt habe. Deshalb konnte man auch noch im 16. Jahrhundert 
auf den Gedanken kommen, die Annahme fremder Gelder durch 
das Gesetz verbieten zu lassen. 

In dem Gutachten von 1522 an den deutschen Reichstag wird die 
Ansicht vertreten: es solle verboten sein, daß hinfüro die H.-Gss. 
»frembd gelt, gestalt ains wechsels und da man gelt von gelt gibt, in 
irer gesellschaft nemen und anlegen oder damit handeln, sondern 
allein mit irem zugelegten gelt hantieren solten«. S trieder, 102. 

Mit der Frage nach der Größe der kapitalbildenden Ver- 
mögensbeträge im engen Zusammenhange steht aber die andere 
nach der Beziehung der Geldgeber zum Unternehmer. Wir 
können es nämlich als Regel in der frühkapitalistischen Epoche 
betrachten, daß das Kapital, mochte es sich um Vermögens- 
einlagen zu Gewinn und Verlust, mochte es sich um festverzins- 
liche Darlehen oder Depositen handeln, vondenVerwandten 
und Freunden des Unternehmers aufgebracht wurde. Das 
gilt natürlich in erster Linie von den Familiengesellschaften. 
Männer, wie Jakob und Anton Fugger, Anton Welser u. a., muß 
man sich geradezu als »Häuptlinge ganzer Clans verwandter 
Kapitalisten« vorstellen, die vielfach (Hauptbeispiel sind die 
Medici!) zugleich die politische Gefolgschaft des Geschäftsleiters 
bildeten. Aber auch bei den andern Gesellschaftsformen der 
frühkapitalistischen Epoche waren die Teilnehmer, wenn nicht 
verwandt, so doch bekannt und wohl in der Mehrzahl aller Fälle 
benachbart. Das heißt: das Kapital wurde aus den nach per- 
sönlicher oder örtlicher Beziehung nächsten Kreisen zusammen- 
gebracht. Die Kapitalbildung war lokalisiert. 

So lange die Schiffahrtsgesellschaft Partenreederei war, so 
lange blieben die Teilnehmer durchaus auf die Seestädte, von 
denen aus die Schiffahrt betrieben wurde, beschränkt. Es trat 
ein deutlich empfundener Wandel 4) dieses Zustands erst mit der 
Einbürgerung der Aktiengesellschaft in das Schiffahrtsgewerbe ein. 
~ Am frühesten scheint eine Interlokalisierung und zum Teil 
sogar Internationalisierung der Kapitalbildung im Bergbau ein- 


a4) J.Strieder, Organis. Formen, 102. 
€) E Fitger, a.a. O. 


Aus der Frühzeit der modernen Gesellschaftsformen. 493 


getreten zu sein. Seit dem I5. Jahrhundert begegnen wir in den 
verschiedenen Bergbaugebieten fremden Geldgebern. 

Im Goslarer Bergbau wurden in den Jahren 1478—1487 
Verträge abgeschlossen, die sich auf Stollenanlagen beziehen, mit 
Johann Thurzo, Bürger und Ratsmann in Krakau, Nürnberger, 
Chemnitzer und Leipziger Bürgern #). Derselbe Thurzo hatte 
aber sein Geld auch angelegt im ungarischen Erzbergbau; neben 
ihm finden wir dort andere Krakauer Bürger, die Fugger u. a., 
beteiligt 4). Die holländischen Gläubiger des österreichischen 
Staates sind im 17. und 18. Jahrhundert die Verleger der Neu- 
sohler und Schmölnitzer Kupferbergwerke $). Am Quecksilber- 
bergwerk Idria sind fremde Kaufleute beteiligt *%), ebenso am 
Salzbergwerk Wieliczka im 16. Jahrhundert 4%), ebenso am Berg- 
werk in Schlackenthal 48), ebenso am Zinnbergbau in Cornwallis®). 

Trotz dieser Zeugnisse für die Beteiligung fremder Geldgeber 
am Bergbau (die sich leicht vermehren lassen), möchte ich doch 
davor warnen, das Maß der Internationalität der Kapitalbildung 
während der frühkapitalistischen Epoche selbst im Bergbau zu 
überschätzen. Wir müssen vielmehr annehmen, daß die Kuxe 
der Gewerkschaften sich in der früheren Zeit der Regel nach 
in den Händen ortsansässiger Bewohner der Bergstädte oder 
wenigstens des Bergbaubezirkes befanden. Fälle, wie die oben 
angeführten, dürfen wir als Ausnahmen ansehen, da wir noch 
aus dem Anfange des r9. Jahrhunderts Berichte haben über die 
ersten Versuche, beispielsweise die Gelder für den sächsischen 
Bergbau aus dem Auslande (Holland) zu beschaffen 5°), 

Konnten wir doch wahrnehmen, daß selbst bei den'Aktien- 
gesellschaften lange Zeit hindurch der Besitz der Anteile auf 
Stadt- und Landesangehörige beschränkt geblieben ist. .Es be- 
zeichnet ein neues Entwicklungsstadium des Kapitalismus, wenn 
es zuerst bei den großen Handelskompagnien üblich wird, daß 
ihre Aktien fern von ihrem Sitze, im Auslande untergebracht 

“)C. Neuburg, Goslars Bergbau (1892), 191. 

“F.Dobel, Der Fugger Bergbau und Handel in Ungarn, in der Zeitschr. 
ces histor. Vereins für Schwaben und Neuburg, Bd. 6. 

“) H.von Sbrik, Exporthandel Oesterreichs (1907), 368. 

“P.Hitzinger, Das Quecksilberbergwerk zu Idria (1860), 18. 24. 

“, U.Krafft, Denkwürdigkeiten: ed. Cohn (1862), 459. 

“) Instruktion für den Berghauptmann Theod. v. Lilienau a. 1625, bei K. 
Graf Sternberg, Gesch. d. böhm. Bergwerke ı (1836), 308. 


\G.R.Lewis, The Stannaries. 1908. 
*) von Trebra, Bergmeisters Leben, 93 ff. 


494 Werner Sombart, 


werden, wie wir es von der englisch-ostindischen Kompagnie im 
18. Jahrhundert erfahren. 

War der Kreis der Personen, aus deren Vermögen das Ka- 
pital einer Unternehmung gebildet wurde, der Regel nach räum- 
ich beschränkter als heute, so müssen wir uns ihn um so bunter 
vorstellen, was die soziale Herkunft der einzelnen »Kapitalisten« . 
anbelangt. Hier gilt es vor allem festzustellen, daß die das Ka- 
pital bildenden Geldbeträge keineswegs nur aus dem Fonds der 
bürgerlichen Vermögen genommen wurden. Vielmehr fließt 
ein sehr beträchtlicher Teil des vorbürgerlichen und nichtbür- 
gerlichen Reichtums, ohne seine Transsubstantiation in bürger- 
lichen Reichtum erfahren zu haben, unmittelbar in die Sammel- 
becken des Kapitals. Es ist ein wesentliches Kennzeichen des 
frühkapitalistischen Zeitalters, daß in sehr weitem Umfange die 
feudalen Mächte unddie öffentlichen Körper 
auch mit ihrem Gelde sich an kapitalistischen Unternehmungen 
beteiligen, so wie sie auch an der Herausbildung der neuen Wirt- 
schaftssubjekte in hervorragender Weise beteiligt waren. 

»La plupart des personnes de qualite, de robe et autres donnent 
leur argent aux négociants en gros pour le faire 
valoir; ceux-ci vendent leur marchandise a credit d’un an ou de 
quinze mois aux détaillants; ils en tirent par ce moyen Io % d’interet 
et profitent ainsi de 3 ou 4 %.« (Savar y.) 

Wie sich das Kapital einer Gesellschaft zusammensetzte, zeigen 


ein paar aus vielen gleichen beliebig herausgegriffener Beispiele. Von 
dem Aktienkapital der französisch-indischen Gesellschaft zeichneten: 


der König . . >.. 6 Mill. 1. 
die Königin, die Prinzen und der übrige Hof p a2 » 0» 
die oberen Gerichts- usw. Höfe . . 2. . . . . I2 » >» 
die Finanzleute . poi i nA > >» 
die Kaufleute-Zunft (corps des marchands) . . . 0650 >» » 


Voltaire, Siècle de Louis XIV, Ch. XXIX. Vgl. das Verzeichnis 
der Anteilhaber der (1685) reorganisierten französisch-ostindischen 
Kompagnie bei P. Kaeppelin, La Comp. des I.O. (1908), 194. 
Es muß freilich berücksichtigt werden, daß die Robe im wesentlichen 
aus bürgerlichen Reichen zusammengesetzt war. 

Die Gewerkschaft des St. Jacobi-Stollen bei Sowitz (1609) setzte 
sich wie folgt zusammen: 


Markgraf Joh. Georg . . 2. 2 2 2 2 nen... 40 Kuxe 
Stadt Jägerndorf . . 2. 2. 2. on on nn nn... [2 » 
Stadt Leobschütz . . a w w -s on on nn... I2 -o 
Stadt Beuthen Bu: a ee e a 
freie Bergstadt Tarnowitz eh a ee ie ee ee de 205 5 


Zusammen 72 Kuxe 


Aus der Frühzeit der modernen Gesellsch aftsformen. 495 


MEDERE 72 Kuxe 


9 Einwohner von Beuthen . . . . . IO > 
mehrere Einwohner von Tamowitz. nebst 2 in Neisse 
Oppatowitz . . 2 onen 44 > 


126 Kuxe 

Hierzu 2 Freikuxe für Kirche und Schule. | 
Aem. Steinbeck, Gesch. d. schles Bergbaus 2 (1857), 208. 

Umgekehrt finden wir unter den Kapitalgebern häufig An- 
gehörige des Handwerks und anderer kleinbürger- 
licher Berufe. 

Wir kennen das Namenverzeichnis der ersten (IoI) Zeichner des 
ersten Kapitals für die erste Reise der englischen Ostindiengesellschaft 
aus dem Jahre 1599. Es sind fast ausschließlich Londoner. Viele 
Kaufleute und Aldermen darunter. Aber auch auffallend viele der 
wohlhabenden Krämer: ironmengers, haberdashers, merchant tailors, 
mercers, grocers, und auch einige gewerbliche Handwerker: skynners, 
clothworkers, vintners. Henry Stevens, The Dawn of the 
British Trade to theEast India (The Court Records of the East India 
Co.) (1886), ı ff. 

Die Feststellung, die wir zuletzt machen konnten: daß das 
Kapital nicht nur aus bürgerlichem Reichtum, sondern auch aus 
feudalem und öffentlichem Vermögen gebildet wurde, legt die 
Frage nahe: ob denn die Ausweitung des Wirtschaftskörpers, wie sie 
allenthalben seit dem Ende des Mittelalters sich beobachten läßt, 
nicht vielleicht teilweise überhaupt unter Umgehung der kapi- 
talıstischen Unternehmung erfolgt sei, in der Weise, daß feudale 
oder öffentliche Gewalten die Organisation des wirtschaftlichen 
Prozesses auf der Grundlage des Machtreichtums vollbrachten: 
daß sie die Zusammenfassung der produktiven Kräfte bewirk- 
ten, ohne die Produktionsmittel in Kapital zu verwandeln. Und 
ob nicht vielleicht diese beiden Formen der Großwirtschaft: 
auf öffentlich-rechtlicher und privatrechtlicher Grundlage zur 
Herausbildung gemischter Wirtschaftsformen geführt haben. 

Beide Möglichkeiten sind während der frühkapitalistischen 
Epoche in der Tat verwirklicht worden: neben die handwerker- 
lichen und kapitalistischen Wirtschaftsformen tritt die Staats- 
anstalt und die gemischt-öffentliche U En Anne Ihnen ist 
der folgende Abschnitt gewidmet. 


VI. Die Staatswırtschaftsformen. 


Wir wissen, welches brennende Interesse der moderne Staat 
daran nahm, daß die Volkswirtschaft ihren Körper ausweitete 


496 Werner Sombart, 


und daß er deshalb alles kapitalistische Wesen zu fördern be- 
strebt war. Wir wissen, daß er aus dem Wunsche heraus, die 
wirtschaftlichen Kräfte im Lande zu möglichst rascher und ein- 
dringender Entfaltung zu bringen, selbsttätig als Wirtschafts- 
subjekt in den Gang der Entwicklung einzugreifen versuchte. 
Da werden wir nun die Frage uns vorzulegen haben, ob er zur 
Verwirklichung seiner Zwecke sich besonderer Wirtschaftsformen 
bediente oder ob er etwa die vorhandenen Wirtschaftsformen 
seinen Zwecken gemäß umgestaltete, so daß sich neben den aus 
dem Mittelalter überkommenen und den vom Kapitalismus 
neugeschaffenen Wirtschaftsformen vielleicht neue — staatswirt- 
schaftliche — Organisationsformen herausbildeten. 

Seltsamerweise hat man sich um diese Formen der Entwick- 
lung bisher so gut wie gar nicht gekümmert. 

So ausgiebig und umfangreich die Literatur über die Formen 
der privaten, namentlich gesellschaftlichen Erwerbsunterneh- 
mungen ist: über die Staatswirtschaftsformen im Zeitalter des 
Frühkapitalismus ist bisher meines Wissens überhaupt noch 
nicht im Zusammenhange geschrieben worden. Es wäre eine 
dankbare, nicht einmal schwierige, Aufgabe für einen jungen 
Wirtschaftshistoriker, diese Lücke durch eine rein phänomeno- 
logische Darstellung jener zahllosen Wirtschaftsformen auszu- 
füllen, die sich durch das Eingreifen des Staats in das Wirtschafts- 
leben während der frühkapitalistischen Epoche herausgebildet 
haben. 

Die Grundtatsachen sind folgende: 

Der Staat will gerade wie die Privaten die Wirtschaft auf 
höherer Stufenleiter organisieren. Er will größere Massen von 
Produktivkräften zu erfolgreicherem Wirken zusammenfassen. 
Er schafft also just wie der Kapitalismus den wirtschaftlichen 
Großbetrieb. Was nun aber die staatswirtschaftliche Organisation 
von der privatwirtschaftlichen unterscheidet ist zweierlei: Erstens 
ist — wenigstens in manchen Fällen — die unmittelbare Zweck- 
setzung eine andere. Während der Zweck j e d e r kapitalistischen 
Unternehmung ausschließlich die Erzielung von Gewinn ist, tritt 
das Erwerbsprinzip bei zahlreichen staatlichen Veranstaltungen 
ganz oder teilweise in den Hintergrund. Sie werden häufig im 
sallgemeinen« oder »öffentlichene Interesse ins Werk gesetzt. 
Zweitens vollzieht sich die Zusammenfügung der produktiven 
Kräfte bei der Staatswirtschaft auf anderer Grundlage als bei der 


Aus der Frühzeit der modemen Gesellschaftsformen. 497 


kapitalistischen Unternehmung. Diese ruht immer, wie man es 
mit einem Worte ausdrücken kann, auf der Geldmacht, jene 
ganz oder zum Teil auf der Staatsmacht. Das heißt also, daß die 
kapitalistische Unternehmung — was gerade ihr Kennzeichen 
ist — immer der Reichtumsmacht (dem Geldreichtum) ihre Ent- 
stehung verdankt, während die staatliche Veranstaltung ihr Da- 
sein aus Machtreichtum ableitet 5!), also die in ihr bewirkte Zu- 
sammenfassung produktiver Kräfte, teilweise wenigstens, erfolgt, 
ohne daß die Produktionsmittel zuvor die Eigenschaft des Ka- 
pitals angenommen hätten. 

Kommt in diesem Gegensatze der Unterschied zwischen 
privatkapitalistischer und publizistischer Organisation allgemein 
und grundsätzlich zum Ausdruck, so empfangen die Staatswirt- 
schaftsformen des Frühkapitalismus noch dadurch ihre besondere 
Note, daß sich während dieser Epoche, der Staat in äußerem 
und innerem Verstande zur Absolutheit entwickelte. Der ab- 
solute Staat erkannte aber neben sich eine andere Allge- 
meinheit nicht an, also daß auch eine wirtschaftliche Allge- 
meinheit nicht anders als in staatlicher Gestalt erscheinen konnte. 
Jenes Zeitalter ist somit in wirtschaftsorganisatorischer Hin- 
sicht dadurch gekennzeichnet, daß es nur entweder staatliche 
oder private oder aus beiden gemischte Wirtschaftsformen besaß, 
nachdem auch die aus dem Mittelalter überkommenen grundsätz- 
lich anders konstruierten Gebilde in diesem Sinne eines staatlich- 
privaten Entweder-Oder umgestaltet worden waren. 

Im einzelnen nehmen wir folgende Typen ganz oder halb- 
staatswirtschaftlicher Organisationen wahr: 

I.die rein staatlichen Wirtschaftsbetriebe. 

Das sind also diejenigen, die ihre Entstehung ausschließlich 
der Staatsmacht verdanken, mag diese sich (wie es in der Regel 
geschieht) dabei der Vermittlung des Geldes bedienen oder nicht. 
Diese reinen Staatswirtschaftsformen unterscheiden sich dann 
wiederum, sofern sie 

a) Erwerbsunternehmungen sind. Dann können wir sie als 
»Staatsbetriebe« im engeren Sinne bezeichnen. Es ist nun gerade 
ein der frühkapitalistischen Epoche eigener Zug, daß sie auf 
zahlreichen Gebieten des Wirtschaftslebens Staatsbetriebe auf- 
weist. Morphologisch bietet diese Wirtschaftsverfassung zu be- 


#1) Ueber diese Ausdrücke siehe meinen ‚Modernen Kapitalismus’, 2, 
Aufl. 1916 Kap. 36. 


498 Werner Sombart, 


sonderen Bemerkungen keinen Anlaß, da sie sich äußerlich der 
Formen der kapitalistischen Unternehmung bedient: sie mögen 
als Bergwerk, als gewerblicher Produktionsbetrieb, als Bank 
oder als Handelsbetrieb auftreten. 

Oder die Staatswirtschaften entbehren des unmittelbaren 
Erwerbszweckes, dann können wir sie als 

b) Staatsanstalten für wirtschaftliche Zwecke bezeichnen. 

Aber von größerer Bedeutung als die rein staatlichen sind 
während der frühkapitalistischen Epoche 

2. die gemischt-staatlichen Wirtschafts- 
 betriebe gewesen. Ihre Eigenart besteht also darin, daß 
sie sowohl aus Machtreichtum als aus Reichtumsmacht ihr Da- 
sein herleiten, daß in ihnen staatliche und kapitalistische Inter- 
essen sich zu gemeinsamem Werke vereinigen. Sie weisen selbst 
wiederum die mannigfaltigsten Gestaltungen auf, von denen 
die wichtigsten folgende sind: 

a) Staat und Kapital gehen eine Art von Symbiose ein, bil- 
den eine Verwaltungsgemeinschaft, in der dann 
wiederum die Stellung der beiden zueinander außerordentlich 
verschieden sein kann. Es scheint fast, als ob diese Form der 
gemischt-staatlichen Betriebe in Deutschland und Oesterreich 
besonders beliebt gewesen sei. Wenigstens begegnen ıns die 
meisten Fälle in diesen Ländern. 


So beobachten wir beispielshalber eine ganz eigentümliche Spiel- 
art solcher staatlich-kapitalistischer Symbiose in der k. k. Spiegel- 
fabrik zu Neuhaus. Diese Fabrik ist 1701 bis 1703 eine Privat- 
unternehmung mit Staatsanteilnahme; von 1703 bis 1720 eine reine 
Privatunternehmung; seit I720 eine reine Staatsanstalt. In jener 
ersten Periode, die uns hier allein angeht, beruhte das Zusammen- 
arbeiten von Krone und Privaten unter anderem in der Abgabe von 
Holz und anderen Stoffen aus den herrschaftlichen Wäldern, so daß ein 
Teil der Produktionsmittel Verwendung fand, ohne sich vorher in 
Kapital verwandelt zu haben. Wir sind über die Geschichte dieses 
Neuhauser Unternehmens besonders gut unterrichtet durch die beiden 
Untersuchungen von Otto Hecht, Die k. k. Spiegelfabrik zu 
Neuhaus in Niederösterreich (1701—1844). 1909, und von H. Ritt. 
von Sbrik, Die kais. Spiegelfabrik zu Neuhaus 1701—1725, in 
den Mitteilungen des Instit. f. österr. Gesch-Forsch. 32 (1911), 294 ff. 

Aehnlich wie diese österreichische Spiegelfabrik war die pr e u ĝi- 
sche Gewehrfabrik in Potsdam-Spandau organi- 
siert, die 1722 gemeinsam vom König und dem Bankhause Splittgerber 
und Daun begründet wurde. Die wesentlichen Bestimmungen des 
Vertrages zwischen dem König und diesen Unternehmern sind folgende: 


Aus der Frühzeit der modernen Gesellschaftsformen. 499 


I. den Kaufleuten Splittgerber & Daun werden als Unternehmern 
die für den Betrieb einer Gewehrfabrik erforderlichen Gebäude, 
Mühlenwerke und die großen Werkzeuge, wie Ambose, Blase- 
bälge usw., sowohl in Potsdam wie auch auf dem »Plan« bei 
Spandau vom Staate zum Gebrauch übergeben; dagegen haben 
die Unternehmer die Verpflichtung, diese Anlagen usw. in gutem 
Zustande zu erhalten und die kleinen Werkzeuge zu beschaffen ; 

2. den aus dem Auslande übersiedelnden Gewehrarbeitern werden 
Vergünstigungen gewährt; 

3. die Unternehmer erhalten jedes Gewehr mit 6 Thlr. 12 Sgr. 
bezahlt, das Pulver zum Beschießen der Läufe wird unentgelt- 
lich gegeben; 

4. die Abnahme der Gewehre erfolgt durch einen u. usw. 

H.Gothsche, Die kgl. Gewehrfabriken (1904), 2 

Anders dagegen war das Zusammenwirken von ea und 
Geldmacht geregelt in einem Typus der gemischt-öffent- 
lichen Unternehmung, der (selbst im Ausdruck) sich durch 
alle Wechselfälle des hochkapitalistischen Zeitalters hindurch wenig- 
Stens in Preußen-Deutschland erhalten hat, der jetzt beim Eintritt in 
die spätkapitalistische Epoche wieder an Bedeutung zu gewinnen 
Scheint, und den man geradezu als preußisch-deutschen 
Typus ansprechen kann. Es ist diejenige Wirtschaftsform, wie sie die 
1765 gegründete preußische Bank und die 177I gegründete 
»K.Seehandlungsgesellschaft«e in den ersten Jahrzehn- 
ten ihrer Entwicklung am reinsten verkörpern. Wir haben es hier mit 
Staatsanstalten zu tun, an denen durch Ausgabe von Aktien den Pri- 
vaten die Beteiligung am Gewinne ermöglicht, die Teilnahme an der 
Verwaltung aber nur in beschränktem Umf ange oder gar nicht einge- 
raumt wurde. 

Die Verfassung der preußischen Bank war in den Grundzügen 
dieselbe, die noch heute die Reichsbank hat. Die Struktur der »K. 
Seehandlungsgesellschaft« bei ihrer Begründung war folgende: Sie 
war eine Aktiengesellschaft. Von den 2400 Aktien (zu je 500 Tir.) 
blieb jedoch der größte Teil im Besitze des Königs: nur 300 Aktien 
zum Betrage von 150 000 Tir. wurden aufgelegt. 10°, Verzinsung 
des Grundkapitals waren garantiert ; der darüber hinausgehende Gewinn 
wurde als Dividende verteilt. Auf die Verwaltung hatten die Aktionäre 
gar keinen Einfluß. Die Leitung lag ganz in der Hand der »General- 
direktion«, die ihrerseits an unmittelbar dem Könige unterstellt 
war. Das Gründungsstatut (Octroi) der KSG. ist abgedruckt bei 
Mylius, NCC. V.b. s15. Vgl. Paul Schrader, Die Ge- 
Schichte der Kgl. Seehandlung. III. | 

Ebenfalls im wesentlichen auf das deutsch-ö$sterreichische Wirt- 
Schafts- (und Rechts-)(srebiet beschränkt war eine andere Form der 
gemischt-staatlichen Betriebe, nämlich die, denen wir indem nach 
dem »Dire ktionsprinzip« verwalteten Bergbau be- 
segnen. Man kann hier einen Staatlichen Ober- oder Mantelbetrieb 


PEE. | 


500 Werner Sombart, 


konstruieren, in den die Einzelbetriebe der Gewerkschaften gleichsam 
eingekapselt waren. 

Es wurde verordnet, daß »unter des Oberbergamts Direktion alle 
Zechen betrieben werden und daß, sobald eine Zeche verliehen und 
bestätigt ist, das Oberbergamt sich derselben sofort annehmen, den 
Bau darauf regulieren und die dazu nötigen Arbeiter, Steiger und 
Schichtmeister ansetzen, auch zur Bestreitung der Kosten die nötige 
Zubuße ausschreiben soll.« 

Rev. BO. für das souveräne Hzt. Schlesien und für die Grafschaft 
Glatz vom 5. Juni 1769, Kap. XXX $$ I, 2. 

Das »Direktionsprinzip« enthielt also die Ueberantwortung des Be- 
triebes und der Leitung der Bergwerke an die Staatsbehörde, ließ 
aber die Einzelbetriebe der Gewerken bestehen. 

Ein späterer Systematiker des Bergrechts und der Bergwirtschaft 
begründet und erklärt das eigenartige Verhältnis des Staates zu den 
bergbaulichen Einzelbetrieben, wie es sich aus dem »Direktionsprinzipe 
ergab, wie folgt: Der Bergbaubetrieb macht »bei der ganz eigentüm- 

lichen Natur des Bergwerksgutes, .. . gewisse stetige Maßregeln 
nötig, deren Vollziehung in keine andere Hand als die des Staats 
gelegt werden kann; aus keinem andern Grund, als aus welchem dem 
Staate, dem stabilsten und absolut nötigsten unter allen menschlichen 
Instituten überhaupt, Rechtsschutz am sichersten anvertraut werden 
kann«. Die staatlichen Maßnahmen beziehen sich: 
I. auf die Erhaltung der rechtlichen Möglichkeit des Bergwerk- 
betriebes; 
2. auf die »Benutzung des Bergwerksgutes zum Gewerbe«: 

a) Anleitung zur Beschaffung der nötigen Mittel zum 
Gewerbe. Regelung des Gewerkschaftsrechts. Gewerk- 
schaften sind öffentlich oktroyierte Institute. Unter- 
stehen staatlicher Aufsicht. Regelung des Zubußverfah- 
rens: daher Register der Kux-Inhaber. Errichtung von Re- 
vierkassen (für mehrere Bergwerke); 

b) Teilnahme des Staates am Bergbau: durch Betrieb fis- 
kalischer Revierstollen u. dgl. 

C. Fr. G. Freiersleben, Der Staat und der Bergbau. 1830. 
Noch verwickelter wurden die Beziehungen dort, wo die Stelle des 
Staates die am Bergwerksbetriebe unmittelbar beteiligten Grundherren 


einnahmen, weil diese teils als Obrigkeit, teils als Unternehmer auf- 
traten. Ich gebe noch einen Ueberblick über die Organisation 
des JoachimsthalerBergbaus, wie sie uns aus der (vom 
Grafen von Schlick, dem Grundherrn, erlassenen!) Joachimsthaler BO. 
von 154I (in Schmidts Sammlung Nr. 26; vgl. Nr. 34) entgegentritt: 


I. Geleitet bzw. beaufsichtigt von den »Amptleuten und Dienern«: 
Hauptmann, Bergmeister, IO Geschwornen, Schreiber, Aus- 
teiler, usw. 

»Diese itzt benannten Amptleute und Diener, desgl. Schicht- 
meister, Steiger und andere, söllen uns gebührliche Eidespflicht 
thun.« Sie stellen die Einheit des Bergwerksreviers dar. 


t. o A p- u 


Aus der Frühzeit der modernen Gesellschaftsformen. 


501 
2. Im Bereiche des ganzen Berggebiets gibt es dann eine 
Menge Gewerkschaften — »Zechen«, jede eine selbständige 


Unternehmung. Kap. 6. 


3. Die ArbeitsO. wird aber hier wiederum den Gewerken von der 
BO. oktroyiert. 


An der Spitze jeder Zeche steht ein Schichtmeister, eine 
eine Art »Direktor«. 

4. Dafür sorgt die BO. für das Wohl der Gewerken, indem sie 
über Schichtmeister, Steiger usw. Kontrolle übt. 

5. Muß Zubuße (Zupus) bezahlt werden, so begründen die Schicht- 
meister das in ihrer Abrechnung vor dem Bergmeister, der 
ihnen einen »Zupussbrief« ausstellt, den sie öffentlich 4 Wo- 
chen lang anschlagen: daraufhin müssen die Gewerken zal:len. 

6. Nun besitzt aber die Herrschaft zueigen Schmelzhütten: 
für diese wird ein Monopol geschaffen: die Gewerken müssen 
in den hersschaftl. Hütten ihre Erze ausschmelzen lassen. 
HI. Teil 5. Art. 

7. Die Hütten werden von »Hüttenherrn«in Stand ge- 
halten und den Gewerken gegen Entgelt zur Verfügung ge- 
stellt. III. Teil Art. ı ff. 

8. Die Arbeit wird unter Leitung eines »Hüttenmeisters« ver- 
Tichtet, der die Schmeltzer, Fürlauffer usw. anwirbt und im 
Akkord für die Gewerken schmelzt. (Aus zünftler. Gründen: 

damit arme geschickte Schmelzer und arbeiter auch gefördert 
werden mögen« soll kein Hüttenmeister und Schmelzer an 
mehr als I Ofen arbeiten.) 

9. Daneben Scheint aber auch ein herrschaftlicher Hüttenbetrieb 
in eigener Regie bestanden zu haben. 





b) ein wesentlich anderes Gepräge trägt derjenige Typus 
gemischt-staatlicher Wirtschaftsbetriebe, den man als den west- 
eurobäischen bezeichnen kann, weil er in den großen privilegierten 
Banken und Handelskompagnien Englands, Frankreichs, Hollands 
am reinsten in die Erscheinung tritt. Die Mitwirkung des Staates 
an dem gemeinsamen Werke besteht bei diesen in der U e b e r- 
tragung von staatlichen Hoheitsrechten 
an private Unternehmungen, während die pri- 
vaten Unternehmungen dadurch in den Staatsorganismus noch 

enger verflochten werden, daß sie dem Staatskredit dienstbar 
gemacht werden. Das Verhältnis zwischen Staat und Kapital ist 
also in gewissem Sinne das umgekehrte wie bei dem preußisch- 
deutschen Typus. Die großen westeuropäischen Kompagnien 
verpflichten sich den Staat dadurch, daß sie ihm bei der Beschaf- 
fung seiner Geldmittel behilflich sind: für diese Dienstleistung 
sieht sich der Staat genötigt, ihnen Teile seiner Macht zu dele- 


502 Werner Sombart, 


gieren, die sie im privaten Interesse ihrer Aktionäre unter eigener 
Verwaltung ausnützen. In den gemischten Betrieben Deutsch- 
lands hat die Leitung der Staat in der Hand, der zu seiner Unter- 
stützung sich der Mitwirkung des geldbesitzenden Publikums 
bei der Aufbringung des Kapitals bedient oder den ihnen unter- 
stellten Einzelbetrieben die Richtlinien ihres Verhaltens vor- 
schreibt. | 
In der Grundverschiedenheit dieser beiden Gesellschafts- 
formen tritt symptomatisch— schon lange vorallen Staatstheorien, 
vor der Revolution und allen liberalen Reformen — die Kluft zu- 
tage, die den westeuropäischen Geist und den deutschen Geist von- 
einander trennt. Von hier aus weist die wirtschaftliche Entwick- 
lung der beiden Ländergebiete, namentlich Englands und Deutsch- 
lands, trotz der vielen Gleichheiten, doch immer mehr auch ab- 
weichende Züge auf. Die beiden Pole, nach denen die beiden 
Völker auseinanderstreben, sind der Kommerzialismus und der 


Bureaukratismus. 


Die bekanntesten Beispiele der westeuropäischen Form der ge- 
mischten Staatsbetriebe (die übrigens sich auch in andern Ländern 
findet) sind die Bank von England (1694) und die Lawsche Bank 
(1716). Beiden Instituten gemeinsam ist: 

I. daß sie Privatunternehmungen sind; 

2. daß sie ihr Aktienkapital dem Staat zu Anleihezwecken zur 

Verfügung stellen; 

3. daR ste « as Privileg’m zur Ausgabe von Noten erhalten. 
Sind ferner die großen Indien- und Südseekompagnien. Meistens 
werden auch diese ins Leben gerufen als Staatsgläubigervereinigungen 
— nach Art der italienischen Maone —, die als Entgelt für ihre Bei- 

hilfe, die sie dem Staate leihen, von diesem erhalten: 

I. die ausschließliche Befugnis, nach einer bestimmten Gegend 
Handel zu treıben; 

2. das Recht, Land zu erwerben, Festungen anzulegen, eine be- 
waffnete Streitmacht zu halten, die niedrige (und zuweilen sogar 
die hohe) Gerichtsbarkeit in den von ihnen eroberten Gebieten 
auszuüben. 

Außerdem erhalten sie bald diese, bald jene Vergünstigung vom 
Staate: so wurden der I711 gegründeten englischen Südseegesellschaft 
1713 die Rechte aus dem Assiento-Vertrage überwiesen, und die 
Regierung stellte selbst die beiden ersten Permissionsschiffe. A n d e r- 
son, Origins 3, 55. 

In der Charter der englisch-ostindischen Kompagnie wird diese 

denn auch bestimmt: »to be one body politic and corporate.« 
Die Juristen definierten die privilegierte Handelskompagnie als die 


Er 
YA 


an 


Aus der Frühzeit der modernen Geselischaftsformen. 603 


mit Staatsrechten ausgestattete Gesellschaft: »societas mercatoria 
... in privilegiatam abit, si superior rei publicae, cuius auctoritate 
erigitur, specialibus eam munivit juribus.« J. A.Buchholtz,De 
jure belli soc. merc. (1751) 8, § VIII. 

3. Ich habe die großen privilegierten Kompagnien unter die 
gemischt-staatlichen Wirtschaftsbetriebe verwiesen, weil sie in 
der Tat sich dadurch kennzeichnen, daß die von ihnen ausgeübte 
Macht zum Teil Staatsmacht, zum Teil Geldmacht ıst. In einem 
weiteren Verstande könnte man nun aber zu den gemischt-staat- 
lichen Wirtschaftsbetrieben auch die privilegierten 
Unternehmungen überhaupt rechnen, wenn man nicht 
fürchten müßte, den Kreis dieser Wirtschaftsformen zu sehr aus- 
zuweiten und dadurch ihre Eigenart in der Vorstellung zu ver- 
wischen. Denn es besteht doch wohl ein Unterschied zwischen 
den indischen Kompagnien oder den Südseegesellschaften und 
der unübersehbaren Masse privilegierter Unternehmungen, die 
es während der frühkapitalistischen Epoche auf allen Gebieten 
des Wirtschaftslebens — vor allem wohl auf dem Gebiete der ge- 
werblichen Produktion — in Hülle und Fülle gab. Der Unter- 
schied liegt darin, daß jene bis zur Ausübung staatlicher Hoheits- 
rechte ihr Privilegium gesteigert bekamen, während diese sich 
mit der Gewährung von AusschließBungsrechten, mit der Befreiung 
von gewerbepolizeilichen Vorschriften, Abgabepflichten u. dgl. 
begnügen mußten. Immerhin wird man auch der einfach privi- 
legierten Unternehmung, die sich als, ‚Massener ‚ch>inung mit 
Notwendigkeit aus dem Regierungssystem des Merkantilismus 
ergab, als eines besonderen Typus von Wirtschaftsformen mit 
einem Einschlag von Staatsmacht in die ihnen im wesentlichen 


zugrunde liegende Geldmacht an dieser Stelle gedenken müssen. 

Im einzelnen bieten die privilegierten Unternehmungen, deren es 
in allen europäischen Ländern gleichmäßig gibt, dem Beschauer ein 
überaus buntes Bild dar. Je nach dem Grade der Privilegierung stufen 
sie sich in verschiedene Klassen ab. 


So gab es in Frankreich : 

I..die»manufacturesroyales«:nach Savary, Dict. 
de Comm. 2, 632: »c’est une manufacture établie en conséquence des 
Lettres Patentes du Roy.« Innerhalb dieser Gruppe müssen dann 
aber wieder unterschieden werden: 

a) die wirklichen Staatsbetriebe, also die M. des Gobelins und 
die Savonnerie; 

b) die privilegierten Privatunternehmungen, die auf Grund von 
kgl. Privilegien errichtet waren und das Recht hatten, das kgl. Wappen 


504 Werner Sombart, Aus der Frühzeit der modernen Gesellschaftsformen. 


zu führen, ihre Erzeugnisse mit den »Armes de Sa Majeste« zu ver- 
sehen. Dieses Recht hatten nicht: | 

2. die gewöhnlichen privilegierten Unternehmungen, die ebenfalls 
auf Grund von kgl. Privilegien, die 

a) dem einzelnen Unternehmer ausschließlich, 

b) einer Anzahl von Unternehmern 
erteilt wurden, ihre Geschäfte betrieben. Vgl. G. Martin, Louis 
XIV., 8. 

Daneben gab es: 

3. die Compagnies exclusives, von denen wir folgendes erfahren: 
»tout se fait aujourdhui par entrepreneur. Les vivres, les batiments, 
les fournitures de toute espèce; c’set toujours une compagnie 
exclusive qui s'offre, qui donne préalablement de l’argent au Roi, 
et qui ensuite travaille à son profit.« 

Beispiele: 

Errichtung von Bedürfnisanstalten, die man für 2 sous benutzt; 
Entrepreneur de l'Encyclopédie méthodique; 
Entrepreneur de l'édition finale de Voltaire. 

(Mercier), Tabl. de Paris 5, 19 ff. Ch. CCCLXVI. 

In Oesterreich gab es: 

I. »k. k. privilegierte Landes-Fabrik«: besitzt die einfache Landes- 
Fabrik-Befugnis (Freiheit von der Zunft-O. und Einquartierung, Ein- 
tragung beim Merkantil- und Wechselgericht u. a.); 

2. ək. k. mit förmlicher Landesbefugnis privilegierte Fabrike 
(Befugnis nur eine persönliche; Recht, den kaiserl. Adler ‘auf Schild, 
Siegel und Waren zu führen, in den Provinz-Hauptstädten der öster- 
reichischen und ungarischen Erbländer eigene Fabrikniederlagen er- 
richten zu dürfen; erteilt an besonders wichtige neue Industrien, 
an besonders große Unternehmungen). 

Diese Einzelheiten haben jedoch für uns kein Interesse, da sie 
an dem grundsätzlichen Verhältnis dieser Privatwirtschaften zum 
Staate, an dessen Feststellung uns allein gelegen ist, nichts ändern. 


505 


Die Nationalisierung des Kapitals. 


Von 


CHARLOTTE LEUBUSCHER. 


Inhalt: I. Einleitung: 2 Arten von Nationalisierung des Kapitals. — II, Der 
kosmopolitische und der nationalistische Charakter des Kapitals. — III, Bestim- 
mungsgründe für die Nationalität einer Unternehmung: das Recht auf Gewinnbezug, 
die Verfügungsgewalt über das Unternehmungsvermögen, Leitung und Aufsicht. — 
IV. Entscheidende Gesichtspunkte für die Beurteilung der ausländischen Kapitalbe- 
teiligung an inländischen Unternehmungen. 


I 


Wie der Krieg in allen Zweigen der Weltwirtschaft Um- 
wälzungen und vielfach eine Umkehr bestehender Verhältnisse 
verursacht hat, so haben in seinem Verlauf auch in den finan- 
ziellen Beziehungen der Staaten zueinander bedeutsame Verschie- 
bungen stattgefunden, deren Nachwirkungen sich heute noch 
nicht übersehen lassen. Diese Veränderungen sind vorzugsweise 
quantitativer Art. Die Scheidung der Staatengesellschaft in 
Gläubiger- und Schuldnerstaaten wird fortbestehen, und auch 
die Zusammensetzung der beiden Gruppen wird voraussichtlich 
ım wesentlichen dieselbe bleiben, mit der einen gewichtigen Aus- 
nahme, daß Amerika immer mehr in die Stellung des Gläubiger- 
staates hineinwächst 1). 

Dagegen haben quantitativ in den durch den Geld- und 
nn EEE 

!) Wie weit dieser Fall tatsächlich eintreten wird, hängt im wesentlichen 
von der Dauer des Krieges ab. Sartorius von Waltershausen (Das Auslands- 
kapital während des Weltkrieges, 1915) ist der Meinung, daß die Vereinigten 
Staaten auch dann noch ein Schuldner in der Weltwirtschaft bleiben würden, 
wenn ihre Handelsbilanz nochmals ein Aktivum von 1200 Millionen Dollars 
wie im Jahre ıgı4/15 erleben würde, daß sie aber dann etwa die Hälfte ihrer 
Schuld tilgen könnten. Seite 24. Inzwischen (September 1916) ist diese Re- 
kordziffer weit übertroffen worden. Nach einer Verölfentlichung des Neuyorker 
è Journal of commerce« hatte die amerikanische Handelsbilanz im Jahre 1915/16 
ein Aktivum von 2 136 Milliarden Dollars aufzuweisen. 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 2. 33 


506 Charlotte Leubuscher, 


Kapitalverkehr begründeten Wechselbeziehungen der Staaten 
infolge des Krieges wichtige Verschiebungen stattgefunden. 
Einerseits haben die beiden kapitalkräftigsten Staaten der 
gegnerischen Gruppen, England und Deutschland, ihren Bundes- 
genossen Anleihen gewährt. Außerdem ist Amerika für einen 
Teil der kriegführenden und für einige neutrale Staaten in be- 
deutendem Maße als Geldgeber aufgetreten, so daß neue inter- 
nationale Schuldverhältnisse begründet worden sind 1°). Anderer- 
seits hat sich, wie auf allen Gebieten des Wirtschaftslebens, so 
auch auf dem Kapitalmarkt, eine Entwicklung vollzogen, die 
man als »Nationalisierung« bezeichnen kann. 

Der Krieg bedeutet mit seinen Folgeerscheinungen, der 
Zerreißung aller direkten Beziehungen zwischen den feindlichen 
Volkswirtschaften, der Uebertragung der Kriegshandlungen 
auch auf das privatwirtschaftliche Gebiet, der Erschwerung 
und Unterbindung selbst des neutralen Handels durch England, 
einen weitgehenden Rückschlag gegenüber der engen weltwirt- 
schaftlichen Verknüpfung, die bis zu seinem Ausbruch zwischen 
den einzelnen Volkswirtschaften bestanden hatte. Nicht nur 
bei den Zentralmächten, die durch ihre wirtschaftliche Abschlie- 
Bung zu denkbarer Anspannung und fruchtbringender Entfal- 
tung aller heimischen Produktivkräfte genötigt sind, sondern 
auch auf der Gegenseite, ja selbst bei den Neutralen, haben 
Bestrebungen eingesetzt, die darauf abzielen, das Wirtschafts- 
leben mehr als bisher auf eine nationale Grundlage zu stellen. 
Dieses Streben, dessen Endergebnis unter den modernen Ver- 
hältnissen zwar niemals die wirtschaftliche Autarkie sein kann, 
das sich ihr aber nach Möglichkeit zu nähern sucht, äußert sich 
in doppelter Richtung: Einmal sollen die im Inlande 
vorhandenen sachlichen und persönlichen Wirt- 
schaftskräfte vervollkommnet, straffzusammen- 
gefaßt und, soweit irgend angängig, ausschließB- 
lichzum Nutzen dereigenenVolkswirtschaftver- 
wendet werden; sodann sucht man sich von allen 
den Hilfsmitteln zu befreien, diebisher eine Ab- 
hängigkeit der nationalen Wirtschaft vom Aus- 
lande begründet haben. 

1e) Gleichfalls nach dem journal of commerce hatten die Vereinigten-Staaten 


bis Mitte 1916 nicht weniger als r 340 Milliarden Dollars an ausländische 
Staaten gelichen. (Vgl. Vossische Ztg. vom 31. August 1910.) 





Die Nationalisierung des Kapitals. 507 


Eines der Gebiete weltwirtschaftlicher Betätigung, auf dem 
dieser doppelte Vorgang der Nationalisierung mit großer Schärfe 
hervortritt, ist die ausländische Kapitalanlage: ı. hat eine 
erhebliche Verminderung der von den großen 
Gläubigerstaaten im Auslande angelegten Ka- 
pitalien stattgefunden durch Abstoßung der in 
ihrem Besitz befindlichen ausländischen Wert- 
papiere, 2. ist man in allen kriegführenden 
Staatenaufdie Reinigung des Wirtschaftslebens 
vonausländischem, besondersfeindlichem Kapi- 
tal bedacht. Beiden Vorgängen ist gemeinsam, daß sie 
eine Einschränkung des Exportkapitalismus bewirken, der vor 
dem Kriege eine der Hauptstützen der Weltwirtschaft bildete. 
Im übrigen handelt es sich bei ihnen um zwei entgegen- 
gesetzte Richtungen der Kapitalbewegung und, soweit sie die 
Folge planmäßigen, als Selbstzweck eingeleiteten Vorgehens 
sind, um eine grundsätzlich von einander verschiedene Wertung 
desselben wirtschaftlichen Vorganges vom Standpunkte der 
beteiligten Volkswirtschaften. 

Während sich in den ersten Kriegsmonaten ein erheblicher 
Teil der im Besitz der kriegführenden Staaten befindlichen 
ausländischen Wertpapiere als unveräußerlich erwies, sind die 
großen Gläubigerstaaten im weiteren Verlauf des Krieges, 
namentlich seit Wiedereröffnung der New-Yorker Börse, mehr 
und mehr dazu übergegangen, diese Reserve zwecks Verbesse- 
rung ihrer Wechselkurse und Begleichung ihrer Schulden im 
neutralen Ausland zu realisieren. Allen voran steht England, 
wo dieser Vorgang im Dezember 1915 von der Regierung in die 
Hand genommen und zentralisiert worden ist. Dieses Vorgehen 
hat den Rückfluß eines großen Teiles, vor allem der in euro- 
päischem Besitz befindlichen amerikanischen Papiere nach ihrem 
Ausgabeland zur Folge gehabt. Da die durch den Krieg verur- 
sachten gewaltigen Kapitalverluste in allen kriegführenden 
Staaten einen bedeutenden eigenen Kapitalbedarf hervorrufen 
werden, ist auf längere Zeit hinaus mit einer erheblichen Ver- 
Tingerung der von den Hauptgläubigerstaaten im Auslande 
angelegten Kapitalien zu rechnen. 

Während jedoch bei diesem Vorgang die Verminderung 
der ausländischen Kapitalanlagen nicht als Selbstzweck, sondern 


gleichsam als ungewollte Nebenerscheinung in Erfüllung ander- 
33* 


508 Charlotte Leubuscher, 


weitiger Erfordernisse der Kriegslage erfolgt, gehen andere Be- 
strebungen zielbewußt darauf hinaus, die Kapitalkräfte der 
einzelnen Länder den nationalen Aufgaben vorzubehalten. Die 
wichtigste Maßnahme in dieser Richtung bildet die Kapital- 
sperre, die von der englischen Regierung über den englischen 
Geldmarkt für alle Emissionen verhängt worden ist, die nicht 
von ihr genehmigt worden sind, und die sich in erster Linie 
gegen ausländische Kapitalanlagen kehrt ?). | 

Gleichzeitig werden in den kriegführenden und in den 
neutralen Staaten Stimmen laut, die auch für späterhin eine 
Einschränkung des Exportkapitalismus fordern, nötigenfalls 
unter Zuhilfenahme der Gesetzgebung. So ist kürzlich im Schwei- 
zer Nationalrat eine »Neuordnung des Börsenwesens nach natio- 
nalwirtschaftlichen Gesichtspunkten« verlangt worden, da »die 
Lehren des Krieges wie im allgemeinen auf eine Nationalisie- 
rung der Wirtschaft, so auch im besonderen auf eine Nationali- 
sierung des Kapitals und des Kredits hindrängen 3)«. 

Die Gegner des Exportkapitalismus, deren Forderungen 
zwar prinzipiell nichts Neues enthalten, aber in der durch den 
Krieg hervorgerufenen nationalen und nationalistischen Stim- 
mung einen verstärkten Resonanzboden gefunden haben, 
machen geltend, daß die Kapitalanlage in ausländischen Wert- 
papieren nicht den Erwartungen entsprochen habe, die man 

2) Nach derim Januar 1915 vom englischen Schatzamt erlassenen Bekannt- 
machung läßt sich die Behörde bei der Erteilung von Genehmigungen von fol- 
genden Gesichtspunkten leiten: 

ı. Emissionen für Unternehmungen, die im Vereinigten Königreich betrieben 
werden oder betrieben werden sollen, sollen nur dann erlaubt werden, wenn es 
zur Befriedigung des Schatzamtes erwiesen wird, daß sie im nationalen Interesse 
rätlich sind. 

2. Emissionen oder Beteiligungen daran für Unternehmungen, die in den 
Ueberseeländern des Britischen Reiches betrieben werden oder betrieben werden 
sollen, sollen nur dann erlaubt werden, wenn es zur Befriedigung des Schatz- 


amtes erwiesen wird, daß dringende Notwendigkeit und besondere Umstände 
vorliegen. 

3. Emissionen oder Beteiligungen daran für Unternehmungen, die außer- 
halb des Britischen Reiches betrieben werden oder betrieben werden sollen, 
sollen nicht erlaubt werden. 

4. Das Schatzamt wird in gewöhnlichen Fällen nicht auf diesen Beschrän- 
kungen bestehen, wo die Emissionen zur Erneuerung von Schatzwechseln ode! 
anderen kurzfristigen Papieren fremder oder kolonialer Regierungen, städtischer 
Verwaltungen, Eisenbahnen oder anderer Unternehmungen dienen, die hier 
untergebracht sind und verfallen. 

(Handelsteil der Frankfurter Zeitung, 2. Februar 1915.) 
3) Vgl. Neue Zürcher Zeitung, Handelsteil vom 12. und 16. Dezember 1915. 


Die Nationalisierung des Kapitals. 509 


an sie für die Zwecke der finanziellen Mobilmachung geknüpft 
hatte. Außerdem diene das in Unternehmungen des Auslandes 
angelegte Kapital der Entwickelung und Bereicherung fremder 
Volkswirtschaften zum Nachteile der eigenen. Sie vertreten also 
die Auffassung, daß die ausländische Kapitalanlage nicht in 
erster Linie den Interessen des Gläubigerlandes, sondern den- 
jenigen des Schuldnerlandes dient. Hierzu kommt der Hinweis 
auf die Möglichkeit großer Kapitalverluste an derartigen An- 
lagen und in Deutschland besonders auf die schweren Eingriffe 
und Schädigungen, denen deutsches Kapital in Feindesland 
während des Krieges ausgesetzt ist, sowie auf die Uneinbringlich- 
keit von Forderungen aus überseeischen Kapitalanlagen. 

\Wesensverschieden von diesen Stimmen, die dem Export- 
kapitalismus als solchem ablehnend gegenüberstehen und damit 
eine Entwickelung zurückdrängen wollen, die in allen fortge- 
schrittenen und wohlhabenden Ländern in den letzten Jahr- 
zehnten in zunehmendem Wachstum begriffen war, sind die 
Forderungen, die zwar nicht eine Einschränkung der ausländi- 
schen Kapitalanlage über das durch den eigenen Kapitalbedarf 
gesteckte Maß hinaus bezwecken, ihr aber eine andere, mit 
unserer auswärtigen Politik im Einklang stehende Richtung 
geben wollen, derartig, daß deutsches Kapital nicht wie bisher 
ohne Rücksicht auf politische Freundschaften und Spannungen 
wahllos dem Auslande geliehen wird, sondern vor allem ver- 
bündeten und befreundeten Ländern wie Oesterreich-Ungaın, 
den Balkanstaaten, der Türkei sich zuwendet. Diese Forde- 
rung vertritt vor allem Sartorius von Waltershausen, der im 
übrigen nachdrücklich die Notwendigkeit betont, im Interesse 
der Aufrechterhaltung von Deutschlands Stellung als Welt- 
macht auch weiterhin den Kapitalexport zu pflegen ®). 

Gemäß der hohen Bedeutung, welche die Frage des Kapital- 
exportes wie für alle Gläubiger- und Industriestaaten so auch 
für Deutschland hat, ist diese Seite der ausländischen Kapital- 
anlage, ihr wünschenswerter Umfang und ihre Richtung, schon 
im Frieden und erneut während des Krieges Gegenstand leb- 


4) Sartorius von Waltershausen 1. c. Scite 36, 46 fg. In dem gleichen Sinne 
äußert sich auch G. v. Schulze-Gaevernitz (Grundriß der Sozialökonomik, V. Abt, 
Il. Teil; Bankwesen, S. 165 fg.); nach ihm soll zur Richtschnur für die deutschen 
Auslandsanlagen der Satz dienen: Bewässerung der deutschen Freundschafts- 
und Einflußsphäres, neben weltpolitischen sollen auch weltwirtschaftliche Ge- 
sichtspunkte bei der Auswahl der Anlagegebicte maßgebend sein. 





SIO Charlotte Leubuscher, 


hafter Erörterung durch Theoretiker und Praktiker gewesen 
und hat auch von seiten der Wissenschaft gründliche prinzipielle 
Behandlung erfahren ë). Ihr gegenüber ist das zweite Problem 
einer Nationalisierung des Kapitals zurückgetreten; erst im 
Kriege hat sich ihm verstärkte Aufmerksamkeit zugewandt. 
Sein Gegenstand ist das vom Auslande in inländischen Unter- 
nehmungen investierte Kapital, betrifft also einen Passivposten 
unserer Zahlungsbilanz. Der Bewegung, die auf seine Entfer- 
nung gerichtet ist, Jiegt die Anschauung zugrunde, daß die aus- 
ländischen Kapitalisten aus dem Lande, in dem sie Kapital 
investiert haben, Reichtum ziehen und unter Umständen 
einen den nationalen Interessen entgegengesetzten Einfluß 
auf die Wirtschaft des betreffenden Landes auszuüben vermögen. 
Nach ihr liegt also der Hauptvorteil der ausländischen Kapital- 
anlage auf seiten des kapitalexportierenden Landes. 

Obwohl dieses Problem, die Ausbeutung des Wirtschafts- 
lebens duıch fremde Kapitalmächte, in erster Linie ein solches 
kapitalschwacher Schuldnerstaaten ist, kann eine ernsthafte 
Nationalisierung auf diesem Gebiete nur für Gläubigerstaaten 
in Betracht kommen. Auch Rußland bildet hierin keine Aus- 
nahme, das sich von der »deutschen Vergewaltigung« befieien 
will, dessen wirtschaftlich und finanziell sachkundige Kreise 
sich aber bewußt sind, daß das Land ausländischen Kapitals 
zu seiner Entwickelung noch auf lange Zeit hinaus nicht ent- 
raten kann. Die engen Wechselbeziehungen zwischen den Volks- 
wirtschaften und die historische Entwickelung haben es mit sich 
gebracht, daß auch in Ländern, die wie England, Frankreich 
und Deutschland alljährlich einen Kapitalüberschuß im Aus- 
lande anlegten, das eigene Wirtschaftsleben zu einem Teil mit 
fremdem Kapital arbeitet, so daß sich auch in ihnen namhafte 
Objekte für einen Nationalisierungsfeldzug boten. Der von 
unseren Gegnern gegen deutsches Privateigentum geführte 
Wirtschaftskrieg will, gestützt auf die deutschfeindliche Stimmung 


5) So vor allem in dem Buch »Das volkswirtschaftliche System der Kapital- 
anlage im Auslandes von A. Sartorius Freiherrn von Waltershausen, Berlin 1907, 
und in der bereits angeführten Abhandlung des gleichen Verfassers über »Das 
Auslandskapital während des Weltkrieges«, Stuttgart 1915. 

Außerdem behandeln die Frage des Exportkapitalismus: Arndt, »Wesen und 
Zweck der Kapitalanlage im Auslande,« Zeitschrift für Sozialwissenschaft 1912. 
Ders. »Neue Beiträge zur Frage der Kapitalanlageim Auslande«e, 1. c. 1915. Hobson, 
»The Export of Capitals, London 1914. Neuerdings G. v. Schulze-Gaevernitz 
l. c. S. 158 Sg. 


Die Nationalisierung des Kapitals. 51l 


der Bevölkerung, vor allem auf den Konkurrenzneid der heimi- 
schen Industrie gegenüber deutschen Erfolgen, das im feind- 
lichen Machtbereich befindliche deutsche Kapital schädigen 
und den deutschen Eintluß im Auslande verdrängen. Die deutsche 
Regierung antwortete notgedrungen mit Vergeltungsmaß- 
nahmen, die eine Schädigung deutscher Interessen durch die 
Geschäftsführung derartiger vom feindlichen Auslande finan- 
zierter Unternehmungen verhindern sollen, denen aber im übrigen 
nichts von dem konfiskatorischen Charakter anhaftet, den das 
Vorgehen gegen deutsches Kapital in den uns feindlichen Län- 
dern, vor allem in Frankreich und Rußland, trägt 6). 





*) Die wichtigsten von deutscher Seite gegen feindliches Kapital erlassenen 
Maßnahmen sind folgende: 

Neben den Bekanntmachungen über die Geltendmachung von Ansprüchen 
von Personen, dieim Ausland ihren Wohnsitz haben (Gegenmoratorium) RGBil. 
1914 S. 360, 449, die, gegen das Ausland im allgemeinen erlassen, feindliche 
Gläubiger in erster Linie trafen, 

I. die Zahlungsverbote gegenüber dem feindlichen Ausland (gegen England 
RGBI. 1914 S. 421, gegen Frankreich S. 443, gegen Rußland S. 479), 

II. die Einführung 1. der Ueberwachung ausländischer Unternehmungen 
(RGBI. 1914 S. 397), 2. der zwangsweisen Verwaltung französischer bzw. britischer 

und russischer Unternehmungen (RGBl. 1914 S. 487, 556, 1915 S. 133) mit Er- 
gänzungsgesetz zom 24. 6. 1915 (RGBI. 351), 

IMI. die Anordnung zwangsweiser Liquidation britischer Unternehmungen 
(RGBI. 1916 S. 175). 

Sah die Zwangsverwaltung nur eine zeitweilige Stillegung des Betriebes 
vor, so hat die Bundesratsverordnung vom 31. Juli 1916 dem Reichskanzler 
die Waffe in die Hand gegeben, die von England geübte Praxis der gewaltsamen 
Liquidation deutscher Unternehmungen zu parieren. Doch handelt es sich 
auch jetzt noch nicht um allgemeine Liquidation aller britischen Unterneh- 
mungen und Beteiligungen, sondern die Entscheidungen werden vom Reichs- 
kanzler von Fall zu Fall getroften. 

Hierzu tritt die Bundesratsverordnung vom 7. Oktober 1915 über die An- 
meldung des im Inland befindlichen Vermögens von Angehörigen feindlicher 
Staaten (RGBI. S. 136), mit Ausführungsbestimmungen in den Bekanntmachungen 
des Reichskanzlers vom Io. und 21. Oktober 1915 (RGBl. S. 139 und 150), die 
den zuständigen Behörden einen Ueberblick über das in Deutschland befindliche 
feindliche Privatvermögen verschaffen soll und Besitzänderungen an ihm von 
der Genehmigung des Reichskanzlers abhängig macht. 

Ueber die gegen deutsches Privateigentum von feindlicher Seite getroffenen 
Maßnahmen vgl. die Denkschrift des Deutschen Auswärtigen Amtes über »Aus- 
nahmegesetze gegen deutsche Privatrechte in England, Frankreich und Ruß- 
lande, Berlin, Karl Heymanns Verlag 1915, außerdem »Der Wirtschaftskrieg« 
Sammlung der in den kriegführenden Staaten verfügten Maßnahmen des wirt- 
schaftlichen Kampfrechtes. Zusammengestellt vom Bureau der Handels- und 

Gewerbekammer für das Erzherzcgtum Oesterreich unter der Enns. 2, Aufl. 
Wien ıgr 5, und »Handelsverbot und Vermögen in Feindeslande. Gesetzgebung 
und Praxis von England, Frankreich, Deutschland, Italien, Oesterreich und 
Rußland während des Krieges 1914/15. Eine neutrale Darstellung von Dr. 


512 Charlotte Leubuscher, 


Weniger maßvoll als das Verhalten der Behörden sind die 
in Fachblättern und in der Tagespresse veröffentlichten An- 
griffe und Aufforderungen zum Boykott feindlicher Unterneh- 
mungen, bei denen nationale Phrase und Zwecke des privaten 
Konkurrenzkampfes mitunter ein wenig erfreuliches Bündnis 
eingegangen sind. Die Nationalisierung des Wirtschaftslebens, 
unter der man in erster Linie die Nationalisierung des Kapitals 
versteht, wurde in allen kriegführenden Ländern zu einem Schlag- 
wort des Wirtschaftskrieges, ohne auf seine Tragweite und An- 
wendbarkeit im einzelnen Fall geprüft zu werden. 

Die folgenden Betrachtungen über die ausländische Kapital- 
beteiligung an wirtschaftlichen, namentlich industriellen Unter- 
nehmungen mögen dazu beitragen, die Natur dieses Zweiges 
der ausländischen Kapitalanlage und seine Rückwirkungen 
auf die beteiligten Volkswirtschaften klarzustellen, und damit 
einige Ausblicke auf die Grenzen in der Durchführbarkeit und 
Zweckmäßigkeit einer Nationalisierung auf diesem Gebiete 
eröffnen. 


II. 


Die Forderung nach Nationalisierung des Kapitals geht 
stillschweigend von der Voraussetzung aus, daß dem .Kapital 
eine bestimmte Nationalität eignen könne. Diese Auffassung 
widerspricht der älteren landläufigen, die in den Kapitalisten 
die »goldene Internationale« sieht, deren Haltung in nationalen Fıa- 
gen von dem Satze »Ubi bene ibi patria« bestimmt wird. Ihr 
zufolge kann dem Kapital, als dem Werkzeug, das dem reinen 
Gewinnstreben seiner Besitzer dient und bald in diesem, bald 
in jenem Lande Betätigung sucht, eine dauernde Nationalität 
nicht zugesprochen werden). Die Loslösung eines großen 
Teiles des Geldkapitals von dem hinteı ihm stehenden Sach- 
kapital, seine Ueberführung in Effektenform und der hierdurch 
erleichterte zwischenstaatliche Verkehr der Kapitalien haben 
den kosrnopolitischen Wesenszug des Geldkapitals, seine Be- 
Arthur Curti, Zürich. Berlin, Carl Heymanns Verlag 1916. Neuerdings 
»Internationales Kriegshandelsrechte, hrs. von den Aeitesten der Kaufmann- 
sch: ft in Berlin Heft I—III: England, Deutschland Frankreich, Iıgı6.' Einen 
Auszug und cine Erläuterung der Denkschrift des Deutschen Auswärtigen 
Amtes gibtDelius, »Die Ausnahmegesetze gegen deutsche Privatrechte in England, 
Frankreich und Rußland« im Bankarchiv XV. Jahrg. N. 8 und 9. 


?) Vgl. Sartorius von Waltershausen 1. c. das Kapitel »Nationales und inter- 
nationales Kapital«, Seite fg. 


Die Nationalisierung des Kapitals. 513 


fretung von nationalen und politischen Bindungen in den letzten 
Jahrzehnten wesentlich verstärkt. In der gleichen Richtung 
wirkten die Ausweitung des Kreises deı für die Kapitalanlage 
in Betracht kommenden Gebiete über den ganzen Erdball und 
die durch die enge Verknüpfung internationaler Wirtschafts- 
interessen bedingte Gründung internationaler Kapitalkonzerne, 
deren Finanzierungstätigkeit durch keinerlei politische Schran- 
ken und geographische Entfernungen gehemmt wurde. Nicht 
zuletzt trug das Uebergreifen der Trustbildung über die Grenzen 
eines Staatsgebietes hinaus zur Verstärkung der kosmopoliti- 
schen Seite des Kapi.als bei. 

Verkörpert somit das Kapital einerseits die national-nivel- 
lierenden Strömungen unserer Epoche, so ist es andererseits 
mehr und mehr zum Schrittmacher, ja geradezu zum Träger 
nationaler Expansion und damit ein Werkzeug für die Macht- 
politik der Großstaaten geworden ®). »Es ist nicht nur national, 
es kann auch nationalistisch sein« (Ruedorffer). Es sei an die 
Entstehung des Burenkrieges, den man den »Krieg der Londoner 
Börse« genannt hat, an die Vorgeschichte des Russisch- Japani- 
schen Krieges, an die Vorarbeit, welche französisches Kapital 
der politischen Besitzergreifung in Marokko geleistet hat, er- 
innert, um die wichtige Rolle darzutun, die Kapitalsinteressen 
in allen großen weltpolitischen Konflikten der beiden vergangenen 
Jahrzehnte gespielt haben. Und wenn der heutige Weltkrieg 
nicht unmittelbar aus dem Widerstreit von Kapitalistengruppen 
hergeleitet werden kann, so ist doch der Wirtschaftskrieg, der 
von unseren Feinden, vor allem von England, allenthalben 
gegen deutsches Kapital geführt wird, ein hinlänglicher Beweis 
für das Streben unserer Gegner, Deutschlands Wirtschaftskraft 
in seinen ausländischen Kapitalanlagen zu treffen. Namentlich 
ist hier das Vorgehen gegen deutsche Unternehmungen in einzelnen 
englischen Kolonien, wie in Hongkong und in den Straits Settle- 
ments bezeichnend, wo man bis zur Vernichtung der Geschäfts- 
bücher nach der Liquidierung gegangen ist ?). | 

Wenn man von den besonderen Verhältnissen des gegen- 
wärtigen Krieges absieht, in dem unsere Gegner ganz allgemein 

’) Eine treffende Charakterisierung dieser doppelten Seite des modernen 
Kapitalismus findet sich bei Ruedorfier, »Grundzüge der Weltpolitik in der 
Gegenwarts, Seite 158 fg. 

°?) Vgl. Denkschrift des Auswärtigen Amtes, S. 76 fg. und S. 95. 


Pl 


514 Charlotte Leubuscher, 


die wirtschaftliche Schädigung Deutschlands anstreben, und 
der sich daher auch gegen solche privaten Vermögensrechte 
und private Betätigungen richtet, denen jede politische Ziel- 
setzung mangelt, so ist die Wirksamkeit des Kapitals im Dienste 
politischer Interessen als ein Hauptgrund dafür anzusehen, daß 
heute mehr als früher das in ausländischen Unternehmungen 
arbeitende Kapital als nationaler Fremdkörper empfunden wird 
und zum Angriffspunkt der nationalistischen Agitation geworden 
ist. Die Kapitalien, die als Pioniere der politischen und wirt- 
schaftlichen Expansion der kapitalstarken Gläubiger- und Indu- 
striestaaten dienen, treten naturgemäß in Wettbewerb miteinan- 
der und verschärfen die wirtschaftspolitischen Gegensätze. Die 
Kämpfe, welche häufig um die Erlangung von Konzessionen 
zur Ausbeutung ergiebiger Produktionsstätten wie Petroleum- 
lager, Erzvorkommen u. dgl, um die Aktienmajorität von 
weltwirtschaftlich und weltpolitischb bedeutsamen Verkehrs- 
unternebmungen geführt werden, sind oft auch politisch von 
großer Tragweite. Es sei nur an die Bedeutung eines an sich 
von privatem Kapital gegründeten Unternehmens wie die Bagdad- 
bahn erinnert. Während es sich bei Unternehmungen in wiit- 
schaftlich rückständigen Gebieten vornehmlich um Verkehrs- 
unternehmungen und um Anlagen zur KRohstoffgewinnung 
handelt, hat sich das ausländische Kapital in wirtschaftlich 
hochentwickelten Ländeın namentlich in neuerer Zeit vor 2llem 
Fabrikationszweigen zugewendet, die gebrauchsfertige und ge- 
nußreife Waren herstellen, und zwar meist solchen, die qualiti- 
zierte Arbeit und verfeinerte Techrik erfordern 1%). Die Kapital- 
anlage bildet hier ein Mittel des wirt chaftlichen Konkurrenz- 
kampfes, das dort angesetzt wird, wo der Wettbewerb auf dem 
Wege des Außenhandels aus dem einen oder anderen Grunde 
versagt. Da die Mehızahl dieser Unternehmungen ausschließlich 
aus Grund rein geschättlicher Rücksichten ohne politische Neben- 
absichten geleitet werden, wurden sie in normalen Zeiten kaum 
störend empfunden, sondeın fügten sich organisch dem Gefüge 
der einzelnen Volkswirtschaften ein. 

Erst in der national und nationalisiisch erregten Zeit des 
Krieges kehrte sich die Feindseligkeit ganz allgemein gegen diese 

10) Von Fabrikationszweigen, die in Deutschland in erheblichem Maße mit 
ausländischem Kapital finanziert sind, beziehungsweise bis vor kurzem waren. 


seien genannt: Zigaretten, Margarine, einzelne Arten von Werkzeugmaschinen, 
Automobile, Films, Grammophone, Spiegelglas. 


Die Nationalisierung des Kapitals. 615 


Ausstrahlungen aus Feindesland und setzten Nationalisierungs- 
bestrebungen in weitem Umtange ein. Indessen hat gerade dieses 
planmäßige Vorgehen gegen die mit ausländischem Kapital 
finanzierten Unternehmungen die Schwierigkeiten und oft 
zweischneidigen Wirkungen derartiger Maßnahmen erkennen 
lassen, Schwierigkeiten, die insbesondere darin bestehen, die 
Nationalität solcher Unternehmungen einwandfrei zu bestimmen. 


II. 


Der Nationalisierungsfeldzug, der auf beiden Seiten der 
kriegführenden Staaten gegen feindliche Unternehmungen ge- 
führt wird, hat mancherlei seltsame und widerspruchsvolle 
Vokommnisse gezeitigt. 

So wurde bald nach Ausbruch des Krieges in Deutschland 
von seiten der Mineralwasserproduzenten das Publikum nach- 
drücklich zum Boykott des Apollinarisbrunnens aufgefordert, 
da sich diese Quelle ausschließlich im Besitz englischer Kapita- 
listen befinde. Dieses Vorgehen der Interessenten wurde vor 
behördlicher Seite unterstützt, indem die Königliche Eisenbahn- 
direktion Berlin an die Bahnhofswirte ihres Verwaltungsbezirkes 
die Weisung gab, nach Räumung der Lagerbestände gewisse 
ausländische Mineralwasser, unter denen auch der Apollinaris 
genannt wurde, nicht mehr zu führen Y). Anderseits erschien 
in der englischen Presse eine illustrierte Aufforderung folgenden 
Wortlauts: »Trinken Sie deutsche Wasser? Apollinaris kommt 
von Deutschland, Perrier kommt von Frankreich. Der Schlacht- 
ruf der Alliierten sollte sein: Schulter an Schulter in Krieg und 
Handel« 12), Während sich also die deutsche Aufforderung 
zum Boykott auf den feindlichen Kapitalbesitz berief, wurde die 
englische mit der Produktionsstätte in Feindesland begründet. 

In der Preßfehde, die zwischen einer Anzahl deutscher 
Gummifabriken und der Deutschen Dunlop-Compagnie in Hanau 
bald nach Kriegsausbruch entbrannte, machte letztere zum Be- 
weis ihrer deutschen Nationalität geltend, daß sie als deutsche 
Gesellschaft nach deutschem Recht in das Handelsregister ein- 
getragen sei, und daß der Nutzen, den Deutschland aus dem 


EEE 

11) Vgl. Pharmazeutische Zeitung vom 21r. November 1914, außerdem das 
Flugblatt des Vereins der rein natürlichen Heilquellen E. V. »Apollinaris unter 
falscher Flagges, sowie »Deutsche Mineralwasserfabrikanten-Zeitungs vom 
5. August 1914. 

13) Mitgeteilt in der Beilage der Vossischen Zeitung vom 14. November r915. 


516 Charlotte Leubuscher, 


Unternehmen in Form von Gehältern und Löhnen an deutsche 
Beamte und Arbeiter, Bestellungen bei deutschen Firmen usw. 
ziehe, erheblich höher anzuschlagen sei, als der Vorteil, der in 
Form von Dividenden nach England gehe. Zu derselben Zeit 
bezeichnete sich die englische Muttergesellschaft, die bis vor dem 
Kriege in engster, namentlich finanzieller Verbindung mit ihrer 
deutschen Tochtergründung gestanden hatte, in englischen Zei- 
tungen als die wahrhaft englisch-nationale Gummigesellschaft. 

Wenn diese Kundgebungen, die im Hinblick auf bestimmte 
geschäftliche Rücksichten und zudem unter dem Eindruck 
der Erregung des Krieges entstanden sind, keinen Anspruch 
auf wissenschaftliche Genauigkeit erheben, so ist es doch auch 
bei rein sachlicher Beurteilung, die sich frei von allen persön- 
lichen und politischen Einflüssen hält, oft schwer, die Nationali- 
tät derartiger Unternehmungen zu bestimmen, deren Interessen 
in mehreren Volkswirtschaften verankert sind. 

Vom formal juristischen Standpunkte aus wird man für 
die Nationalität einer Unternehmung in der Regel den Staat be- 
stimmend sein lassen können, nach dessen Recht die betreffende 
Unternehmung errichtet ist und ihre Geschäfte betreibt. 

Für die Bestimmung der Nationalität in wirtschaftlicher 
Beziehung ist hiermit jedoch nichts gewonnen. Besteht doch ge- 
rade das Wesen der Auslandsunternehmung darin, daß sich 
in den vom Recht des Niederlassungslandes gezogenen äußeren 
Formen ausländische Wirtschaftskräfte betätigen. Drei Ge- 
sichtspunkte sind vor allem bei der Frage zu berücksichtigen, 
welcher Nationalität eine Unternehmung in wirtschaftlicher 
Hinsicht zugerechnet werden muß: das Recht auf Gewinn- 
bezug, die Verfügungsgewalt über das Unterneh- 
mung<vermögen, die Ausübung von Leitung und 
Aufsicht. 

Die Frage nach der Nationalität wird in den meisten Fällen 
leicht zu beantworten sein, wo diese Zuständigkeiten in einer 
Hand vereinigt sind, so vor allem bei der Einzelunternehmung, 
oft auch bei der offenen Handelsgesellschaft, obgleich denkbar 
ist, daß die mit Arbeit und Kapital beteiligten Gesellschafter 
verschiedenen Staaten angehören. Doch wird sich hier meist 
nach dem überwiegenden Einfluß die Nationalität einwandfrei 
bestimmen lassen. 

Das Problem beginnt erst bei den gesellschaftlichen Unter- 


Die Nationalisierung des Kapitals. 517 


nehmungsformen, die auf einer Zerlegung des Unternehmungs- 
kapitals in zahlreiche Teile beruhen, und bei denen sich mehrere 
Instanzen in die Verfügungsgewalt über das Vermögen und 
in die Leitung des Unternehmens teilen, also vor allem bei der 
Aktiengesellschaft und bei der G. m. b. H. Für die Anlage von 
Kapital in ausländischen Unternehmungen wird jedoch aus leicht 
verständlichen Gründen ganz überwiegend die gesellschaft- 
liche Unternehmungsform gewählt, ja, man hat geradezu von 
einem Parallelismus in der Entwickelung der gesellschaftlichen 
Unternehmungsformen und derjenigen der ausländischen Kapital- 
anlage gesprochen. (Hobson, Arndt.) 

Von den Bekämpfern der mit ausländischem Kapital arbei- 
tenden Unternehmungen wird meist die Tatsache des ausländi- 
schen Gewinnbezuges, »die Ausbeutung des Landes durch fremde 
Kapitalisten« in den Vordergrund gestellt. Zweifellos können 
auf diesem Wege bedeutende Summen aus dem Lande strömen 
und die Passivseite der Zahlungsbilanz erheblich belasten. Ge- 
wib ist es nicht gleichgültig, welcher Volkswirtschaft der Rein- 
ertrag einer Unternehmung zuwächst, welches Nationalver- 
mögen durch die in ihr betriebene wirtschaftliche Tätigkeit 
eine Bereicherung erfährt. Ein erschöpfendes Merkmal für die 
Nationalität liegt hierin jedoch nicht, abgesehen davon, daß 
dem Recht auf Gewinnbezug ein bei ausländischen Kapital- 
anlagen häufig nicht geringes Verlustrisiko gegenüberstcht, 
ja, man kann im Zweifel sein, ob das Recht des Gewinnbezuges 
überhaupt als Bestimmungsgrund für die Nationalität einer 
Unternehmung heranzuziehen ist ?). | 

Viel wichtiger für die nationale Richtung einer Unterneh- 
mung als die Frage, wohin ihre Erträge ganz oder zum Teil 
abgeführt werden, ist die, wem die Verfügungsgewalt über das 
Unternehmungsvermögen und damit mittelbar auch ihre Lei- 
tung und Verwaltung zusteht. Beide Zuständigkeiten, Anspruch 
auf Ertrag und Verfügungsgewalt, sind bei der gesellschaft- 
lichen Unternehmungsform keineswegs identisch. 

Erstere gründet sich auf Kapitalbeteiligung, diese aber 
schließt nicht unbedingt ein Recht auf Mitwirkung bei der Ver- 
wendung des Kapitals in sich. Zunächst sei daran erinnert, 


e 

13) So läßt z. B. Sartorius von Waltershausen für die Nationalität aus- 
schließlich den entscheidenden Einfluß in der Leitung der Unternehmung aus- 
schlaggebend sein, 1. c. Seite 155. 


518 Charlotte Leubuscher, 


daß bedeutende Summen nicht nur in Form von Gewinnen 
auf das Unternehmungskapital ins Ausland wandern, sondern 
auch als Verzinsung des bei einigen Unternehmungen recht be- 
trächtlichen Obligationenkapitals, dessen Inhabern unter nor- 
malen Verhältnissen jeder Einfluß auf die Geschäftsführung 
abgeht, und das bei der Bestimmung der Nationalität einer 
Unternehmung naturgemäß ausscheidet 14). Aber auch das 
Unternehmungskapital im engeren Sinne ist nicht immer gleich- 
mäßig an der Führung einer Unternehmung beteiligt. Oft ent- 
spricht vielmehr gerade dem Vorrecht einer Aktienkategorie 
im Gewinnbezug, dem Anspruch auf eine feste Vordividende, 
ein minderes Stimmrecht. Bekanntlich bildet die Ausgabe 
derartiger »stimmloser Vorzugsaktien« ein beliebtes Mittel der 
amerikanischen Trustmagnaten, um sich trotz Heranziehung 
bedeutender fremder Kapitalien die Herrschaft über eine Unter- 
nehmung zu sichern ®). 

Auch bei alleiniger Berücksichtigung des stimmberechtig- 
ten Unternehmungskapitals können hinsichtlich der Nationali- 
tät einer Unternehmung Zweifel entstehen, selbst wenn wir zu- 
nächst an der Fiktion festhalten, daß die Gesamtheit der Ak- 
tionäre als oberste Autorität einer Aktiengesellschaft ihre Lei- 
tung ausübt. Fast in jeder größeren Aktiengesellschaft befinden 
sich die Aktien im Besitz von Personen verschiedener Nationali- 
tät. Namentlich steht bei den Auslandsunternehmungen fast 
überall der dem Gründungslande angehörenden Majorität eine 
oft nicht unbeträchtliche Minderheit gegenüber, die dem Nieder- 
lassungslande entnommen ist!%). Zumal die bedeutendsten 
Auslandsunternehmungen von internationaler Ausdehnung und 

14) Eine andere Frage ist es, ob nicht bedeutende Kreditforderungen "aus 
dem feindlichen Auslande im Kriegsfalle dieselben Maßnahmen erforderlich 
machen wie aktive feindliche Kapitalbeteiligung. So fordert Rehm (Vossische 
Zeitung vom 21. April 1915) für Unternehmungen mit hohen Darlehensschulden 
an Angehörige des feindlichen Auslandes die Verhängung der Zwangsverwaltung. 

15) Vgl. Steinitzer, Oekonomische Theorie der Aktiengesellschaft, S. 102 fg. 
Umgekehrt bildet die Ausgabe von Aktien mit kumulativem Stimmrecht, die 
beı den Gründern gesperrt werden, ein namentlich im deutschen Aktienwesen 
beliebtes Abwehrmittel gegen das Eindringen ausländischer Kapitalmächte 
in eine Unternehmung. Vgl. u.a. Plutus, 6. Juni 1914 »Margarinesorgen«. 

16) Selbst in Rußland, wo die Beteiligung inländischen Kapitals verhältnis- 
mäßig gering ist, sollen nach den Feststellungen der von der russischen Regierung 
eingesetzten Prüfungskommission bei 32 deutschen und österreichischen Aktien- 


gesellschaften mit Rbl. 210 Millionen Grundkapital ungefähr Rbl. 40 Millionen 
russisches Kapital beteiligt sein. (Frankfurter Zeitung 28. Juni 1915.) 


Die Nationalisierung des Kapitals. sIg 


internationalem Ruf sind bewußtermaßen international finan- 
ziert und organisiert, z. B. die großen Unternehmungen in der 
Petroleumindustrie und im Metallhandel, Unternehmungen für 
den internationalen Verkehr, wie Transportgesellschaften, Schlaf- 
wagengesellschaften, Schiffahrtsunternehmungen; sie bilden jene 
wirtschaftlichen Interessengemeinschaften der ganzen Welte 
(Ruedorffer), in denen die kosmopolitische Seite des modernen 
Kapitalismus zum Ausdruck kommt. Gruppenbildungen unter 
den Aktionären vollziehen sich in ihnen häufig auf Grund ganz 
anderer als nationaler Gesichtspunkte, zumal wenn in der- 
artigen Unternehmungen die rein geschäftlichen Interessen 
überwiegen. 

Besonders undurchsichtig sind die Verhältnisse dann, wenn 
eine Unternehmung die Tochtergründung einer ausländischen 
Gesellschaft ist, die Muttergesellschaft selbst aber von einem 
dritten Lande aus finanziert ist. Am häufigsten kommt dieser 
Fall bei amerikanischen Unternehmungen vor, die zunächst in 
England Niederlassungen als selbständige Gesellschaften, meist 
unter starker Beteiligung englischen Kapitals, errichtet haben. 
Diese englisch-amerikanischen Gesellschaften, die in ihrer ge- 
samten Geschäftsführung oft völlig unabhängig sind, haben 
ihrerseits Niederlassungen auf dem europäischen Festlande ge- 
gründet, die zwar im Kriege ihren amerikanischen Ursprung 
mit großer Geflissentlichkeit betonen, aber tatsächlich von London 
aus geleitet wurden. 

Noch größeren Schwierigkeiten begegnet die Feststellung 
der Nationalität bei Unternehmungen, deren Muttergesellschaft 
und kaufmännische Leitung sich im Auslande befinden, während 
der ganze Konzern überwiegend mit Kapital des Landes arbeitet, 
in dem die Tochtergesellschaft ihren Sitz hat. Meist geben be. 
sondere wirtschaftliche und politische Verhältnisse den Anlaß 
zu derartigen Gründungen. Namentlich erschien in früheren 
Jahrzehnten London wegen seiner finanziellen Vormacht- 
stellung, seiner günstigen Lage zum Welthandel und wegen der 
aufgeklärten und liberalen Bestimmungen des englischen Aktien- 
und Patentrechtes als kaufmännischer Mittelpunkt für Industrie- 
zweige geeignet, die eine internationale Ausdehnung anstrebten, 
auch wenn der Anstoß zur Gründung und ein erheblicher Teil 
des Gründungskapitals aus anderen Ländern stammten, und der 
Schwerpunkt der wirtschaftlichen Tätigkeit der betreffenden 


520 Charlotte Leubuscher, 


Gesellschaft in einem anderen Lande lag. So gründete Liebig 
zur Ausnutzung seiner bekannten Erfindungen im Jahre 1865 
in England eine Aktiengesellschaft unter starker Beteiligung 
deutschen Kapitals, da London die günstigsten Bedingungen 
für einen Produktionszweig bot, dessen Rohstoffe in Uebersee 
erzeugt und verarbeitet wurden. Die englische Liebiggesellschaft 
errichtete ihrerseits Tochtergesellschaften in anderen Ländern, 
so in Köln eine G. m. b. H., deren Kapital sich im .Besitze der 
englischen Muttergesellschaft befindet, während diese ihrerseits 
zu einem großen Teil von Deutschland aus finanziert sein soll 17). 
Auch heute noch gibt es in den verschiedensten Industrie- 
zweigen Unternehmungen, deren kaufmännische Leitung von 
London aus erfolgt, während sich ihre Fabrikationsstätten, 
oft auch ihre Hauptabsatzgebiete, in anderen Ländern be- 
finden 18). 

Dieselben Verhältnisse, aber weniger durch wirtschaftliche 
als durch politische Momente veranlaßt, liegen bei einigen Unter- 
nehmungen in Elsaß-Lothringen vor, die dort bereits unter 
der französischen Herrschaft entstanden waren und noch heute 
starke französische Kapitalbeteiligung aufweisen. Um nicht 
vom französischen Markte ausgeschlossen zu werden, gründeten 
sie nach 1870 in Frankreich Filialen, die heute in Frankreich 
wegen ihres deutschen Ursprunges als feindliche Unterneh- 


1?) Sollten sich die ungünstigen Nachrichten von der rücksichtslosen Behand- 
lung bewahrheiten, welche deutschen Zeitungsmeldungen zufolge die englische 
Liebiggesellschaft in Argentinien und Uruguay nach Kriegsausbruch ihren 
deutschen Angestellten hat zuteil werden lassen, sc läge hierin ein Beweis dafür, 
daß die Kapitalbeteiligung für die Haltung einer Unternehmung in nationalen 
Fragen nicht ausschlaggebend ist, sondern die Handhabung von Leitung und 
Verwaltung, die bei der Liebiggesellschaft in englischen Händen liegt. 

18) Ein weiteres Beispiel dieser Art ist der bekannte holländisch-englische 
Margarinekonzern Van den Bergh Ltd., dessen kaufmännischer Sitz London 
ist, während sich seine Fabriken in Holland, teilweise auch in Deutschland be- 
finden. Der Konzern ist ursprünglich eine holländische Gründung; wie weit 
die heute jedenfalls vorhandene englische Kapitalbeteiligung geht, ist nicht fest- 
zustellen. Er hat teils durch Gründung neuer, teils durch Erwerb bestehender 
Fabriken auch in Deutschland festen Fuß gefaßt und bildet zusammen mit der 
holländischen Firma Anton Jürgens, Rotterdam, jene Interessengemeinschaft, 
gegen deren Vordringen in Deutschland sich in den letzten Jahren unter der 
deutschen Margarineindustrie eine lebhafte Abwehrbewegung geltend gemacht 
hat. 

Vgl. Hobson, l. c. S. 126: »But generally speaking the question where a 
company shall be registered has come to be largely determined by conveniences 
of management and by the facilities and flexibility of various company laws, 
rather than by the mere nationality of the people among whom it operates.* 





Die Nationalisierung des Kapitals. 521 


mungen betrachtet werden, während über die Muttergesellschaft 
in den Reichslanden wegen ihrer französischen Kapitalbeteili- 
gung die Staatsaufsicht bzw. die Zwangsverwaltung verhängt 
worden ist 19). 

Eine besondere Art der internationalen Verknüpfung kapi- 
talistischer Interessen, durch die für die Bestimmung der Natio- 
nalität einzelner Unternehmungen Schwierigkeiten entstehen 
können, bildet die Errichtung von Holding Companies, Trust- 
und Kontrollgesellschaften, für die Liefmann den Sammel- 
namen »Beteiligungsgesellschaften« geprägt hat. Ein Beispiel 
dieser Art finanzieller Verschachtelung, das während des Krieges 
viel erörtert worden ist, bildet “The Nobel Dynamite Trust Com- 
pany’ in London, nach Liefmann »eine der am meisten inter- 
national verflochtenen Unternehmungen ?°)«. Sie ist eine Kontroll- 
gesellschaft, welche die Aktien von Sprengstoffabriken in drei 
Erdteilen zusammenfaßt und bis vor kurzem auch einige der 
bedeutendsten deutschen Fabriken, so vor allem die Dynamit- 
Aktiengesellschaft vorm. Alfred Nobel u. Co., Hamburg, besaß, 
während die Hamburger Gesellschaft wiederum mehıere andere 
deutsche Unternehmungen kontrollierte. Die Dividenden sämt- 
licher Gesellschaften, die selbständig in der Rechtsform der 
verschiedenen Staaten fortbestanden, flossen in die Kasse des 
Trusts, der seinerseits Trustzertifikate ausgegeben hatte. Außer- 
dem bestand zwischen den bisher vom Trust beherrschten deut- 
schen Sprengstoffabriken und den deutschen Pulverfabriken 
seit 1889 ein sog. Generalkartellvertrag, der die Zusammen- 
werfung der Gewinne beider Gruppen und ihre Verteilung nach 
dem Maßstab 60:40 vorsah ?!). Ein großer Teil der Trustshares 
(60 % der Stammaktien ??) sollte sich zwar in deutschem Be- 


19) Ein Beispiel dieser Art ist die Elsässische Maschinenbaugesellschaft 
A.-G. Mülhausen. Diese gründete im Jahre 1879, als die französische Schutz- 
zollpolitik den Absatz ihrer Produkte in Frankreich immer schwieriger ge- 
staltete, eine Filiale in Belfort, die im Jahre 1912 als selbständige französi- 
sche Aktiengesellschaft konstituiert wurde. Die elsässische Muttergesellschaft 
erhielt jedoch, namentlich für Sacheinlagen, einen großen Teil der Aktien der 
Tochtergesellschaft, die daher heute in Frankreich als deutsche Unternehmung 
angesehen wird, während sich die Aktien der Mülhäuser Aktiengesellschaft selbst 
zum überwiegenden Teil in französischem Besitz befinden, wie die über sie ver- 
hängte Zwangsverwaltung schließen läßt. 

20) Ueber die Konstiuktion des Nobeltrusts vgl. Liefmann, Beteiligungs- 
und Finanzierungsgcsellschaften, 2. Aufl. 1913, Seite 271 fg. 

21) Seit 1914 je 50 ©). 

32) Vgl. Frankfurter Zeitung, Abendblatt vom ı9. März 19135. 


Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 2. 34 


522 ` Charlotte Leubuscher, 


sitz befinden, Tatsache aber war, daß die deutsche Sprengstoff- 
industrie unmittelbar von einer englischen Gesellschaft geleitet 
wurde, und daß letztere mittelbar auch an den in der deutschen 
Pulverfabrikation erzielten Gewinnen beteiligt war. Wenn 
in einem Produktionszweig die Nationalisierung geboten und 
sozusagen naturgemäß war, so hier. Da auch für die englischen 
Untergesellschaften und die englischen Aktionäre des Trust die 
starke deutsche Kapitalbeteiligung und der Besitz großer fest- 
liegender Werte in Deutschland unerwünscht war, ließ sich mit 
Zustimmung beider Parteien die Loslösung der deutschen Fa- 
briken vom englischen Trust bewerkstelligen. Die Auseinander- 
setzung zwischen der Hamburger Gesellschaft und dem Trust 
erfolgte auf Grund besonderer Dispense der deutschen und der 
englischen Regierung von den beiderseitigen Zahlungsverboten. 
Die Dynamit A.-G. vorm. Alfred Nobel u. Co., Hamburg, die 
ihrerseits gegenüber den bisher vom Trust beherrschten deut- 
schen Fabriken in die Rolle einer Holding Company einrückte, 
erhöhte ihr Aktienkapital von 12 auf 36 Millionen Mark; gegen 
die 24 Millionen neue Aktien und die ız Millionen, welche der 
Trust zurückgab, wurden die in deutschem Besitz befindlichen 
Trust Shares eingetauscht 2). 

In der Praxis wird die Beantwortung der Frage, welcher 
Volkswirtschaft das in einer Unternehmung angelegte Kapital 
in erster Linie dienstbar gemacht wird, nicht so sehr von der 
Nationalität der Aktionäre als von der ihrer tatsächlichen Leiter, 
also vor allem des Vorstandes und der maßgebenden Mitglieder 
des Aufsichtsrates abhängen *). Es kann deshalb von grund- 
legender Bedeutung für die volkswirtschaftliche Betrachtung 
einer mit ausländischem Kapital arbeitenden Unternehmung 
sein, ob ihre leitenden Persönlichkeiten ebenfalls Ausländer 
oder Angehörige des Niederlassungslandes sind, nicht nur weil 
im letzteren Falle hohe Gehälter, Provisionen u. dgl. Inländern 
zugute kommen, sondern weil von dicsen Stellen die Haltung 
einer Unternehmung in nationalen Fragen bestimmt wird. 


23) Ueber den Nationalisierungsplan vgl. Frankfurter Zeitung vom 19/3., 
25/3., 19/4. 1915. 

24) Dieser Punkt ist nach Sartorius von Walteıshausen entscheidend füı die 
Nationalität einer Unternehmung. »Man kann ein Kapital vom Standpunkte 
eines Lanaes national nennen, wenn es bei der Verwendung dem entscheidenden 
Einfluß seiner Bürger unterstellt ist und daher seinen Interessen dienstbar ge- 
macht werden kann.e 1. c. S. 155. 


Die Nationalisierung des Kapitals. 523 


Die Erkenntnis dieser Tatsache scheint den Urhebern der 
in Rußland gegen deutsches Kapital erlassenen Kriegsgesetz- 
gebung vor Augen gestanden zu haben. Nach dem bekannten 
Wort eines russischen Staatsmannes wird dort der Kampf nicht 
allein gegen den deutschen Staat, sondern gegen das Deutsch- 
tum überhaupt geführt. Im Gegensatz zu den Kapitalanlagen 
anderer Nationen, namentlich den französischen, hat das deut- 
sche Kapital in der russischen Industrie meist in Verbindung mit 
der persönlichen Arbeit Deutscher Anlage gefunden ?5). Ab- 
schnitt II der Beschlüsse des Ministerrates über den Grundbesitz, 
der Untertanen der feindlichen Staaten vom 2. Februar 1915 26) 
lautet: »In den Gesellschaften auf Anteile und Aktiengesellschaften, 
die'auf Grund der im russischen Staate geltenden allgemeinen 
oder örtlichen Gesetze errichtet sind, und die die Genehmigung 
zum Landerwerb haben, werden österreichische, ungarische, 
deutsche oder türkische Untertanen zur Bekleidung der Aemter 
von Vorsitzenden und Mitgliedern des Rates, der Verwaltung, 
des Direktoriums und aller anderen Komitees, der stellvertre- 
tenden Mitglieder des Rates, der Verwaltung, der Komitees, der 
leitenden Direktoren, Bevollmächtigten, Generalagenten, Agenten, 
von Bevollmächtigten überhaupt und von solchen in Sachen des 
Bergwerkbetriebes im besonderen, von Leitern oder Verwaltern 
von Grundstücken der Gesellschaft oder Sozietät, wo diese 
Grundstücke auch belegen sein mögen, ebenso von einzelnen 
Unternehmen, wo solche sich auch befinden mögen, von Stellen, 
von Technikern, Handelsgehilfen und überhaupt von Angestell- 
ten der Gesellschaften oder Sozietäten nicht zugelassen.« 
Der Zweck dieser Bestimmung, die sich unter den bestehen- 
den Verhältnissen in erster Linie gegen Deutsche richten muß, 
ist offenkundig. Die Angehörigen der feindlichen Staaten sollen 
von den leitenden, einflußreichen und einträglichen Stellen ver- 
drängt und damit wirtschaftlich und politisch mundtot gemacht 
werden, während man deutsches Kapital nicht entbehren kann 
und will. 
Inwieweit die im Besitz der Aktienmehrheit befindlichen 
ausländischen Kapitalisten, bzw. ihre Wortführer in Vorstand 
und Aufsichtsrat oder die kaufmännischen und technischen 





#5) Vgl. hierüber Goebel, »Die russische Industrie« in dem Sammelwerk 
»Rußland in Kultur und Volkswirtschafi«, herausgegeben von Sering, 1913, 
ferner Schulze-Gaevernitz, 1. c. S. 164. 

t4) Vgl. Denkschrift des Auswärtigen Amtes, S. 158. 

34* 


524 Charlotte Leubuscher, 


Leiter einer Gesellschaft die ausschlaggebenden Instanzen in 
der Geschäftsführung sind, hängt von den besonderen Verhält- 
nissen des einzelnen Falles sowie von der wirtschaftlichen Struk- 
tur des betreffenden Landes, letzten Endes von der viel um- 
strittenen, hier nicht zu erörternden Frage ab, ob der Finanz- 
mann oder der industrielle Unternehmer als der eigentliche 
Führer im Wirtschaftsleben der modernen Staaten anzusprechen 
ist. Im allgemeinen wird man sagen können, daß 
eine Unternehmung im wirtschaftlichen Sinne 
der Nationalitätzugerechnetwerdenmuß, derdie 
Personenangehören,denenderüberwiegendeTeil 
ihres Reinertrages zufließt, und die den maß- 
gebenden Einfluß auf die Verwendung des ange- 
legten Kapitals ausüben, daß aber beieinem Aus- 
einanderfallen dieserbeiden Merkmale dem letzt- 
genannten das größere Gewicht zukommt. In der 
Ausdrucksweise der theoretischen Nationalökonomie heißt das: 
Für die nationale Zugehörigkeit einer Unter- 
nehmung ist nicht allein der Produktionsfaktor 
Kapital bestimmend, sondern auch der Produk- 
tionsfaktorArbeit,wobeiwenigeran die manuelle 
Lohnarbeit, als an die disponierende und organi- 
satorische Täti keit der Leiter gedacht ist. 

Für die Zähıigkeit, mit der eine Unternehmung ihre fremde 
Nationalität behauptet, oder, vom Standpunkte des Nieder- 
lassungslandes aus gesprochen, für die größere oder geringere 
Leichtigkeit, sie zu nationalisieren, ist es naturgemäß von großer 
Bedeutung, wie stark die hinter ihr stehenden ausländischen 
Kapitalmächte sind, und wie weit der Zusammenhang mit den 
ausländischen Gründern aufrecht erhalten wird. So werden im 
allgemeinen Tochtergesellschaften einer wirtschaftlich leistungs- 
fähigen Unternehmung, die dauernd finanziell abhängig von der 
Muttergesellschaft bleiben und von ihr Weisungen empfangen, 
schwerer für das Niederlassungsland zu gewinnen sein als unab- 
hängige Gründungen ausländischer Kapitalisten. 

Der Krieg hat in manchen Fällen einer Nationalisierung 
den Weg gebahnt, die früher kaum durchführbar erschien, und 
zwar nicht nur auf gewaltsame Weise, wie sie z. B. in Rußland 
gegenüber deutschem Kapital geübt wird, sondern auf Grund 
freien Entschlusses der Parteien. Der wichtigste Fall einer der- 





Die Nationalisierung des Kapitals. 525 


artigen Nationalisierung in Deutschland ist außer dem bereits 
erwähnten Beispiel aus der Sprengstoffindustrie der Uebergang 
der bisher im Besitz englisch-amerikanischer Kapitalisten be- 
findlichen Aktienmehrheit eines beträchtlichen Teiles der deut- 
schen Zigarettenfabrikation in deutsche Hände, eine Transaktion, 
deren Einzelheiten heute noch nicht offen liegen, die aber 
jedenfalls zu begrüßen ist, auch deshalb, weil damit hoffentlich 
dem an kleinlichen und gehässigen Zügen reichen Kampfe 
innerhalb dieses Industriezweiges ein Ende bereitet worden ist. 


IV. 


Die Beurteilung, die der ausländischen Kapitalbeteiligung 
an wirtschaftlichen Unternehmungen vom Standpunkte der 
Volkswirtschaft des Niederlassungslandes aus zukommt, muß je 
nach den besonderen Verhältnissen des einzelnen Falles und 
des betreffenden Industriezweiges verschieden ausfallen. So 
ist es von unzweifelhafter Bedeutung, welcher Bruchteil der 
Produktion. in einem Zweige des Wirtschaftslebens in ausländi- 
schen Händen ist, obessich um vereinzelte Betriebe handelt, denen 
eine geschlossene Mehrheit von inländischen Unternehmungen 
gegenübersteht, oder ob das ausländische Kapital das Ueber- 
gewicht besitzt und eine monopolartige Stelle entweder schon 
inne hat oder mit Erfolg anstrebt. Diese Gefahr kann auch dann 
vorliegen, wenn auf die vom Ausland finanzierten und geleiteten 
Unternehmungen zwar weniger als die Hälfte der Produktion 
entfällt, es sich bei ihnen aber um geschlossene, einheitlich ge- 
leitete, technisch sehr hochstehende Betricbe mit starkem finan- 
ziellen Rückhalt handelt, denen auf seiten der heimischen In- 
dustrie eine Vielheit von zersplitterten, kleineren oder mittleren 
kapitalschwachen Betrieben gegenübersteht, die sich unter 
Umständen gegenscitig bekriegen. Häufig führt erst die ge- 
meinsame Abwehr gegen das Eindringen ausländischen Kapitals 
unter ihnen einen Zusammenschluß herbei. (Siehe Zigaretten- 
industrie 2°). In der großen Widerstandskraft auf finanziellem 





2) Die Gründung von Urternehmungen im Auslande gehört s_mit zu den 
Faktoren, welche die Konzentration in der Industrie begünstigen, nicht nur 
weil auf diesem Wege die großen Kapitalkonzerne, Trusts usw. auf iremdem 
Boden Fuß fassen, sonaern auch wegen der von ikr ausgehenden Rückwirkung 
auf die inländische Industrie. — So werden die Verhältnisse in der deutschen 
Nähmaschinenindustrie folgendermaßen beurteilt: 

»Die deutschen Fabıiken werden „ich entweder selbst einmal zusammen- 


526 Charlotte Leubuscher, 


und organisatorischem Gebiet wird bekanntlich die Hauptge- 
f>hr des Eindringens von amerikanischem Trustkapital in deutsche 
Industriezweige erblickt 22), das sich zur Erlangung der voll- 
kommenen Beherrschung des Marktes nicht darauf beschränkt, 
eigene Niederlassungen zu gründen, sondern das auch bereits 
bestehende inländische Fabriken aufkauft, entweder um sie 
stillzulegen, oder um sie auf eigene Rechnung weiter zu führen. 
Einer gleichen Taktik hat sich der holländisch-englische Mar- 
garinekonzern bei seinem Vordringen in Deutschland bedient, 
bei dem es ihm gelungen sein soll, 60-70 % der deutschen 
Margarineerzeugung an sich zu bringen. 

Besondere Wachsamkeit erscheint geboten, wenn ausländi- 
sches Kapital sich solcher Produktionszweige zu bemächtigen 
sucht, die ein natürliches Monopol eines Landes darstellen. Hier 
finden wir daher in erster Linie die wenigen Fälle staatlichen Ein- 
greifens gegenüber ausländischer Kapitalbeteiligung in Friedens- 
zeiten. Als beim Zerfall des Kalisyndikatesim Jahre 1909 amerika- 
nisches Kapitalsich anschickte, Einfluß auf unseren Kalibergbau, 
unser Naturmonopol, zu erlangen, entschloß sich die Regierung 
durch Schaffung eines Zwangssyndikates, mit dem sie allerdings 
noch andere Zwecke verfolgte, dieser Gefahr entgegenzutreten?®°). 
Auf der gleichen Linie bewegt sich die neuerdings in Norwegen 
geplante Gesetzgebung, durch welche die Bestimmungen für die 
Konzessionserteilung gegenüber ausländischem Kapital beim Er- 
werb von Wasserkräften, Bergwerken und Gruben außerordentlich 
verschärft werden, um zu verhindern, daß Ausländer sich dauernd 
in den Besitz der natürlichen Hilfskräfte des Landes setzen 28”). 


schließen müssen, nder sie werden einmi 1] von der Singer-Compagnie zusammen- 
geworfen werden. Es wird in gewisser Zeit nicht mehr 24 odeı mehr Fabriken 
geben, es wird die deutsche Nähmaschinen-Kompagnie geben, oder es wird gar 
nur eine Singer Co. geben, die die deutschen Fabriken sich angeglieaert hat. 
(Köhler, Die deutsche Nähmaschinenindustrie, 1913 S. 327.) 

28) Ders., S. 300: »Es gibt heute nur zwei Nähmaschinenproduzenten auf 
der Welt, Amerika und Deutschland. Die amerikanische Kompagnie ist stärker 
an Kapital und orzanisatorischer Macht, leistungsfähiger ist bis heute die deut- 
sche Industrie.« l 

282) Vgl. Giebel, Die Finanzierung der Kaliindustrie, 1912, S. 9 fg., 
100, 103 fg. 

36b) Scit langem haben die skandinavischen Staaten dem Problem der 
əwirtschaftlichen Uebertremdungeę besondere Aufmerksamkeit zuteil werden 
lassen, hauptsächlich indem sie die Niederlassung von Ausländern zum Gewerbe- 
und Handelsbetrieb erschwert haben; vgl. vor allem das schwedische Gesetz 
vom 30. 5. 1916 betr. gewisse Beschränkungen des Rechtes zum Erwerb von 
Grundbesitz und Aktien gewisser Gesellschaften durch Ausländer. 





Die Nationalisierung des Kapitals. 527 


Wesentlich sind femer Art und Umfang der von einer aus- 
ländischen Unternehmung ausgeübten wirtschaftlichen Tätig- 
keit. Fabriken, in denen eine Ware alle Stadien der Bearbeitung 
vom Rohstoff oder Halbfabrikat bis zur Gebrauchsreife durch- 
läuft, sind anders zu beurteilen als reine Handelsniederlassungen, 
die sich zum erleichterten Vertrieb der ım Auslande hergestell- 
ten Erzeugnisse der inländischen Rechtsform bedienen, oder 
auch als Werkstätten, die zwar den volltönenden Namen Fabrik 
führen, in denen aber tatsächlich nur die aus dem Auslande 
eingeführten Teile von Maschinen, Automobilen u. dgl. zu- 
sammengesetzt und Reparaturen vorgenommen werden. Bei 
vollkommener Fabrikationstätigkeit im Inlande wird, selbst 
wenn die Leitung der betreffenden Unternehmung in ausländi- 
schen Händen liegt und Ausländer auf wichtigen Posten be- 
schäftigt sind, von Anfang an ein großer Teil des Ertrages in 
Gestalt von Steuern, Gehältern, Löhnen, Wohnungsmieten, 
Bezahlung von allerhand Hilfsstoffen dem Niederlassungs- 
lande zufließen, und dies Verhältnis wird sich um so mehr zu- 
gunsten des letzteren verschieben, als dieses mit der Entwicke- 
lung eigener Industrien in den Stand gesetzt wird, selbst Ma- 
schinen oder sonstige Materialien bei Neugründungen oder Er- 
weiterungen zu liefern. Hierzu kommt die erziehliche Wirkung, 
die derartige Niederlassungen fortgeschrittener industrieller 
Länder in wirtschaftlich und technisch weniger entwickelten 
Gebieten ausüben. Hat doch dieser Gesichtspunkt einsichtige 
Staatsmänner älterer und neuerer Zeit in bewußter oder unbe- 
wußter Nachfolge Friedrich Lists veranlaßt, die Gründung derar- 
tiger ausländischer Unternehmungen zwecks Entwickelung der 
heimischen Produktivkräfte zu begünstigen. Dashervorragendste 
Beispiel aus neuerer Zeit ist die Industriepolitik des Grafen 
Witte in Rußland. Diese günstigen Wirkungen entfallen natür- 
lich bei unbedeutenden Werkstätten und mehr noch bei reinen 
Vertriebsstellen. Vor allem wird in keiner Weise die gewerb- 
liche Tätigkeit und Fertigkeit des Inlandes gefördert, und ein 
verhältnismäßig geringer Bruchteil des ın solchen Niederlassungen 
angelegten Kapitals kommt der inländischen Volkswirtschaft 
zugute. So ergibt sich die vom Standpunkte der Feinde aller 
aktiven ausländischen Kapitalbeteiligung paradoxe Tatsache, 
daß die ausländischen Gründungen, welche die Investierung 
und Fixierung großer Beträge verlangen, den Interessen des 


528 Charlotte Leubuscher, 


Niederlassungslandes mehr entsprechen können, als Anlagen, 
zu denen verhältnismäßig wenig Kapital gehört, die aber ihren 
Ertrag zum überwiegenden Teile dem Auslande zuführen *). 

Abgesehen von den angeführten von Fall zu Fall wechseln- 
den Besonderheiten sind die letzten Wirkungen der ausländi- 
schen Kapitalbeteiligung an wirtschaftlichen Unternehmungen 
abhängig von der allgemeinen Entwickelungsstufe der beteilig- 
ten Volkswirtschaften und von dem sozialen Aufbau, oder, um 
einen Ausdruck Friedrich Naumanns zu gebrauchen, von den 
Wirtschaftstermperamenten der beiderseitigen Bevölkerung. Das 
gilt ebensosehr von den Wirkungen auf die Volkswirtschaft 
des kapitalexportierenden Landes wie auf die des Niederlassungs- 
landes. | 

Im Gegensatz zu anderen Arten der ausländischen Kapital- 
anlage, vor allem zu der Uebernahme ausländischer Staats- 
anleihen, sind für die Kapitalbeteiligung an wirtschaftlichen 
Unternehmungen des Auslandes im allgemeinen nicht politische, 
sondern wirtschaftliche Gesichtspunkte maßgebend. Sehr oft 
wird der Expansionsdrang des Kapitals, verbunden mit dem Stre- 
ben nach erhöhter Rentabilität, der Wunsch nach Ausdehnung 
der wirtschaftlichen Machtsphäre über die Landesgrenzen hinaus 
die Veranlassung sein, daß tatkräftige Unternehmer und 
Kapitalisten im Auslande Unternehmungen errichten. »Nicht 
aus dem Bedürfnis, Kapital an sich anzulegen, gehen solche 


29) Die verschiedene Wertung, die den mit ausländischem Kapital arbeiten- 
den Gründungen für das Niederlassungsland zukommt, hat gleichfalls in der 
russischen Kriegsgesetzgebung in der verschiedenen Behandlung, die den mit 
feindlichem Kapital arbeitenden Unternehmungen je nach ihrer wirtschaft- 
lichen Tätigkeit zuteil wird, einen charakteristischen Ausdruck gefunden. 
Danach wird: ı. Über industrielle Unternehmungen, an denen feindliche Aus- 
länder beteiligt sind, sowie über russische Aktiengesellschaften jeder Art, deren 
Aktien sich ganz oder zum Teil in Händen feindlicher Ausländer befinden, die 
Staatsaufsicht verhängt. 2. ücber Handelsunternehmungen, die feindlichen 
Ausländern oder einer im feindlichen Ausland errichteten Gesellschaft zustehen, 
wird die Schließung und Liquidierung angeordnet und zwar unter äußerst nach- 
teiligen Bestimmungen für die Beteiligten. 3. Eine Sonderstellung nehmen die 
Maßnahmen gegen den Grundbesitz feindlicher Ausländer ein, welche nach den 
Worten der Denkschrift des deutschen Auswärtigen Amtes soffen den Charakter 
einer Maßnahme zur Ausrottung des Deutschtums überhaupt aus dem russischen 
Wirtschaftsleben« tragen. Abgesehen von der Untersagung des Erwerbs und der 
Verwaltung von Grundstücken durch feindliche Ausländer, durch die auch 
industrielle und kommerzielle Unternehmungen getroffen werden, richtet sich 
diese Maßnahme vor allem gegen den ländlichen Grundbesitz feindlicher Na- 
tionalitäten und scheidet daher für unsere Betrachtung aus. 


Die Nationalisierung des Kapitals. 529 


Unternehmungen hervor, obgleich solches nötig ist, und obgleich 
seine internationalen Wirkungen in Bilanz, Warenausfuhr usw. 
nicht ausbleiben, sondern aus der treibenden Kraft der Unter- 
nehmungslust, welche Hindemisse bezwingt, die sich der Er- 
weiterung daheim entgegenstellen« 30%). Man kann daher sagen, 
daß von allen Arten der ausländischen Kapitalanlage die Be- 
gründung von Unternehmungen, mit der persönliche Arbeit 
seitens der Gründer verbunden ist, diejenige ist, welche die 
Entwickelung des Gläubigerstaates zum Rentnerstaat am wenig- 
sten begünstigt. Sie wird deshalb in erster Linie von wirtschaft- 
lich rührigen und aufstrebenden Völkern gepflegt, z. B. von den 
Deutschen und den Amerikanern. Namentlich bei den Aus- 
landsgründungen der Amerikaner treten der Expansionsdrang 
des Kapitals und die Arbeitsenergie der Unternehmer als be- 
wegende Kräfte klar zutage, da sie von einem Lande ausgehen, 
das selbst bisher in hohem Maße dem Auslande verschuldet war, 
und dessen reiche, noch unerschlossene Hilfsquellen dem eigenen 
wie dem fremden Kapital unüberschbare Gelegenheit zu ge- 
winnbringender Anlage darbieten. Trotzdem haben amerikani- 
sche Unternchmer in den beiden letzten Jahrzehnten industrielle 
Gründungen nicht nur in den wirtschaftlich rückständigen Ge- 
bieten des eigenen Kontinents, sondern auch in den kapital- 
reichen europäischen Ländern vorgenommen, so daß man um 
die Wende des Jahrhunderts namentlich in England von einer 
amerikanischen Gefahr zu sprechen begann ?!), und im Jahre 
Igoo der amerikanische Bankdirektor Vanderlip eine Schrift 
unter dem bezeichnenden Titel veröffentlichte »The American 
Commercial Invasion of Europe«, in der er es als wahrscheinlich 
bezeichnete, »daß amerikanisches Kapital ein wichtiger Faktor 
auf dem europäischen Markte werden wird« (S. 41). 

Die enge Verbindung mit persönlicher Arbeit von Ange- 
hörigen des Gläubigerlandes, in der die Kapitalanlage in ausländi- 
schen Unternehmungen häufig auftritt, bringt es mit sich, daß 
die Investierungen vorzugsweise in solchen Industriezweigen 
erfolgen, in denen das kapitalexportierende Land eine besondere 
Fertigkeit besitzt, wenn bestimmte Verhältnisse (Zölle, Tarife, 
Patentgesetzgebung) es zweckmäßig erscheinen lassen, die Fabri- 





30) Sartorius von Waltershausen, l. c. S. 171. 
31) Vgl. Sartorius von Waltershausen, 1. c. S. 173 fg., P. Dehn, Weltwirt- 
schaftliche Neubildungen, S. 287. 


530 Charlotte Leubuscher, 


kation ins Ausland zu verlegen, anstatt diese Ueberlegenheit 
auf dem Wege der Warenausfuhr auszunutzen. Ein großer 
Teil der mit ausländischem Kapital arbeitenden Unternehmungen, 
die sich heute in Deutschland befinden, geht in die Zeit zurück, 
in der Deutschland auf industriellem Gebiet noch nicht den 
Vorsprung der älteren Industriestaaten England, Frankreich, 
Belgien, eingeholt hatte. So findet die uns heute wie ein Ana- 
chronismus anmutende Tatsache, die erst bei Kriegsausbruch 
weiteren Kreisen zum Bewußtsein kam, daß verschiedene deut- 
sche Großstädte, wie Berlin, Frankfurt a. M., Hannover, eng- 
lische Gasanstalten besitzen, ihre Erklärung darin, daß die 
Gasbeleuchtung eine englische Erfindung ist und zuerst in 
England angewendet wurde. Englisches Kapital unternahm es 
in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts, in außerenglischen 
europäischen Großstädten, in Deutschland zuerst 1825 in Han- 
nover, 1828 in Berlin, Gaswerke zu errichten, und erst der Welt- 
krieg hat den Rest früherer englischer Vorherrschaft auf diesem 
wichtigen Gebiete der gemeinnötigen Bedarfsdeckung aus Deutsch- 
land hinausgefegt. Ebenso ist die starke Beteiligung französisch- 
belgischen Kapitals in unserer Spiegelglasindustrie veranlaßt 
durch den frühzeitigen hohen Grad technischer Vervollkommnung, 
den diese Luxusindustrie bei unseren westlichen Nachbarn 
erlangt hat ??). Auch bei den aus neuerer Zeit stammenden 
Kapitalanlagen spielt das technische Moment für die Wahl des 
Industriezweiges cine große Rolle. So ist es den hervorragenden 
Leistungen der deutschen elektrischen und chemischen Industrie 
zuzuschreiben, daß deutsches Kapital Unternehmungen dieser 
Industriezweige in allen Erdteilen finanziert hat. Der Bau der 
Londoner Untergrund-Röhrenbahn wurde im Jahre 1900 einem 
amerikanischen Syndikat übertragen, weil die amerikanischen 
Großstädte in diesem Zweige des Verkehrswesens größere tech- 


s2) Selbstverständlich sind nicht alle ausländischen Kapitalbeteiligungen 
in Deutschland auf diese Ursache zurückzuführen. Ein beträchtlicher Teil aus- 
ländischen Kapitals in deutschen Industrieunternehmungen ist während des 
gewaltigen industriellen Aufschwungs Ende der goer Jahre, angelockt durch 
die hohe Rentabilität, nach Deutschland geströmt. (Vgl. Hobson, 1. c. S. 157.) 
Ueber die Einführung von deutschen Bergwerks- und Hüttenaktien an der Pa- 
riser Börse im Jahre 1900 vgl. Eberstadt, Der deutsche Kapitalmarkt, 1901, 
S. 206. Ueber die Beteiligung französischen Kapitals an deutschen Montanunter- 
nchmungen vgl. außerdem E. Kaufmann, Archiv für Sozialwissenschaft und 
Sozialpolitik 1909, »Die Entwicklung der französischen Volkswirtschaft in den 
letzten Jahrzehnten unter besonderer Berücksichtigung der Kapitalanlage«. 

33) Vgl. Hobson, 1. c. S. 153. 





Die Nationalisierung des Kapitals. 53I 


nische Erfahrung aufzuweisen hatten als der älteste europäi- 
sche Industriestaat 33). Ebensowenig ist es ein Zufall, daß sich 
amerikanisches Kapital im Auslande zu seiner Betätigung in erster 
Linie die Herstellung von Werkzeugmaschinen und sonstigen 
arbeitsersparenden Vorrichtungen, wie mechanischen Kontroll- 
kassen u. dgl. wählt, Industriezweige, die in den Vereinigten 
Staaten zu großer Vollkommenheit ausgebildet worden sind. 

Der enge Zusammenhang, der zwischen der Errichtung von 
industriellen Untemehmungen im Auslande und dem technischen 
Können des Gründungslandes besteht, ist zweifellos eine Haupt- 
ursache dafür, daß diese Unternehmungen meist eine sehr hohe 
Stufe der Betriebstechnik und -Organisation aufweisen. Sie 
können daher unter Umständen für eine mit veralteten Methoden 
arbeitende einheimische Industrie ein Ansporn zur Einfüh- 
rung wirtschaftlich vorteilhafter Neuerungen sein, sofern sie 
nicht über so überlegene technische und finanzielle Kräfte ver- 
fügen, daß die inländische Industrie dem Wettlauf nicht stand- 
zuhalten vermag und allmählich von den Ausländern verdrängt 
oder aufgesogen wird. 

Sind die Amerikaner das typische Beispiel eines Volkes, 
dessen ausländische Kapitalanlagen aus dem Ausdehnungs- 
bedürfnis seines Kapitals und dem Tatendrang seiner wirt- 
schaftlichen Führer herausgeboren werden, so sind als ihr Gegen- 
stück die Franzosen zu nennen, die der Wunsch nach sicherer 
und rentabler Kapitalanlage in erster Linie zum Exportkapi- 
talısmus veranlaßt. Das gilt in zunehmendem Maße auch für das 
in wirtschaftlichen Unternehmungen des Auslandes angelegte 
französische Kapital. Die Franzosen haben diesen Zweig der 
ausländischen Kapitalanlage wie schon in früheren Jahren, so 
namentlich wiederum im letzten Jahrzehnt vor Kriegsausbruch 
lebhaft betrieben, aber, wie ein guter Kenner der französischen 
Verhältnisse, Kaufmann, im Jahre ıgıı in einem Aufsatz über 
den französischen Kapitalexport urteilte: »Im Gegensatz zu den 
älteren industriellen und Handelsbeteiligungen, mit denen persön- 
liche Mitarbeit verbunden ist, handelt es sich lediglich um Beteili- 
gungen am Aktienkapital u. dgl., also um sogen. »passives Unter- 
nehmungskapital«®*). Die Folge davon ist, daß die Unternehmun- 
gen, die im Auslande mit Hilfe französischen Kapitals gegründet 
worden sind, entweder von Angehörigen des Niederlassungs- 
3) Die Bank ıgII, S. 339 fg. 


532 Charlotte Leubuscher, 


landes, oder, was häufiger ist, da das französische Kapital meist 
wirtschaftlich rückständige Länder aufgesucht hat, von Ange- 
hörigen dritter Nationen, Deutschen, Engländern, Amerikanern, 
geleitet werden, und daß auch diese Art der ausländischen 
Kapitalanlage in Frankreich die allgemeine Entwickelung zum 
Rentnerstaat fördert °°). 

Die Tatsache, ob die Kapitalanlage in ausländischen Unter- 
nehmungen in Verbindung mit persönlicher Arbeit von Ange- 
hörigen des kapitalexportierenden Landes auftritt, und ob diese 
nicht nur dauernd die Verwaltung über das investierte Kapital, 
sondern auch ihre Nationalität festhalten, kann als der wich- 
tigste Punkt dafür bezeichnet werden, ob unter den Wirkungen, 
die aus dieser Art der Kapitalverwendung für das kapitalexpor- 
tierende Land entspringen, Licht oder Schatten überwiegt: 
neben der Verstärkung der Aktivseite der Handelsbilanz, die 
in jedem Falle erfolgt, Erweiterung des Absatzgebietes für heimi- 
sche Produkte, Ausdehnung des wirtschaftlichen, oft auch des 
politischen Machtbereiches auf der einen Seite, Verlust an heimi- 
schem Volkstum und tüchtigen Arbeitskräften, Bereicherung 
fremder Völker und Heranziehung später unbequemer Kon- 
kurrenten auf der anderen Seite. 

Von nicht geringerer Bedeutung als der volkswirtschaft- 
liche Charakter des Gläubigerlandes ist die wirtschaftliche 
Aktivität des Niederlassungslandes für die letzten Wirkungen 
des in Frage stehenden Phänomens. Je stärker in einem Volke 
der Wille zu eigenem wirtschaftlichen Aufstiege lebt, je größer 
seine Begabung für gewerbliche Tätigkeit ist, je eher es ihm 
vor allem gelingt, sich in einem widerstandsfähigen, soliden 
Bankwesen ein starkes volkswirtschaftliches Rückgrat zu schaffen, 
um so weniger wird es auf die Dauer die Abhängigkeit von aus- 
ländischen Kapitalmächten dulden und sich bald die Fertigkeiten 
und Kenntnisse aneignen, die mit dem ausländischen Kapital 


35) Ein Franzose zieht folgenden Vergleich zwischen der französischen nnd 
der englischen Kapitalbeteiligung an ausländischen Unternehmungen: »Quand 
on compare notre manière de faire des placements à l'étranger à celle des Anglais, 
on est frappé d’une différence; les Anglais créent des sociétés eux-mêmes, ils 
les dirigent eux-mêmes, ils ymettent un personel anglais, des directeurs anglais. 
En un mot les Anglais ne se contentent pas de payer, ils exploitent aussi, ıls 
cournissent avec leurs capitaux leur activité. Les Francais se cantonnent au 
fontraire dans un rôle de tailleurs de fond de commanditaires.e (Lysis, Contre 
POligarchie Financière en France, Paris 1908. Zitiert von Kaufmann, Archiv, 
S. 475.) 


Die Nationalisierung des Kapitals. 533 


in das Land verpflanzt worden sind. Als gegen Ende der Joer 
Jahre Deutschland durch den Uebergang zu Schutzzöllen die 
Einfuhr englischer Eisenerzeugnisse erschwerte, gründeten 
englische Unternehmer mit englischem Kapital im Gebiete der 
deutschen Schwerindustrie zur Umgehung des Zolles Werke, 
denen ein Anteil an der Entwickelung einer deutschen boden- 
ständigen Industrie nicht abzusprechen ist 3%). Diese englischen 
Kapitalanlagen führten aber so wenig zu einer dauernden Be- 
herrschung und Unterdrückung des deutschen Wirtschafts- 
lebens, daß heute vielmehr die Leistungen der deutschen Eisen- 
industrie in England Neid und Besorgnis erregen. Die Fabrik- 
filialen im Auslande begünstigen, wie Sartorius von Walters- 
hausen bemerkt (S. 172), in ihrem weiteren Verlauf die fremden 
Volkswirtschaften und üben somit eine ähnliche Wirkung aus 
wie die Ausfuhr von Werkzeugmaschinen. 

Zu einer Gefahr droht das Eindringen ausländischen Ka- 
pitals einmal solchen Ländern zu werden, die, wirtschaftlich 
rückständig und kapitalarm, zu ihrer Entwickelung ausländi- 
schen Kapitals bedürfen, deren Bevölkerung aber nicht genügend 
wirtschaftliche Energie und Fähigkeiten besitzt, um sich all- 
mählich auf eigene Füße zu stellen und das ausländische Kapital 
den eigenen Interessen dienstbar zu machen, ferner aber auch 
Völkern, die den Zenit ihres wirtschaftlichen Aufstieges über- 
schritten haben, und deren Unternehmungsdrang erlahmt ist. 
Hier ist es jedoch weniger das ausländische Kapital, das die 
Selbständigkeit des Landes bedroht, als ausländischer Unter- 
nehmungsgeist und ausländische Arbeitskraft. 

Wie bei den meisten Erscheinungen des Wirtschaftslebens 
ist ein absolutes Werturteil über den Nutzen oder Schaden der 
ausländischen Kapitalbeteiligung an wirtschaftlichen Unter- 
nehmungen nicht angängig, diese erfordert vielmehr von Fall 
zu Fall erneute Prüfung und Betrachtung im Zusammenhang 
mit den besonderen und allgemeinen konkreten Verhältnissen, 
unter denen sie jeweils auftritt; die größte Bedeutung kommt 
hierbei der allgemeinen Entwickelungsstufe der beteiligten 
Volkswirtschaften und dem wirtschaftlirhen Charakter ihrer 
Bevölkerungen zu. Die Befürworter einer radikalen Ausmerzung 
aller ausländischen Kapitalbeteiligungen, in denen sie Schäd- 
linge der heimischen Volkswirtschaft erblicken, übersehen ebenso 
3) Vol, P. Dehn, »Weltwirtschaftliche Neubildungen«, S. 48. 


534 Charlotte Leubuscher, Die Nationalisierung des Kapitals. 


wie die extremen Gegner des Exportkapitalismus der Gläubiger- 
staaten die alte Wahrheit, die tür das volkswirtschaftliche Gebiet 
nicht weniger gilt als für das privatwirtschaftliche, daß wirt- 
schaftliche Beziehungen, bei denen der Nutzen dauernd aus- 
schließlich auf der einen Seite liegt, in sich selbst den Keim der 
Vernichtung tragen. Auch die Betrachtung der ausländischen 
Kapitalanlage, des scheinbar unpersönlichsten Vorganges inner- 
halb der Weltwirtschaft, ergibt, daß im Kampfe um den wirt- 
schaftlichen Aufstieg und um die wirtschaftliche Macht letzten 
Endes die persönlichen Eigenschaften eines Volkes, seine wirt- 
schaftliche Energie und Arbeitsamkeit, seine kaufmännischen und 
organisatorischen Fähigkeiten, seine wissenschaftliche und tech- 
nische Schulung über den Erfolg entscheiden. 








535 


Die romantische Geldtheorie. 
Von 
MELCHIOR PALYI. 


(Schluß *). 
Il. 


Ein »Gleichgewicht« zwischen Papier und Metall ist also das Ziel 
der ökon mischen Entwicklung, das Ideal der Währung; Papier und 
Metall sind gleich wesentliche Bestandteile ds Adam Müller- 
schen Geldwesens. Diese Anschauung tritt uns schon in seiner Lehre 
von der Münzprägung entgegen. Zwar liegt das Wesen der Münze 
nach seiner Ansicht nicht im Metall, sondern im »Worte«, im »Kredi- 
tive des Stempels; als prakt'sche Konsequenz folgert er hieraus je- 
doch nur, daß der Staat das Recht habe, das Münzmonopo zu bean- 
spruchen und eine Prägegebühr zu erheben (El. II. 310, 315) und be- 
tont nachdrücklich, daß er weder dem Ausmünzen unterwertiger Geld- 
Stücke, oder von Scheidemünzen in übergroßer Menge das Wort reden 
(EI. II. 300 f., 337), noch an die Möglichkeit einer eigenmächtigen Fest- 
setzung der Münzpreise glauben möchte. »Weder der Marktpreis noch 
die Staatsgewalt, unabhängig für sich, bestimmt den Münzpreis« 1%), 
Vielmehr ist er der Ueberzeugung — geringfügige Schwankungen 
seiner Ansich‘en wollen wir lieber unberührt lassen —, daß der Wert 
der Münze ein Produkt aus der Wechselwirkung dreier Faktoren sei: 
des Nominalwertes, den der »Souverän« bestimmt, des National- 
markt- und des Weltmarktwertes; die zwei !etzteren zusammen er- 
geben den »Marktwert«, der dem »nominelen« gegenübersteht und 
also bei der Festsetzung der Münzpreise unbedingt berücksichtigt 
werden muß 193), 

Was für jede einzelne Münze, das gilt auch für das Ganze des 
Geldwesens selbst. Auch da steht auf der einen Seite der Staat, die 
»Nationalität«, und auf der anderen Seite der »kosmopolitische Markt«, 
die nun miteinander zu »versöhnen« sind. Edelmetall und Papier- 
ged sind polare Gegensätze, ihre Einheit darf folglich auch nur eine 


*) Vgl. Bd. 42, Heft 1, S. 89 ff. 
102) Theorie des Geldes, 212 f; vgl. auch 214 ff. 
10) EI. II. 279£., 287 ff., 292, 303. — Theorie des Geldes, 209 f. 


536 Melchior Palyi, 


polare sein, in der die Gegensätze nicht aufgehoben, sondern eben 
versöhnt werden; der reine Metallismus, der nichts anderes kennt, als 
Metallgeld, ist ebenso falsch, wie die entgegengesetzte Annahme, »es 
gebe nur Papiergeld und dieses könne allein und völlig unabhängig 
bestehen«. »Endlich geht ihr (der Theorie) das Licht... . auf; sie sieht 
die beiden Pole in allen Farben des Lebens regieren ; das Geld erscheint 
ihr als die allen Gütern innewohnende gesellige Eigenschaft, . . . als 
die Richtung nach dem Mittelpunkt, welche die beiden gleich not- 
wendigen Pole nur hervorstehend äußern« 1%). Metall und Papier 
sind also korrelat, sie bedingen einander gegenseitig — so dürfen 
wir wohl das Argument, das in diesen Worten für die romantische 
Geldlehre steckt, formulieren —, sie bilden einen Spezialfall des 
Grundverhältnisses Sache — Person. Das korrelate Verhältnis der 
beiden »Geldpole«, deren Einheit, Mittelpunkt, die Idee des Geldes 
ist — diese Einheit ist eben die »bürgerliche Gesellschaft« —, gilt na- 
türlich für alle Zeiten, selbst wo es kein Geld, oder auch keinen Tausch- 
verkehr gab, und wo sie sogar in einem »viel gerechteren Gleichge- 
wichte« standen. Müller ist nämlich überzeugt, daB »in allen Fällen, 
wo gar kein oder kein genügendes sächliches Aequivalent vorhanden 
gewesen, mit der persönlichen Kraft des Wortes und des Glaubens, 
oder doch der Arbeit, des hilfreichen Beistandes selbst bezahlt wor- 
den sei« (Th. d. Geldes, 202). 

Und dieses Argument fließt mit einem zweiten zusammen, dem 
nationalen. Das tiefste, was aus seiner Staatslehre zu holen ist, ist 
der Gedanke, daß Nation und »Menschheit« (wohl im Sinne der über 
alle Nationen stehenden Kulturgemeinschaft) einander gegenseitig zur 
Voraussetzung haben. Er betont nicht bloß die notwendige Existenz 
einer Mehrheit von Nationen oder Staaten — Staat und Nation sind für 
ihn im Grunde identisch (El. I. 115, III. 197, 224) —, damit siesichihrer 
selbst als Persönlichkeiten bewußt werden können, sondern glaubt auclı 
ihre Einheit in »Christus«, In einem religiös gefärbten Staatenbund, ge- 
legentlich in der katholischen Kirche selbst, finden zu können 1%). 
»Wir fühlen, es gibt keinen bloßen, reinen Patriotismus mehr, wie ihn 
die Alten nährten: ein gewisser Kosmopolitismus geht ihm zur Seite 
und mit Recht; denn es kommt auf zwei Dinge an: auf das Vater- 
land und auf den Staatenbund, deren eins, abgesondert für sich, ohne 
das andere nicht mehr begehrt werden kann« (El. III. 296). So wie 
nun der Einzelstaat ım Nationalgeld sein Symbol findet, so folgt aus 
der Tatsache einer Vielheit besonderer Staaten die Unentbehrlich- 

104) Verm. Schr. I. 389 f. Vgl. Theorie des Geldes S. 158. 

105) Vol. Th. d. Geldes, 94 f., El. I. 107, 112, 115 f., 244 ff., 271 $.,,283, 286, 
II. 146, 279, III. 126, 212, 214, 220—25, 271 ff. »Friedrich II.e 84, 276, 233, 
usw, — Die nationale Idee Müllers, überhaupt seine Stellung in der Ge- 
schichte des historischen Denkens, ist von Meinecke und Dombrowsky 
eingehend gewürdigt worden, ohne freilich das Problem erschöpft zu haben. 
Besonders die eigentlich romantischen Voraussetzungen der ganzen Lehre sind 
noch in wesentlichen Stücken ungeklärt geblieben, was übrigens (trotz 
Haym, Ricarda Huch, Albert Poctzsch, usw.) auch für dic Geschichts- 
philosophie und Staatslchre anderer Romantiker gilt. 


Die romantische Geldtheorie. 537. 


keit des Metalls 1%). »Gäbe es nur einen einzigen in sich konsolidierten 
Staat, so würde offenbar Papiergeld vollkommen hinreichen; da es 
aber mehrere Staaten gibt und da; Nationalwort jedes einzelnen . 
von dem Nationalworte des andern abweichen kann, wie die Wech ;el 
und anderweitigen Papiere mehrerer Handelshäuser in demselben 
Staate an Kredit sehr verschieden sein können: so treten hier auf das 
natürlichste jene konsequenten sich selbst gleichen, teilbaren, beweg- 
lichen Waren ein, welche wir »edle Metalle« nennen. Diese sind das 
große Universalwort, welches in allen Sprachen verstanden wird, 
und welches der Erdkörper selbst... . in unbestechlicher Gleichförmig- 
keit, den Menschen zur Vermittlung ihrer universal-ökonomischen 
Angelegenheiten in die Hände gibt. Alles National-, Land- oder 
Papiergeld muß auf dieses Universalgeld bezogen, muß an den unbe- 
stechlichen irdischen Kredit desselben angeknüpft werden.« (El. III. 
164 f.). Wie das Zentrum des Staates, nämlich die »Idee des Souveräns« 
durch das nationale Geld, so werde der Mittelpunkt der Menschheit, 
die Idee Gottes, durch die edlen Metalle »repräsentiert«: Gold ist 
das »reale« Band, wie Gott das »ideelle«, an den sich »alles Nationale 
knüpft«, um in »die völker-ökonomische Verbindung und Verschmel- 
zung der einzelnen Nationen auf der Erde« einzutreten 1%). 

Kaum ist wohl je ein Verkünder der auri sacra fames sn weit 
gekommen, um im Golde ein irdisches Gegenstück Gottes zu er- 
blicken, — und bezeichnend ist es für den sozialen Charakter des 
Müller schen »Organismus«, daß er es tun konnte. Selbst das 
verschwindet jedoch neben dem Aufwand an Beredsamkeit, der 
Fülle von Wendungen, mit denen er die Papierwirtschaft zu rechtfer- 
tigen sucht. Unermüdlich kommt er immer wieder darauf zurück. 
daß der selbständigen »Nationalität« in jedem Staate ein eigenes 
Papiergeld Ausdruck verleihen muß. Es war also eine starke Ueber- 
treibing, wassGentz ihm nach Erscheinen der »Elemente« schrieb: 
»Sie sind auf die einzig wahre und gründliche Ansicht des Verhält- 
nisses zwischen Metallgeld und Papiergeld gekommen, indem Sie 
jenes für das Weltgeld, dieses für das Nationalgeld erklären. Und 
dennoch habe ich in dem Ganzen Ihrer Burstellunz noch eine etwas 
zu fühlbare Vorliebe für das Metallgeld bemerkt. Sie haben dasselbe 
an verschiedenen Orten und besonders in der 2T. Vorlesung in einem 
so reizenden Lichte dargestellt 1°8). . . .«, daß, fügen wir hinzu, jede 
Spur von einer Aehnlichkeit mit der analogen Konstruktion Fich- 
tes verschwand. 





108) Friedrich Il. S. 276 f.; E. III, 172 ff., 187, 192 ff., 196 f., 200, 202: 
Th. d. Geldes 88 ff. 

107) El. III. 165 f. — Vg. auch ibid., 169; Staatsanzeigen II. S. 84; Th. d. 
Geldes, 284—991. Stephinger (op. cit. S. ı50f.) glaubt, M. sei durch den 
Wohlklang der Alliteration zu »Spiclereiene wie »Gott und Golde verlockt, 
wie er auch alles »Zentrieren und Polarisierene für lauter Gleichnisse h; àlt, 
liefert aber damit nur den Beweis eines bedauerlichen Mangels an Verständ. 
nis für romantische Eigenart. 

108) Wittichen II. 420. 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 2. 35 


538 Melchior Palyi, 


Und doch ist die Aehnlichkeit nicht zu verkennen. Beiden schweb- 
te das Ideal eines »geschlossenen« Staates vor, nur ist die Ab- 
schließung, der Verschiedenheit ihrer Ideale entsprechend, ver- 
schieden gedacht. Fichtes Staat will die »Rechtsidee« — die für 
einen jeden, der aus der Schule des Naturrechts kam, mit der Ge- 
rechtigkeit identisch ist — verwirklichen und bedarf zu diesem Zwecke 
der ökonomischen Abschließung, während den Gegenstand roman- 
tischer Sehnsucht ein Nationalstaat bildet, der zwecks Wah- 
rung seiner nationalen Eigenart sich von fiemdem Wesen geistig, kul- 
turell abzuschließen hat. Das würde eine gründliche Verschieden- 
heit in den praktischen Postulaten zur Folge haben, wäre bei A d a m 
Müller das Wirtschaftsleben nicht auch ein integrierender Bestand- 
teil des nationalen, und müßte nicht folglich eine ökonomische Ab- 
sonderung mit der politischen, juristischen usw. Hand in Hand gehen. 
So braucht er aber ein Nationalgeld als Mittel zur Verwirklichung 
und zugleich als Symbol der nationalen Eigenart seines Staates; aus 
eben dem Grunde zog er das Silber »im Ganzen« dem Golde als Wäh- 
rungsmetall vor, denn das Silber sei »seiner Natur nach träger« (EL 
II. 308) — er zog gelegentlich auch eine Art Doppelwährung ohne gesetz- 
liche Fixierung des Wertverhältnisses dem Monometallismus vor 19) —, 
und trat, obwohl Deutschland damals noch überwiegend agrarisch war, 
für Schutzzölle in die Schranken 11°), Der schristliche« Staat muß sselb- 
ständig vorzüglich in Rücksicht jener Urbedürfnisse sein, damit er, wo es 
darauf ankommt, seine Eigentümlichkeit behaupten, also der Nachbaren 
auch entbehren könne. . .e (E1. III.90). Und um den Verkehr mit dem 
Auslande nicht allzusehr zu erleichtern, »würde eine kluge Abwei- 
chung der Nationalmünze von dem Weltmünzfuße, wenn es einen sol- 
chen geben könnte, sich nicht bloß rechtfertigen lassen, sondern sogar 
notwendig sein« 1). — Der Müllersche Einzelstaat hängt aber 
ganz anders tief mit allen anderen zusammen, wie es bei Fichte 
der Fall war, und dieser tiefe Zusammenhang, die gegenseitige Ab- 
hängigkeit der Nationen voneinander, wird, wir wissen es bereits, 
durch das Edelmetall dar- und hergestellt. Die Metallbasis ist also 
für den Romantiker keineswegs eine zufällige Tatsache, sondern 
geradezu eine Naturnotwendigkeit; ihr Verhältnis zu dem Nominal- 
wert der Münze und zu dem Papiergeld muß mit Rücksicht auf den 


10) Vgl. El. II. 283 ff., 306ff. Er hat auch schon das Argument der 
Bimetallisten von den »zwei sich gegenseitig beschränkenden und regulieren- 
den Metalleng, die ähnlich wirkten wie die zwei Pendeln bei den sneueren astro- 
nomischen Pendeluhren« (El. II. 284). 

110) EI. II. 325, III. 79, 213 ff.; Verm. Schr. I. 76 ff.; Briefw. 383. — 
Gestützt auf gelegentliche Aeußerungen in den »Elementen« (I. 19, II. 212, 235 £, 
323 Í., III. 52), die sich im Grunde nur gegen die sunbedingte Handelssperte® 
(Kontinentalsperie) richten, hates Brüggemann (Der Deutsche Zollverein, 
1845) fertig gebracht, in M üller einen Vertreter der Freihandelsdoktrin zu ent- 
decken. Müller warin der Tat einer der eifrigsten Gegner der Zollunionsbe- 
strebungen Preußens, vornehmlich aber aus politischen Gründen, aus dem An- 
tagonismus des katholischen Oesterreich gegen seinen Rivalen heraus. 

ut El. II. 287. 





Die romantische Geldtbeorie. 539 


Geldbedarf des Landes, sowie auf dessen internationale Beziehungen 
ermittelt werden 112), Damit kommen wir zu dem Punkte, wo sich 
die Wege der romantischen Geldlehre von einer »staatlichen Theo- 
rie« grundsätzlich trennen. Eine staatliche Theorie des Geldes ist die 
Fichtes, und zwar eine konsequent durchgeführte: Fichte 
ist sich bewußt, daß nur ein vom auswärtigen Verkehr völlig eman- 
zipierter Staat zu Gelde machen kann, was ihm beliebt, was er nämlich 
als Zahlungsmittel »proklamiert«; nur im omnipotenten geschlosse- 
nen Handelsstaate kann also das »Idealgeld« verwirklicht werden. Nun 
ist es zwar auch bei Adam Müller der »Staat«, der aus dem 
Gelde »hervorlächelt«; nur meint er damit keineswegs, daß das Wesen 
des Geldes im »gesetzlichen Zahlungsmittel« liege. Sein Staat, das 
»Ganze des bürgerlichen Lebens selbst« ist zwar »Selbstzweck« (Ele- 
mente I, 68), und als solcher nach innen omnipotent, nach außen 
jedoch, wie gesagt, in den mannigfachsten Rücksichten durch die 
übrigen Staaten bedingt, an die er sich mehr oder weniger anpassen 
muß. Dann ist aber dieser romantische Staat oder Nation ein sehr 
eigenartiges Etwas: er ist »mit dem einzelnen Menschen an Art und 
Qualität gleich und nur an Größe von ihm verschieden«, die verweiterte 
Persönlichkeit« 1132), deren Wesen in ihrem »Verhältnis« zu anderen, 
also in ihrem sozialen Charakter besteht und somit ist er nichts an- 
deres, als die innige »Verbindung und Wechselwirkung« der Individuen, 
der »Raum- und Zeitgenossen«. Folglich ist schon in den »blühenden 
Familien des Adels ein Staat gegeben 114) und in dem bloßen wirt- 
schaftlichen Verkehr, wenn es ihm nur nicht an der »Garantie der 
Dauer« fehlt, eine Nation, —esist kein Zufall, daß er gelegentlich das 
Wirtschaftsleben mit dem sozialen schlechthin zu identifizieren scheint 
und den Staat aus der Wechselwirkung der ökonomischen »Funktionen« 
als ihre ssphärisch geordnete Totalität« hervorgehen läßt (z. B. Th.d. 
Geldes, S. 138, 237), — und folglich ist alles Geld oder geld- 
schaffend, was ihm als eine Erscheinungsform von »Wechsel- 
wirkungen« gilt, der »Kredit« sowohl als auch das »Wort« des 
Staates, das Gesetz (die letzten Endes natürlich eine or- 
ganische Einheit bilden 15). Demnach wären auch »Wechselbriefe 


u) Vgl. El. II. 301 f.; Th. d. Geldes 212 f. 

113) Th. d. Geldes 22, 137 f., 190, 237 f. und »Staatsanzeigen« I. 373 ff. 

14) Die »Familie« ist ihm der Typus der wahren »Persönlichkeit« und vom 
Staate ebenfalls in nichts, es sei denn an Größe, verschieden (EI. III. 266). 

us) Vgl. El. III. 162 ff. (Kredit und Wort sind identisch, denn der Kredit 
ist nichts anderes, als der Glaube an die Gesellschaft, an den Staat, und der 
Kredit der Einzelnen hat den »sder Gesamtheit oder des Gemeinwesens« zur 
Voraussetzung). Die Identität folgt wohl daraus, daß der Kredit nichts 
anderes ist als der Ausdruck für den Glauben an die »persönliche Bedeutungs«, 
was beim Staate als der »persona insonderheit« durch das Gesetz zum Ausdruck 
kommt (Th. d. Geldes 2 56). — Man trifft wohl das Richtige mit der Annahme, 
daß die Klasse von »sKredittheoriene, die das wesentliche Prinzip des Kredit- 
verkehrs in dem auf seiten des Gläubigers kausal wirkenden Vertrauens- 
moment finden zu können glaubt (Rau, Nebenius, Gust. Cohn u. a.), 
in der Romantik wurzelt (vgl. oben Anm. 71). 

3 5* 


%40 Melchior Palyi, 


S" atzkammerscheine und jede Art des negotiablen Papieres« (Ges. 
Schritten, S. 85) Geld »in gewissem Sinne«; nur haben sie nicht jene 
Garantie der Dauer in vollem Maße, die nur durch die Verbindung der 
verschiedenen Generationen erreicht werden .kann 48). Und zwei Dinge 
sind es, die diese Verbindung, die Grundlage allen sozialen Daseins, öko- 
nomisch vermitteln: das edle Metall und das »Wort«. »Das Wesen des 
zirkulierenden Mediums ist, daß es allgemein gilt, und daß es immer 
gilt, daß es alle einzelnen Personen umfaßt und überlebt. Das edle 
Metall hat von der Natur diese Ueberlegenheit über die Sachen; der 
Gesamtkredit hat durch die ebenso mächtige menschliche Freiheit diese 
Suprematie über alle Personen und Persönlichkeiten. Was also als 
Prinzip und Motiv der gesamten ökonomischen Bewegung eines Landes 
oder als Zirkulationsinstrument desselben angesehen werden soll, 
muß durch die Natur, oder durch den Gesamtkredit des Landes, 
den das Gesetz ausspricht, oder eigentlich durch beide dazu erhoben 
worden sein« (Ges. Schr. 85). Durch Natur oder durch Gesetz wird 
also etwas zum Gelde erhoben; nur darf das Gesetz nicht in dem 
exakt-juristischen Sinne des Wortes verstanden werden 47), und es 
wäre entschieden ein Fehler, wenn man »nur das Hauptzirkulations- 
instrument des ganzen und ewigen Staates, den Zirkulator par ex- 
cellence ins Auge fassen wollte«.. »Denn, sobald wir uns erinnern, 
daß, wie jeder organische Körper unendlich viele organische Sy- 
steme enthält und umfaßt, so auch der Staatskörper aus unendlich 
vielen ihm analogen Gliedern gebildet wird oder daß er ein ganzes 
System von Staaten umfaßt, so zeigt sich auch, daß jeder dieser ge- 
ringeren Vereine sein besonderes Zirkulationswesen hat, welches von 
der Staatszirkulation oder von dem Zirkulator par excellence nur ge- 
regelt und dem Gesetze des Ganzen unterworfen wird. Jede Sache, 
mit der ich Einzelner eine andere Sache vergelte, oder eine persön- 
liche Verpflichtung abmache, ist in meiner kleinen Sphäre für diesen 


116) Die »Dauere, die der Zusammenhang der Generationen verleiht, spielt 
in Müllers Staatslehre eine fundamentale Rolle; damit begründet er die Bedeutung 
des Ackcrbaus (El. II. 20 f.), des Feudaladels und der Fideikommisse (»Fried- 
rich II.e 87 .; 108; usw.), ja der Nationalität und der Religion selbst. — 
vgl. El. I. 204.: ein Volk ist nicht s»das Bündel ephemerer Wesens, 
sondern sdie erhabene Gemeinschaft einer langen Reihe von vergangenen, jetzt 
lebenden und noch kommenden Geschlechtern .. «.. — Wie die Müllersche An- 
tithese von Augenblick und Dauer Schule gemacht hat, darüber ist Dom- 
browskys Dissertation (S. 98 f.) zu vergleichen. 

117) El I. 59:»Wo ein Lokal ist, ein positiver Fall...,da ist auch unmittel- 
bar... ein Recht. Daß dieses Recht ausgesprochen werde, ist unwesentlich; 
daß es niedergeschrieben werde, noch unwesentlicher; daß es empfunden werde 
ist hinreichend.«e Andererseits hat aber der Romantiker eine heilige Ehrfurcht 
vor dem »historisch gewordenen« Rechtszustand, denn sdie Richtungen der 
ökonomischen Tätigkeit, und die Verhältnisse derselben untereinander und 
zum Ganzen der ökonomischen Kraft eines Staates stellen sich äußerlich dar 
in den Gesetzen dieses Staates« (Th. d. Geldes 118. — Ibid., 121: »Das britti- 
sche Nationalvermögen stützt sich nicht etwa auf, sondern besteht in der Ge- 
setzgebung dieses Reichese, usw.). 





Die romantische Geldtheorie. 541 


Ort und für diesen Moment Subjekt der Zirkulation«, oder Geld 118) 

Von solchen Anschauungen aus konnte Müller das Argu- 
ment, Geld sei im Grunde nur das gesetzliche Zahlungsmittel und 
sein Wert folglich nur ein nomineller, für die Begründung des Papier- 
geldes nicht gut verwerten. Freilich hält er diejenigen, die die Wäh- 
Tungseinheit als eine bestimmte Menge Metalls definieren wollen, für 
geradezu verabscheuungswürdig, denn der \Wertmaßstab ist über- 
haupt nichts zahlenmäßig Bestimmbares — er lebt »im Herzen der Na- 
tions, heißt esin der Theorie des Geldes (S. 218) —; er verwahrt sich 
jedoch ausdrücklich dagegen, daß dieser Standard lediglich als etwas 
Ideelles, ohne Rücksicht auf das Metall, definiert werde. Es fehlte 
ihm auch die Voraussetzung dafür, die bei Fichte und anderen 
Zeitgenossen zutraf: der Glaube an eine Art von Unfehlbarkeit des 
wohlregierten Staates, die tiefe Ehrfurcht vor seinem gewaltigen, 
bürokratischen Apparat. Assignatenanwälte in Frankreich, die »no- 
tionists« in England (Perceval Elıot, Lord Castel- 
reagh usw. 119) waren von dieser Ehrfurcht ertüllt; der Roman- 
tiker dagegen konnte nicht anders, als dem rationalistischen Cha- 
rakter aller modernen Verwaltung tief abgeneigt zu sein, was viel- 
fach, besonders in den Vorlesungen über Friedrich II., zum Aus- 
druck kam. Zwei Gedankengänge sind es vornehmlich, außer dem 
allgemeinen Korrelations-Argument, die ihm dazu dienen, die Un- 
entbehrlichkeit der Papiergelder zu begründen: das »nationale« Ar- 
gument und das der Elastizität. Das erste besagt, kurz gefaßt, daß 
die notwendige Existenz von Einzelstaaten das notwendig re Vorhan- 
densein eines Nationalgeldes zur Voraussetzung und zur Folge habe; 
das zweite hat er am ausführlichsten in den Aufsätzen »vom Papier- 
geld« und »Von den Vorteilen, welche die Errichtung einer National- 
bank für die kaiserlich-österreichischen Staaten nach sich ziehen würde«, 
dargelegt 129), 

Papiergeld ist schon aus dem Grunde unentbehrlich, führt er in 
der zweiten Abhandlung aus, weil »der Vorrat der Metalle allein 
nicht zureicht, die eurcpäische Zirkulation zu bestreiten; um so we- 
nirer zureicht, als I, die Maxime, Naturallieferungen und persönliche 


us) Ges. Schr. 86; Th. d. Geldes 240. 

1) Die Literatur zusammengestellt bei Lauderdale, The depre- 
ciation Of the Paper Currency of Great Britain proved (1812), S. 64—8o. 

120) Der zweite Aufsatz ist im Oktoberheit des Wiener sArchivs für Gero- 
graphies von 1811 erschienen; beide sind abgedruckt im I. Bd. der Verm. Schrif- 
ten und in den Ges. Schriften. — Die gelegentliche Bemerkung Müllers, wo- 
nach der Wert der Metalle, wenn er nur von den Verhältnissen des \Veltmarktes 
ohne Rücksicht auf die staatliche Prägung abhängen würde, ein unendlich 
schwankender wäre (Il. II. 289 £. und Th. d. Geldes 207) bezieht sich zwar nicht 
auf das Papiergeld, sondern auf die Ausprägung von Münzen, verdient jedoch, 
hier erwähnt zu werden. Denn sie soll ein rein ökonomisches Argument sein für 





- die Bedeutung des »\ortes« und es ist darin ausgesprochen, was dann seit den 


8oer Jahren, sit Launhardt und Mongın weitgehende Zustimmung 
fand, daß nämlich der Wert des Goldes infolge der freien Ausprägbarkeit und 
der staatlichen Festsetzung des Münzpreises ein relativ stabiler geworden sei. 


542 Melchior Palyi, 


Dienste in Geldprästationen zu verwandeln, bei den europäischen 
Gesetzgebungen immer mehr um sich greift, also ein immer größerer 
Vorrat von Metallen erforderlich sein würde; als 2. die große Krise 
worin sowohl der Welthandel, als alles Eigentum überhaupt schwebt, 
die Metalle aus der Zirkulation hinaus und in die Koffer besorgter 
Privatleute treibt; und als endlich: 3. um die Quelle aller Metall- 
zirkulation her, d. h. in Südamerika sich Begebenheiten bereiten, die 
aller menschlichen Wahrscheinlichkeit nach eine permanente Ver- 
minderung des jährlichen Zutlusses der edlen Metalle nach Europa 
veranlassen müssen. — Gesetzt aber auch dieser unermeßliche Vor- 
rat sei... . vorhanden, so fehlt ihm eine Eigenschaft, die wesentlich 
zum Charakter eines wahren Nationalgeldes gehört, und von der neue- 
ren Welt erst entdeckt worden ist.« ». .. Es ist die Elastizität, es ist 
die Füglichkeit in das Bedürfnis des Marktes und der Zirkulation. 
Wir brauchen ein Geld, welches entsteht, wenn sich das Bedürfnis da- 
nach zeigt, ‘und verschwindet in dem Maße, als das Bedürnis dar- 
nach nachläßt.« 

Es würde hier zu weit führen, alle Variationen, in denen Mül- 
ler seine beiden Papier-Argumente vortrug, wiederzugeben. Das 
erste, das Argument vom patriotischen und antikapitalistischen Be- 
dürfnis nach einem Nationalgeld, bei dem es sich um die Herstellung, 
nicht wie bei Fich te eines gerechten Verhältnisses zwischen Ein- 
kommen und Arbeit, sondern des Nationalgefühls, der Staatspersön- 
lichkeit, handelt, kennen wir schon zur Genüge; es war mit das ur- 
eigenste Produkt M üller schen Geistes und das originellste, was er 
hervorgebracht hat. Etwas anders verhält es sich mit dem zweiten 
Argument, vom Bedürfnis nach elastischem Gelde. Daß jedes Land 
einen bestimmten »Geldbedarf« besitzt, war schon längst bekannt; 
daß dieser Bedarf durch Kreditmittel befriedigt werden kann (und 
soll), das war besonders in den Schriften von John Law und von 
Pinto kräftig unterstrichen. Dann, zu Beginn des rọ. Jahr- 
hunderts wurde die allgemeine Aufmerksamkeit wieder auf das Pro- 
blem des Kredits und der Geldsurrogate gelenkt, vornehmlich durch 
die Flut von Pamphleten, mit denen der englische Büchermarkt 
nach Einstellung der Barzahlungen der Bank von England (am 
27. Februar 1797) überschwemmt wurde. Europäisches Ansehen 
hat unter diesen Schriften zuerst die von Henry Thorn- 
ton (»Enquiry into the nature and effects of the paper cre- 
dit of Great Britain«, 1802) erlangt 21). Thornton wies nach- 
drücklich auf die Bedeutung des Kredits und auf die Anpassungs- 
fähigkeit der Banknoten an den jeweiligen Bedarf hin und suchte auf 
diesem Wege seine Erfahrungen als leitender Direktor der Bank mit 
der herrschenden Quantitätstheorie einigermaßen zu versöhnen. Die 
Quantitätsheorie lehrte — in der scharfen Formulierung, die sie bei 


121) Die ausführliche Kritik Horners über dieses Buch (nebst anderen 
Abhandlungen aus der Edinburgh Review) hat Müller in den »Fortschrit- 
ten der nationalökonomischen Wissenschaft in Englands (1817), mit Anmerkungen 
versehen, herausgegeben. 








Die romantische Geldtheorie. 543 


Hume erhielt —, daß jede Vermehrung der Zahlungs nittel, mögen 
es Metall oder Papier sein, die Preise in die Höhe treiben und die Wech- 
selkurse ungünstig beeinflussen müsse. Die Vorstellung war, daß die 
Zzhlungsmittel des Landes eine einheitliche Masse bilden, deren Wert 
den Wert aller Waren repräsentiert; die Preisbildung vollzöge sich 
dann ganz mechanisch in der Weise, daß jeder Aenderung in der Menge 
des Geldes die andere Seite der Gleichung, infolge der erhöhten Nach- 
frage, sich durch entsprechende Preisänderung anpaßt. Thorn- 
ton milderte die Theorie dahin, daß die Preissteigerung und die 
damit zusammenhängenden Erscheinungen nur dann in der Geldver- 
mehrung ihre Ursache haben können, wenn die Wirkung eine andau- 
ernde ist; im allgemeinen sei aber der Sachverhalt gerade der umge. 
kehrte, denn die Bank von England pflegt ihre Notenemission nach 
Maßgabe des Bedarfs zu richten, der bei steigenden Preisen steigt, 
und sinkt, wenn die Preise fallen. Viel Erfolg erntete er damit bei 
den »Theoretikern« nicht, ebensowenig wie Bosanquet acht 
Jahre später in der Polemik, die um den »Bullion-Report« entbrannte, 
mit ähnlichen Argumenten !22); und auf dem Kontinent waren die 
Erfahrungen, die das Publikum mit den vielen Papiergeld-Experimen- 
ten gemacht hat, für die allgemeine Stimmung ausschlaggebend. Es 
dürfte immerhin, wenigstens zum Teil, auf den Einflaß Thorn- 
tons zurückzuführen sein (abgesehen von dem Eindruck, den der 
vornehmlich von Adam Smith geführte Nachweis, welcher 
Nutzen ans der Verwendung bargeldersparender Zahlungsmethoden 
für die Volkswirtschaft entsteht, machen mußte), wenn man in Deutsch- 
land in den folgenden Jahren selbst bei Anhängern der Quantitäts- 
theorie in ihrer schroffsten Form einem gewissen Wohlwollen dem 
Papiergeld gegenüber begegnet. So z. B. in der »Kurzen Belehrung 
über das Papiergeld« (1806) von L. H. Jakob, der auch Thorn- 
tons Buch übersetzt hat, so im ersten Band der »Nationalökono- 
mie« (1805) des Grafen von Soden und in den anonymen 
»ldeen über die reelle Grundlage eines notwendigen Papiergeldes« 
(1806) von Plessen. So setzte sich auch der Freiherr von Stein 
im Jahre 1805 unter ausdrücklichem Hinweis auf die Elastizität des 
Papiergeldes für die Emission desselben ein !23), um nur einige Bei- 
spiele zu nennen. Es war also nichts Neues, wenn Adam Müller 
den Papieren die Fähigkeit, sich den Bedürfnissen entsprechend vex- 
pandieren« zu können, nachrühmte; diesem Argument jedoch, zu- 
sammen mit dem nationalen, verdankt seine Geldlehre zu einem guten 
Teil ihre schillernde Eigenart. Wenn diese Geldlehre letzten Endes 
nicht auf eine »staatliche Theorie des Geldes« hinauslief, wozu sie 
schon in Folge der leichtfertigen Verwechsiung von Geld und Zah- 
lungsmittel gelegentlich starke Neigung zeigt 124), so ist das zum Teil 
auch dem Elastizitätsargument zu verdanken, welches ihn zwang, -den 


m) Charles Bosanquet, Practical Observations on”the”Report 
of the Bullion-Committee (1810). | 

2) Lehmann, Stein, I. 381 f. 

1) Friedrich II.e 275 f.; Theorie des Geldes 156 f. und öfters, 


544 Melchior Palyi, 


Begriff des Papiergeldes stets womöglich im weitesten Sinne des Wortes 
zu fassen. Und indem er auch dieses Argument »polarisiert« (aus einer 
Korrelation gebildet) erfaßte, zu dem elastischen Papier in dem steifen 
Metall die notwendige Ergänzung sah, wurde er vor den Abgründen 
des Inflationismus, zu dem ihn sein patriotisches Geld ebenfalls schon 
sehr nahe führte (je schlechter das Geld, um so mehr »bindet« es die 
Nation!), behütet. Seine eigenen Worte lauten: »Wenn nun also die 
Wechselwirkung zwischen dem Metallgelde und dem Papiergelde, im 
weitesten Sinne des Wortes, Grundsatz der gesamten modernen Staats- 
wirtschaft ist, wie sie denn auch, obwohl in sehr verschiedenen Graden 
der Vollkommenheit, in allen europäischen Staaten faktisch besteht; 
wenn das Papier dem Metall seine Elastizität, seine Füglichkeit, und 
das Metall wieder dem Papier seine Festigkeit und Dauerbarkeit durch 
gegenseitige Beziehung mitteilt, — so werden alle Mängei der Zirku- 
lation irgend eines europäischen Staates in letzter Instanz darin ihren 
Grund haben, daß beide Prinzipe sich voneinander losreißen, außer 
Beziehung treten und eines von beiden herabwürdigend als Sur- 
rogat des anderen betrachtet wird« 125). 


IV. 


Wie jede Einrichtung, selbst die schönste und wertvollste, so ist 
auch das Papiergeld dem zeitlichen Mißbrauch unterworfen: einen 
»Exceß« in der Emission hält Müller sehr wohl für möglich 128). 


125) Verm. Schr. I. 292 f., Th.d. Geldes 159. — Die Notwendigkeit eines 
elastischen Geldes folgt auch aus dem Begriff, den er sich vom »Standarde ge- 
bildet hat; das Repräsentieren aller Werte durch das Geld versteht er nämlich 
im buchstäblichen Sinne: wie die vorhandene Geldmenge gleichwertig ist mit dem 
Warenvorrat (unabhängig von den Preisen), so entspricht der Geldeinheit ein be- 
stimmter Teil des Nationalvermögens, und folgert daraus (Th. d. Geldes 260— 265, 
auch 214 ff.), daß für die Schaffung eines Standard die Bestimmung der Rechnungs- 
einheit noch nicht genüge, vielmehr auch die Menge bestimmt, der Menge der 
Waren entsprechend anpassungsfähig gemacht werden müsse. Darum zieht er 
auch, wie jeder, dem es ernstlich an einem »elastischen« Gelde lag, Banknoten 
dem Staatspapiergeld vor und nimmt sich mit viel Wärme der Notenbanken, 
besonders der englischen an (vgl. den Aufsatz über sdie Errichtung einer 
Nationalbank«e, weiterhin Th. d. Geldes 252, 269 ff. und passim). Wie das 
Geld das Blut des Staates, so sei die Bank sein Herz und wie das Herz im 
menschlichen Körper, so habe sie auch zwei Funktionen zu verrichten: »Depo- 
sition und Zirkulatione (Ges. Schr. 141, Brietw. 226) oder durch ihre Noten: 
die »# Personalisierung alles Kredits als Banknoten und die Realisierung aller 
sächlichen Werte als Repräsentanten des Goldes, als currency«e (Th. d. Geldes 277). 

126) Th. d. Geldes 268 f., Ges. Schr. 145. Als Sicherheitsmaßregel erachtet 
er es für genügend, wenn die Bank nur bei Darlehensgewährung Noten emittiert 
und nur kurzfristige Anlagen als Deckung benutzt: an der Einlösbarkeit der 
Noten, die diese leicht als ein bloßes Surrogat des Metalls erscheinen lassen, 
liegt ihm natürlich wenig (Briefw. 218, Th. d. Geldes 241 f.), umso weniger, als 
er die Befestigung der Wechselkurse nicht einmal für wünschenswert hält; »Man 
würde das Wesen cines Maßstabes überhaupt nicht verstanden haben, wenn 
man verlangte, daß er (in bezug auf das Ausland) .. . absolut fest sein sollte« 
(ibid. 194).. 


Die romantische Geldtheorie. 545 


Ebenso aber, wie es ihm fern lag, dieser Möglichkeit und ihren ökono- 
mischen Folgen viel Aufmerksamkeit schenken zu wollen, ebensofern 
scheint er von denen zu stehen, die ein unterwertiges Papiergeld aus 
wirtschaftspolitischen Gründen, aus Rücksichtnahme sei es auf 
verschuldete Grundbesitzer, sei es auf eine Exportindustrie, befür- 
worteten 12”), Als Mittel zur Herstellung des »persönlichen« Bandes, 
der das Wesen des Staates konstituiert, läßt er freilich Unterwertig- 
keit und Kursschwankungen, wie wir uns überzeugt haben, gelegent- 
lich gelten und in diesem »nationalen« Sinne sind seine Gedanken 
einmal bei Gent z1!28) und vor allem in der »Theorie der National- 
wirtschaft« (1815) des gelehrten und als Techniker verdienstvollen 
böhmischen Großgrundbesitzers Grafen Georg von Buquoi 
für inflationistische Zwecke verwertet worden 2°). Nach Buquoi 
besteht das Wesen des Geldes auch einfach in der »Vorstellung eines 
allgemeinen \Vertes« und ist der Wert des Geldes ein bloß konven- 
tioneller; auch er kennt drei Stufen der Entwicklung und das Geld 
»im sStrengsten Sinne« ist dann erreicht, wenn es schon gar keinen 
Gebrauchs-, nur noch Tauschwert besitzt. Papiergeld bedeutet 
also den Höhepunkt der Entwicklung und ist dem Metall ebenso vor- 
zuziehen, wie eine eiserne Röhrenleitung einer goldenen, woran 
selbst die Gefahren der Papierwirtschaft nichts ändern können. Im 
Gegenteil: der schwankende Kurs hat dem Gelde »ein ganz eigenes 





12?) Eine Verteidigung des Papiergeldes unter Berufung auf agrarische 
Interessen findet sich nirgends bei Müller. Der Grund dafür war, daß er, 
wie alle Romantiker, die Verschuldung der Landwirtschaft für Unfug hielt, der 
dem »persönlichen« Charakter des Grund und Bodens widerspräche (Verm, 
Schriften I. 70 ff.). Wahrscheinlich ist es aber trotzdem, daß ihm auch hier eine 
Berücksichtigung von Sonderinteressen vorschwebte; man bedenke nur, daß 
er sich sogar bereit fand den »Kornwucher« (El. III. 190) und die »Inoku- 
latione des sunvermeidlichene Getreidemangels, »dem die vortrefflichste 
bestgeordnete Landwirtschaft nicht entgehen kann, und der zu den herr- 
lichsten ökonomischen Erziehungsmitteln des Himmels gehörte (El. I. 
100), zu verteidigen. — Vgl. in diesem Zusammenhang Raumers Lebenserin- 
nerungen (I. 150): »Mehr Arbeit verursachte .. . die Prüfung eines .. . von 
Scharnweber und Adam Müller gleichmäßig empfohlenen Plancs, alle Realschul- 
den für unablöslich zu erklären und die Zinsen herabzusetzen«e. Näheres über 
diesen Plan ist mir nicht bekannt geworden; auch Fr.Lenz (Agrarpolitik 
und Agrarlehre der deutschen Romantik, 1912) erwähnt ihn nicht. 

128) „Schriften von Gentz« (herausgegeben von G. Schlesier) II. 
(1839) 343 f. Vielleicht ist die Stelle in einem Briefe Müllers (Briefw. 215), 
die mährischen Feintücher könnten im Ausland alle Konkurrenten schlagen, 
wenn unser Kurs sich nicht allzu jäh verbessern sollte«, in ähnlichem, infla- 
tionistischem Sinne zu deuten. 

128) Ueber Buquoi vgl. Würzbach, Biographisches Lexikon, II. 
Bd. — Altmann (op. cit. 5. 16) hat neuerdings die Aufmerksamkeit auf 
ihn gelenkt. — »I:rläuterungen« zu der Theorie der Nationalwirtschaft sind 1817 
erschienen, als Fortsetzung des Hauptwerks paginiert (S. 271—73 und 347 —51 
kommen für uns vornehmlich in Betracht). Die Broschüre von Buquoi »Vor- 
Schlag, wie in jedem Staate ein auf echten Nationalkredit fundiertes Geld ge- 
Schaffen werden könntes (1819), bietet für unsere Zwecke gar nichts. 


546 Melchior Palyi, 


Leben verliehen«; jede Banknote hat »ihren Besitzer unaufhörlich 
und dringend aufgefordert, sich ja ihrer als Geld zu bedienen und 
nicht etwa das Geld gegen die Natur des Geldes anzuhäufen, oder 
als letzten Endzweck alles Reichtums zu betrachten. Kurz, wer öster- 
reichisches Papiergeld besaß, tühlte in sich eine gewisse Unruhe, 
eine gewisse Aengstlichkeit, die ihn zwang, in seinem ganzen Hori- 
zonte umherzublicken, um zu erfahren, auf welche Weise er sein 
schwankendes Kapital zu realisieren, in Dinge von wahrem Werte zu 
verwandeln imstande wäre. Wenn aber dieser Sinn in einer Nation all- 
gemein wird, so ist leicht einzusehen, daß in allen Gewerben eine hohe 
Regsamkeit entstehen, und daß jede Werterhöhung durch alle Arten 
von Betriebsamkeit zur nationalen Leidenschaft werden müsse«. 
Und so gelangt er, trotz seiner sonst recht gesunden Ansichten in 
praktischen Fragen, zu einer förmlichen Lobrede auf das unterwertige 
Papiergeld, das die Nation aus ihrer Trägheit weckt, das Interesse der 
Völker »näher an den Souverän, an den eigenen Staat« bindet und in 
Oesterreich durch Förderung der »Gewinnsucht, welche zu Unterneh- 
mungen reizt«, und zugleich des »Ehrgefühls und echt nationalen 
Sinns« Großes bewirkt hat. — 

Wie hatesnur Anton Springer gesagt: »Die Generation, 
welche noch in der nicht immer klaren, aber doch geistig lebendigen 
Aufklärung des vorigen Jahrhunderts wurzelte, ist... von dem ver- 
kommenen Bankozettelgeschlechte abgelöst worden, das nach so 
vielen Entbehrungen und Kümmernissen nur nach dem ruhigen 
Genuß materieller Güter schwärmte. . . . «130, — 

In Oesterreich, das die Papierwirtschaft in den napoleonischen 
Zeiten so reichlich ausgekostet hat, konnten inflationistische Be- 
strebungen weder in der Öffentlichen Meinung, noch in den Regie- 
rungskreisen, wo Stadion und K 1 ü b er wenigstens in prinzipiellen 
Fragen der Finanzpolitik tonangebend waren, Wurzel fassen. Auch 
sonst scheint die romantische Geldlehre keine praktische Bedeutung 
erlangt, auf die Zeitgenossen keinen tiefen Eindruck gemacht zu 
haben. Von fachwissenschaftlicher und liberaler Seite war das In- 
teresse dafür zumeist recht mäßig, teils versuchte man auch die Grund- 
gedanken aller Romantik entkleidet in das herrschende System ein- 
zuverleiben, was, wie wir noch sehen werden, unschwer gelingen 
mußte 131). Und selbst im eigenen Lager scheint Müller damit nur 
wenig Erfolg geerntet zu haben. Der Haß der Politiker romanti- 
schen Schlages gegen das Kapitalistentum und ihr Zorn über die 
wachsende Verschuldung des Grundbesitzes konnten Sympathien 
für irgendwelche Formen der modernen Geldwirtschaft kaum auf- 
kommen lassen, besonders seitdem die »Jubeljahre der Reaktion« 


130) A, Springer, Geschichte Oesterreichs, I. (1863) S. 396. 

131) In folgenden nationalökonomischen Schriften jener Zeit fand ich M ù l- 
lers Geldlehre, zumeist nur referierend, erwähnt: Murhard, op. cit., 
S. „ıgıff., 238. J. J. Berghaus, Ueber das repräsentative Geldsystem, 
(1818), S. IV, 21—25; und I. A. Oberndorfer, System der National- 
ökonomie (1822), S. 61, 128. 


Die romantische Geldtheorie. 547 


für den Adel durch die schwere Agrarkrise der 20er Jahre so sehr ver- 
bittert wurden 132). Auch war die Geldlehre wohl ein Anwendungsfall, 
aber weder notwendige Voraussetzung, noch ein unentbehrliches 
Glied romantischer Staatsanschauung — logischerweise mußte diese 
zur Bekämpfung des Geldes, des »Mammons«, führen — und so kam 
es, daB ihre Wirkung in der Hauptsache (von den Ausführungen 
Bugquois und einem Aufsatz des nachmaligen Generals P fuel 
im »Archiv für Geographie«, 1811, Nr. 80f. abgesehen) auf F r ie d- 
Tichvon Gentz beschränkt blieb. 

Anfang September 1802 erhielt Gentz, auf Betreiben des 
Vizekanzlers Cobenzl, von Kaiser Franz den Titel eines »Kai- 
serlichen Rathes« nebst 4000 fl. Gehalt, comme une marque de bonté 
et bienveillance pour les bons écrits qu’il a fait passer au publique }39)«. 
Unter den Gründen, die Cobenzl für diese Anstellung gel- 
tend machte, stand auch der Hinweis auf seine Verwendbarkeit in 
finanzpolitischen Fragen. Es scheint aber, daß die Opposition gegen 
das Ministerium Colloredo-Cobenzl und die napoleonischen 
Kriege zunächst sein ganzes Interesse absorbierten. Aus dem Jahre 
1806 (Juli) ist nämlich die erste, mir bekannt gewordene Denkschrift 
datiert, die sich mit den finanziellen Verhältnissen des Donaukai- 
serreichs beschäftigt 1%). Gentz geht darin von der allgemeinen 
Teuerung aus und sucht ihre Wirkungen festzustellen, sowie die Ur- 
Sachen zu ergründen. Der Wert der landwirtschaftlichen Güter, führt 
er aus, ist auf das fünf- bis sechsfache gestiegen, die Teuerung kommt 
also den Grundbesitzern zugute; ihr Wohlstand vermehrt sich bei 
zunehmender Verarmung der übrigen Volksklassen. Woher kommt 
nun die Preissteigerung? woher das gleichzeitige Steigen der 
Wechselkurse und des Papiergeldagios? 135). Aus guten Gründen 
antwortet er: nicht Krieg, nicht schlechte Ernten oder Wucher, 
sondern »die übergroße Vermehrung der Nominal-Valuta, d. h. der 
Bankozettel zu einer Zeit, in welcher die Kräfte des Staats in 
Abnahme waren, und das Zutrauen, daß derselbe die reelle Valuta 
(Silber und Gold) dafür werde geben können, mehr und mehr ver- 
mindert wurde«e, sei die Ursache aller Uebel; Krieg, Mißwachs 
und wucherische Agiotage können sie nur verschärfen. Und mit 
bitterer Beredsamkeit schildert er dann die Folgen der Papier- 
geldwirtschaft. 





132) Aeußerungen gegen das Papiergeld bei dem Führer der preußischen 
Konservativen, F. Aug. Ludwig von der Marwitz (sAus dem Nachlaß« 
I. (1852) 364 £.), bei Wilh. von Schütz (»Rentereduktion und National- 
banke, 1825, S. 58 f.), und bei anderen. 

13) Colloredo an Cobenzl am 6. September 1802. Vgl. Fo u r- 
nier, Gentz und Cobenzl, II. Kap. und Anhang. 

14) Teilweise abgedruckt bei Fournier, op. cit. S. 234 ff. 

135) Der Wechselkurs auf Augsburg ist im Juli 1806 bereits auf 175%, ge- 
stiegen, der Kurs der Bankozettel (indirekte Notierung) auf 184®/,, und beide 
schwankten in sehr erheblichem Maße. Vgl. Beer, Die Finanzen Oesterreichs 

1M 19. Jahrhundert (1877), S. 394, 397- 


548 = Melchior Palyi, 


Den Quellen nachzı spüren, aus denen Gentz diese Anschau- 
ungen geschöpft haben mochte, wäre keine verlockende Auf- 
gabe; es handelt sich ja um Dinge, die schon damals Gemeingut 
der Gebildeten waren. In ähnlichem, »metallistischem« Sinne hat er 
sich schon früher über die Assignatenwirtschaft geäußert 13%). — An 
Stelle gelegentlicher Aeußerungen trat aber von I8og an, wohl aus 
praktischen Gründen #7), eine anhaltende Beschäftigung mit den 
Problemen der Papierwährung, der eine Anzahl von (zum Teil noch 
unveröffentlichten) Denkschriften über diese Materie ihr Entstehen 
verdanken. Vielleicht auch aus praktischen Motiven, jedenfalls aber 
unter dem Einfluß Adam Müllers, dessen Hauptwerk, die 
»Elemente der Staatskunst«, zu dieser Zeit erschien und auf Gentz 
tiefen Eindruck machte 138), erfolgte nun ein Wandel in seinen An- 
schauungen, eine Umwälzung, die dazu führte, daß man in ihm neuer- 
dings einen Vorläufer der »staatlichen Theorie des Geldes« entdecken 
konnte !39). Eine Denkschrift vom 3. Januar 1810 (abgedruckt in den 


»Finanzen Oesterreichs« von Adolf Beer) bildet den ersten Ver- 


such, der auch am besten gelang, zur Darstellung seiner neugewon- 
nenen Einsichten, zur Begründung der Notwendigkeit eines Papier- 
geldes. Das Hauptargument dafür ist hier die Elastizität des Papiers, 
seine Anpassung an den Geldbedarf, und er glaubt beweisen zu kön- 
nen, daß »wenn nicht außerordentliche Störungen obwalten, der 
Maßstab für den jedesmaligen Tauschwert . . . alles Papiergeldes 
durch das Verhältnis ihrer Normal-Quantität zu dem Umifange des 
Zirkulationsbedürfnisses bestimmt wird«. Wenn aber das Disagio 
der Bankozettel noch größer ist, als es ihm genehm wäre, so führt er 
das auf die Unkenntnis des Publikums zurück, welches zwischen Pa- 
piergeld und (einlösbaren) Kreditpapieren nicht zu scheiden weiß, 
das erstere so betrachtet, als müßte es sich nach den Gesetzen richten, 
denen die zweite Gruppe unterworfen ist. »Ein österreichischer Ban- 
kozettel ist, wie alles Papiergeld, oder besser, wie alles Geld über- 





136) Vgl. den Brief an Garve vom 5. Dez. 1790 (Wittichen I. 178) und auch 
die »Zusätze« zur Finanzgeschichte von d’Ivernois (S. 359). Im selben Sinne 
urteilte auch Burke über die Assignatenwirtschaft: »Betrachtungen über 
die französische Revolution« (übersetzt durch Gentz, neue Aufl. 1794) I. 160, 
304, II. 5of., 54 ff., ıı8 ff. 

137) Vgl. den Brief an Brinkmann vom 30. April jı8ıo (Wittichen, 


II, 315), wo er sich übrigens auch darüber beklagt, daß er auf das Schicksal des 


österreichischen Papiergeldes keinen Einfluß zu gewinnen vermag. 

138) Im Februar 1810 schrieb er — von seinen Ansichten über das Papier- 
geld — in seine »Tagebücher« (I, 216): ». .. la publication de cet evangile de 
profondeur politique, de mon ami Adam Müller... ., publication qui donna en 
general un nouvel essor a mon esprit, et me valut quelques heures des plus heu- 
rucses de ma vie, mit le dernier sceau a mon syst&eme.« In demselben Zusam- 
menhang erwähnt er auch, daß er sich mit Thornton viel beschäftigt hat. 

19) G. Fr. Knapp, Die Beziehungen Oecsterreichs zur staatlichen 
Theorie des Geldes (Zeitschrift f. Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwal- 
tung, 17. Bd. 1908). Altmann scheint es dagegen bestreiten zu wollen 
(op. cit. S. 15 f.). 


Die romantische Geldtheorie. 549 


haupt, ein vom Staate sanktioniertes Repräsentationszeichen des 
Tauschwertes aller käuflichen Objekte.« »Denn das Charakteristi- 
sche, Notwendige, Bleibende, das was das\Vesen des Dinges konsti- 
tuiert, ist beim Papiergelde und Metallgelde dasselbe. Nicht der innere 
Wert des einen oder des anderen — die Sanktion des Staatesallein 
gibt allem Gelde, aus welchem Stoffe es auch bestehe, seinen legalen, 
seinen zirkulationsfähigen Charakter, und so... kann man auch mit 
Zuversicht behaupten, daß alles das wahres Geld ist, was der Staat 
gesetzmäßig dafür erklärt« 140). Dementsprechend hält er das Pa- 
piergeld durchaus nicht für ein Uebel, das abzuschaffen wäre — er 
läßt die verschiedenen Wege zur Abschaffung (Bareinlösung, De- 
valvation, Verwandlung in Staatsschuld usw.) die Revue passieren, 
um sie alle zu verwerfen; was Not tue, sei bloß die Fixierung 
des Kurses, über den hinaus die Entwertung nicht steigen dürfe. 

In dieser Denkschrift ist der romantische Ursprung seiner Lehre 
noch nicht so deutlich erkennbar und sein Geldbegriff scheint 
vorerst mehr von den englischen »Notionists«s, als von Adam 
Müller abhängig zu sein.. Briefliche Aeußerungen aus derselben 
Zeit, den Jahren ı810 und II, lassen jedoch keinen Zweifel übrig. 
sich... beweise«, behauptet er in einem Brief an Heinrich Col- 
lin, »daß das Papiergeld nicht etwa bloß geduldet, sondern ebenso, 
ja noch mehr, als die sogenannte klingende Münze, respektiert werden 
muß 141), Und wie sollte man auch anders, wo ihm doch das Papier- 
geld als »une des conditions essentielles, de la prospérité nationale, et 
en même temps... un des instruments les plus précieux qui aient ja- 
mais été fournis à un gouvernement« gilt 142), Geist von Adam Mül- 
lerschem Geiste war es, der dieser Anschauung zugrunde lag; in der 
Nüchternheit der praktischen Konsequenz aber, die er daraus zog — 
es käme bloß darauf an, das Uebermaß des Papiergeldes durch 
sweise Kombinationen« unschädlich zu machen — zeigte sich bereits 
der Wirklichkeitssinn des Staatsmannes. Von solchen Gesichtspunk- 
ten aus kritisierte er, freilich nur in Privatbriefen 14°), die Finanz- 
politik des Hofkammerpräsidenten Grafen O’Donnell, ins- 
besondere dessen Finanzpatent vom 26.Februar 1810, das eine stu- 
fenweise Verminderung der Masse des Papiergeldes (auf 950 Millionen 
Gulden wurde sie geschätzt) mit Hilfe von hypothekarisch fun- 
dierten »Einlösungsscheinen« bezweckte, wie es im Patent hieß, »ohne 
eine Erschütterung und Zerrüttung des öffentlichen und Privatver- 
mögens, sowie auch ohne einen Mangel an den zum Umlaufe er- 
forderlichen Vorstellungszeichen und eine wirkliche Verminderung 
des Nationalreichtums durch Verminderung der produktiven Kapita- 
lien und damit verbundenen Hemmung der Industrie zu verur- 


140) Bei Beer, op. cit., S. 430—32. 

141) Aus dem Nachlaß Friedrichs von Gentz« I. (1867) 23 f. 

142) Brief an O’Donnell vom 14. Jan. 1810, abgedruckt bei Beer, S. 414. 

14) In Briefen an Collin (Aus dem Nachlaß«e I. 18—30) und an 
Stein (abgedruckt im »Leben des Ministers Freiherrn v. Stein« von Pert Z, 
II. 1850, S. 533). 


550 Melchior Palyi, 


sachen, welche ein schnelles Verschwinden des Papiergeldes zur 
Folge haben würde« 144). Der Grundsatz dagegen, den Gentz in 
der Denkschrift vom 3. Januar 1810 entwickelte, war, daß nicht 
eine Verminderung der Bankozettel, sondern blcß eine »Fixierung 
ihres Kurses notwendig sei und diese letztere von der Regierung herbei- 
geführt werden könne«; das hinderte ihn aber nicht, das Patent wenige 
Wochen später in den Nummern 83 bis 85 der »Allgemeinen Zeitung« 
(anonym) zu verherrlichen. Anders dagegen behandelte er den Gegen- 
stand in dem bereits zitierten Briefe an Collin: ebenso kurz, wie zum 
guten Teil zutreffend, hat er dort einige der Gründe für das Mißlingen der 
O’ Donnellschen Finanzoperationen nachgewiesen. Er wies insbeson- 
dere daraufhin, daß dasgesetzliche Versprechen zukünftiger Wertparität 
zwischen Einlösungsscheinen und Kurantmünze ohne der Realisier- 
barkeit der ersteren in Metall, was für den Staat rein unmöglich sei, 
trotz aller Vorschriften illusorisch ist. Erst recht entschieden mußte 
er dann den Nachfolger O’Donnells, den Grafen Wallis, des- 
sen Finanzpolitik letzten Endes auf das Aufräumen mit der ganzen 
Papierwirtschaft hinauslief, bekämpfen. Als mit dem Patent vom 
20. Februar ı8ır die berühmte »Devalvation«, die Herabsetzung des 
Papiergeldes auf ein Fünftel seines Nennwertes erfolgte, lehnte es 
Gentz, vielleicht auch aus politischen Gründen, ab, diese Maß- 
nahme öffentlich zu rechtfertigen 1%). Wiederum in Briefen, die an 
den Freiherrn von Stein gerichtet waren, hat er darüber sein 
(wie es mir scheint, aufrichtiges) Urteil ausgesprochen 146). Wieder- 
um betont er, daß weder eine graduelle Tilgung, noch eine »Radikal- 
Cur« zulässig sei; man müßte die Bankozettel in unverminderter 
Quantität beibehalten und ihnen einen festen Kurs sichern. Wie das 
unter den gegebenen Verhältnissen durchzuführen wäre, darüber 
hüllt er sich diesmal in Schweigen 147); einer um so schärferen Kritik 
E 144) Vgl. Beer, S. 6o ff. 

16) Vgl. Guglia, S. 276f. 

146) Pertz, op. cit. II. 544—54. — Was Stein anlangt, so ist ihm 
zwar die Einlösung eines Teils der Bankozettel mit Rücksicht darauf, daß da- 
durch dem Schwanken der Preise eine Grenze gesetzt werde, nicht unsym 
pathisch (ibid. S. 558f.); im übrigen zeigt seine Antwort (S. 555 ff.) sehr 
deutlich, welchen Eindruck diese und andere Ausführungen Gentzens auf 
ihn machten (vgl. auch S. 750 ff.). Ein Jahr vorher hat er noch die Her- 
absetzung der Bankozettel auf den Tageskurs empfohlen, »gewöhnt, die Be- 
dürfnisse des Gemeinwesens über die des Individuums zu stellens (Lehmann, 
Stein, III. 1905, S. 49 ff.), während sich jetzt seine Ansichten mit denen von 
Gentz so ziemlich decken. 

14) Die Faktoren, die er für die Kursschwankungen im allgemeinen ver- 
antwortlich zu machen pflegt, waren folgende: 1. die Agiotage an der Börse, die 
er überhaupt abschaffen möchte (vgl. Guglia, S. 274f., 277); 2. Mangel 
an Publizität und energischer Verwaltung (Beer, S. 415, 446 ff.); 3. Unkennt- 
nis des Publikums und Verbreitung »falscher« Ansichten (Beer, S. 431, 433 
und anderwärts), Außer Gegenmaßregeln empfiehlt er auch eine Art sex0- 
dromischer« Geldpolitik, Beeinflussung der Wechselkurse durch Silberverkäufe 
(Beer, S. 449f.), die übrigens unter O’ Donnell schon zielbewußt, aber 
unsystematisch und ohne Erfolg, ausgeübt wurde (vgl. Stiaßny, Zum 


af 


ni 


Die romantische Geldtheorie. 55I 


wird die Person und die Tat des Mannes, der im Jahre ı8ıI der Be- 
völkerung Oesterreichs wohl wie wenige verhaßt war, unterworfen. Als 
einen Charlatan im Finanzfach stellt er den Urheber des Patents hin 
und wirft ihm treffend die willkürliche Bestimmung des Devalvations- 
verhältnisses (I : 5) vor; der angenommene Kurs übersteige den wirk- 
lichen, woraus mehrere Nachteile (unverhältnismäßige Erhöhung der 
Abgaben, Bereicherung der Gläubiger auf Kosten der Schuldner 
usw.) folgten. Besonders schmerzlich empfand er die »Benachteiligung« 
des Gutsbesitzers, dessen Last als Schuldner und Steuerzahler sich 
vervielfältige, während er »seine Produkte nicht verhältnismäßig 
steigern kann, sondern bei dem sich vermindernden Zirkulations- 
mittel ihrem Sinken entgegensehen muß«; dann die Entblößung des 
Landes von Umlaufsmitteln und die Beeinflussung der Preise zu 
Ungunsten der »geringen Volksklassen« 148). 

Für die Anschauungen Gentzens, auch die ökonomischen, 
brachten die für ihn so genuß- und ehrenvollen Zeiten der Freiheits- 
kriege und des Wiener Kongresses eine gewisse Entfremdung von der 
politischen Romantik. »Meine Theorie des Papiergeldes ist unverändert 
geblieben und wird nie mehr im wesentlichen veränderte, bekennt er 
am I. Juni 1816 dem Freunde gegenüber (Briefwechsel S. 217). Aber: 
»Das Zeitalter ist noch nicht reif für ein solches Kunstwerk und die 
Sache ist fast in allen Ländern zu schlecht angefangen worden, als 
daß sie hätte gedeihen können. In Oesterreich aber war die gänzliche 
und definitive Vertilgung des Papiergeldes die Bedingung sine qua 
non einer gründlichen Reform im Geldwesen. Dies habe ich in dem 
letzten halben Jahre vollkommen erkannt und war also mit dem 
ersten Prinzip des neuen Systems längst einig«1#). Er »liebte« also nicht 
mehr die »Mißbräuche bei den Finanzen«, wie acht Jahre früher bei 
den englischen (Briefwechsel S. 145), und befand sich auch nicht mehr 
im Gegensatz zu der Währungspolitik der Regierung, diesmal des 
Grafen Stadion, was sich dem offiziellen und intimen Vertrauten 
des Fürsten Metternich auch wenig geziemt hätte. Als aber das 





österr. Staatsbankrott, 1912, S. 89, der sich, von Kna pp schen Gesichtspunkten 
geleitet, bis zu einer Art Ehrenrettung der Devalvationspolitik versteist). 

14) Diese letzte Argumentation ist, soviel ich sehe, das geistige Eigentum 
vonGentz,und ich gebe sie hier deshalb in extenso: »Da die Preise der ersten 
Lebensbedürfnisse lange aicht in dem Maße gestiegen waren, wie die der 
Luxusartikel, so hatte ein Banko-Zettel von gleichem Nennwert in den Händen 
eines gemeinen Mannes offenbar mehr reellen Wert als in der Tasche des Rei- 
chen. Diesen Banko-Zettel für beide in gleichem Maße herabzetzen, heißt also 
dem Aermeren einen weit größeren Teil seines Vermögens rauben, als dem Rei- 
cheren.¢ (Pertz, S. 549.) 

149) Leise smetallistische« Neigungen zeigt auch der Brief an den Prinzen 
Karadja vom 15. Sept. 1816 (Beer, S. 423f.) und der an Perthes vom 12. 
Mai 1817 (Wittichen I. 343 f£.), wo er Müllers »Neue Theorie des Geldes« 
kritisiert (sSolche phantastische und mystische Apophtegmen . . . bringen die 
Wissenschaft nicht weitere, usw.), während ein Brief an diesen, vom 26. Sept. 
1816 datiert (Briefw. 225), entschieden Vorliebe für das Papier und Ab- 
hängigkeit von dem Urteil des Freundes durchblicken läßt. 


552 Melchior Palyi, 


neue System, nämlich die Gründung der österreichischen Nationalbank 
und die Einziehung des umlaufenden Papiergeldes gegen I%ige Schuld- 
verschreibungen und (zu zwei Siebentel des Nennwertes) gegen Bank- 
noten, die bei der Bank in Silber einlösbar waren, scheiterte, weil in- 
folge des großen Zudranges des Pub‘ikums zur Einlösung der Bank- 
noten das Patent vom I. Juli 1816 schleunigst aufgehoben werden 
mußte, — da wurde in ihm die alte Liebe zum Papiergeld wieder 
wach, wohl zu nicht geringer Freude Adam Müllers. In den 
Beilagen vom 3. und 5. Dezember der Allgemeinen Zeitung ließ 
er einen anonymen Aufsatz erscheinen, der die Suspension des 
Patentes rechtfertigen sollte, ohne sich einiger Vorwürfe der Ver- 
waltung wie dem Publikum gegenüber wegen des Mißlingens des 
Stadionschen Planes enthalten zu können, und in dem er 
wieder gegen das gänzliche Abschaffen des Papiergeldes plädiert. 
Denn es habe »in den Gewohnheiten und Bedürfnissen des 
Volkes« tiefe Wurzel geschlagen; beim Einlösen gegen Obligationen 
würden wieder die kleinen Leute, die die Wertpapiere um jeden Preis 
verkaufen müßten, geschädigt werden !5°). 

Noch viel schärfer kommt der Gedanke von der Notwendigkeit 
des Papiergeldes in dem Aufsatz »Ueber die österreichische Bank« zum 
Ausdruck; Gentz istes darin gelungen, einige leitende Gedanken 
der Geldlehre seines Freundes, in gedrängter Kürze und sich vielfach 
dessen Sprache bedienend, wiederzugeben 151). Ganz Müllerisch mutet 
es an, wenn er vom Staate als vom »alleinigen rechten Geld« spricht, 
in ihm den »Mittelpunkt« der Gesellschaft, um den sich alle Privat- 
kreditverhältnisse, wie um ihre Achse drehen, sieht, und durch das 
»Wort des Staates« oder »den allgemeinen Kredit« die Menschheit 
aus der »Sklaverei der Metalle« befreien zu können glaubt usw. »Ge- 
rade das Streben nach der Alleinherrschaft des Metallgeldes . . . 
mußte die Einführung des Kredit- oder Papiergeldes zur unvermeid- 
lichen Folge haben. Denn, sagt Adam Müller im 4. Hefte seiner 
Staatsanzeigen, wenn man das Metallgeld als absolut notwendig und 
unersetzlich für alle ökonomischen Geschäfte betrachtet, so muß 
dasselbe zum Zweck aller ökonomischen Tätigkeit werden und in 
demselben Maße hört es dann auf, Mittel und Vermittler zu sein«. 
Dieses gelegentliche Aperçu Müllers, das die »Versächlichungs 
aller Werte durch das Ueberwiegen des Metalls verdeutlichen sollte, 
10) „Ueber die Tilgung des österreichischen Papiergeldes«, teilweise im 
III. Bd. der »Schriften von Gentz« abgedruckt. — Die Geschichte der Bank- 
gründung, und auch Gentzens Anteil an derselben, ist noch keineswegs auf- 
geklärt. Was Justus Erich Bollmann, der den ursprünglichen Plan der 
Bank entworfen, darüber andeutet (Kapp, J. E. Bolimann, 1880, S. 399, 
405 f.), läßt Gentz sowohl, als auch die verantwortlichen Behörden, in einem 
sehr bedenklichen Lichte erscheinen. Ueber Bollmann vgl. G en tz , Schriften 
III. 344 f. und »Tagebüchere I. 340, außerdem Palgraves Dictionary of 
political Economics, I. Bd. 

151) Der Aufsatz findet sich in der Beilage zur Allg. Zeitung vom 26. Apr. 1817 
und auch in »Schriften« III. Bd. Die Gentzische Autorschaft ist von H a y m 
in Zweifel gezogen worden, meines Erachtens ohne Berechtigung. 


Die romantische Geldtheorie. » 553 


(in den ‚Zeitgemäßen Betrachtungen« von 1816) scheint ihm also 
besonders gut zu gefallen, und er betont dann auch die Korrelation 
von Metall und Papier 153). 

Mochte bei Gentz diese starke Betonung romantischer Elemente 
nur eine vorübergehende Erscheinung sein — mit der als historische 
Darstellung recht wertvollen Denkschrift »Ueber das österreichische 
Geld- und Kreditwesen« lenkte er bereits 1818 wieder in das Fahr- 
wasser der offiziellen Geldpolitik, als deren Ziel die sukzessive Ver- 
drängung des Papiergeldes galt, ein 18%) —, der Versuch der Regierung 
im Jahre 1820, das Papiergeld oder wenigstens sein Disagio mit Hilfe 
von Anleihen endgültig aus der Welt zu schaffen, der nach wie vor 
die vollste Entrüstung M üller s hervorrief 154), veranlaßte ihn zu er- 
neuerter Stellungnahme. Das geschah in einem langatmigen »Exposc&s, 
freilich viel vorsichtiger als früher 155). Das Papiergeld — auch hier, im 
zweiten Teil des Exposé, will er nur uneinlösbares und unverzinsliches 
Papier darunter verstanden haben — ist nun aus einem mystischen 
»Mittelpunkt« zu einer nüchternen indirekten Steuer geworden, die 
im Notfalle Kriegssteuern und Anleihen vorzuziehen sei. Es habe 
die Vorzüge der Bequemlichkeit, der verschwindend geringen Er- 
hebungskosten und der gleichmäßigen, gerechten Verteilung der 
Last; es greife das Kapital der Nation weniger als außerordentliche 
Steuern sonst an, und wirke obendrein, als »un argent plus actif, 
plus fidèle, plus constant, plus national que l’argent metallique«, be- 
lebend auf Verkehr und Unternehmungslust. Ihm sei es zu verdan- 
ken, daß die Bevölkerung der Monarchie trotz der Drangsale lang- 
jähriger Kriege ihren Wohlstand so schön entwickeln konnte. Das 
Ergebnis ist also, daß das Papiergeld, ungeachtet mancher Nachteile 
moralischer und ökonomischer Natur, zu einem möglichst befestigten 
Kurse beizubehalten sei 15%). 

132) Wendungen von einem kommerziellen »Mißbrauch« des Goldes waren 
auch anderen Romantikern geläufig; ciner begegnet man z.B. bei Aug. 
Ludw. Hülsen (zit. bei Haym, Die romantische Schule, 2. Aufl. 
455): »Es ist wirklich eine Schande, wie das edle, lichte Gold durch unsaubre 
Hände so entweiht und beschmutzt wird.s (Von sentweiheten edlen Metallene 
weiß auch Müller zu erzählen: El. II. 343). 

15) „Aus dem Nachlaß«e II. 287 ff. Man höre darüber Müllers Urteil: 
den Aufsatz, auf den sich Gentz ausdrücklich »viel einbildets (Briefw. 256), 
soder das Monument, welches Sie Stadion gesetzt haben, .. .. betrachte ich... 
in dem Lichte einer apologischen Staatsschrift. Desto begieriger bin ich über alle 
jene disparaten Maßregeln . . . ihr aufrichtiges Urteil zu hörens (Briefw. 255). 

154) Briefw. 320 ff. Zuletzt bricht Müller noch im Jahre 1823 eine Lanze für 
das Papiergeld (Briefw. 375). 

155) »Expos& des mesures adoptées en Autriche pour l’extinction graduelle 
du papier monnaie«, ı82ı (»Schriftene III. 300—366 und V. 52—72). 

156) Er verschließt sich insbesondere vor den smoralischen« Folgen der Agio- 
schwankungen nicht: s»Ces changements perpetuels et l'incertitude de l’avenir 
remplacent dans les petits ménages le principe et le goût de l’économie par le 
mepris de largent et par les habitudes d’une dilapidation sans borness usw. 
(Schriften III. 346 ff.). — Ueber die (recht einträgliche) Rolle, die Gentz in den 
Anleiheoperationen Oesterreichs gespielt hat, vgl. man R. Ehrenber gs 
+Große Vermögen« I. (1902), S. 72, 76 ff., 95—102, 104, 106, 113, 116. 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 2. 36 


554 “  MelchicrPalyi, 


V. 


In der englischen Pamphletliteratur ist auch die Frage, welche 
Papiere zu dem Gelde (circulating medium) des Landes zu rechnen 
seien, und welche nicht, lebhaft erörtert worden. Nach der herkömm- 
lichen Ansicht gehörten alle Arten von Kreditpapieren, selbst öffent- 
liche Schuldverschreibungen, zu den Geldsorten (z. B. bei John 
Law und bei H u m e), wenigstens was ihre Wirkung auf die Preis- 
bildung anbelangt, — eine Folge der merkantilistischen Verwechslung 
von Geld und Kapital. Aufgerollt wurde nun die Frage durchW alter 
Boyd, der unter Currency nur Bargeld und Noten der Bank von 
England verstanden haben wollte, und in der daraus entstandenen 
Polemik mit Thornton, der auch Wechsel zu den Umlaufsmit- 
teln zählt, zeigte sich bereits ein Kernpunkt des späteren Streites 
zwischen der »Currency«- und der »Banking«-Schule 15°), Die erste 
mußte zwischen Metall und Banknoten einerseits, Wechseln und ähn- 
lichen Zahlungsmitteln andererseits einen Gegensatz konstruieren, 
denn sonst wäre es ihr nicht möglich gewesen, die strikte Quantitäts- 
theorie, auf die es gerade ankam, aufrecht zu erhalten und später 
(in der P e e l schen Bankakte) auch praktisch zu verwerten; die zweite 
erkannte dagegen und betonte — in der Formulierung von Tooke 
und Fullarton —, daß für die Frage der Beeinflussung der Waren- 
preise durch die Menge der Umlaufsmittel es wesentlich auf die Un- 
terscheidung zwischen elastischen und unelastischen Zahlungsmitteln 
ankomme. Müller neigte von vornherein zu dem letzteren Stand- 
punkt, demgemäß also alle Kreditpapiere, die als Zahlungsmittel 
fungieren, zum Gelde gehören — er deutet folgerichtig auch die 
Unterscheidung zwischen elastischen und unelastischen Papieren 
an 358), — da ihm alle Papiere, die den Kredit (den »Glauben an die 
bürgerliche Gesellschaft«: El. III. 163) zum Ausdruck bringen, wert- 
voll waren, nur nicht alle in gleichem Maße. Das Wesen des echten 
Papiergeldes wird von ihm nämlich dahin bestimmt, daß es »persön- 
liche, auf den Kredit der Person des ewigen Souveräns ausgestellte 
Wechsel« sind (»Friedrich Il.« S. 276), die mit verzinslichen Papieren 
— Obligationen, Schuldscheine usw. rechnet er auch zu den »Geld- 
zeichen« (Ges. Schr. S. 80), — nicht verwechselt werden dürfen (sFried- 
rich II.« S. 275); sonstige papierene Zahlungsmittel, alles »Privatgeld« 
scheint er nur für eine Annäherung an das echte Papiergeld zu halten 
(Ges. Schr. S.85). Dementsprechend gehört er weder zu der Currency- 
noch zu der Banking-Schule, die damals noch nicht voll ausgebildet 
waren. Damals, zur Zeit des Bullion-Comittee, handelte es sich in der ein- 
schlägigen Literatur vornehmlich um ein anderes Problem, um die 


15) W. Boyd, »A letter to the Right Honourable William Pitt. . .« (1800, 
2. Aufl. 1801) S. 1f; Thornton, op. cit. S. 40 ff. 

156) Th. d. Geldes 278: »Während . . . die Banknoten unaufhörlich vom 
Centrum ausströmen und ganz in demselben Verhältnis zu dem Centrum zu- 
rückströmen, strömt das Papiergeld bloß vom Mittelpunkte aus und häuft sich 
in der Peripherie.« 


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Die romantische Geldtheorie. 555 


Frage des »Geldwertes«: es war der Streit zwischen »Metallisten« und 
Chartalisten«, zu dem er öfters, klarer aber und in gemäßigterer 
Sprache als sonst in dem biographischen Aufsatz über Franz 
Horner (»Zeitgenossen«, II. Bd. 4. Abt., 1817) Stellung nahm. Mit 
einiger Sachkenntnis erzählt er die Geschichte der Bullion-Commis- 
sion, den Gang ihrer Untersuchungen über jene merkwürdige Er- 
scheinung, daß in England während der napoleonischen Kriege der 
Preis der Goldbarren, in gemünztem Gold ausgedrückt, zeitweilig 
über den gesetzlichen Münzpreis gestiegen ist und referiert über die 
Ergebnisse, — alles nur Gelegenheit, um den eigenen Ansichten Aus- 
druck zu verleihen 15°). »Unser Jahrhundert hat sich nicht bloß auf 
dem Gebiete des Rechtes« — alles ist chrakteristisch genug, um 
wörtlich zitiert werden zu dürfen — »sondern auch auf dem... der 
Oekonomie von einer gewissen Naturanbetung berücken und ver- 
Tücken lassen; und so wie man . . . überall an ein vermeintliches Na- 
turrecht, welches vor allem Recht stände, appellieren zu müssen 
glaubte, so vermeinte man auch in den staatswirtschaftlichen Theo- 
rien über die bestehenden künstlichen Werte nur nach einem ge- 
wissen Naturmaßstabe, der in der reinen Arbeit, oder in den edlen 
Metallen, kurz in absolut gegebener Idee oder Materie, seinen Sitz habe, 
urteilen zu können. Daher geschah es, daß in der Erörterung der gro- 
Ben, vorliegenden Frage über die Depreciation der Banknoten sich 
unmittelbar zwei gleich einseitige Parteiansichten aussonderten, 
deren eine keinen anderen Maßstab, als den in der Materie des Goldes 
enthaltenen, die andere nur den des idealischen Pfundes Sterling 
anerkennen wollte.« »]Jene .. . behaupteten, mit der Suspension der 
baren Zahlungen sei ein eingebildeter, allem Mißbrauch der Willkür 
ausgesetzter Papiermaßstab an die Stelle des Goldes getreten und 
daher in dieser Suspension der Grund des Uebels zu suchen; diese 
erwiderten: das Gold, als mitwirkend zur Befestigung des Maßstabes 
sei keineswegs aus dem Geldsysteme von Großbritannien, wenn 
auch aus der augenblicklichen Zirkulation, verschwunden; der ge- 
setzliche Wert der Guinee bestehe ungeachtet des hohen Barrenprei- 
ses fort, und dieser letztere habe allein in vorübergehenden Handels- 
konjunkturen seinen Grund« Horner, Huskisson und 


15) Gentz hat über den Report of Bullion-Committee, der im Jahr- 
gang 1811 des Archivs für Geographie ohne dem Protokoll der Zeugenaussagen 
übersetzt erschien, eine umfangreiche Denkschrift verfaßt (vgl. Briefw. S. 3, 
Wittichen I. 342 f.), auf die Müller in der Vorrede zur s»Theorie des Geldes« 
und in dem Aufsatz über Horner (S. 139) nachdrücklich hinwies. Die Denkschrift 
ist leider unauffindbar. — Das eirentliche Problem jener Kommission: durch 
welche Ursachen die für Engiand ungünstigen Wechselkurse hervorgerufen 
seien (besonders in den Jahren 1809 und Io), wird von M. nur gestreift. 
Die Kontroverse darüber ist auch heute noch nicht abgeschlossen; trotz der 
von Tooke (Hist. of prices, I. Bd., 1837) beigebrachten Argumente wird die 
These von der Banknotenentwertung von sachkundiger Seite (Andreades, Hist. 
de la Banque d’Anglcterre, I., 1904, und neuerdings Kellenberger in 
Conrads Jahrbüchern, 1016), aufrechterhalten, freilich ohne den strengen 
Beweis erbringen zu können. 
36* 


556 Melchior Palyi, 


Ricardo nennt er als die Führer der ersten Gruppe und Eliot 
unter denjenigen, die der »Vorstellung von einem bloß idealischen 
Wesen des Wertmaßstabes« huldigten 16%); er selbst »vermittelte 
zwischen den Gegensätzen, indem er den »materiellen« Maßstab für 
ebenso notwendig erklärt, wie den »ideellen«, wenn er auch sichtlich 
zu dem letzteren hinneigt 161). — 

Das spezifisch Müllersche, was ihn von Zeitgenossen und 
Vorgängern unterscheidet, besteht also immer darin, daß er das Pa- 
piergeld für die notwendige Ergänzung des Metalls (und umgekehrt) 
hält, — eine Folge jenes korrelativen Verhältnisses zwischen Person und 
Sache, zwischen Nation und Menschheit, dessen geldtheoretische Ver- 
wertung den nicht romantisch angelegten Nationalökonomen freilich 
recht fern lag. Wenn es aber neuerdings versucht wurde, zwischen dem 
Geldbegriff des Romantikers und dem der klassischen Nationalökono- 
mie einen fundamentalen Gegensatz zu konstruieren 19), so muß ent- 
schieden auf die Grundlage, den Ausgangspunkt hingewiesen werden, 
der beiden gemeinsam war. Dieser gemeinsame Ausgangspunkt war 
damals für alle Geldtheorien, schon seit Bodin, in der Quantitäts- 
theorie gegeben. Man ging von der Annahme einer Wertgleichung 
zwischen Waren- und Geldmenge aus (die letztere korrigiert durch die 
Zirkulationsgeschwindigkeit), was zur Folge hatte, daß man im Gelde 
etwas der Ware ganz Entgegengesetztes, etwas »an sich« Wertloses und 
nur die Warenwerte »Repäsentierendes« sehen mußte. Daher die ebenso 
oft wie gedankenlos wiederholten Wendungen, Geld sei eine Anweisung 
auf Güter, Geld habe keinen Gebrauchs-, sondern bloß Tausch- oder 
»Funktionswert« (welcher dann natürlich aus der Uebereinstimmung 
der Menschen abgeleitet wird) usw. Um aber der Tatsache, daß die 
edlen Metalle einen hohen »Substanzwert« besitzen, gerecht zu werden, 
und den Gefahren inflationistischer Neigungen zu entgehen, erhielt der 
quantitätstheoretische Geldbegriff eine sehr bedeutsame Wendung, 
die zuerst von James Ste u ar t (1767) scharf formuliert wurde 1). 


160) Francis Perceval Eliot schrieb die »Observations on the 
fallacy of the supposed depreciation of the paper currency«, 1811. — Wenn 
Stephinger einmal (op. cit. S. 155) sein Bedauern darüber andeutet, daß 
Müller Ricardo nicht gekannt hat, so dürfte dies ein Zeichen dafür sein, 
daß seiner (Stephingers) Aufmerksamkeit diese biographische Skizze Müllers 
entgangen ist. Ä 

161) So behauptet er z. B. (S. 148), die Bank von England sei durch die 
Suspension sder unmittelbaren Last ihrer goldenen Ketten entledigte worden usw. 
— Vgl. auch EI. II. 314 f., 337 (durch die Suspension sei England von der sTi- 
ranneie der Metalle befreit worden). Aehnlich Gentz in der Denkschnift von 
ı810, abgedruckt bei Beer, S. 441 (Anmerkung) und anderwärts. 

162) So schon Altmann (op. cit. S. 14f.) und so insbesondere St e- 
phinger. Von einer in weitere Einzelheiten gehenden Besprechung der 
umfangreichen Darstellung und Kritik romantischer Geldlehre, die der letztere 
geliefert hat, glaube ich angesichts der Unfruchtbarkeit solcher Auseinander- 
setzungen abschen zu dürfen und verweise auf das oben in Anm. 13, 39, 106 
und 160 gesagte, sowie auf die Rezension von M. J. Bonn in diesem »Archive 
(1912), wo bei aller Schä fe des Urteils der Fleiß Stephingers anerkannt wird. 


Die romantische Geldtheorie. 557 


Er und seine Nachfolger waren der Ansicht, daß Metalle ebensogut 
Waren seien, wie alles andere, aber durch die Geldverwendung er- 
hielten sie einen neuen Charakter, der in der Wertmessung besteht und 
wohl zu unterscheiden sei von der Funktion des »Aequivalentes«. 
Als Aequivalent werde das Geld (die Münze) zu einem Gegenstande 
des wirtschaftlichen Verkehrs und muß folglich (Gebrauchs-)Wert 
besitzen; als »Rechengelda oder Wertmesser sei es dagegen etwas 
Ideelles, eben der begriffliche, zahlenmäßige Maßstab des Wertes aller 
Waren und selbst (in Ermangelung eines materiellen Trägers, dessen der 
»Begriff« freilich nicht bedarf) wertlos. In dieser vertieften Form über- 
nahm das angehende 19. Jahrhundert den Geldbegriff der Quantitäts- 
theorie und der Gegensatz von »Idealgeld« und »Realgeld«, dem man 
in der deutschen Literatur jener Zeiten so oft begegnet, ist nichts 
anderes, als die Steuartsche Distinktion zwischen Rechengeld 
und Münze 16), 

Mit diesem Gedankengang, der freilich von der seinem Denken 
eigentümlichen Unklarheit keineswegs frei ist, hat Steuart die 
Fundamente der modernen Geldlehre niedergelegt: die Unterschei- 
dung des »Wertmessers« (Preisindikators) vom Zahlungsmittel. An 
diese Gedanken, und zwar an die Unklarheiten derselben, knüpfte 
auch Adam Müller an. Ihm kam es einmal daranf an, das 
Begriffspaar Augenblick-Dauer durch Hervorhebung des Gegensatzes 
von Verbindung der Generationen und Auseinandersetzung der Zeit- 
genossen in den Vordergrund der ODekonomik zu stellen; und dann: ` 
das rein materielle »Aequivalent«, mit dessen Hilfe nur Zahlen, 
Preise entstehen, aus dem »Staate«, dem Reiche jener mystischen 
Einheit ven Geschichte und Gegenwart, aus dem in historischer 
Entwicklung das Gesetz und das Geld als »Maßstab« aller persön- 
lichen, d. }. irrationellen, gefühlsmäßigen Werte hervorgehen, zu 
verbannen. — Auch er ist überzeugter Anhänger der Quantitäts- 
theorie 165) (und weiß sie sogar — El. III. 116. — zur Rechtfertigung 
hoher Getreidepreise zu verwerten); folglich hält er auch an dem 
Gegensatz von Geld und Ware (ausdrücklich z. B. El. III. 175 ff., 
208) und daran fest, daß das Geld bloß Tauschwert besitze und sieht 
das Wesen des Geldes in einem ideellen Masstabe des Reichtums, 
oder der Tauschwerte, der sich von demlandläufigen »Idealgeld« da- 
durch unterscheidet, daß mit ihm nicht zahlenmäßig bestimmbare 





163) „Untersuchung über die Grundsätze der Volkswirtschaftslehree, II, 
127 ff. (deutsche Ausgabe von 1913). 

14) Vgl. Büsch, Abhandlung vom Geldumlauf (1800), I. Bd. S. ı2ı bis 
133; Soden, Nationalökonomie, I. Bd; Struensee, Abhandlungen, 
HI (1800), 574f.; J. F. Reitemeier, Neues System des Papiergeldes 
und des Geldwesens (1814); K. Murhard, Theorie des Geldes und der 
Münze (1817), S. 73 ff., 87 ff. (Geld ist Vermögens- oder Wertmesser, Münze 
dagegen Wert- oder Vermögensausgleichungsmittel: Geld wäre ohne Münze denk- 
bar, aber nicht umgekehrt) usw. 

166) Vgl. z. B. El. II, 186, 197, 298 f., 304, 319, III. 111, 119, 137, 177; Th. des 
Geldes 99, 296 f. 


558 Melchior Paiyi, 


Größen, sondern eher gefühlsmäßige »Richtungen« (nämlich die 
Richtung auf den »Staat«) gemessen werden. Größen werden mit dem 
»Aequivalent« gemessen, mit dem Metall, das ein- und ausgetauscht 
wird, während der Maßstab die (»persönlichen«) Werte repräsen- 
tiert 168); »repräsentieren« heißt aber für die Romantiker soviel, wie 
Symbole ausdrücken, etwas Geheimnisvolles, Mystisches andeuten. 
Dieses Mysterium ist der »Organismus«, die Persönlichkeit, die in den 
Dingen verborgen liegt und — da in der Romantik alle Substanzbe- 
griffe nach sensualistischem Muster in Beziehungsbegriffe aufgelöst 
werden, — mit dem »sozialen Band« identisch ist, der das Wesen des 
»Staates«, der Gesellschaft ausmacht. Wenn nun durch das Geld 
dieses »geheimnisvolle Band« repräsentiert wird, so muß es überall 
Geld geben, wo es vergesellschaftete Menschen gibt; auch in der 
Tauschwirtschaft und selbst dort, wo sich noch nicht einmal die 
Tauschwirtschaft entwickelt hat. »Das Geld ist so wenig als der Staat 
oder die Sprache eine Erfindung«; der Mensch hat ein »unnachlassen- 
des Bedürfnis« nach der Gemeinschaft und »das, was diese Verbin- 
dung vollzieht, ist in den spätesten Entwicklungen der bürgerlichen 
Gesellschaft, wie in den frühesten Anfängen derselben, der Staat; 
und Geld ist nichts anderes, als der ökonomische Ausdruck für dieses 
Bedürfnis der Vereinigung oder für den Staat; so wie Gesetz der 
juristische Ausdruck dafür ist« 197). Redet man von einer Erfindung 
des Geldes, so bleibt »nach diesem ersten Irrtum... das Geld durch 
den ganzen Fortgang der Unternehmung ein nützliches Auskunits- 
mittel bei dem Tausch und Kram des gemeinen Lebens; es bleibt 
Ware; als Maßstab der geselligen Eigenschaft aller übrigen Waren 
kann es der Autor Adam Smith) nicht brauchen, weil er das 
unsichtbare Wesen, welches im Metallgelde diese übrigen Waren mißt, 
nicht kennt« (Th. d. Geldes, S. 157). 

Es scheint, als hätte der Romantiker, der Entwicklung der Wis- 
senschaft um mehr als ein halbes Jahrhundert voraneilend, die »ra- 
tionalistische« Auffassung vom Ursprung des Geldes, wonach es aus 
utilitaristischen Gründen erfunden wurde, überwunden, und die moderne 
Anschauung, die zwischen Tauschwirtschaft und Geldwirtschaft 
grundsätzlich unterscheidet, in der zweiten mehr als eine bloße Wei- 
terentwicklung, Verfeinerung der ersten, im Gelde einen fundamen- 
talen Bestandteil des Wirtschaftslebens sieht, vorweg genommen, 
In der Tat haben seine Worte durch Ludwig Stephinger 
Die Geldlehre Adam Müllers, S. 212) diese Deutung erfahren, zu der 








16) Büsch hat schon (op. cit. I. 123 f.) den Steu art schen Gedanken 
dahin modifiziert, daß das Geld als Aequivalent zu der einzelnen Ware in einem 
zahlenmäßig genau bestimmten, als Maßstab jedoch zu allen Waren in einem 
des näheren unbestimmbaren Verhältnis stehe. 

167) Th. d. Geldes S. 158. — Ibid., 199 f., ist die »Idee der Aequivalenze, 
der Gleichheit svor dem Gesamtbedürfnis der menschlichen Nature, das ur- 
sprüngliche Geld. So ergibt sich dann die Definition des »Maßstabes« als »das 
große ökonomische Verhältnis, welches sich im Laufe der Zeit aus dem ōkono- 
mischen Gesamtleben der Nation ergeben hats (ibid. 215 f.). ! 


Die romantische Geldtheorie. 559 


jedoch bestenfalls nur der gelegentliche Wortlaut seiner Ausführungen 
berechtigt. Hier, wie auch sonst so oft, unterscheidet er sich von der 
zeitgenössischen Nationalökonomie im wesentlichen nur durch die 
förmliche Umkehrung derselben, nicht aber durch tiefere Einsichten. 
Die zeitgenössische Nationalökonomie schätzte das Geld als ein recht 
nützliches Mittel — Adam Smith vergleicht es bekanntlich mit 
den Landstraßen — durch welches der Tauschverkehr mächtig gefördert 
wird; Geldwirtschaft ist demnach eine kompliziertere Form der Tausch- 
wirtschaft, die vom Standpunkte der ökonomischenEntwicklung große 
Vorteile biete. Diese Anschauung liegt auch der Geldlehre Adam 
Müllers zugrunde; auch er ahnt noch nicht den wirklichen Un- 
terschied zwischen Geld- und Tauschwirtschaft; für ihn ist aber der 
Geldverkehr nicht eine Abart des Tausches, sondern umgekehrt der 
Tausch (und auch das durch »Dienstbarkeit der Herzen« vermittelte 
Lehensverhältnis) ein Sonderfall des Geldes, vielleicht sogar das 
swahree Geld 168), 

Den Geldbegriff der klassıschen Nationalökonomie hat Adam 
Müller nicht vertieft, geschweige denn überwunden; er hat ihn 
aber durch einen elastischen Sprachgebrauch, zu dem ihn die romanti- 
schen Voraussetzungen seines Denkens geleitet haben, beliebig dehnbar 
gemacht, und die herkömmliche Lehre von dem Verhältnis der geld- 
losen Wirtschaftsordnung zu der monetären in paradoxer Weise in ihr 
Gegenteil umgekehrt. Er erreichte dadurch eine »Idee des Geldes« 
— von einem Begriff läßt sich in der Tat nur schwer reden —, ein Geld, 
das nun auch zu einem irrationellen, eigentlich nur gefühlemäßig faß- 
baren Element der Gesellschaft wurde, und verwirklichte somit das 
ahnungsvolle Postulat von No valis: die »Poetisierung der Finanz- 
wissenschaften« 16°), 





166) Am schönsten kommt das in der Theorie d. Geldes, S. 204, heraus; die 
wirtschaftliche Entwicklung verlief in drei Stadien, in dem des Tausches, des 
Handels und des Kredits: auf der ersten Stufe sind »Sachen und Personen 
selbst« die Geldformen, auf der zweiten »sind es gemünzte Metalle und Dienstes 
und schließlich Metallgeld und Papiergeld. 

166) Novalis, »Schriften« II. (1901) 77.— Wenn es eines anschaulichen Be- 
leges bedarf, daß die romantische Geldlehre sich von der zeitgenössischen im 
wesentlichen nicht anders, alseben nur durch die organisch-nationale Färbung und 
durch dieVerherrlichung des temporis acti unterscheidet, so würde esin dem kurzen 
Aufsatz »Beiträge zur Theorie des Geldes« des Kantianers Wilhelm Traugott 
Krug zu finden sein, der 1816 in Müllers »Staatsanzeigen« herauskam, 
(Dieser Aufsatz — der Verfasser ist bald darauf einer der heftigsten Gegner 
der politischen Romantik geworden — blieb seinerzeit unbeachtet, nur Berg- 
haus, Op. cit., erwähnt ihn, und geriet dann in völlige Vergessenheit. Selbst 
Roscher hat ihn ganz übersehen.) Alles, was durch die Beziehung auf das 
menschliche Leben einen Wert hat, führt er aus, kann zum Gelde werden, 
dessen Wesen darin besteht, daß es als Maßstab oder Stellvertreter anderer Dinge 
fungiert und das Geld erscheint in 3 Formen verwirklicht: als Sinnesgeld, als Ver- 
Standes- und als Vernunftgeld. Auf der ersten Stufe ist es noch der »sinnlich 
wahrnehmbare Gebrauchswerte« einer Sache, kraft deren sie Geld, Tauschobjckt, 
zu werden vermag; auf der zweiten Stufe tritt der Begriff des Geldes bereits i: 


560 Melchior Palyi, Die romantische Geldtheorie. 


Opposition, in Gegensatz zu der Ware (wie »Subjektives und Objektives«); der 
Wert des Metallgeldes beruht darauf, daß es dank seiner Prägung allgemein 
angenommen wird, und er ist folglich ein nur durch den Verstand erfaßbarer 
Wert. Schließlich trennt sich der Begriff ganz vom materiellen Träger, und wir 
haben im Papier — so werden die drei EntwicklungsstufenKiichiro Sodas 
(Geld und Wert, 1909) klarer noch als bei Müller, im Prinzip vorweg ge- 
nommen — das Vernunftgeld, bei dem der Stoff schon ganz wertlos ist und nur 
noch das Wort, die reine Idee, eine vom Kredit, von dem Glauben an die Ge- 
meinschaft herrührende Bedeutung besitzt. Beruht aber der Wert des Geldes 
auf etwas Ideellem, wobei der stoffliche Träger im Grunde gleichgültig ist, so 
folgt daraus, — und diese Folgerung haben auch Fichte und Adam Mül- 
ler, jeder nach seiner Art, gezogen —, daß dieser Wert eben in dem Gesetz, 
das im Gelde zum Ausdruck kommt, gegeben ist. »Wenn wir nun nach dem 
gewöhnlichen Sprachgebrauch das Geld in der zweiten und dritten Potenz, 
oder Metall- und Papiergeld, als Geld im eigentlichen Sinne betrachten, so ist 
aus dem Bisherigen klar, daß dieses Geld nichts anderes ist, als ein Erzeugnis des 
Staates . . .e (sDeutsche Staatsanzeigen« I. 541). Die romantischen Argumente 
von der Nationalität und Elastizität des Papiers fehlen dann ebensowenig, wie 
die Betonung der belebenden Wirkungen auf das Wirtschaftsleben. 


561 


Vom Ziel der Handelspolitik. 


Von 
LUDWIG von MISES. 


I. Die Maßnahmen der auswärtigen Handelspolitik — das 
sind die Bestrebungen, die örtliche Arbeitsteilung, wie sie das 
freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte herausbildet, in einem be- 
stimmten Sinne zu beeinflussen — können vom Standpunkte 
einer Betrachtungsweise, die allein auf das wirtschaftliche Ziel 
eingestellt ist, mit dem geringsten Aufwand den größten Erfolg 
in der Güterversorgung zu erreichen, niemals begriffen werden. 
Oekonomisch kann die Schutzpolitik nicht gerechtfertigt werden. 
Alle Theorien, die es versucht haben, sind gescheitert. Die Beweis- 
führung der Freihandelsschule, die ihren Abschluß und ihre 
Vertiefung durch Ricardo empfangen hat, konntenichterschüttert, 
geschweige denn widerlegt werden. Herrscht volle Handelsfrei- 
heit, dann wendet sich jedes Land jenen Produktionszweigen zu, 
für die relativ die günstigsten Bedingungen vorhanden sind. Jede 
künstliche Beeinflussung, die diese‘ Verhältnisse stört, muß in 
letzter Lirie zu einer Verschlechterung und Verminderung der 
Güterversorgung führen. 

Es ist keine Widerlegung des Freihandelsarguments, wenn 
List die Behauptung aufstellt, daß durch das Schutzsystem brach 
liegende Produktivkräfte verwertet werden. Daß sie ohne Schutz 
nicht zur Verwertung gelangen würden, beweist, daß ihre Aus- 
nützung weniger ergiebig ist als die jener Produktivkräfte, die 
an ihrer Statt gebraucht werden. Auch der Erziehungszoll kann 
ökonomisch nicht gerechtfertigt werden. Alte Industrien sind 
jungen gegenüber in mancher Hinsicht im Vorteil. Aber nur dann 
ist das Aufkommen neuer Industrien vom Standpunkte der Ge- 
samtheit produktiv zu nennen, wenn die mindere Ergiebigkeit 


562 Ludwig von Mises, 


der Anfangszeit in der späteren größeren Ergiebigkeit zumindest 
ihre Deckung findet. Dann aber sind die neuen Unternehmungen 
nicht nur volkswirtschaftlich produktiv, sondern auch privat- 
wirtschaftlich rentabel; sie würden auch ohne Förderung ins 
Leben gerufen werden. Jeder neuerrichtete Betrieb rechnet mit 
solchen Gründungsunkosten, die später eingebracht werden 
sollen. Es ist unstichhaltig, wenn demgegenüber darauf hinge- 
wiesen wird, daß nahezu alle Staaten die Entstehung der Industrie 
durch Schutzzölle und andere protektionistische Maßnahmen 
unterstützt haben. Es bleibt die Frage offen, ob nicht auch ohne 
solche Förderung die Entwicklung lebenskräftiger Industrien 
vor sich gegangen wäre. Innerhalb der Staatsgebiete werden 
ähnliche Verschiedenheiten der Produktionsbedingungen ohne 
jede äußere Hilfe überwunden. In früher industrielosen Gebieten 
sehen wir Industrien erstehen, die sich nicht nur erfolgreich neben 
denen älterer Industriegebiete behaupten, sondern nicht selten 
jene gänzlich vom Markte verdrängen. 

Schüller glaubt, den Grundsatz, daß vom internationalen 
Standpunkt der schrankenlose Freihandel am vorteilhaftesten 
sei, schon deshalb als unrichtig bezeichnen zu können, weil es 
im Interesse einer möglichst großen Gesamtproduktion nicht nur 
darauf ankomme, daß die günstigen Produktionsbedingungen 
voll ausgenützt werden, sondern auch darauf, daß daneben die 
weniger günstigen nicht unbenutzt bleiben !). Die Schwäche 
dieses Arguments ergibt sich schon aus der Tatsache, auf die gerade 
Schüller mit besonderem Nachdruck hinweist, daß die Bedin- 
gungen, unter denen die Produzenten arbeiten, nicht nur in ver- 
schiedenen Staaten, sondern auch innerhalb des nämlichen Staates 
ungleich sind. Die ungünstigeren Produktionsbedingungen werden 
immer insoweit ausgenützt, als keine günstigeren zur Verfügung 
stehen. Durch den Schutzzoll könnte nur bewirkt werden, daß 
in einem Lande weniger günstige Bedingungen verwertet werden, 
während anderswo günstigere brach liegen. Daß aber dadurch 
keine Vermehrung des Gesamtproduktes erzielt werden kann, 
bedarf keiner weiteren Ausführung. 

II. Die Ricardosche Außenhandelstheorie geht von der 
Voraussetzung aus, daß die freie Beweglichkeit von Kapital und 
Arbeit nur innerhalb der Landesgrenzen bestehe. Im Inlande 
wird jede örtliche Verschiedenheit des Gewinnsatzes und des Ar- 
2 Val. Sc hüller, Schutzzoll und Freihandel. Wien 1905. S. 228. 


Vom Ziel der Handelspolitik. 563 


beitslohnes durch Wanderungen des Kapitals und der Arbeiter 
zur Ausgleichung gebracht. Nicht so bei Verschiedenheiten zwi- 
schen mehreren Ländern. Da fehlt die Freizügigkeit, die letzten 
Endes dazu führen müßte, daß von dem Lande, das weniger 
günstige natürliche Produktionsbedingungen bietet, Kapital und 
Arbeit nach dem Lande der günstigeren Bedingungen strömen. 
Eine Reihe von Gefühlsmomenten (which I should be sorry 
to see weakenede schiebt hier der Patriot und Politiker Ricardo 
in die Ausführungen des Theoretikers ein) steht dem entgegen. 
Kapital und Arbeiter bleiben, trotzdem sie dadurch eine Ein- 
kommensminderung erleiden, im Lande und wenden sich jenen 
Produktionszweigen zu, für die, wenn auch nicht absolut, so 
doch relativ die günstigeren Bedingungen gegeben sind ?). 

Die Grundlage der Freihandelstheorie ıst mithin die Tatsache, 
daß Kapital und Arbeit aus nicht wirtschaftlichen Gründen nicht 
über die Landesgrenzen gehen, auch wenn dies aus wirtschaft- 
lichen Motiven vorteilhaft erscheint. Dies mochte im Großen 
und Ganzen in den Tagen Ricardos zutreffen. Aber es trifft 
schon lange nicht mehr zu. Von Tag zu Tag werden die Hinder- 
nisse, die der allgemeinen Freizügigkeit von Kapital und Arbeit 
entgegenstehen, kleiner; auch der Weltkrieg wird diese Entwick- 
lung nur vorübergehend gestört haben. Wenn der Frieden wieder- 
gekehrt sein wird, werden allmählich auch jene Bedingungen 
wiederkehren, die in den letzten Jahrzehnten vor dem Kriege 
die zwischenstaatliche Freizügigkeit von Kapital und Arbeit 
gefördert haben. Denn diese Entwicklung war keine zufällige; 
sie war die notwendige Folge der immer engeren wirtschaftlichen 
Verknüpfung der einzelnen Länder der Erde, des Ueberganges 
von der Volkswirtschaft zur Weltwirtschaft. 

Fällt aber die Grundvoraussetzung der Ricardoschen Lehre 
von den Wirkungen des Freihandels, dann muß auch diese mit- 
fallen. Es liegt kein Grund mehr vor, zwischen den Wirkungen 
des freien Verkehrs im Binnenhandel und im Außenhandel einen 
grundsätzlichen Unterschied zu suchen. Wenn die Beweglichkeit 
von Kapital und Arbeit im Innern von der Beweglichkeit zwischen 
den Staaten nur graduell verschieden ist, dann kann auch die 
nationalökonomische Theorie zwischen den beiden keinen grund- 
sätzlichen Unterschied machen. Sie muß vielmehr notwendiger- 


3) Vgl. Ricardo, Principles of Political Economy and Taxation. (The 
Works of D. Ricardo. Ed. by Mc. Culloch. II. Ed. London 1832.) S. 76f. 


564 Ludwig von Mises, 


weise zu dem Schlusse gelangen, daß dem Freihandel die Tendenz 
innewohnt, die Arbeitskräfte und das Kapital ohne Rücksicht 
auf die politischen und nationalen Grenzen nach den Stätten der 
günstigsten natürlichen Produktionsbedingungen zu ziehen. In 
letzter Linie muß daher der unbeschränkte Freihandel zu einer 
Aenderung der Besiedlungsverhältnisse auf der ganzen Erdober- 
fläche führen; von den Ländern mit weniger günstigen Produk- 
tionsbedingungen strömen Kapital und Arbeit nach den Ländern 
mit günstigeren Produktionsbedingungen. 

Auch .die auf diese Weise modifizierte Freihandelstheorie 
gelangt gerade so wie die Ricardosche Lehre zu dem Schluß, daß 
vom rein wirtschaftlichen Standpunkt nichts gegen den freien 
Verkehr, alles gegen den Protektionismus spricht. Aber indem sie 
zu ganz anderen Ergebnissen in bezug auf die Wirkung des Frei- 
handels auf die örtlichen Verschiebungen von Kapital und Arbeit 
führt, bietet sie einen ganz veränderten Ausgangspunkt für die 
Prüfung der außerwirtschaftlichen Gründe für und wider das 
Schutzsystem. 

III. Die natürlichen Produktionsbedingungen sind in den 
einzelnen Ländern ungleich; es gibt Länder mit günstigeren und 
solche mit weniger günstigeren Produktionsbedingungen. Dieses 
Verhältnis ist nicht unveränderlich. Im Laufe der Geschichte 
ist es vielmehr starken Wandlungen durch Erschöpfung von 
Bodenkräften, durch Aufdeckung und Nutzbarmachung von neuen 
Bodenkräften, durch Aenderungen des Klimas u. dgl. mehr unter- 
worfen. Besonders wichtig erscheinen dabei jene Veränderungen, 
deren Ursache in den Fortschritten der Produktionstechnik 
liegt, die die Heranziehung früher unverwertbarer oder wenig 
verwertbarer Naturkräfte ermöglichen. 

Hält man an der Ricardoschen Annahme fest, daß Kapital 
und Arbeit auch durch günstigere Produktionsbedingungen im 
Auslande nicht zur Abwanderung veranlaßt werden, dann ergibt 
sich, daß in den einzelnen Ländern gleiche Aufwendungen von 
Kapital und Arbeit zu verschiedenem Erfolg führen. Es gibt 
reichere und ärmere Völker. Handelspolitische Eingriffe können 
daran nichts ändern. Sie können die ärmeren Völker nicht rei- 
cher machen. Völlig sinnlos aber erscheint der Protektionismus 
der reicheren Völker. 

Läßt man jene Ricardosche Annahme fallen, dann sieht man 
auf der ganzen Erde eine Tendenz zur Ausgleichung des Kapital- 


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Vom Ziel der Handelspolitik. 565 


gewinnsatzes und des Arbeitslohnes vorwalten. Dann gibt es 
schließlich nicht mehr ärmere und reichere Völker, sondern nur 
mehr dichter und weniger dicht besiedelte und bewirtschaftete 
Länder. 

Das ist die Entwicklungstendenz, der gegenüber sich die 
Gegenwart gestellt sieht. Vom rein wirtschaftlichen Standpunkt 
ist auch sie nicht als schädlich zu bezeichnen. Wohl aber tritt 
sie in Konflikt mit dem Grundsatze, der in der modernen Politik 
der vorherrschende ist, mit dem Nationalitätsprinzip. Der 
Nationalstaat entspricht nur dann vollkommen dem nationalen 
Ideal, wenn er über ein Gebiet von solcher Größe und Beschaffen- 
heit der natürlichen Produktionsbedingungen verfügt, daß er der 
Nation Raum für die natürliche Bvölkerungsvermehrung inner- 
halb der Staatsgrenzen ohne Uebervölkerung bietet. Die wach- 
sende Bevölkerung muß im Staatsgebiet unterkommen können, 
ohne daß dieses dichter besiedelt wird als es seinen natürlichen 
Produktionsbedingungen entspricht. Die Nation soll sich auf 
dem Nationalterritorium ungehindert entfalten können, dabei 
aber nicht über jene Zahl hinauswachsen, die die Bevölkerung 
dort bei voller zwischenstaatlicher Freizügigkeit von Kapital 
und Arbeit erreichen würde. 

Dieser Forderung, die mit zwingender Logik aus dem Natio- 
nalitätsprinzip des ıg9. Jahrhunderts abgeleitet werden muß, 
widerspricht an sich weder der vorwiegende oder reine Industrie- 
staat, noch der vorwiegende oder reine Agrarstaat, noch auch 
die Monokultur. Sind diese Formen der wirtschaftlichen Ge- 
staltung eines Landes durch die natürlichen Produktionsbedin- 
gungen des Landes gegeben, dann stellen sie ja für dieses die 
günstigste Art der Ausnutzung des Bodens dar und gewähren da- 
mit caeteris paribus bei freiem Spiel der wirtschaftlichen Kräfte 
der dichtesten Bevölkerung die beste Versorgungsmöglichkeit. 
Sie werden zu einem Uebel erst dann, wenn sie über das durch 
die natürlichen Produktionsbedingungen gegebene Maß hinaus- 
wachsen. Solange aber dieser Zustand nicht erreicht wird, sind 
sie, sowohl vom weltwirtschaftlichen als auch vom nationalwirt- 
schaftlichen Standpunkt betrachtet, nur vorteilhaft. Wären die 
Produktionsbedingungen nicht auch innerhalb der einzelnen 
Volkswirtschaften außerordentlich verschieden ?), dann wären 
gerade jene extrem differenzierten Formen die Regel. 
a: Seiler a.a. O. S. off. 


a 


566 Ludwig von Mises, 


Das Nationalitätsprinzip fordert in seiner Anwendung auf 
das Wirtschaftsleben nicht Selbstgenügsamkeit in dem Sinne einer 
Abschließung vom Tauschverkehr mit dem Auslande. Es steht 
an sich der Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt durch die 
internationale Arbeitsteilung keineswegs entgegen. Das Natio- 
nalitätsprinzip hat mit der aus bestimmten ethischen und poli- 
tischen Anschauungen erwachsenen Forderung nach Erhal- 
tung des augenblicklichen Standes der Arbeitsteilung und der 
Intensität des Tauschverkehres und Verhinderung der weiteren 
Ausbreitung der Verkehrswirtschaft nichts gemein. Die nationale 
Eigenart wird durch den Verbrauch der Erzeugnisse fremder Ar- 
beit nicht gefährdet. Daß der Deutsche amerikanische Baumwolle 
und australische Wolle am Leibe trägt, daß er brasilianischen 
Kaffee trinkt und italienische Zitronen ißt, bleibt solange national 
gleichgültig, als deutsche Erzeugnisse vorhanden sind, um diese 
Einfuhr zu bezahlen. 

Der Konfliktspunkt ist anderswo zu suchen. 

Die Erdoberfläche ist unter die Nationen aufgeteilt. Diese 
Aufteilung ist das Ergebnis eines historischen Prozesses der Ver- 
gangenheit. Sie entspricht nicht den Produktions- und Bevölke- 
rungsverhältnissen der Gegenwart. Es gibt daher Nationen, deren 
Gebiet bei voller Freizügigkeit der Menschen und Güter dichter, 
andere, deren Gebiet dann dünner besiedelt wäre. Diese relative 
Uebervölkerung muß nun Wanderbewegungen auslösen. 

Die Wanderungen, vermittels deren die Bevölkerungsdichte 
sich der größeren oder geringeren Gunst der natürlichen Pro- 
duktionsbedingungen anpaßt, führen die Angehörigen der Natio- 
nen, deren Land weniger günstige Produktionsbedingungen auf- 
weist, in das Gebiet jener Nationen, in deren Land günstigere 
Bedingungen vorhanden sind. Denselben Weg ziehen die Kapi- 
talgüter, die eine günstigere Verzinsung suchen. Beide gehen 
damit der Stammnation früher oder später verloren. Das aus- 
geführte Kapital hilft dem Einfuhrlande seine Produktivkräfte 
zu verwerten. Der ausgewanderte Arbeiter assimiliert sich in der 
neuen Heimat. | 

Auswanderer, die sich in bisher unbewohnten Gebieten 
niederlassen, können auch in der neuen Heimat ihr Volkstum 
bewahren und weiterpflegen. Sie gehen ihrer Nation nicht verlo- 
ren, auch wenn sie politisch sich vom Mutterlande losgelöst haben. 
Nicht nur die Kanadier, Australier und Kapländer sind Glieder 





Vom Ziel der Handelspolitik. 567 


der weltumspannenden englischen Nationalkultur, sondern auch 
die Yankees. Anders ist es, wenn die Auswanderung sich nach 
einem bereits besiedelten Lande richtet und es den Kolonisten 
nicht vermöge ihrer Zahl oder ihrer militärischen Ueberlegenheit 
gelingt, die alten Bewohner zu verdrängen, wie dies etwa von den 
europäischen Kolonisten in Nordamerika geschehen ist. Dann 
müssen die Auswanderer früher oder später Muttersprache und 
Nationalkultur, heimatliche Sitte und Väterbrauch verlieren. 
Sie lernen die Sprache des Landes, sie passen sich ihm bald auch 
in jeder anderen Beziehung an. Ob sich die Assimilation schneller 
oder langsamer vollzieht, das hängt von einer Reihe von besonderen 
Umständen ab; aber sie ist unausbleiblich. Uns interessieren hier 
nicht die Ursachen dieser Erscheinung, uns genügt die Tatsache. 

Wir erkennen nun den Sinn und das Ziel der Handelspolitik. 
Soweit sie nicht überflüssigerweise eine ohnehin vorhandene 
Entwicklungstendenz, z. B. zur Industralisierung, fördert oder 
sich lediglich als Abwehrmaßnahme gegen die Handelspolitik 
des Auslandes darstellt, ist sie von dem Gedanken geleitet, die 
Größe der Nation der verhältnismäßigen Ungunst der Produktions- 
bedingungen auf dem Nationalgebiet zum Trotz zu heben oder 
zu erhalten. 

Dieses Ziel kann jedoch nicht erreicht werden, zumindest 
nicht in einer der Nation förderlichen Weise. Das Land mit 
verhältnismäßig ungünstigeren Produktionsbedingungen muß, 
pflegt man zu sagen, entweder Menschen exportieren oder Waren. 
Das ist richtig. Man übersieht jedoch dabei, daß die Warenaus- 
fuhr nur dann möglich ist, wenn man mit den Ländern der gün- 
stigeren Produktionsbedingungen in Wettbewerb tritt, d.h. 
wenn man trotz höherer Produktionskosten ebenso billig liefert, 
wie die mit geringeren Produktionskosten arbeitenden Länder. 
Das aber muß den Arbeitslohn und den Kapitalprofit im Lande 
drücken. Ganz abgesehen davon, daß dadurch auch die Kultur- 
höhe des Volkes herabgedrückt wird, muß dies, wenn man die Aus- 
wanderung von Kapital und Arbeit nicht gesetzlich erschwert 
oder verbietet, erst recht die Abwanderung fördern. 

Ein in dem Sinne, den wir oben bezeichnet haben, über- 
völkertes Land kann die Abwanderung des Bevölkerungsüber- 
schusses auf die Dauer durch kein Mittel aufhalten. Endlich muß 
die Bevölkerung doch auf jene Zahl herabsinken, die der rela- 
tiven Ausnutzbarkeit der Produktionsbedingungen im Inlande 


568 Ludwig von Mises, 


entspricht. Solange der Auswanderer noch bei Verwertung von 
Produktionsmöglichkeiten Arbeit finden kann, die günstiger sind 
als die mindest günstigen zu Hause ausgenutzten, wird er durch 
die Auswanderung seine wirtschaftliche Lage verbessern, so- 
lange wird auch die Auswanderung nicht zu verhindern sein. 
Es bedarf ja wohl auch keiner näheren Ausführung, daß der 
Agrarschutz sowohl als auch der industrielle Schutzzoll, der der 
Industrie die Möglichkeit gibt, durch Kartellierung und Ver- 
trustung den Inlandspreis hoch zu halten und im Auslande zu 
Schleuderpreisen abzusetzen, die Lebenskosten steigern. 

Daß diese Entwicklungstendenz nicht nur von den Führern 
der Volkswirtschaft, sondern auch von einem Teil der Publi- 
zistik verkannt werden konnte, ist auf den Umstand zurückzu- 
führen, daß es bisher noch immer möglich war, den Verlust des 
Absatzes in jenen Gebieten, die sich fortschreitend industriali- 
sieren, durch Erschließung neuer Absatzgebiete wettzumachen. 
Auf diesem Wege ist die englische, auch die französische und bel- 
gische Industrie der deutschen vorausgegangen. Einmal wird 
aber der Zeitpunkt gekommen sein, da auch dieses Auskunfts- 
mittel versagt. Wenn alle Agrarstaaten, soweit als es ihnen je nach 
Beschaffenheit ihrer natürlichen Produktionsbedingungen mög- 
lich ıst, Industrie betreiben werden, wird der vorwiegende 
Industriestaat nur soweit exportfähig sein als er durch die natür- 
lichen Produktionsbedingungen überlegen ist. 

Daß in dieser Entwicklung eine große Gefahr für die wirt- 
schaftliche Zukunft des »vorwiegenden Industriestaates«, des 
«Industrialismus» liegt, ist von einer Reihe von Schriftstellern 
mit dem größten Nachdrucke immer wieder betont worden ô). 
Und alles, was dagegen vorgebracht werden konnte, ist nicht 
imstande, die Richtigkeit unserer Schlußfolgerungen in Frage 
zu stellen. 

Die wissenschaftliche Behandlung des Gegenstandes hat 
darunter gelitten, daB man sie mit dem wirtschaftspolitischen 
Streit um Schutzzoll und Freihandel verquickt hat. In der Tat 
scheint für den, der die Gefahren der fortschreitenden Industria- 
lisierung der Agrarstaaten und ihrer Rückwirkung auf die Zu- 
kunft der Industriestaaten erkannt hat, der Schluß nahe zu liegen, 


$) Aus der umfangreichen Literatur seien genannt Wagner, Agrar- und 
Industriestaat. 2. Aufl. Jena 1902; Hildebrand, Die Erschütterung der 
Industrieherrschaft und des Industriesozialismus. Jena 1910. 


Vom Ziel der Handelspolitik. 569 


man könnte durch Schutzzölle der Entwicklung entgegentreten, 
die die Industriestaaten fürchten müssen. Das ist aber, wie wir 
gesehen haben, nicht möglich. Die Industriestaaten sind nicht 
in der Lage, den Agrarstaaten den Uebergang zur Industrie zu 
verbieten. Das wäre ein wirksames Mittel, um sich ihre gegen- 
wärtige Stellung in der internationalen Verkehrswirtschaft 
zu erhalten. Vom nationalen Gesichtspunkt ist noch ein anderer 
Ausweg möglich: die Angliederung von Besiedelungskolonien 
vorwiegend agrarischen Charakters in einem solchen Umfange, 
daß Mutterland und Kolonien zusammengenommen ein Gebiet 
darstellen, das im Verhältnis zur Güte seiner natürlichen Produk- 
tionsbedingungen nicht dichter bevölkert erscheint als die anderen 
Nationalgebiete. Das ist der Weg, den England betreten hat und 
den auch Deutschland hätte betreten müssen, wenn es nicht 
gerade zur Zeit, als Russen und Angelsachsen Erdteile erober- 
ten, in dem Elend der Kleinstaaterei verkommen wäre. 

Was kann hier der Schutzzoll leisten? Er kann nicht ver- 
hindern, daß die Agrarstaaten sich ihrerseits durch Schutzzölle 
und andere Verwaltungsmaßnahmen abschließen; im Gegenteile, 
er wird sie eher noch dazu anreizen, da er ihnen den Absatz ihrer 
landwirtschaftlichen Produkte erschwert und weil das Dumping- 
System, das in seinem Gefolge auftritt, zur Abwehr durch Zölle 
herausfordert. Der Industrieexportstaat müßte freihändlerisch 
sein, um durch sein Vorbild die Agrarstaaten zum Freihandel 
zu bekehren; aber das Beispiel Englands zeigt, wie wenig damit 
erreicht wird. 

So müssen denn schließlich auch die Fürsprecher des Schutz- 
zolls dahin gelangen, in der Einschränkung der Bevölkerungs- 
größe das Heil zu erblicken. Wozu dann aber den Schutzzoll ? 
Damit der deutsche Boden soviel Menschen ernähre als der 
Beschaffenheit seiner natürlichen Produktionsbedingungen ent- 
spricht, bedarf es keines irgendwie gearteten Eingreifens der 
Politik. Das eben ist ja das Ziel der Handelspolitik: einer größeren 
Bevölkerung auf dem begrenzten Raum die Existenz zu sichern. 
Wenn man auf die Erreichung dieses Zieles Verzicht leistet, 
dann spricht man der Handelspolitik überhaupt die Berechtigung 
ab. Dann bleiben der Handelspolitik nur noch kleinere Aufgaben 
von vorübergehender Bedeutung; aus der Reihe der großen Mittel 
im weltgeschichtlichen Existenzkampfe der Nationen scheidet 
Sie aus. 


Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 2. 37 


570 Ludwigjıvon, Mises, 


Seit Menschen auf der Erde leben, gibt es nur ein auf die 
Dauer wirksames Mittel gegen Uebervölkerung: die Auswanderung. 
Das Wort Segur’s, daß die Menschheitsgeschichte das Streben 
der Völker darstelle, von einem schlechteren Wohngebiete nach 
einem besseren fortzuschreiten, gilt auch für die Gegenwart. 

IV. Die Erkenntnis, daß die Schutzpolitik nicht jenes Ziel 
zu erreichen vermag, das sie sich gesetzt hat, ist auch ihren Be- 
fürwortern nicht entgangen ®). Dennoch geben sie sich nicht ge- 
schlagen. Sie erheben um so lauter den Ruf nach Schutz der natio- 
nalen Arbeit. Die Geschichte der letzten Jahrzehnte zeigt, daß 
sie dabei großen Erfolg hatten. Nahezu alle Staaten der Welt 
bekennen sich heute zum Protektionismus. 

Um zu einer Würdigung der modernen Zollpolitik zu ge- 
langen, muß man zwischen dem Vorgehen der übervölkerten und 
jenem der untervölkerten Länder unterscheiden. In den unter- 
völkerten Ländern, das sind solche, die weniger dicht besiedelt 
sind als der Gunst ihrer Produktionsbedingungen entsprechen 
würde, überwiegt fast immer die agrarische Produktion an Zahl 
der Beschäftigten und an Wert der Produkte mehr oder weniger 
über die gewerbliche; man bezeichnet sie, weil sie für den Welt- 
markt vor allem als Exporteure von landwirtschaftlichen Pro- 

dukten und als Konsumenten von Industrieerzeugnissen in Be- 
tracht kommen, gewöhnlich als Agrarstaaten. Es gibt zwei ver- 
schiedene Typen von Agrarstaaten; in jedem von ihnen ist der 
moderne Protektionismus aus anderen Motiven erwachsen. 

Auf der einen Seite stehen die altbesiedelten Kulturgebiete. 
Wenn diese Länder auch vorwiegend Agrarstaaten sind, so fehlt 
ihnen durchaus nicht die gewerbliche Produktion. Sie hatten schon 
vor der Entwicklung der modernen weltwirtschaftlichen Be- 
ziehungen ein Gewerbe, das den inneren Markt des Landes ver- 
sorgt hat. Nun wird dasLand allmählich in den Weltverkehr ein- 
bezogen; die alte Autarkie schwindet. Agrarprodukte werden 
ausgeführt und aus dem Auslande kommen Industrieerzeugnisse 
herein. Damit tritt die ausländische Großindustrie in den Wett- 
bewerb mit dem autochthonen Gewerbe, das in den weniger 
leistungsfähigen Formen des Handwerks und des Hausfleißes 
daneben allenfalls auch in Unternehmungen mittleren Umfanges 
betrieben wird. In diesem Kampfe muß nun das Ausland mit 
seiner wirtschaftlichen und betriebstechnischen Ueberlegenheit 

5) Vgl. vor allem Wagner,a.a.0. S.8ı ff. 





Vom Ziel der Handelspolitik. 571 


zunächst siegen. In den unterliegenden Gewerben werden damit 
Kleinunternehmer und Arbeiter beschäftigungslos. Vom rein 
= wirtschaftlichen Standpunkte betrachtet gäbe es für diese frei- 
werdenden Kräfte zwei Wege: entweder auszuwandern, um in 
den fortgeschrittenen Industrieländern in der Großindustrie 
unterzukommen, oder im Lande selbst sich der landwirtschaft- 
lichen oder einer anderen Urproduktion zuzuwenden. Der zweite 
Ausweg erscheint nahezu unmöglich; denn erfahrungsgemäß 
ist der Uebergang zur Landarbeit für einen gewerblichen Arbeiter 
außerordentlich schwer. Der erste ist zwar für die Arbeiter mit 
gewissen Nachteilen verbunden, wie überhaupt der Uebergang 
vom Kleinbetrieb zum Großbetrieb für die erste Arbeitergenera- 
tion; aber er ist gangbar. Dann aber geht der Arbeiter der Nation 
durch Auswanderung verloren. Um diesen Verlust zu verhindern, 
greift die nationale Schutzpolitik ein. Sie wartet nicht erst so- 
lange zu, bis die wachsende Not Handwerksmeister und Gesellen 
zum letzten Schritt zwingt; sie bekämpft die unerwünschte Ent- 
wicklung schon früher, um dem Elend der Arbeiterschaft zu steu- 
ern. Der Schutzzoll beschleunigt die industrielle Entfaltung und 
verhindert so die drohende Abwanderung der gewerblichen Be- 
völkerung. Vom rein wirtschaftlichen Gesichtspunkt ist dieser 
Vorgang nicht zu rechtfertigen; er will vom nationalpolitischen 
Standpunkt verstanden sein. 

Die zweite Gruppe bilden die Gebiete junger kolonialer An- 
siedlung. Die Ansiedler waren vor allem Bauern, die ihren Be- 
darf an gewerblichen Erzeugnissen durch Einfuhr aus dem Mutter- 
land deckten. Aus finanztechnischen Gründen kommen für diese 
Staaten als wichtigste Einnahmsquelle die Einfuhrzölle, die zu- 
nächst nur als Finanzzölle gedacht waren, in Betracht. Es konnte 
nicht ausbleiben, daß diese Zölle daneben auch die Entstehung 
einer kolonialen Industrie beförderten. Eine Beseitigung der 
betreffenden Zollpositionen hätte nun für die Kolonie popula- 
tionistisch ungünstig gewirkt, zumal da es sich herausstellte, daß 
die unter dem Zollschutze entstehende Industrie die Einwande- 
rung von Arbeitern förderte. So gelangte man dazu, die Zölle 
in Schutzzölle umzuformen. Dies war z. B. die Entwicklung 
in den Vereinigten Staaten und in Australien. 

Der industrielle Schutzzoll ist in den Agrarstaaten volks- 
tümlich, trotzdem er nicht nur vom weltwirtschaftlichen Stand- 
punkte sondern auch vom Standpunkte der rein wirtschaftlichen 


57 


572 Ludwig von Mises,- 


Interessen der Landesbewohner nicht gerechtfertigt werden kann. 
Auch die Landwirte, die durch ihn vor allem benachteiligt werden, 
heißen ihn gut. Das nationalpolitische Interesse am Wachsen 
der Nation siegt hier über die rein wirtschaftlichen Interessen. 

Aehnlich wie die Arbeiterschaft der industriellen Länder 
ihrem Kampf gegen die individualistische Gesellschaftsordnung 
durch die vulgärsozialistische Ausbeutungstheorie, die sie der 
Lehre von der Interessenharmonie gegenüberstellt, eine ethische 
Rechfertigung zu verleihen gesucht hat, schmückt sich auch die 
industrielle Schutzpolitik der Agrarstaaten mit einer Ausbeutungs- 
theorie. Der Patriot im Agrarstaate sieht im Industrieexport- 
staat den Ausbeuter, der sich am Handel mit dem Agrarland un- 
gerecht bereichert. Er blickt mit scheelem Auge auf den Reich- 
tum der Industrieländer und vergleicht damit die einfacheren 
und ärmlicheren Verhältnisse seiner Heimat. Die. Abneigung, 
die er gegen die Angehörigen der industriellen Völker hegt, ist 
die gleiche wie die des Ritters gegen die Bürger, die des Junkers 
gegen den Schlotbaron, nur verschärft und verbittert durch den 
nationalen Gegensatz. Ein Deutscher, Friedrich List, hat am 
meisten zur Ausbildung der neomerkantilistischen Ideologie 
beigetragen, die sich heute in erster Linie gegen das deutsche 
Volk kehrt. Der Russe sieht im Deutschen den Feind, der durch 
seine überlegene Industrie die Entwicklung der Produktivkräfte 
des Slaventums stört. Die Herkunftsbezeichnung auf den deut- 
schen Ausfuhrgütern, das Made in Germany wirkt aufreizend 
auf Gemüter, die durch solche Ideen voreingenommen sind. 

Ein ganz anderes Bild gibt die Schutzpolitik der übervölkerten 
Staaten, d. s. diejenigen, die bei voller Freizügigkeit zu Abwande- 
rungsgebieten werden müssen. Diese sind im allgemeinen In- 
dustriestaaten. Bei ihnen entspringt der Protektionismus nicht 
einem einheitlichen Zug. Er greift nicht einer unausbleiblichen 
Entwicklung vor, er will eine Entwicklungstendenz aufhalten 
oder doch verzögern. Es gibt hier zwei verschiedene Arten von 
Schutzzöllen. Zunächst soll durch den Zoll die Ausdehnung der Pro- 
duktion auf weniger günstige Produktionsbedingungen oder ihre 
Fortsetzung unter Produktionsbedingungen, die durch die Ent- 
wicklung des Verkehrs oder der Technik weniger günstig geworden 
sind, ermöglicht werden. Diesen Zoll, der vor allem als Agrarzoll 
auftritt, wird man als den Produktionskostenzoll bezeichnen 
können, da er in der Lehre mit der Verschiedenheit der Produk- 


Vom Ziel der Handelspolitik. 573 


tionskosten begründet wird. Die zweite Gruppe bilden jene Zölle, 
die in den Exportproduktionszweigen aufgestellt werden. Sie 
sollen den Erzeugern die Bildung von Kartellen ermöglichen, 
die durch Erhöhung des Inlandspreises die Möglichkeit für den 
Export zu niedrigeren Preisen bieten: Kartellierungszölle *). 

In der letzten Wirkung sind Produktionskostenzoll und 
Kartellierungszoll wie überhaupt alle Schutzzölle identisch: sie 
verringern das Nationaleinkommen. Sie schränken damit den Nah- 
rungsspielraum ein und verfehlen somit gänzlich den Zweck, den 
sie in letzter Linie erfüllen sollen. Sie können nur vorübergehende 
Erfolge bringen. Die oberflächliche Anschauung, die im Schutz- 
system nichts anderes sehen will als Maßnahmen einer einseitigen 
Klassenpolitik zugunsten der produzierenden Unternehmer, 
mag in ihrer Kritik der Motive und der Wirkungen des Protektio- 
nismus völlig fehlgehen ; soviel aber kann ihr zugestanden werden, 
daß der Versuch, die Entwicklung zur Weltwirtschaft aufzuhalten, 
ergebnislos bleiben muß. 

V. In den letzten Jahren sind im Leben der Völker Verände- 
Tungen eingetreten, die die Voraussetzungen der Handelspolitik 
nicht unberührt lassen können. 

Die Entwicklung und Verbilligung der Verkehr hat 
der Saisonwanderung eine ungeahnte Ausdehnung gegeben. Es 
ist nicht ausgeschlossen, daß in Zukunft die Auswanderung an 
Umfang und Bedeutung hinter der -internationalen Sachsen- 
gängerei zurückbleiben wird”). Dann werden Unternehmer- 
völker und Arbeitervölker einander gegenüberstehen. Mit dieser 
Wandlung im Charakter der Wanderbewegungen werden die 
Nachteile, die aus der Beschränkung auf ein Gebiet mit weniger 
günstigen Produktionsbedingungen erwachsen, den Völkern noch 
stärker fühlbar werden als sie es heute sind. Die Nation, die das 
von der Natur schlechter ausgestattete Land bewohnt, wird zwar 
nicht mehr befürchten müssen, an Koptzahl hinter den anderen 
glücklicheren Nationen zurückzubleiben; sie wird aber dauernd 
im Wohlstand und damit in der Kultur im Rückstand sein. Der 





$) Es hat für diese Untersuchung, die sich nur auf die Grundsätze beschränkt, 
weiter keinen Zweck, auch noch die anderen Mittel der Schutzpolitik (z. B. Ex- 
portprämien, Eisenbahntarife) zu besprechen, da diese in ihren Wirkungen stets 
entweder den Kartellierungszöllen oder den Produktionskostenzöllen gleich- 
kommen. 

) Vgl. Bonn, Die Idee der Selbstgenügsamkeit. (Festschrift für Lujo 
Brentano.) München und Leipzig 1916. S. 68. 


574 Ludwig von Mises, 


Anreiz, aus nationalen Rücksichten nach einer Umwälzung dieser 
Verhältnisse zu streben, wird daher nicht schwächer, eher stärker 
werden. 

Die dauernde Auswanderung nach fremdnationalen Gebieten 
wird in Hinkunft voraussichtlich immer mehr und mehr auf 
Schwierigkeiten stoßen. Die Auswanderer standen einst und 
stehen zumeist noch heute auf einer niedrigen Stufe der Kultur. 
Sie nahmen auf ihren Weg in die Fremde wenig oder nichts von 
der nationalen Bildung mit. Der soziale Aufstieg in der neuen 
Heimat brachte sie dann leicht der Nationalkultur des Wirt- 
volkes näher. So standen der Assimilation keine großen Hinder- 
nisse im Wege. Daran konnten auch Schulen, Bibliotheken und 
Zeitungen, die von wohlwollenden Vereinen gestiftet und von den 
Heimatsregierungen unterstützt wurden, nichts ändern. Aber 
mit der Verbesserung der Volksbildung in den Abwanderungs- 
gebieten und der erhöhten Teilnahme der unteren Volksschichten 
an der nationalen Kultur wird auch das anders. Der europäische 
Auswanderer nimmt heute von der Heimat schon etwas mehr mit 
als die Erinnerung an Elend und Unterdrückung. Noch ist diese 
kulturelle Mitgift nicht groß genug, um die Assimilation zu ver- 
hindern, aber sie erschwert und verlangsamt sie schon heute. 

Damit bekommt das Einwanderungsproblem ein neues Aus- 
sehen. Die durch die Einwanderung bedrohten Sonderinteressen 
der Industriearbeiter, die einst vor dem größeren nationalen 
Interesse an der Einwanderung zurücktreten mußten, können 
sich nun auf die Gefährdung der nationalen Einheit berufen, wenn 
sie Zuzug fernhalten wollen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, 
daß sich alle Länder einer Einwanderung, die ihre nationale Zu- 
sammensetzung gefährdet, wirksam verschließen werden, wie 
sich die von Weißen besiedelten Länder schon lange gegenüber 
der gelben Einwanderung verschlossen haben. 

Endlich muß auch der Geburtenrückgang die Probleme, 
die den Ausgangspunkt der Handelspolitik bilden, beeinflussen. 
Zwar können durch eine langsamere Zunahme, einen Stillstand 
oder eine Abnahme der Bevölkerungsgröße die Ursachen der 
Wanderbewegungen nicht behoben werden, wenn diese Erschei- 
nungen sich auf die ganze Erde gleichmäßig verteilen. Wenn in 
einem bestimmten Zeitraum die Bevölkerung jedes einzelnen 
Nationalgebietes in dem gleichen Maße eine Verminderung er- 
fahren würde, so würde dies allein die relative Uebervölkerung 


Vom Ziel der Handelspolitik. 575 


der einen und die relative Untervölkerung der anderen Gebiete 
nicht beseitigen. Es würde nach wie vor Gebiete geben, die im 
Verhältnis zur Gunst ihrer Produktionsbedingungen zu dicht, 
und solche, die zu dünn besiedelt sind. Darum würde sich auch 
an der Tendenz, durch Wanderbewegungen eine gleichmäßigere 
Verteilung der Menschen über die Erdoberfläche herbeizuführen, 
nichts ändern. Da aber das Gesamtprodukt bei Verringerung der 
Arbeiterzahl — falls diese nicht über ein gewisses Maß hinaus- 
geht — nicht entsprechend der Verminderung der Arbeitskräfte, 
sondern in schwächerem Maße sinkt (Gesetz vom abnehmenden 
Ertrag), so würde dadurch bei sinkendem Volkseinkommen die 
Durchschnittsgröße des auf den Kopf entfallenden Einkommens 
steigen. Daß bei einer solchen Einkommensgestaltung die handels- 
politischen Maßnahmen nachhaltigere Wirkung zu üben vermögen 
als bei wachsender Bevölkerung und caeteris parıbus sinkendem 
Einkommen leuchtet wohl ein. 

VI. Die Erfahrungen des Weltkrieges lassen ein Argument 
zugunsten der wirtschaftlichen Selbstgenügsamkeit, das übri- 
gens auch schon vor dem Kriege geltend gemacht wurde, als be- 
sonders bedeutungsvoll erscheinen. Nur ein Staat, der in der 
Versorgung mit allen zur Kriegführung und zur Fortfristung der 
Existenz seiner Bevölkerung während des Krieges erforderlichen 
Gütern von fremden Zufuhren unabhängig ist, sei in der Lage, 
einen Krieg siegreich zu bestehen. Wo die Landesverteidigung 
in Frage komme, müßten alle anderen Rücksichten zurücktreten. 
Die Handelspolitik der Zukunft müsse daher in erster Linie danach 
streben, eine gleichmäßige Verteilung der inländischen Arbeit 
auf alle Zweige der Ur- und gewerblichen Produktion herbei- 
zuführen. 

Die Anhänger des extremen Kollektivismus werden sich 
durch das, was oben über die Unerreichbarkeit der Ziele der 
Handelspolitik gesagt wurde, keineswegs beirren lassen. Sie 
werden einwenden, daß man die Auswanderung verbieten könne, 
um den Rückgang der Bevölkerungszahl zu verhindern. Es liege 
nichts daran, wenn ein Volk, dem die Geschichte einen engbe- 
grenzten, von der Natur nur stiefmütterlich bedachten Teil der 
Erdoberfläche als Wohnraum zugewiesen hat, ärmlicher leben 
müsse als andere glücklichere Völker. Sittliche und kriegerische 
Tugend könne in der Armut besser gedeihen als im Wohlleben. 
Es entsteht das neue Ideal eines Volkes, das in allem seinem Tun 


576 Ludwig von Mises, 


und Lassen, vornehmlich in der Wirtschaft auf die Möglichkeit 
eines Aushungerungskrieges Rücksicht nimmt. 

In dieser Beweisführung steckt jedoch ein schwerer Fehler. 
Sie übersieht, daß es im Kriege auch auf die Beschaffenheit der 
Ausrüstung unf Bewaffnung und nicht bloß auf ihr Vorhanden- 
sein ankommt. Das Volk, das die materiellen Mittel für die Krieg- 
führung unter weniger günstigen Produktionsbedingungen her- 
stellen muß, wird schlechter verpflegt, ausgerüstet und bewaffnet 
ins Feld ziehen als seine Gegner. Bis zu einem gewissen Maße 
kann solche materielle Minderwertigkeit durch persönliche Tüch- 
tigkeit wettgemacht werden. Aber es gibt hier eine Grenze, über 
die hinaus alle Tapferkeit und alle Aufopferung nicht hinweghilft. 

VII. Eine Nation, die über Ansiedlungsgebiete von solcher 
Ausdehnung und Beschaffenheit der natürlichen Produktions- 
bedingungen verfügt, daß sie in absehbarer Zeit ihren Zuwachs 
im Inlande ohne Gefahr einer Uebervölkerung wird unterbringen 
können, kann der Zukunft beruhigt entgegensehen. Als über- 
völkert sehen wir dabei ein Land dann an, wenn es dichter be- 
wohnt ist, als dies bei völliger Freizügigkeit auf der ganzen Erd- 
oberfläche der Fall wäre. Das gilt für große und für kleine Nationen 
in gleicher Weise. Für die großen Nationen sind die politischen 
Folgen dieses Zustandes freilich andere als für die kleinen. Wenn 
ihre Zukunft gesichert ist, dann ist damit auch ihre Stellung 
als Weltmacht gesichert. 

Am Beginne des zwanzigsten Jahrhunderts sehen wir drei 
große Weltreiche an Gebietsausdehnung und Volkszahl sich weit 
über die anderen Nationen erheben: England, die Vereinigten 
Staaten und Rußland. In jedem dieser Reiche wird der Versuch 
unternommen, durch die Handelspolitik die örtliche Arbeits- 
teilung zugunsten des eigenen Landes zu beeinflussen. In jedem 
erwächst der Gedanke der nationalen Autarkie zum nationalen 
Ideal. Und weit zurückliegende historische Ereignisse — die 
Teilung der Erdoberfläche, wie sie sich im 17. und 18. Jahrhundert 
vollzogen hat — bieten die Möglichkeit zu seiner Verwirklichung. 

Am einfachsten liegt das Problem in Rußland. Rußland war 
vor einem Menschenalter ein riesiger Agrarstaat fast ohne In- 
dustrie, mit geringer, doch stark ansteigender Nachfrage nach 
Industrieerzeugnissen. Der industrielle Hochschutzzoll hat die 
Entstehung der Industrie in manchen Zweigen ermöglicht, in 
anderen nur beschleunigt. Das russische Volk ist in der glück- 


Vom Ziel der Handelspolitik. 577 


lichen Lage, einen großen, mit günstigen Produktionsbedingungen 
ausgestatteten Teil der Erdoberfläche zu beherrschen. Es muß 
nicht fürchten, in absehbarer Zeit aus der Liste der großen Natio- 
nen gestrichen zu werden. Seine Söhne können im Lande bleiben, 
das noch für eine vielfach größere Bevölkerung Raum bietet. 

Aehnlich günstig liegen die Dinge für das englische Volk. 
Großbritannien war schon vor Ioo Jahren ein Industriestaat, sein 
Absatzgebiet und seine Kornkammer die Welt. Als nun gegen 
Ende des 19. Jahrhunderts die fortschreitende Industrialisierung 
seiner vormaligen besten Absatzgebiete die Zukunft des britischen 
Fabrikatenexportes in Frage zu stellen schien, da wandten sich die 
Augen der englischen Politiker den großen Siedelungskolonien 
zu. Auch im englischen Weltreich ist Raum genug für Bevölke- 
Tungsvermehrung. Nicht mehr Indien, sondern Kanada, Australien 
und Südafrika erscheinen heute als die Unterlagen der Weltstel- 
lung des englischen Volkes. 

Auch die Vereinigten Staaten sind groß genug und reich 
an Bodenschätzen, um ein Vielfaches ihrer heutigen Bevölke- 
rung zu ernähren. 

Zu diesen drei großen Weltreichen der Gegenwart werden 
vielleicht noch andere hinzutreten. Die äußeren Bedingungen 
scheinen für China und für Indien gegeben zu sein. Zu Welt- 
mächten zweiten Ranges mögen sich allenfalls auch Japan, Spa- 
nien im Vereine mit dem ehemals spanischen Südamerika, viel- 
leicht auch noch Portugal im Vereine mit Brasilien und Italien 
durch Ausbreitung in Nordafrika entwickeln. Auch für die fran- 
zösische Nation wären die politischen und wirtschaftlichen Vor- 
bedingungen für eine Ausbreitung an der Nordküste Afrikas ge- 
geben, wenn eine andere Gestaltung der Geburtenzahl ihre Be- 
völkerungsvermehrung sichern würde. 

Die Grundlagen eines Weltreiches sind eine Bevölkerung, die 
sich ungefähr in dem gleichen Maße vermehrt wie die der anderen 
Weltreiche, und ein Ansiedlungsgebiet, das dieser Bevölkerung 
Raum zur Entfaltung bietet. Handelspolitische Maßnahmen 
können nichts dazu beitragen, einer Nation ein Weltreich zu 
begründen, wenn diese Bedingungen fehlen. 

Dem deutschen Volke fehlen sie heute. Deutschland kann 
die Bevölkerung, die es heute bewohnt, nur dann ernähren, wenn 
seine Industrie fremde Rohstoffe für fremden Bedarf verarbeitet, 
um für den Arbeitslohn und das Unternehmereinkommen jene 


578 Ludwig von Mises, 


Rohstoffe für den eigenen Bedarf zu erwerben, die der eigene 
Boden nicht trägt. Dieser Zustand läßt sich auf die Dauer nicht 
aufrechterhalten. Und darum braucht das Deutsche Volk, wenn 
es nicht seine Weltstellung verlieren will, Ansiedelungskolonien 8). 
Es gibt noch andere Nationen, die in ähnlicher Lage sind. Aber 
weitaus die größte und mächtigste der unbefriedigten Nationen 
ist die deutsche. Wenn deutsche Männer und Frauen die Hei- 
mat verlassen, können sie kein Land aufsuchen, in dem sie ihre 
Nationalität bewahren können. Denn alles Land, in dem Weiße 
als Bauern und Arbeiter gedeihen können, ist in den Händen 
fremder Nationen, wenn wir von dem nur für eine verschwindend 
kleine Zahl Raum bietenden Südwestafrika absehen. Ueberall 
in der Welt, wo für den weißen Mann Platz frei war, haben sich 
in den letzten 150 Jahren auch Deutsche angesiedelt. Allein nach 
den Vereinigten Staaten sind in den Jahren 1820—1906 fünf 
Millionen Deutsche (ohne die Oesterreicher) eingewandert. Sie 
alle und ihre Nachkommen sind für das Deutschtum verloren °). 

Wenn die deutsche Politik es auch bisher kaum versucht 
hat, Ansiedlungsgebiete zu gewinnen, so fühlen es doch alle jene 
Völker, die über größere Gebiete verfügen als sie für ihre künf- 
tige Entwicklung brauchen, daß Deutschland ihr natürlicher 
Gegner sein müsse. Man wird die unfreundliche Haltung, die 
das neutrale Ausland im Weltkrieg eingenommen hat, mit mehr 
Berechtigung auf die Interessensolidarität der Völker, die bei 
der Teilung der Erde nicht wie der Poet zu spät gekommen sind, 
zurückführen als auf jene Gründe, die gewöhnlich geltend ge- 
macht werden. 

VIII. Eine weitverbreitete Anschauung glaubt, die na- 
tionalen Gegensätze müßten endlich durch die wirtschaftliche 
Interessensolidarität überwunden werden. Soweit diese Auf- 
fassung nur ein Ausdruck für die Tatsache sein soll, daß die rein 
wirtschaftlichen Gesichtspunkte für den Freihandel und gegen 





8) Vgl. Jentsch , Der Weltkrieg und die Zukunft. Berlin 1915. S. 96 ff. 

9%, Die deutsche Auswanderungsstatistik weist seit mehr als zwei Jahrzehnten 
einen starken Rückgang der Zahl der Auswanderer auf. Dies widerspricht nicht 
dem oben im Text Gesagten. Denn einmal fällt dieser Rückgang mit der voll- 
ständigen Ausbildung des deutschen Industrialismus und mit der Befestigung 
des Schutzsystems nach Ueberwindung der Caprivischen Aera zusammen, die 
ja vorübergehend zu einer Eindämmung der Auswanderung führen mußten. 
Dann aber ist zu beachten, daß die für Deutschland besonders charakteristische 
Auswanderung der Intelligenzberufe (Techniker, Handelsangestellte u. dgl.) 
von der Statistik nicht erfaßt wird. 





Vom Ziel der Handelspolitik. 579 


die nationale Absonderung durch Schutzpolitik sprechen, mag 
man sie gelten lassen; daß die Schutzpolitik nur in außerwirt- 
schaftlichen Erwägungen ihre Rechtfertigung suchen kann, 
wurde ja oben gezeigt. Zumindest für die nächsten Jahre muß 
allerdings die Erwartung, es könnten die rein wirtschaft- 
lichen Erwägungen bei der Behandlung der Probleme der Han- 
delspolitik den Sieg über die nationalpolitischen davontragen, 
als unbegründet zurückgewiesen werden. Gegenwärtig gewinnt 
im Gegenteil das Nationalitätsprinzip in der Politik immer mehr 
an Boden. 

In Beziehung zum österreichisch-ungarischen Staatsproblem 
pflegt man diese Auffassung noch in einem besonderen Sinne vor- 
zutragen. Die Wirtschaft sei das einigende Band, das die aus 
nationalen Gründen vom Staatskörper fortstrebenden Völker 
an das Reich feßle. Das ist vor allem der Standpunkt Karl 
Renners 19). 

Renner sieht den modernen Staat als »Wirtschaftsgemein- 
schafte, als sorganisiertes Wirtschaftsgebiete an. Die heutigen 
Staaten sind »politische Einheit, weil sie sich nach außen abgrenzen 
durch eine Zollmauer und nach innen durch die Blut- und Nerven- 
Stränge ihrer Verkehrslinien um die festen und mächtigen Zen- 
tren ihrer Hauptstädte gliederne. Mit der zweiten Behauptung 
weist Renner eigentlich mehr auf eine geographische Konstruk- 
tion der Staatseinheit hin; mit ihr haben wir uns hier nicht weiter 
zu beschäftigen. Uns interessiert hier nur die Auffassung des 
Staates als Zollgemeinschaft. Renner kehrt den Sachverhalt 
gerade um; nicht die politische Einheit, sondern die Zollgemein- 
schaft erscheint als das konstitutive Merkmal des Staates. 
»Man kann sich zum Beispiele — fährt Renner fort — »kaum eine 
der bisherigen Staatlichkeit fremdere Erwerbung denken, als 
die seinerzeitige Erwerbung Galiziens durch Oesterreich. Die 
mehr als hundertjährige Gemeinschaft hat dieses Gebiet dem Wirt- 
schaftskörper der Monarchie organisch gemacht: sein Holz und 
Getreide, sein Petroleum, Benzin und Spiritus fehlen sofort in 
jedem Haushalt, in jedem Betriebe, wenn das Gebiet vom Feinde 
besetzt ist. Umgekehrt empfindet die gesamte Papier-, Textil- 
und Eisenindustrie den jähen Ausfall des Absatzgebietes«. 
Ja, aber sind nicht Wolle, Baumwolle, Gummi, Kaffee, Tee, 


10) Vgl. vor allem Renner, Oesterreichs Erneuerung. 2. Aufl, Wien 
Ig16,. S. 30C— 35. 


580 .Ludwig von Mises, 


Häute usw. für die Versorgung des westösterreichischen Marktes 
ebenso wichtig und empfindet etwa die Zuckerindustrie den Ver- 
Just des gewohnten Absatzgebietes minder schwer als ein anderer 
Erzeugungszweig? Müßte man also nicht zu dem Schlusse ge- 
langen, daß die Vereinigten Staaten, England und seine Kolonien, 
Brasilien, kurz die ganz Welt mit Westösterreich ebenso organisch 
verbunden ist wie Galizien? Wäre es den Ententemächten ge- 
lungen, Deutschland und Oesterreich in der bekannten Weise 
aufzuteilen, dann hätte wohl nach abermals hundert Jahren ein 
Anhänger der Rennerschen Doktrin gefunden, daß Brandenburg 
mit Rußland, Westfalen mit Frankreich, Tirol mit Italien durch 
hundertjährige -Gemeinschaft »organisch« verbunden sei. 

Es ist richtig, daß eine langjährige Zollgemeinschaft enge 
wirtschaftliche Beziehungen knüpft. Eine Aenderung dieser 
Zusammenhänge, sei es durch Aufrichtuug neuer Zollgrenzen, 
durch Abtragen bestehender oder durch Erhöhung oder Er- 
mäßigung der Zollsätze bringt daher, je nach den Umständen, 
große Verschiebungen in den Produktions- und Absatzverhält- 
nissen. Aber ähnliche Verschiebungen treten auch infolge jeder 
anderen Umwälzung der Produktionsbedingungen ein; jede neue 
Erfindung, jede Erschließung neuer Rohstofflager vermag sie 
auszulösen. Renner findet, das Ausscheiden eines überwiegend 
landwirtschaftlichen Landes aus einem industriestaatlichen Wirt- 
schaftsgebiet sei besonders ruinös, da es den Bodenwert herab- 
drücke. Aber dieselbe Wirkung müßte auch eine Aufhebung oder 
. Milderung der Agrarzölle nach sich ziehen; will Renner auch dies 
bekämpfen? Es ist richtig, daß vom rein wirtschaftlichen Stand- 
punkt aus die möglichste Ausdehnung des Wirtschaftsgebietes 
d. h. des Freihandelsgebietes anzustreben ist; und das größte 
Gebiet ist die ganze bewohnte Erdoberfläche. Das völkische 
Sonderinteresse der einzelnen Nationen verlangt aber, wie wir 
gesehen haben, heute noch die Wirtschaftsabsonderung. Ander- 
seits wieder tritt der Freihandelsgedanke an jeden Zollschranken 
mit der Frage nach seiner Berechtigung heran; und die zwin- 
gende Kraft des Freihandelsarguments siegt früher oder später 
über jeden Zoll, der nicht vom Nationalitätsprinzip gestützt wird. 

An der völligen Verkennung dieser Tatsachen krankt auch 
Naumanns »Mitteleuropa«.. Für die kleinen Nationen ist es 
überaus schwer, sich neben den großen Weltnationen, neben den 
Angelsachsen, den Russen und den Gelben selbständig zu erhalten. 





Vom Ziel der Handelspolitik. 581 


Nichts liegt den kleinen Völkern näher als sich zu verbünden, um 
in der Einheit Kraft zum Widerstande zu finden; und nichts er- 
scheint natürlicher, als daß das deutsche Volk, als das größte 
und begabteste unter den schwächeren Völkern, in diesem Bunde 
die Führung übernimmt. Zwei Umstände stehen jedoch diesem 
Zusammenschlusse, der als dringendes Gebot der Selbsterhaltung 
erscheint, heute noch hinderlich im Wege. Einmal die von allen 
übrigen Völkern der Welt schon lange überwundene obrigkeitlich- 
autoritative Geistes- und Staatsverfassung der Deutschen 2). Dann 
aber nicht minder der Umstand, daß der zukünftige Bund von 
den Deutschen in erster Linie als Wirtschaftsbund geplant wird, 
als Zoll- und Wirtschaftsgemeinschaft. Die Magyaren, Rumänen, 
Serben, Bulgaren und all die anderen Völker zwischen Berlin 
und Bagdad wollen und können nicht darauf verzichten, eine 
nationale Industrie zu schaffen. Sie wollen nicht lediglich Agrar- 
völker bleiben, Absatzgebiete und Rohstofflieferanten für die 
deutsche Industrie. Sie wollen nicht zusehen, wie ihre überschüs- 
sige Bevölkerung dereinst nach Deutschland abwandern wird, 
um dort als Arbeiter der deutschen Fabriken germanisiert zu 
werden. Sie werden vielleicht in einen politischen Bund mit dem 
Deutschen Reiche einwilligen, in ein Schutz- und Trutzbündnis 
zur Wahrung ihrer staatlichen Unabhängigkeit, niemals aber in 
eine Wirtschafts- und Zollgemeinschaft. Sie werden es gerne sehen, 
daß die Absatzmöglichkeiten für ihre landwirtschaftlichen Er- 
zeugnisse nach Deutschland und Oesterreich erweitert werden, 
aber sie werden nicht darauf verzichten, unter schrittweiser 
Verdrängung der deutschen Einfuhr eine nationale Industrie 
aufzurichten. 

Die Zoll- und Wirtschaftsgemeinschaft soll das Band sein, 
das die einzelnen Glieder eines Nationalitätenstaates an das Reich 
lesselt. i 

Sehen wir uns zunächst das Verhältnis zwischen Oesterreich 
und Ungarn an. Die beiden Staaten, rechtlich völlig unabhängig, 
befugt, ohne Rücksichtnahme auf einander ihre handelspoliti- 
schen Beziehungen zum Auslande zu regeln, bilden ein gemein- 
schaftliches Zollgebiet. Diese Gemeinsamkeit ist für jeden der 
beiden von Vorteil. Der österreichischen Industrie bietet sie 
ein lohnendes Absatzgebiet, in dem sie den Wettbewerb der 
überlegenen Industriestaaten nicht zu fürchten braucht; die 


L) Vg. r reußB, Das deutsche Volk und die Politik. Jena 1915. 


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582 .Ludwig von Mises, 


ungarische Landwirtschaft kann ihre Erzeugnisse in Oesterreich 
zu einem den Weltmarktpreis um die Zollhöhe übersteigenden 
Preis verkaufen. Die Zollgemeinschaft erschwert aber ander- 
seits die Entstehung einer magyarischen Nationalindustrie. Das 
macht sie dem magyarischen Nationalgefühl unerträglich. Und 
längst schon wäre sie in die Brüche gegangen, wenn nicht die un- 
garische Gesetzgebung und Verwaltung es verstanden hätte, 
auch ohne Zölle einen entschiedenen Kampf gegen die öster- 
reichische Ausfuhr nach Ungarn zu führen. Oesterreich und 
Ungarn leben zwar in Zoll- und Währungsgemeinschaft, aber nicht 
in Wirtschaftsgemeinschaft, sondern im permanenten Wirtschafts- 
krieg. So ist es gelungen, auch ohne Aufrichtung einer Zwischen- 
zollinie in Ungarn eine Industrie ins Leben zu rufen und zu be- 
schützen. Aber das war nur möglich unter beständigen Reibungen, 
Weiterungen und Kontroversen zwischen den beiden Reichs- 
hälften, die viel böses Blut gemacht haben. Das Zusammenleben 
der beiden Staaten in der Gemeinschaft war das denkbar schlech- 
teste, nicht trotz, sondern in erster Linie gerade wegen der Zoll- 
gemeinschaft. 

Gehen wir nun'zu den österreichischenVerhältnissen über. 
Deutsche und Tschechen, die beiden der Zahl nach stärksten 
Nationen, haben sowchl den Ungarn als auch den anderen Na- 
tionen Zisleithaniens gegenüber die gleichen Interessen. Zwar 
ist die Industrie in den Sudetenländern im deutschen Sprach- 
gebiet stärker entwickelt als im tschechischen. Aber auch die 
industrielle Entwicklung des tschechischen Gebietes ist eine — 
im Verhältnis zum übrigen Oesterreich — ganz außerordentliche. 
Noch ist ein großer Teil der Industrie des tschechischen Sprach- 
gebietes in Händen deutscher Unternehmer; aber auch diese 
Unternehmungen tragen ja zur Mehrung und Kräftigung der 
tschechischen Nation bei und überdies hoffen die Tschechen, 
früher oder später ihre Leitungen auch zu slavisieren. Beide 
Volksstämme der Sudetenländer haben mithin den noch vor- 
wiegend agrarischen Teilen der Monarchie gegenüber die gleichen 
nationalen Interessen. Beide werden durch jede Verenge- 
rung des gemeinsamen Zollgebietes der österreichisch-ungarischen 
Monarchie bedroht; beide fürchten die Industrialisierung Ungarns 
oder Galiziens. Diesen großen gleichlaufenden auswärtigen Inter- 
essen gegenüber verschwindet für den oberflächlichen Beobachter 
der erbitterte Wirtschaftskampf, der im Innern zur Austragung 


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Vom Ziel der Handelspolitik. 583 


gelangt. Da wird um jeden Gewerbszweig, um jedes Unternehmen, 
um jede einzelne Betriebsstätte gekämpft. Das ist freilich kein 
Kampf aus rein wirtschaftlichen Gründen, er wird auch nicht 
vom Unternehmer geführt, der sich nur um die Rentabilität 
seines Betriebes kümmert. Es ist ein nationaler Kampf. Seine 
Träger sind in erster Linie die Politiker und Literaten, die, welche 
Renner verächtlich die Wirtschaftslosen nennt. Aber hinter 
diesen Führern stehen nicht nur alle diejenigen, die von den zu 
erwartenden Veränderungen für sich Vorteil erhoffen, hinter 
ihnen steht geschlossen die ganze Nation, die durch die Indu- 
strialisierung nach nationaler Größe und nationalem Wohlstand 
strebt. Diesem Kampfe dient die autonome Verwaltung im Land, 
im Bezirk und in der Gemeinde, ihm dienen vor allem die mäch- 
tigen nationalen Bankinstitute, Sparkassen und Genossen- 
schaften, die in allen ihren Geschäften neben der Rentabilität 
auch auf den nationalen Vorteil Rücksicht nehmen. 

Nicht nur die deutschen Unternehmer Oesterreichs, gegen 
die sich der Wirtschaftskampf der Tschechen richtet, beklagen 
diese Zustände, sondern jeder, der als Oesterreicher fühlt und 
denkt. Sie sind es, die Oesterreich im Wettbewerb der Groß- 
staaten in den Hintergrund drängen. Denn, wenn das ohnehin 
nicht allzugroße und von der Natur nur, stiefmütterlich bedachte 
Wirtschaftsgebiet Oesterreich auf diese Weise in eine Anzahl 
von Zwerggebieten aufgelöst wird, dann fehlt hier jegliche Mög- 
lichkeit für die Entwicklung einer spezialisierten Industrie. Man 
mag diese Verhältnisse beklagen — und ich stehe nicht an, zu er- 
klären, daß auch ich sie beklage — aber es hätte keinen Zweck, 
sie zu leugnen. 

Von den anderen Nationen, die im österreichisch-ungarischen 
Zollgebiete vereinigt sind, stehen die Ruthenen, Rumänen und 
Slovenen noch auf einer so niedrigen Stufe der wirtschaftlichen 
und politischen Entwicklung, daß sie an eine Industrieschutz- 
politik noch nicht denken können. Ihre national-politischen 
Bemühungen äußern sich auf wirtschaftlichem Gebiete in dem 
Bestreben zur Intensivierung des landwirtschaftlichen Betriebes. 
Hierin werden sie von der agrarischen Handelspolitik der Mon- 
archie nach Kräften gefördert. Es kann aber keinem Zweifel 
unterliegen, daß auch diese Nationen in absehbarer Zeit den Ver- 
such unternehmen werden, eine nationale Industrie ins Leben 
zu rufen. Ansätze dazu sind ja auch heute schon vorhanden. 


584 Ludwig von Mises, 


Die Industriebeförderungsbestrebungen der Serbokroaten 
in Kroatien und Slavonien und in Bosnien und der Herzegowina 
sind schon heute von gewissem Erfo!g gekrönt. Die Italiener 
können wegen ihrer sozialen Schichtung im Küstenland und in 
Dalmatien keine ausgreifende nationale Industrieschutzpolitik 
treiben; sie bilden hier eine städtische Oberschicht ohne kon- 
nationale Hintersassen. Welschtirol aber ist für jeden Versuch 
einer besonderen Wirtschaftspolitik zu klein an Volkszahl und 
zu arm an Entwicklungsmöglichkeiten. 

Die polnischen Industrieschutzbestrebungen in Galizien 
richten ihre Spitze gegen die westösterreichische Industrie. Der 
nationalen Anschauung der Polen erscheint jedes Produkt eines 
in Kongreßpolen oder Preußisch-Polen arbeitenden Unternehmens 
ebenso als heimisch wie das eines galizischen Erzeugers;; was außer- 
halb dieses Gebietes, etwa in Westösterreich, erzeugt wird, ist 
fremde Ware. Seit vielen Jahren bemüht sich die galizische Ver- 
waltung und zwar nicht nur die autonome des Landesausschusses, 
der Bezirke und der Gemeinden, sondern auch die der in den 
Händen der Polen befindlichen staatlichen Behörden und Aemter, 
Galizien zu industrialisieren. Diese Bestrebungen richten sich 
zum Teil nicht gegen die westösterreichische Einfuhr, so z.B. 
nicht in der Petroleum- und in der Holzindustrie. In anderen 
Produktionszweigen, z.B. in der Zuckerindustrie und in der 
Papierindustrie, tritt das Ziel, die Einfuhr aus Westösterreich 
zurückzudrängen, deutlich hervor. 

Alle im österreichisch-ungarischen Zollgebiet vereinigten 
Volksstämme suchen durch die Gemeinschaft national soviel 
als möglich zu gewinnen, so wenig als möglich zu verlieren. Jede 
einzelne Nation trachtet danach, die Gemeinschaft nur insoweit 
und insolange aufrechtzuerhalten, als sie ihr Nutzen bringt 1%). 

Auf den Schlachtfeldern Serbiens und Polens haben Deutsch- 
österreicher, Polen und Magyaren gleiche politische Interessen zu 
verteidigen gehabt. Politisch sind sie aufeinander angewiesen. 
In den Fragen der nationalen Wirtschaftspolitik aber besteht 
zwischen ihnen der gleiche Gegensatz wie allenthalben zwischen 
den alten Industrievölkern und den in der Industrialisierung 
begriffenen Agrarvölkern. Nicht darum erscheinen die Deutsch- 


12) Dabei spielen neben den handelspolitischen auch finanzpolitische Er- 
wägungen eine große Rolle. Die Deutschen und daneben auch die Tschechen 
sind es ja, die durch ihre steuerliche Ueberlastung zu den Kosten der Verwaltung 
der anderen Reichsteile ein gut Teil beitragen. 


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Vom Ziel der Handelspolitik. 585 


österreicher den Magyaren gefährlich, weil sie ihre politische 
Selbständigkeit bedrohen — kein Oesterreicher hegt solche Ge- 
danken — sondern weil die österreichische Industrie die mäch- 
tigste Konkurrentin der ungarischen Industrie ist. 

Die kleinen Nationen des mittleren und östlichen Europas 
werden freilich bei dem geringen Umfang ihres Gebietes und 
ihrer Volkszahl noch eher als alle anderen Völker erkennen müssen, 
daß das Ideal der Autarkie ihrer ‚Nationalwirtschaften undurch- 
führbar ist. Sie werden sich bald auch wirtschaftlich zusammen- 


schließen müssen, wie sie sich. zum politischen Zusammenschluß 


genötigt gesehen haben. Doch 'hat eine derartige Verbindung, 
falls sie nicht auf kriegerischer ‚Unterwerfung der einen durch 
die andern beruht, nur dann Aussicht auf Bestand, wenn sie 
allen Gliedern die Möglichkeit gibt, die gleiche Stufe der indu- 
striellen und agrarischen Entwicklung zu erreichen. Ein freier 
Bund von Nationen, in dem der Gegensatz von Uebervölkerung 
und Untervölkerung in dem oben dargelegten Sinne besteht, 
kann als Wirtschafts- und Zollgemeinschaft nicht von Daue: sein. 

Das Verhältnis zwischen Oesterreich und Ungarn war am 
gespanntesten zur Zeit als die ungarische Industrieförderung 
in den Anfängen war. Je mehr aber die ungarische Industrie 
erstarkt, je weniger sie den Wettbewerb der Oesterreicher fürch- 
ten muß, desto mehr wird eine Gemeinschaft von Interessen 
der beiden Länder in der gemeinschaftlichen Abwehr der Aus- 
länder zu Tage treten. 

Für die mitteleuropäische Zollgemeinschaft, gleichviel ob 
sie sich bis Bagdad erstrecken soll oder nur bis Orsova, ist nicht 
die Analogie des national einheitlichen Deutschen Zollvereins 
anzuwenden, sondern die des buntscheckigen österreichisch-un- 
garıschen Zollgebietes, in dem die zentrifugalen Tendenzen vor- 
walten. Wer das mitteleuropäische Weltwirtschaftsgebiet mit 
den Wirtschaftsmächten England, Rußland und Frankreich 
vergleicht, vergißt, daß die Angliederung der fremdnationalen 
Bestandteile dort durch Eroberung und Unterwerfung, nicht 
durch freiwilligen Anschluß erfolgt ist, und daß auch heute und 
in Zukunft nur das Schwert sie beim Reiche festzuhalten vermag. 


Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 2. 38 


586 


LITERATUR. 
»1789 und IgI4*)«. 
Von 
MAX SCHELER. 


Es ist unbestreitbar, daß die Völker, die zur Zeit mit uns im 
Kampfe stehen, eine festere und plastischere Idee von ihrer 
Weltmission besitzen wie das stammlich und konfessionell so 
scharf in sich geschiedene, in seiner staatlichen Einheit noch so 
junge deutsche Volk. Schon darum gebührt jedem Dank, der 
den Versuch macht, unter Annäherung an die Gipfelpunkte 
der deutschen Geistesgeschichte, unter Würdigung der großen 
geschichtlichen Lebenstendenzen des 19. und mit Aufspürung der 
Ausblicke der abgelaufenen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, 
aus dem neuen Bewußtsein nationaler Sammlung heraus, uns 
von solcher Weltmission Deutschlands ein Bild und einen Begriff 
zu geben. Unter den vielfältigen Versuchen dieser Art ist mir 
keiner bekannt geworden, der so ernster Beachtung und ein- 
gehenden Studiums würdig ist als derjenige, den Johann Plenge 
in seinem Buche 1789 und 1914 »die symbolischen Jahre in der 
Geschichte des politischen Geistes« gemacht hat. In verständ- 
nisvollem Zusammenschluß mit den Idcenbildungen der älteren 
deutschen Philosophie, an erster Stelle mit Hegel und aus jenem 
intensivem, gedankenvollem Miterleben der in diesem Kriege 
kulminierenden ökonomischen und politischen Prozesse, die 
schon desselben Autors Marx und Hegel (Igır) und die Zukunft 
in Amerika (1912) aufwiesen, schließlich ins Herz getroffen von 
dem staunenswerten Zusammenschluß all unserer nationalen 
Kräfte zu konzentriertester Kriegsbereitsschaft, wagt Plenge die 
These, daß die in dieser Kriegsorganisation zunächst nur für 
unser Volk fruchtbar gewordene Sinnesrichtung oder (mit des 
*) Joh. Plenge: 1789 und 1914. 








21789 und I1g14«. 587 


Verfassers eigenen Worten) das »Gfundbewußtsein« der Einglie- 
derung des Einzelnen in das Ganze eine übernationale, ja eine 
welthistorische für das gesamte moderne Gesellschaftsleben vor- 
bildliche Bedeutung besitze — eine Bedeutung, die mit der über- 
nationalen Geltungskraft, welche die Ideen von 1789 in den 
Kriegszügen Napoleons gefunden haben, vergleichbar sei, gleich- 
zeitig aber berufen sei, die Geltungskraft der Revolutionsideen 
zum mindesten an die zweite Stelle des europäischen Bewußt- 
seins zu setzen. »Darum liegt auch in all dem Geschrei über 
den neuen Napoleon ein ganz richtiger Anklang. Zum zweiten- 
mal zieht ein Kaiser durch die Welt als der Führer eines Volkes 
mit dem ungeheuren weltbestürmenden Kraftgefühl der aller- 
höchsten Einheit. Und man darf behaupten, daß die »Ideen von 
19I4«, die Ideen der deutschen Organisation zu einem so nach- 
haltigen Siegeszug über die ganze Welt bestimmt sind, wie die 
Ideen von 17894 (S. 72). Mit diesem das ganze Buch durchlau- 
fenden nationalen Missionsgedanken verbindet aber Plenge noch 
die weitere Erwartung, daß in diesem Kriege unter der vorbild- 
haften Wirkung der deutschen Kriegsorganisation auf die euro- 
päische Umwelt die Verwirklichung des Sozialismus geboren 
werde oder doch die Verwirklichung dessen, was durch die imma- 
nente Kritik, die der Krieg selbst an den sozialistischen Ideen 
und ökonomischen wie politischen Praktiken der ihn tragenden 
Klassen und Strömungen geübt hat, vom Sozialismus an Gutem 
und Kernhaftem übrig geblieben sei. Denn indem der Sozialis- 
mus nun zur Tat gedrängt worden, werde der bisher internatio- 
nale und vorzugsweise negativ-kritische Sozialismus selbst inner- 
lich mitverwandelt, er werde von selbst national, schöpferisch 
und konstruktiv; die Eierschalen des egalitären Individualis- 
mus romanischen Ursprungs, der insbesondere Marx noch beseelte 
und durch die der Sozialismus bisher in den Ideenkreis der französi- 
schen Revolution noch eingesenkt war, fielen von ihm ab; der durch 
den Krieg erzeugte so wunderbare Zusammenschluß der aus der 
Arbeiterbewegung neben oder gegen Staat und Unternehmertum 
geborenen deutschen gewerkschaftlichen Organisationen und 
politischen Lebensdisziplinen mit den großen deutschen Pro- 
duktionsassoziationen der Unternehmerverbände und mit dem 
Staate und dem alten deutschen Staatsgeiste, bedeute eine gegen- 
seitige Befruchtung und schöpferische Berührung, die weit über 


die nur auslösende Kriegszeit hinaus mit der Geburt eines in 
ag * 
3 


588 Max Scheler, 


seinem Stileund Aufbaugrundsätzlich neuen europäischen Gemein- 
ideales schwanger gehe, in dessen Wirkungskreis auch die Staaten 
der Umwelt langsam hereingezogen würden. Indem Plenge an sein 
starkes (auch in Stil und Sprache ungemein eindrucksvolles) 
Buch über »Marx und Hegel« anknüpft, sehen wir ihn auch in 
diesem neuen Werke im engsten Zusammenhang mit den eben 
genannten Formulierungen der Missionsidee der deutschen Organi- 
sation damit ringen, durch die historische Besinnung auf die 
Ursprünge der die Arbeiterbewegung leitenden Ideen jenes 
Notwendigste zu tun, was heute für einen gesunden Fortgang 
dieser Bewegung nötig ist: Ihr eine tiefere und realistischere 
Ideenbasis zu geben, als dies der Marxismus und die unter dem 
Namen des Revisionismus bekannten theoretischen Versuche 
Bernsteins u. A. vermochten. 

Bietet hier Plengezu indenmir bekannten Schriften ausseiner 
Feder auch nur leise Anfänge, so ist doch schon sein wertvoller 
Versuch, die unter den Marxisten zwar nie übersehene aber fast 
immer bedeutend unterschätzte Abhängigkeit der Marxschen 
Ideen von Lehren Hegels aufzuweisen, ein sehr fruchtbares 
Mittel, das tiefe Eingesenktheit der deutschen Arbeiterbewegung 
in den älteren nationaldeutschen Idealismus überhaupt zu er- 
leuchten und so die praktisch nationale Wendung, welche nach 
seiner Meinung die deutsche Sozialdemokratie in diesem Kriege 
für die Dauer genommen hat, auch historisch und theoretisch 
so zu unterbauen, daß diese Wendung wie eine Rückkehr zu ihren 
ideellen Ursprüngen im deutschen Geiste erscheint. Wer diese 
beiden sich durchdringenden Thesen des Buches so abgesondert 
von dem reichen sie umflechtenden Gehalt von Zusammenhängen 
und Begründungen vernimmt, losgelöst auch von den stets 
besonnenen Selbsteinwendungen und vorsichtigen Abwägungen, 
durch die der Verfasser sich analogen Gedanken bei Kjellen und 
A. ganz bedeutend überlegen erweist, könnte dem Verfasser 
leicht so ungerecht werden, wieihm ein Kritiker der Frankf. Ztg. 
geworden ist, dem er selbst — mit allzuschwerem Geschütz für 
einen Zeitungsartikel, wie uns scheint — zu Beginn seines Buches 
entgegentritt. Da ich eine genauere Inhaltsangabe des Buches 
hier aus Raummangel nicht geben ka'nn, haben die nachfolgenden 
Ausführungen volle Bedeutung nur für denjenigen, der das Buch 
selbst gelesen hat. 

Die Bemerkungen, die ich zu den Hauptthesen zu machen 


»1789 und I914«. 589 


habe, beabsichtigen nicht, das innere Recht des Grundakkordes, 
der aus dem Buche spricht, in Frage zu stellen. Mit diesem 
Grundakkord fühlt sich der Schreiber dieser Zeilen durchaus 
eins. »Schaffe mit! Gliedre dich ein! Lebe im Ganzen !« Gewiß! 
Dies ist der von uns allen erlebte starke neue Imperativ, der 
über die Dauer der Kriegszeit weit hinaus das neue antisingu- 
laristische sittliche Lebensprinzip der deutschen Jugend aus- 
machen wird. Trotzdem habe ich sehr erhebliche Bedenken 
über die Art, in der Plenge dieses Erlebnis interpretiert und wie 
er es für seine historische Ideenlehre verwendet. 

Schon zur Gegenüberstellung von 1789 und 1914 als »sym- 
bolischer Jahre« für das Auftreten neuer »Ideensterne« von 
welthistorischer Bedeutung, regen sich mir schwere Zweifel. 
So weit man »Ideen« überhaupt eine historische Wirksamkeit 
zuschreiben darf, die sich der Menschen, ihrer Leidenschaften 
und ihres Willens im Sinne der Hegelschen »List der Idee« mehr 
bemächtigen als daß sie (wie ich glaube) nachweisbar die Pro- 
dukte je bestimmter vorbildlich gewordener Gruppenminoritäten 
sind, besteht doch der auch vom Verfasser zwar gesehene, aber 
nicht genügend gewürdigte Unterschied, daß die Ideen von 178g 
der Armee Napoleons als deren geistige Fahnen gleichsam voran- 
schritten, die Ideen von IgI4 aber erst Ereignissen nach folgen, 
die wahrlich nicht aus solchen Ideen heraus verständlich sind. 
Aus einem hyperkonstruktiven Rationalismus der Aufklärungs- 
epoche herausgewachsen, demgemäß man — echt gallisch — 
die menschlichen Dinge nach einem festen Gedankenmodell 
nicht nur zu Hause, sondern überall zu meistern sich anschickte, 
erfüllten die Ideen von 1789 wahrhaft und lebendig das Be- 
wußtsein der großen Armee. Sie waren keine »Eulen der Minerva», 
keine nachträgliche Abstraktionen eines 'gelehrten Zuschauers 
oder des historischen Betrachters, vorgenommen an dem gänz- 
lich ungeahnten Geschiebe von Kriegsereignissen und Maß- 
nahmen der Selbsterhaltung eines Volkes in höchster Not. Ein 
welterobernder und weltreformatorischer Drang unter äußerster 
national-gallischer MiBachtung der fremden nationalen und staat- 
lichen Individualitäten. denen der Sieger sie aufstülpen wollte, 
wohnte den Ideen von 1789 von vornherein als ihre natürliche 
Wucht ein. Nichts entfernt Aehnliches wird man von den Ideen der 
deutschen Organisation sagen können. Ja wenn wires —in abge- 
schwächtem Maße— heute wiedererleben müßten, daß unscreFeinde 


590 Max Scheler, 


vinnere Reformen« in unserem Reiche z. B. Vernichtung des 
»preußischen Militarismus«, LosreißBung der Bundesstaaten, von 
der Reichseinheit, eine sog. »freiheitliche« deutsche Verfassung 
sogar in ihre Kriegsziele aufzunehmen sich erfrechen, so ist 
deutschem Denken nicht nur der besondere Inhalt, sondern schon 
die Methode dieser Gedankenbildung vollständig fremd. Die 
deutsche Achtung vor der positiven Individualität fremder 
Völker und jene organische Geschichtsauffassung, die sich ge- 
sunde Institutionen nur als Folgen je immanenter Volksent- 
wicklungen denken kann, bewahrte uns auch im Falle des frag- 
losesten Sieges vor ähnlichen Gedanken. Plenge macht mit 
Hegel die Voraussetzung, es gäbe im Ablauf der Geschichte 
immer ein sog. »führendes Volk«, in dem der »Weitgeist« gleich- 
sam seinen Sitz genommen habe und das für das fernere Schicksal 
der Welt zeitweise eine vorbildliche Bedeutung überhaupt erlange. 
Esistabersehr charakteristisch, daß Hegel diese jüngst in der Euro- 
päischen Staatszeitungdurch Jonas Cohn tr_ffend zurückgewiesene 
Lehre (mitihrer Korrelatlehre von den»sterbenden Völkern«) nach- 
weisbar schon unter dem machtvollen Eindruck der napoleonischen 
Züge konzipiert hat, um sie dann ganz unberechtigt zu verall- 
gemeinern. Napoleon, durch Jenas Hauptstraße reitend im 
grauen Mantel (nach der Schlacht bei Jena), das war ihm der 
»Ort des Weltgeistes«in seiner Zeit !)}. Weder diese Voraussetzung 
noch ihre Anwendung auf die deutsche Organisation können wir 
teilen, da wir in ihr nur eine falsche verd.rbliche Ansteckung 
durch französische politische Denkkategorien d. h. durch Kate- 
gorien eines Volkes gewahren, das als »Führ_r der Menschheit« 
immer die Neigung hatte, Erlebnissen seiner eigenen Geschichte 
eine menschlich universale Bedeutung zu vindizieren. Mag 
es bei relativpartikularen geistigen Produkten eines Volkes (von 
Literatur, Kunst, Wissenschaft sei hier abgesehen) in der Ge- 
schichte es auch dann und wann statthaben, daß ein uısprüng- 
lich nationales oder einzelstaatliches Produkt (wie der franz. 
höfische Lebensstil, die Mode, der Aemteraufbau des Imperiums 
in der Kirche, das Recht wie im Falle des röm. Rechts, der 
japanischen Aufnahme des deutschen bürgerlichen Gesetzbuches, 
der Ausbreitung des codecivile über die französischen Grenzen 

2) Auch Karl Marx ist von dieser Hegelschen Denkform abhängig, nur 


tritt an Stelle des je auserwählten »Volkes« die je führende, auserwählte inter- 
nationale Klasse. 





»1789 und I914«. 591 


hinaus) übernationale Geltung gewinnt: Für die Uebertragung 
eines das ganze soziale Leben durchdringenden Organisations- 
geistes auf die gesamte nationale Unwelt finde ich kein zureichen- 
des historisches Beispiel. Und ebensowenig wäre eine solche 
Uniformierung der Weit ein deutsches Ideal des Lebens. 
Nun ist es sicher nicht Plenges Meinung, es solle die Verbreitung 
der deutschen Organisation von uns politisch angestrebt oder gar 
mit Waffengewalt unternommen werden. Er erwartet vielmehr, 
daß si. die Welt von selbst gewinnen werde, daß ihre gewaltigen 
Leistungen so überzeugend wirken werden, daß sie gleichsam 
von selbst als ein übernationales Vorbild wirken werde andem sich 
eine neue universale Epoche aufringt. Aber auch diese Erwartung 
teile ich nicht. Die irdischen Wurzeln unserer deutschen Organi- 
sation sind in jener Vermischung von Gutem und Schlechtem, 
das jedes volksmäßige Kulturgebilde besitzt, in einem zu spezifi- 
schen Natur- und Anlageboden eingesenkt, als daß eine Ver- 
pflanzung möglich wäre. Es ist ja überhaupt eine wunderliche 
Erscheinung — Fr. Meinecke hat jüngst in seiner Akademierede 
über den germansichen und romanischen Geist den Finger darauf 
gelegt — daß vor dem gesamten Ausland und auch vor uns selbst 
(nur mit entgegengesetzter Bewertung) wir Deutschen heute 
gerade als das Volk der Organisation gelten, dieselben 
Deutschen, deren unsozialer Individvalismus, deren stammlicher 
und persönlicher fast exzessiver Freiheits- und Sondergeist, 
Eigensinn, Kritik- und Kampflust unter sich selbst, ehedem 
ebenso sprichwörtlich waren, als es heute im Auslande der 
Schimpf ist, unser Reich gleiche einem hyperzentralistischen 
»Bienenstaat«e und nur die vorwiegende leichte Lenkbarkeit, 
Unselbständigkeit und unpersönliche Dienstfreudigkeit unserer 
Volksmassen erkläre die so leistungskräftige deutsche Organisa- 
tion. So bewundert das Ausland die Leistung unserer Organisation 
und verabscheut zugleich die menschlichen Eigenschaften und 
Kräfte, die sie- nach seiner Meinung hervorbrachten, den »ser- 
Vilens Menschentypus, der zu dieser Leistung fähig ist. Dieser 
Widerspruch und dies Verhalten des Auslandes ist aber nur 
erklärlich, wenn wir uns die Spezifität des Bodens unserer heuti- 
gen Organisation vor Augen halten: den kärglichen, härteste 
Arbeit tordernden Boden der preußischen Kernlande, die Herrsch-, 
Erziehungs- und Organisationskunst eines einzigartigen Herr- 
Schergeschlechtes und der von ihm allmählich bezwungenen 


592 Max Scheler, 


Oberschicht, die leicht organisierbare fügsame Unterschicht der 
mittel- und ostpreußischen, stark slavisch durchsetzten Bevölke- 
rung und die allmähliche Hinüberleitung des aus diesen Grund- 
elementen zu einer Einheit verwachsenen »Geistese: I. Aus der 
Sphäre des staatlichen Lebens und vorwiegend staatlicher Macht- 
ziele in die Sphäre auch des privaten wirtschaftlichen Lebens 
und aller ihm dienender Organisationen (sowohl der Unternehmer 
als der Arbeiter). 2. Aus seinem preußischen Mutterboden in die 
übrigen deutschen Stämme nach West und Süd seit 1871. Ich 
sehe bei keinem der heutigen Völker irgendwie analoge Kräfte, 
Bedingungen und Umstände gegeben, die unsere so gewordene 
Organisationsidee aufnehmen und fortentwickeln könnten; wohl 
aber sehe ich, daß es gerade die spezifischen z. B. bei Hegel sich 
weit ausladenden Ideen, Lebensideale und Lebensformen sind, 
die indem sie unsere deutsche Organisation mitbedingen, zugleich 
den einheitlichen Hauptgegenstand des gemeinsamen Hasses unse- 
rer sonst so verschiedengearteter Feinde bilden. Unsere deutsche 
Organisation ist eben nicht nur den Ideen von 1789 sondern 
den weit älteren, festen und konstanten Instinkten der natio- 
nalen Individvalitäten, mit denen wir es zu tun haben, so tief 
entgegengesetzt, daß ich eine universale Wirksamkeit der Organi- 
sationsidee nicht zu erwarten vermag. 

Es ist ein Vorzug des Plengeschen Buches, daß er die Ideen 
von 1789 und 1914 nicht in jenes Verhältnis ausschließenden 
Gegensatzes bringt wie es Kjellen in einem gleichnamigen Büch- 
lein getan hat. Ja er spricht so lebhaft von einer »inneren Ver- 
bindung von 1789 und 1914« (s. »Erneuerung von 1789«, S. 139), 
daß die Schärfe seiner These ziemlich abgestumpft wird. Sie 
scheint mir aber noch weiter abgestumpft zu werden durch das 
mehr als zweifelhafte Recht, mit dem Plenge die von ihm beschrie- 
bene Idee einer Organisation der Kräfte und den Einordnungs- 
gedanken gerade als Ideen von 1914 bezeichnet. Und wenn Plenge 
gar eine philosophische Lehre, die ein deutscher Denker vor fast 
einem Jahrhundert aufgestellt hat, als die unter gewissen Restrik- 
tionen noch heute gültige beste und tiefste Formulierung der 
Einordnungsidee darstellt, wenn er aus Hegel die Grund- 
linien für eine deutsche Ideologie von 1914 zu gewinnen su- 
chen kann, so erscheint es schwer verständlich, die von ihm 
beschriebenen Ideen als »Ideen von 19146 zu bezeichnen. Gewiß 
kann man sagen, daß diese Bezeichnung statthaft sei, da sich 


»1789 und IgI4«. 593 


der rationale Gemeinschaftsuniversalismus Hegels erst im Jahre 
19I4 einer von Hegel selbst nicht geahnten, unermeßlich 
erweiterten Wirklichkeit von Wirtschaft und Technik voll einzu- 
gestalten beginne — sowie man auch sagen kann, daß der 
geschlossene Handelsstaat Fichtes sogar bis in einige von Fichte 
vorgeschlagenen Einzelheiten von Produktionsvorschlägen für 
Surrogate sonst durch den Welthandel eingeführter Waren sich 
verwirklicht habe. Aber wie machtlos sind dann »Ideen«, wenn 
sie so spät erst wirken und zu Zeiten, wo sie kaum ein Häuflein 
Deutscher noch kennen ? Außerdem finde ich nicht, daß solche 
Analogien unsere Situation klären. Zieht man gar in Betracht, 
daß die ersten Spuren des sozialistischen Organisationsgedankens 
in der französischen Revolution selbst verwurzelt sind und sich 
vom Individualismus der Ideen von 178g aufs deutlichste abschei- 
den, daß unzählige Denker aller Weltanschauungsrichtungen 
(Babeuf, St. Simon, H. Comte, Louis Blanc, Josef de Maistre, 
Lamenais in Frankreich, die gesamte Romantik und Restau- 
rationsphilosophie und Staatslehre in Deutschland (z. B. Haller, 
A. Müller, Rodbertus) bis in ihre Ausläufer in die verschiedenen 
historischen Schulen der Geisteswissenschaften) wie mit einer 
Stimme, wenn auch in verschiedenster Art und Weise von rechts 
und links her den Satz vom Zoonpolitikon zu ihrer Grundlage 
machen und das Herankommen einer großen kraftorganisato- 
Tischen und sozialistischen Weltperiode gegenüber einer vor- 
wiegend kraftentbindenden individualistischen prophezeien, so 
muß man entweder den Inhalten der »Ideen von IQI4« über- 
haupt keinerlei historische Energie zuschreiben — die sie ja 
schon lange vorher hätten üben müssen — oder zugestehen, daß 
diese Ideen ihrem Gehalte nach mit dem Jahre 1914 keinerlei 
besondere eigenartige Verbindung besitzen. Denn darüber ist 
wohl kein Zweifel, daß man die typische Umwälzung des stets 
vorwiegend individualistischen Friedensethos in ein Kriegsethos, 
die jedem Uebergang von Friede in Krieg seit Adam gemein- 
sam war, und die immerdar die Gemeinschaftsidee vor jene 
des individuellen Schicksals und Wohles des Einzelnen gedrängt 
hat, nicht als eine historischkonkrete neue Idee von IQI4 und 
ebensowenig als spezifisch deutsch bezeichnen kann. 

Mit diesen Einwänden ist nicht gesagt, daß aus der euro- 
päischen Erschütterung dieses Krieges neue Ideen von welt- 
historischer Bewegkraft überhaupt nicht hervorgehen könn- 


594 Max Scheler, 


ten; und ebensowenig soll der erhebliche Wert, den Plenge’s 
Ausführungen vor allem in den Kapiteln 8, 9 und 14 (»die sym- 
bolische Idee und ihre Ideengruppe«, »die innere Gliederung der 
Idee von IgI4«, »Von der Idee zur neuen Wirklichkeit«) für die 
Um- und Neugestaltung unseres innerdeutschen Lebens 
haben, irgendwie in Frage gestellt werden. Nur das ist unsere 
Meinung, daß diese beiden Dinge weit unabhängiger voneinander 
sind, als Pienge annimmt, daß außerdem jene neuen Ideen von 
1914 noch nicht so sichtbar sind als Plenge meint und daß, wenn 
sie wirklich aus diesem durch Ideen so merkwürdig weniggetra- 
genem Kriege vielleicht einmal entspringen sollten, dieser 
Vorgang nicht in Kontinuität mit den Kräften, die zum Kriege 
führten, sondern im Gegensatz zu ihnen und im Rückschlag 
gegen sie, nicht auch durch die Vorbildwirkung der deutschen 
Kriegsorganisation und des ihr entsprechenden Grundbewußt- 
seins erfolgen wird, (überhaupt keinen national-einseitigen Aus- 
gangspunkt haben wird), sondern nur so erfolgen kann, daß 
innerhalb aller europäischer Staaten und Nationen — immer 
in den Grenzen der Spielräume des nationalen Geistes und ihrer 
Anlagen — ein tiefgehender Gesinnungsumschwung eintritt, der 
nicht die Idee einer neuen Organisation, sondern vor allem in 
neueinsetzenden ethischen und vor allem religiösen Kräften 
und Lebenseinstellungen der Jugend in allen Staaten — der 
europäischen Jugend als einer vorwiegenden Generationseinheit, 
die diesen Krieg erfuhr, seinen Ausgangspunkt haben wird. Das 
kranke alte Europa ist nur durch ein junges Europa zu heilen. 
Das kranke Europa, das in diesem Kriege und seinen Folgen 
sich entweder als Ganzes neuerheben, verjüngen und gesunden, 
oder die Führerschaft der Menschheit endgültig verlieren wird, 
kann nicht durch die einfache Vorbildschaft eines seiner 
Glieder, sondern nur durch einen neuen Geist geheilt werden, 
der überall gleichmäßig und gleich spontan aus der Tiefe der 
Völker hervorbricht und einen anderen Typus Mensch (d.h. 
je Franzosen, Engländer, Deutschen, Italiener usw.) langsam 
an die leitenden Spitzen der Regierungen bringt. Nicht neue 
»Ideen«, die nur für den betrachtenden zurückgewandten Histori- 
ker im Gesamteffekt der geschichtsbildenden Kräfte als einträch- 
tige Bilder herauszuschauen sind, leiten die wahrhaft neuen 
Zeitalter der Geschichte ein, sondern aus dem Dunkel der Masse 
hervortretende neue menschliche Lebenstypen, Geistestypen, 


da 


21789 und I914«. 595 


Glaubenstypen, die in die Zentren und Unterzentren der 
tausendfältigen Gruppen treten und hier durch ihre Gestalt vor- 
bildlich wirken. Die Kräfte, die zur Möglichkeit des Anfsteigens 
dieser neuen Typen führen, können zunächst nur negativkritische 
sein, vor allem die werdende und sich langsam verbreitende Ein- 
sicht, daß sich der ziemlich gleichartige Menschentypus, der vor 
dem Kriege und in ihm die Leitung der öffentlichen Angelegen- 
heiten Europas in der Hand hatte, als ganz und gar unfähig 
erwiesen hat, dieses hohe Geschäft zu tun — so ausgezeichnet 
und tüchtig er in allen technischen Fragen, d. h. in allen Fragen, 
wie man etwas macht, sein mag — und zu dieser Einsicht hin- 
zutretend ein gewaltiger, zu einer gesamteuropäischen Bewe- 
gung anwachsender Reue- und Bußwille über die Lebensformen, 
eus denen dieser Krieg entspringen konnte (nicht der Zufälle, 
aus denen er entsprungen ist). Nur von einer langsamen Ge- 
Sinnungsrevolution in allen Staaten könnten wir so etwas erwar- 
ten, was Plenge mit beneidenswerter »astronomischer« Genauig- 
keit als die Ideensterne einer neuen historischen Weltepoche 
voraussieht. 

Was die Beschaffenheit dieses neuen Typus betrifft und 
seine Herkunft aus den vorhandenen Gruppen, so bin ich über- 
zeugt, daß er eine ganze Reihe der Züge aufweisen wird, die 
Plenge als die Ideen von 1914 schildert. Insbesondere wird das 
Ethos des Einordnungs- und Korperationswillens, wie es Plenge 
so kraftvoll und feinsinnig entwickelt, einen seiner Grundzüge 
ausmachen. Aber der im Kriege überall gesteigerte Einordnungs- 
wille wird von einem nur technisch organisatorischen, das Wie 
z. B. der besten Kriegsführung betreffenden Willen ein ethischer 
d.h.eindie Zielbestimmung alles politisch und moralisch relevanten 
Tuns von vornherein leitender Geist der Mitverantwortlich- 
keit jedes Individuums und jeder Klasse für das Volksgeschick, 
der europäischen Staaten und Nationen aber für das Geschick 
Europas als Ganzes werden müssen eine Wandlung, die ich 
durchaus nicht so notwendig aus dem Geist der Kriegsorgani- 
sation hervorgehen sehe wie Plenge. Gefühl und Bewußtsein 
einer ursprünglichen solidarischn Gegenseitigkeit in 
Verantwortung, Schuld, Verdienst des Menschen zum Neben- 
menschen, der Lebenden zu den Toten und Zukünftigen, der 
unteren zu den oberen Klassen usw. ist seit dem Niedergang 
der inneren Führung und Leitung Europas durch die Kirche 


596 Max Scheler, 


und seit der Sprengung der christlichen Korporationsidee durch 
Individuum, Nation, Klasse dem europäischen Ethossovöllig 
fremd geworden, daß es geradezu eines inneren Umsturzes des 
sittlichen Bewußtseins bedürfte, um das Solidaritätsprinzip wie- 
der zu einer leitenden Kraft zu machen. Neben seinen Resten 
in der katholischen Kirche finde ich heute spontane Anfänge 
seiner Wiedergeburt allein in Arbeiterverbänden, Gewerkschaften, 
Berufsvereinen, aus denen tatkräftige Vertreter desselben vor 
allem zu erwarten sind, wenn wirklich wahr sein soll, was der 
Reichskanzler sagte: Freie Bahn allen Tüchtigen! Auch die 
gesamte moderne Ethik kennt dieses Prinzip nicht; aber nicht 
nur Kant kennt es nicht; sondern wie ich Plenge sagen muß, auch 
Hegel und Marx kennen es nicht. Hegel ordnet nicht nur — 
worin er recht hätte — Glück, Vorteil, Erwerbsgier des leib- 
lichen Individuums der Macht, Größe und der »objektiven 
Sittlichkeit« des substanziellen Staates unter, er leugnet auch 
den unendlichen überstaatlichen Wert und Sinn der individuellen 
Menschenseele, jeden staats- und sozialfreien Kern in ihr, worin 
er ganz undgar unrecht hat. Es ist aber nicht die Preisgabe des 
geistigen personalen Individualismus, der Europas metaphysische 
Magna charta gegenüber Asien darstellt, auf dem all seine Tat- 
kraft, sein Freiheitsgeist und selbst seine Weltleistung beruht, 
es ist vielmehr das Solidaritätsprinzip der ursprünglichen Mit- 
verantwortlichkeit gerade auf dem Boden dieses individualen 
Personalismus und in gewaltigster Spannung mit dem ihm 
eigenen Gefühl und Prinzip individueller Selbstverantwortlich- 
keit, was das christlich-europäische Sittenideal zum tiefsten 
Kerne hat ?2). Marx und seine Gefolgschaft kennen eine sog. 
Solidarität der Interessen, aber keine der Verantwortung, eine 
Solidarität innerhalb der Klasse, aber keine der Menschen (resp. 
im engeren Kreise des Staates der Bürger) zueinander in allen 
Klassen und keine der Klassen untereinander. Marxens Aus- 
gangspunkt bleibt eben der egalitäre Individualismus, der höchstens 
zur Solidarität der Klasseninteressen führen kann. Der echte 
Solidaritätsgedanke steht dem Liberalismus schrankenloser freier 
Konkurrenz durchaus nicht ferner wie dem prinzipiellen Staats- 
sozialismus und seiner überstaatlichen Erweiterung im imperia- 
Eine genaue Formulierung und Ableitung des Solidaritätsprinzips ent- 


hält mein Buch: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 
II. Teil, S. 384 und S. í. 





»1789 und Ig14«. 597 


listischen Schutzzollsystem — denn diese letzteren Sozialsysteme, 
auf die so viele guten Deutschen z. Z. so gewaltige Hoffnungen 
setzen, sind nur die bitteren Medizinen für eine zerberstende 
Gesellschaft, der aller moralische und religiöse Solidaritätsge- 
danke gerade fehlt. Dafür hat nun gerade Plenge ein weit feineres 
Gefühl und einen helleren Sinn als alle jene, die z. Z. von einer 
bloBen Fixierung und Erweiterung der durch den Krieg erfor- 
derlich gewordenen staatlichen Zwangsorganisation und des 
Wirtschaftslebens über die Kriegszeit hinaus, das Heil der 
Zukunft erwarten. Immer wieder hebt er hervor, daß aus dem 
Gedanken der Einordnung nicht folgt, man solle nun »darauf 
los organisieren«. Und ganz vortrefflich sagt er: »Wir wollen 
die frei entstandene Kräftezusammenfassung von Staat und 
Wirtschaft in den Frieden hinein erhalten, aber gerade wegen 
dieser neu entstandenen inneren Verbindung von Staat 
und Wirtschaft jede durch den Krieg erzwungene äußere Fesse- 
lung des Wirtschaftslebens wieder beseitigen, sobald sie nicht 
mehr notwendig ist« »Jedes Zuviel an Verstaatlichung bringt 
unserem Wirtschaftsleben die Starrheit des Alters« »Die Idee 
der Beamtenpflicht aber ist offenbar eine Standesidee der Bureau- 
kratie, keine allgemeine Volksidee wie die Idee von 1914, die alle 
Einzelnen zu Gliedern des Ganzen macht und zwar allen ein 
Amt gibt, aber gerade darumdembesonderenBeamten- 
tum seine besondere Würde nimmt, über dem Volk den Staat 
zu vertreten« Diesen Sätzen liegt der sehr wichtige Gedanke 
zugrunde, daß nicht ein Ueberschuß sondern ein Mangel unseres 
solidarischen Miteinandererlebens der nationalen Geschicke zum 
Staatssozialismus führt und daß die moralische Amtsempfin- 
dung des Unternehmers und Arbeiters, wie sie organische Zeit- 
alter des sozialen Lebens erfüllt, ein wirtschaftliches staatliches 
Beamtentum unnötig macht — oder doch im selben Maße, 
als diese Empfindung vorhanden ist. Gleichwohl finde ich diese 
tiefen Einsichten Plenges erstens nicht bis zum Prinzip erhoben, 
zweitens noch nicht voll genügend in ihrer Anwendung auf heute 
gewürdigt. Plenge ergreift doch, wie es bei seiner Anlehnung 
an Hegel, der den einseitig preußischen, nicht den deutschen 
Staatsgedanken philosophisch formulierte, nicht anders sein 
kann, in der Alternative des sog. Individual- und Sozialprinzips 
(etwa in Dietzels Formulierung) einseitig für das Sozialprinzip 
Partei. Er bemerkt nicht, daß Solidarität selbständiger und 


598 Max Scheler, 


selbstverantwortlicher Individualpersonen ein eigenes, drittes 
Prinzip ist (verborgen in der Tiefe des christlichen Ethos), dessen 
Niedergang und Sinken in einer Gesellschaft erst die falsche 
Alternative und Wahlnotwendigkeit zwischen vorwiegendem 
Sozial- und Individualprinzip hervorruft. Und er hebt mir auch 
zu wenig hervor, daß bloßer Staatssozialismus als solcher und 
technischer Einordnungswillen weder eine gerechtere Verteilung 
der materiellen Güter notwendig im Gefolge hat noch irgendwie 
mitbestimmt, ob der Geist des Wirtschaftslebens der Geist schran- 
kenloser Erwerbsgier ist oder sinnvoller Bedürfnisbeiriedigung des 
nationalen Lebensorganismus. Eine vorwiegendstaatssozialistische 
Wirtschaft kann genau so profitgierig sein wie ein vorwiegend pri- 
vatwirtschaftlichcs System den Geist der Profitgier entbehren kann. 
Sowohl diese Verteilungsart wie dieser »Geist« sind gegenüber 
vorherrschendem Individual- und Sozialprinzip prinzipiell ganz 
unabhängig variabel. Es ist der Menschentypus, der je 
die Leitung des Wirtschaftslebens in Händen hat und sein Ethos 
(sei es innerhalb eines staatssozialistischen, sei es innerhalb eines 
freien Konkurrenzsystems), was diese Dinge primär bestimmt. 
So sehr gerade Plenge die Idee der deutschen Organisation so 
viel tiefer und geistiger faßt als das Heer staatssozialistischer 
Wunderdoktoren, dic heute den Organisationsgedanken geradezu 
in Mißkredit bringen, verbietet ihm doch sein Hegel’scher Aus- 
gangspunkt, weit genug von ihnen abzurücken. Welches Maß 
halbbewußter Geistesknechtschaft z. B. in religiös kirchlichem 
Gebiet, in Schule, Wissenschaft, Kunst, ja der gesamten höheren 
Kultur hätten wir zu erwarten, wenn durch das Medium der 
materiellen Lebensfrage hindurch (»wes Brot ich eß, des Lied ich 
sing«) wir indirekt auch an die weltanschaulichen Gesamtein- 
stellungen jener Männer gefesselt würden, die vermöge ihrer 
technischen, organisatorischen Spezialbegabung und ihrer her- 
vorragenden fraglosen Angepaßtheit an unser so sehr als Ganzes 
fragwürdiges Zeitalter sich als die Geeignetsten erwiesen, um 
die fast allmächtige Leitung eines vorwiegend staatssozialistisch 
organisierten Wirtschaftslebens auf sich zu nehmen ? Deutsche 
persönliche Geistesfreiheit und das Gute an unserem »Indivi- 
dualismus«, durch die wir trotz aller Organisation das 
trotz seiner schlechten Organisation so geistesuniforme England 
so hoch überragen, fordert eben in einem konstruktiven Gesamt- 
bild für die deutsche Zukunft, wie es Plenge geben will, 





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»1789 und 1914«. 599 


ebensowohl seine notwendige Stelle als der vorwiegend preußische 
Organisationsgedanke, kann sie aber nicht erhalten, wo philo- 
sophisch von der Grundidee des »preußischen Staatsphilosophen « 
ausgegangen wird. Eine innere organische Verbindung dieser 
beiden großen deutschen antithetischen Lebensfermente scheint 
mir nur gemäß der Leitidee möglich, daß wirin den niedrigeren 
materiellen Gütersphären eine steigende Organisation brauchen, 
mitgeleitet durch einen aus der Demokratie der Arbeit aufsteigen- 
den vom Solidaritätsprinzip durchleuchteten neuen bisher öffent- 
lich kaum sichtbaren deutschen Menschentypus, abgezweckt auf 
eine gerechtere und gleichere Güterverteilurg, daneben aber eine 
erhebliche Verminderung der »Organisation« auf allen geistigen, 
die höheren Gütersphären betreffenden Gebieten und eine Auf- 
hebung der vor dem Kriege einsetzenden Uniformierungsten- 
denzen, die uns schon in eine gewisse Nähe zum englisch-ameri- 
kanischen Typus zu bringen schienen. 

Vor den »Schulen« in Wissenschaft und Philosophie, vor 
einer falschen Vorherrschatt der Staatsanstalten (Universitäten, 
Akademien) im höheren Geistesleben der Nation überhaupt, 
vor den Cliquen, Richtungen, Vereinen, Kreisen, Kongressen, 
in Literatur und Kunst, vor einer traditionalistischen Kirchlich- 
keit, ihrem Vereins- und Versammlungstum und einer ebenso 
traditionalistischen Freigeisterei in der religiösen Sphäre, d. h. 
vor lauter »Organisation« war in den letzten Jahrzehnten vor 
dem Kriege der selbständige, wurzelechte individuelle Gedanke, 
Originalität und Erfindungskraft in mehr als auffälliger Weise 
zurückgewichen. Wie reich war Deutschland noch zu den Zeiten 
Helmholtzens, Hertzens, Fechners, Lotzes, Schopenhauers, Nietz- 
sches an selbständigen knorrigen Denkergestalten — wie arm 
war es geworden vor dem Kriege! Und dieselbe Erscheinung 
des Verschwindens selbständiger, das ganze Volk wahrhaft (nicht 
auf dem Papier) vertretender Personen als Volksvertreter bot 
die Geschichte des deutschen Reichstags. Und wieder analog 
die deutschen Stämme. Unsere Gelehrten (z. B.E. Zeller, V. Vische, 
K. Fischer) trugen früher weit merkbarer die geistigen Kenn- 
zeichen ihrer deutschen Stammesangehörigkeit als jetzt, wo die 
Methode Alles scheint, die Person Nichts. 

Hier also war überall ein Zuviel von »Organisation«, eine 
Erstickung der Initiative und eines selbständigen Anschauungs- 
und Denkverkehrs mit der Welt. Wenn Marx und Lassalle nicht 


600 Max Scheler, 


zufällig die deutsche sozialdemokratische Partei mitgeschaffen 
hätten — in ihr wären sie längst nicht mehr möglich gewesen. 
Also Steigerung der freien einheitlichen Organisation im Sinne 
einer schöpferischen Berührung der Selbstorganisation der Städte, 

der Arbeiter, Unternehmer, Landwirte und des Staates, auf dem 
= Gebiet der niederen Werte und gleichzeitiger Abbau der deut- 
schen persönlichkeitserstickenden Hyperorganisation auf allen 
Gebieten des Geistes. Das schöne Programm, das Plenge in dem 
Kap. »innere Gliederung der Idee von Ig14« von unseren deut- 
schen Organisationsaufgaben bezüglich der inneren Wirtschafts- 
organisation, der äußeren Politik (Aufhebung der individualisti- 
schen rohmechanischen Gleichgewichtslehre durch ein System 
der europäischen Vereinbarung, mitteleuropäische »Bundesge- 
nossenschaft«, die »zwischen einem Staatenbund und einem 
einzelnen Vertragsverhältnis die Mitte hält«) bezüglich eines 
neuen Erziehungs- und Bildungsideals in der besonderen, dem 
Verf. nahegelegenen Anwendung auf die Ausbildung praktischer 
konstruktiver Volkswirte und endlich bezüglich eines fester und 
klarer als bisher geformten personhaften Vorbildes deutscher 
Menschlichkeit überhaupt entwickelt, können wir unter obigen 
Vorbehalten nur mit Freuden anerkennen. Ja wir hoffen sogar, 
daß gerade die Erweiterung und stärkere Unifizierung der mili- 
tärischen und ökonomischen Daseinsbasis unseres deutschen 
Lebens über die Reichsgrenzen hinaus auf die so viel reichere 
Volks- und Staatenmannigfaltigkeit »Mitteleuropas« nicht nur 
diesen Völkern und Staaten ihre vollständige Selbständigkeit 
in allen über diese bloße Basis des Lebens hinausreichenden 
kulturellen Dingen beläßt, sondern auch den innerreichsdeut- 
schen Stämmen und Staaten jene größere Freiheit und indivi- 
duelle Geistesregsamkeit wieder zurückgibt, die sie unter einem 
übertriebenen, zu einseitig von Preußen ausgehenden Schemati- 
sierungszwang und zu ausschließlichem Methodengeist zeitweise 
verloren zu haben schienen. 

Plenges Buch wie auch sein früheres Werk Marx und Hegel 
ist — wie schon das Gesagte zeigt — durchaus von philoso- 
phischem Geiste erfüllt. Und mit vollem Recht hebt er hervor, 
daß in der Formung einer schärfer umrissenen deutschen Missions- 
idee und in der Ausgestaltung zusammenfassender konstruktiver 
Leitbilder für unsere Zukunft auch der Philosophie eine bedeu- 
tende Rolle zufallen muß. So überschreibt er ein Kapitel mit 


31789 und I914«. 601 


den Worten: »Rückkehr zur Philosophie« Wenn ich Plenge in 
all dem Recht gebe, so bedeutet dies nicht, daB der einzelne Philo- 
soph eine solche Rolle subjektiv anstreben dürfe. Ihm steht nicht 
eine Nation, sondern das Weltall vor Augen und die Wahrheit, 
nicht Lenkung der Dinge ist sein höchstes Gesetz. Aber gerade 
je reiner er eben dieses Ziel im Geiste hat, desto mehr wird er 
auch im Sinne der Plengeschen Forderung wirken. Durchaus 
richtig erscheint mir auch, was Plenge über die vollendete Unfähig- 
keit dieser Forderung zu genügen seitens der immer noch auf so 
vielen deutschen Kathedern eingenisteten Kantscholastik bemerkt. 
Völlig jenseits von allen — aber auch allen großen welthistori- 
schen Eigenerfahrungen des 19. Jahrhunderts stehend und in 
allem Praktischen, Religions- und Geschichtsphilosophischen 
ganz und gar ein Kind des 18. Jahrhunderts, dessen Ideen der 
Revolution sie nur pedantisierte und in das altpreußische formale 
Pflichtethos übertrug, eingeschränkt auf ein längst auch von 
aller positiven Naturforschung verlassenes ganz einseitiges Ideal 
mathematischer Naturwissenschaft (noch dazu verstanden in den 
engstenGrenzen Newtons), dazu ganzeinseitig ostpreußisch undalt- 
protestantisch mit puritanischem Einschlag in ihrer Grundhal- 
tung, ist diese Philosophie am allerwenigsten geeignet, an dem 
groBen Werke einer neudeutschen geistigen Gesamtinspiration 
teilzunehmen. So wenig Treitschke mit seiner einseitig klein- 
deutschen Geschichtsauffassung noch unser historischer Bildner 
sein kann, genau so wenig, ja noch weit weniger Kant unser 
philosophischer Hauptbildner. Hätte ich daher nur die Wahl, 
die uns Plenge stellt, »Kant oder Hegel«, so würde auch ich mit 
Plenge Hegel als denjenigen ansehen, an den wir anzuknüpfen 
haben. Aber diese Wahl halte ich nicht nur darum für unnötig, 
weil Plenge sie gerade so und nicht anders beschränkt, sondern 
weil — hier einmal abgesehen von dem eigenen philosophischen 
Sachstandort des Schreibers dieser Zeilen — eine wahr- 
haft neue welthistorische Periode, wie sie Plenge von IgI4 ab 
erwarten zu können glaubt, unmöglich von einem Denker aus 
orientiert werden kann, der vor ca. Ioo Jahren vor Beginn dieser 
Periode gelebt hat, der so stark in den Grenzen des napoleonischen 
Universalismus wie Hegel dachte und der die gewaltigsten Trieb- 
kräfte des Zeitalters, das in diesem Weltkrieg seinen Abschluß 
fand, die moderne Naturwissenschaft und Technik, den vierten 
Stand und den imperialistischen Hochkapitalismus, vor allem 


Archiv für Soziu!wissenschaft und Sozialpolitik. 42. 2 39 


602 Max Scheler, 


aber (in seiner Geschichtsphilosophie) die Hereinziehung Asiens 
in die Weltgeschichte nicht geahnt hat und nicht ahnen konnte. 
Plenge freilich meint: »Aber Hegels Irrtum war nur ein Irrtum 
über die tatsächliche Entwickelungsmöglichkeit des geschicht- 
lichen Lebens, kein Irrtum über die Möglichkeit der wesent- 
lichen Bewußtseinsstellung« (S. 103). Auch dieser Satz erscheint 
mir unrichtig. Bis in ihre letzten Grundbegriffe hinein (nicht aus 
Unkenntnis bloß des modernen Lebensstoffes) verkannte 
diese Philosophie die Ursprünglichkeit und Selbständigkeit sogar 
einer ganzen Reihe von »wesentlichen Bewußtseinsstellungen «. 
Sie verkannte (hierin hinter Kant zurückgehend) die Ursprüng- 
lichkeit der Bewußtseinsstellung zur äußeren Natur in der Auf- 
fassung, daß Natur nur »der Geist in seinem Außereinandersein« 
sei und bot damit gar nicht die Möglichkeit eines Raumes für 
die moderne Naturforschung und Technik; sie verkannte, indem 
sie die Selbständigkeit der individuellen Geistesperson verneinte 
(d. h. die Person nicht im Geiste selbst, sondern im Leibe fun- 
dierte) das echte Solidaritätsprinzip (s. früher), das gerade nicht 
eine Allvernunft und deren immanenten logischen »Prozeßs 
sondern Mitverantwortlichkeit selbständiger Personen für ein- 
ander und das Ganze voraussetzt und sie substituierte ihm damit 
den primitiven antiken Staatsgedanken, der fürden unendlichen 
Wert und für einen staatsftreien Bezirk der individuellen Seele 
keinen Raum hat; sie verkannte die Ursprünglichkeit des reli- 
giösen Glaubensbewußtseins (sckundär auch der Kirche), indem 
sie Religion nur als unvollständige Philosophie ansah und (pan- 
theistisch) göttliche und menschliche Vernunft verwechselte; 
sie verkannte quictistisch gleich der historischen Rechtsschule 
die Ursprünglichkeit des wertenden und praktisch schaffenden 
Bewußtseins gegenüber dem theoretischen (das gerade in einem 
bauenden und konstruktiven Zeitalter so notwendig Anerkennung 
verdient) und sie verkannte (gleich dem ganzen deutschen Idea- 
lismus) die Ursprünglichkeit, Eigengesetzmäßigkeit und Selb- 
ständigkeit des Lebens gegenüber dem Mechanismus einerseits, 
dem vernünftigen Geiste andererseits. Dazu erweckte sie durch 
Leugnung aller kontingenten und arationalen Gegebenheiten 
eine vollständig falsche Vorstellung im Menschen von der ihm 
zur Verfügung stehenden Geisteskraft, ein Irrtum der sich 
nur in einer fortwährenden Vermischung und Verwechslung 
bloßer ideeller Luftbauten mit Wirklichkeitsarbeit und -reform 


»1789 und IgI4«. 603 


äußern konnte. So sehr Plenge einige dieser Fehler (z. B. den 
falschen Anspruch der Philosophie auf Religions- und Offen- 
barungsersatz) erkennt, so verfällt er doch anderen selber, wäh- 
rend er bei wieder anderen nur Fehler der Anwendung sieht, 
wo Fehler der Prinzipien obwalten. Selber verfällt er Hegelschen 
Irrtümern z. B. in seiner Ueberschätzung der Kraft der »Ideen« 
gegenüber den vitalen Macht- und ökonomischen Potenzen 
als historischer Triebkräfte (hier wird er auch Marx nicht gerecht) 
in seinem sonderbaren Glauben, man könne die Ideen ganzer 
Zeitalter »astronomisch« voraussagen, in seinem einseitigen 
»Sozialprinzip«, das mit dem falschen ökonomischen Individua- 
lsmus auch den europäisch-christlichen Individualismus des 
Geistes (ein europäisches Daseinsaxiom!) verwirft und beson- 
ders auch in seiner (echt Hegelschen) Unterschätzung der Ur- 
sprünglichkeit und des Nebeneinander der Weltanschau- 
ungs- und Weltwertungsformen der großen Kulturkreise und der 
besonderen Anlagen der europäischen Nationen. Nur so konnte 
auch seine Vorstellung von der universalen übernationalen Vor- 
bildschaft der deutschen Organisation entstehen. | 
Plenges Werk über Hegel und Marx sollte gleichwohl beson- 
ders von jedem denkenden Sozialdemokraten gelesen werden. 
Der praktischen Arbeitseinheit des Bürgertums mit dem 4. Stande 
ım nationalen Sozialismus von heute, muß auch eine zunehmende 
historische Besinnung auf die Ursprünge der beiderseitigen Denk- 
weisen in den Tiefen des deutschen Geistes entsprechen. Dazu 
leistet Plenges Werk treffliche Dienste. Mit jener Achtung vor 
der wahren Größe dieses erstaunlichen Feuergeistes Marx erfüllt, 
welche die bürgerliche Wissenschaft leider so selten erkennen läßt, 
zeigt Plenge hier nicht nur alle die Linien auf, die in Marxens 
Werk auf Hegel zurückführen, er übt an Marxens Ideenbau 
auch eine eminent fruchtbare, großzügige Kritik, auf die im 
einzelnen hier nicht eingegangen werden kann. Nur ein Satz, 
der wie selten einer den Nagel auf den Kopf trifft, sei hier hervor- 
gehoben: »Wie kommt es, daß der Begründer der materialistischen 
Geschichtsauffassung nicht schen konnte, daß zwar in der ato- 
misierten kapitalistischen Gesellschaft mechanistische Natur- 
wissenschaft als Weltanschauung möglich ist, daß aber in einer 
etwaigen sozialistischen Gesellschaft als in einer Gesellschaft 
planmäßiger Organisation und des höchsten sozialen Selbst- 
bewußtseins der Standpunkt einer toten Mechanisierung unmög- 
39* 


604 Max Scheler, 


lich ist. Indem er sich aufreckte, um die kapitalistische Gesell- 
schaft zu zerschmettern, wurde er mit seinem eigenen Bewußt- 
sein in seine rein kapitalistische Gedankenbildung hineingezogen 
und sah die Möglichkeit einer sozialen Weiterentwicklung in der 
Verzeichnung einer spezifisch kapitalistischen Theorie« (S. 94). 
Zu aller so nötigen Arbeit an einer neuen Ideologie für den natio- 
nalen Sozialismus von morgen sollte diese Frage Plenges den 
Ausgangspunkt bilden. Vortrefflich ist auch der Aufweis der 
Punkte, wo Marx von Hegel her in den egalitären Individualis- 
mus der Ideen von 1789 zurückbiegt (damit aber vor die Nation 
die internationale Klasse stellen muß) und wieder Verzicht aufalle 
konstruktiven positiven Leitbilder der gesellschaftlichen Neugestal- 
tung — scheinbar nur eine Folge der rein kausalen swissenschaft- 
lichene Auffassung des historischen Gesellschaftslebens — de facto 
in Marxselbst und noch mehr in seiner Annahme durch die deutsche 
Sozialdemokratie nur bestimmt ist durch einen ganz einseitigen 
primären Willen zur Kritik. Was ich vermisse ist nur 
der Nachweis derjenigen Irrtümer und Fehler, die Marx und 
Hegel gerade gemeinsam sind (z. B. die Allmacht des Sozialen, 
die Einreihigkeit der sdialektischen« Geschichtsbewegung, die 
Verwechslung des europäischen Kapitalismus mit einer univer- 
salen Tendenz u. a.m.). Nicht gerecht wird meines Erachtens der 
Hegelianer Plenge dem freilich sehr relativen Wahrheitsgehalt 
von Marxens »ökonomischer Geschichtsauffassung«, diesem Ge- 
halte nämlich innerhalb der Spannweite des langsam sich 
emporringenden vorbildlichen Menschentypus (seinem Ethos und 
dem Aufbau seiner Triebstruktur) Europas seit dem 13. Jahr- 
hundert. Daß in diesem Zeitalter (vorher durchaus nicht) 
zunehmend die »ökonomischen Bedingungen « zwar nicht (wie nach 
Marx) die geistigen Sozialinhalte des sog. »Ueberbaus« in ihrem 
Seinszusammenhangund Wesensgehalt eindeutig bestimmen, wohl 
aber primär mitbestimmen, welche Inhalte sich aus den Spiel- 
räumen der den geistigen Subjekten (Individuen, Ständen, Natio- 
nen, Klassen usw.) möglichen Inhalten faktisch historisch reali- 
sieren und allgemeine faktische Geltung gewinnen, das scheint 
mir an Marxens Lehre wahr zu bleiben. Daß nun Marx aber 
fälschlich diese Tatsache für universal und zeitlich unbeschränkt 
hielt und gleichwohl aus dieser primär ökonomisch motivierten 
Bestimmungskette der geistigen Geschichtsleistungen heraus 
einen »Sprung in die Freiheit« d. h. eineunterder Herrschaft 


»1789 und 19146. 605 


der Vernunft erfolgende Organisation der Gesellschaft für mög- 
lich hielt (durch den Sieg der Arbeiterklasse), das ist ebenso 
widerspruchsvoll als jener berühmte »Sprung« das tiefgehendste 
aller Zeichen ist, wie sehr auch er sich nochin den Grenzen des 
deutschen Idealismus bewegt und besonders von Hegels berühm- 
ter Zielbestimmung!) der Geschichte abhängig bleibt. Wie sich 
positiv eine neue Ideologie des snationalen Sozialismus« zu ge- 
stalten habe, dies erfahren wir von Plenge nicht und es ist hier 
kein Ort, um mich meinerseits über dieses große Problem zu 
äußern. 

Aber gewiß ist, daß niemand, der sich mit der Frage be- 
schäftigt, an Plenges Arbeiten wird vorübergehen dürfen. 


ı) Als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit. 


605 


Replik. 
Von 


KNUT WICKSELL. 


Zu der im »Archiv« (Bd. 42 S. 202) publizierten Entgegnung des 
Herrn Waiter Feder‘, welche sich gegen meine Abhandlung: »Hin- 
au mit den Bankra:en« »Archiv«e, Bd. 41 S. 745) wendete, möchte ich 
mir erlauben, einige ganz kurze Anmerkungen zu machen *). Leider ver- 
stehe ich Herrn Federns Argumentation nicht überall: er bedient sich mit 
Vorliebe des bilderreichen, aber eben deshalb weniger genauenGeschäfts- 
jargons statt der schlichten, metapherfreien Sprache der Wissenschaft. 
Z. B. was soll es eigentlich heißen, daß »im modernen Kreditsystem das 
Geld genau so rasch umläuft, als die Güter, zu deren Zahlung man es 
braucht«? Die Güter laufen ja überhaupt nicht um, sondern gehen 
nur den mehr oder weniger direkten Weg zwischen Produzenten und 
Konsumenten. Auch sonst spricht er viel von Warenumlauf, Waren- 
zirkulation usw., Ausdrücke, die, wie gewöhnlich sie auch seien, offen- 
bar keinen wirklichen Sinn besitzen. 

Was seine Hauptargumente betrifft, dürfte Federn jedenfalls 
zu weit gehen, wenn er einen Einfluß der Zinsfußerhöhung auf die 
ausländischen Wechselkurse einfach leugnet. Er bestreitet ja gar nicht, 
daß sie eine Erniedrigung des Kurses der Wertpapiere zur Folge haben 
würde, spricht vielmehr selber vom »Fallen ins Bodenlose« der Eftekten- 
kurse, wenn der Zinsfuß hinreichend erhöht würde — weshalb denn 
sollte eine Verbilligung der Wertpapiere aus diesem Grunde sie 
im Auslande nicht ebenso aufnahmsfähig machen wie eine solche 
durch das Agio? Letztere bildet überdies nur dann eine wirkliche 
Verbilligung, wenn man der baldigen Retablierung der Valuta 
sicher sein kann, eine Sache die nach seiner eigenen Meinung leider 
sehr im Ungewissen liegt. 

Womöglich noch energischer verneint Federn jeden Einfluß einer 
Zinsfußerhöhung auf die heimischen Güterpreise. »Die Warenpreise 
steigen«, schreibt er, »weil Produktion und Zufuhr hinter dem Be- 


~ m 


*) Wegen des schleppenden Postganges war es nicht möglich diese von Herm 
Professor Wicksell gleichzeitig mit der Entgegnung von Herrn Walter Federn zu 
veröffentlichen. (A. d. R.) 


3 ' 
KEPA 





Replik. 607 


darf zurückbleibene. Zweifelsohne, aber die Zinsfußerhöhung wäre ja 
eben das Mittel, um hier Angebot und Nachfrage miteinander in 
Einklang zu bringen, indem sie die letztere vermindert, die erstere 
wiederum erhöht. Wie?, ruft Herr Federn. »Seit wann soll Zinsfuß- 
erhöhung denn eine unmittelbare Steigerung der Produktion zur 
Folge haben ? Sie erfolgt ja zur Einschränkung der Unternehmungs- 
lust.«e Dies ist gewiß ein Mißverständnis. Die Erhöhung des Zins- 
fußes schreckt die Unternehmungslust und damit das Realkapital von 
langfristigen Unternehmungen ab, die für die gegenwärtige 
Konsumtion nichts bieten. Eben dadurch aber wird das vorhandene 
Realkapital in erhöhtem Maße in die Bahnen der Gegenwartsproduk- 
tion hineingeleitet,; die Zinsfußerhöhung hat also ganz sicher »eine 
unmittelbare Steigerung der Produktion zur Folge«.. Noch augen- 
scheinlicher aber ist ihre Einwirkung zur Verminderung der Kon- 
sumtion, indem sie die Spartätigkeit begeistert, welche bekannt- 
lich in einer Hinausschiebung der Gegenwartskonsumtion besteht. 
Der Staat allerdings würde seine Konsumtion für Kriegszwecke nicht 
einschränken, darin stimme ich Herrn Federn vollkommen bei, dafür 
aber würde, wie ich schrieb, der Staat im schnelleren Tempo sich der 
Allgemeinheit, statt den Banken, zugewandt haben und jene durch 
Anbieten eines passenden Darlehenszinses zu eben jener Konsumtions- 
einschränkung bewegt haben, die sie jetzt notgedrungen in Folge 
der exorbitanten Preiserhöhung sich auferlegen mußte, aber leider 
so, daß die Früchte jener »Ersparnisse«e anderen Leuten, den 
Vorratsbesitzern in den Schoß fallen — und mit einer vielleicht unheil- 
baren Zerstörung des Geldwesens als Begleiterscheinung !). Herr 
Federn allerdings behauptet, daß die Warenbesitzer und vollends die 
Kriegsmaterialfabrikanten dann noch höhere Preise gefordert 
hätten, weil sie die gesteigerte Zinsrate unter ihre Selbstkosten 
rechnen mußten. Er scheint nicht bemerkt zu haben, daß ich schon 
in meinem Aufsatz (wie überhaupt in meinen Geldschriften) darauf 
hingewiesen habe, daß dieser alte Einwand, welcher schon von Tooke 
gegen die Ricardianer erhoben wurde, ein Trugschluß ist. Er 
hat einen gewissen Schein von Berechtigung, daer aber, wenn allge- 
mein wahr, offenbar zu absurden Konsequenzen führen würde, muß 
er dennoch grundfalsch sein, was auch nicht schwer direkt zu beweisen 
ist. Das allgemeine Niveau der Verbrauchspreise wird überhaupt nicht 
durch die Produktionskosten bestimmt, sondern durch Angebot und 
Nachfrage. Jenes bekommt, wie gesagt, wegen der Zinsfußerhöhung 
eine Tendenz zur Vergrößerung, diese eine Tendenz zur Verminderung, 
folglich werden die Preise fallen, nicht steigen °). 

a Aulerdem hat, wie ebenfalls von mir hervorgehoben wurde, der Staat na- 
türlich noch eine »Schraubes zu seiner Verfügung die gleichfalls moderierend auf 
die Preise hinwirkt von der aber während des Krieges nur in England ein 
ausgiebigerer Gebrauch gemacht worden ist: die Steuerschraube. 

2) Wie verkehrt es ist, ein allgemeines Produktionskostenelement wie Kapital- 
zins, Arbeitslöhne usw. für eine allgemeine Preisänderung verantwortlich zu 
machen, ersieht man u. a. daraus, daß dieser Umstand ja ebenso das Gold ver- 
teuern, bzw. verbilligen würde, was ja undenkbar ist. 


lo 


608 Knut Wicksell, Replik, 


Weiter aber sollte nach Federn die Zinserhöhung gar nicht effek- 
tiv werden können, insbesondere der Staat würde nur nominell die 
hohen Bankzinsen zahlen, da er ja Erheber von Notensteuer, bzw. 
Partizipant des Geschäftsgewinnes der Zentralbank sei. Das kommt 
doch darauf an. Wenn der Staat nicht gerade zu direkter Emission 
von Staatsnoten schreitet — denn dann hört natürlich alles auf — so 
hat die Zentralbank gewiß in ihrer Macht ihren Zinsfuß sowohl dem 
Staat wie den Privatbanken gegenüber vollkommen effektiv zu 
machen, nämlich indem sie selber als Darlehensbewerber auf dem 
Markt auftritt, z. B. durch Verkauf oder Verpfändung der von ihr 
übernommenen Schatznoten. Wenn die österreichisch-ungarische 
Bank einen Zins von 15% — eine Ziffer die ich freilich nur als äußerste 
Grenze angegeben habe — wirklich gefordert hätte, so hätte sie auf 
ihre eigenen Anleihen 12—14% bieten können 3), und dadurch würde 
sie voraussichtlich sehr bald den ganzen Ueberfluß von Zahlungs- 
mitteln inihren Kassen haben, so daß die übrigen Banken gar nicht 
in Geld zu schwimmen brauchten. Der Staataberhättedann weit weni- 
ger Geld für seine Zwecke nötig gehabt, und die Konversion der 
Staatsschuldverschreibungen ;u einem niedrigen Zinssatz hätte wohl 
bald nach dem Kriege ihren Anfang nehmen können. 

Ueber den Einfluß der erwähnten Maßregeln auf das Geschäfts- 
leben wage ich mich freilich als zuwenig geschäftskundig nicht im ein- 
zelnen zu äußern. Etliche unliebsame Vorkommnisse hätten wohl unver- 
meidlich sein müssen — wie wäre auch eine andauernde Kriegszeit 
ohne solche denkbar ? — im großen und ganzen aber glaube ich darauf 
bestehen zu sollen, daß der Zinsfuß nicht eine Schöpfung der Banken 
sein kann oder sein darf, sondern sich jeweils nach den realen Verhält- 
nissen richten sollte. Ein Geschäft das diesen Zinsfuß nicht zu zahlen 
vermag, ist gewiß nicht lebenskräftig weder im Frieden noch im Kriege. 

Daß der hohe Zinsfuß am Anfang des Krieges auf die Probe ge- 
stellt wurde und sich als ineffektiv erwiesen habe, wie Herr Federn 
versichert, muß ich völlig in Abrede stellen. Ein Experiment von 
einigen Tagen in England — das übrigens ganz formell erfolgte, um 
die traditionelle Bedingung für die Aufhebung der Peelschen Bankakte 
zu erfüllen — oder ein solches von nicht ganz drei Wochen in Oester- 
reich beweist nichts. Die Veränderung nach den drei Wochen hätte — 
sowohl in Oesterreich wie überall anderswo — aufwärts, nicht 
abwärts geschehen sollen ; dann wäre jetzt sehr viel anders. Der Krieg 
allerdings wäre wohl leider in ganz derselben Weise vor sich gegangen, 
aber die Zeit nach dem Krieg wäre zweier ihrer schlimmsten Uebel- 
stände relativ frei: des zerrütteten Geldwesens und der unerträglichen 
Staatsschulden. 


3) Die Bank von England zahlt z. Z. bekanntlich 5%, Zins, auf die Gut- 
haben der Privatbanken 7. Ihr Diskont ist 6%. 








Replik. 
Von 


EUGEN EHRLICH. 


In der im »Archiv für Sozialwis-enschait und Sozialpolitik« er- 
schienenen Anzeige meines Werkes: Grundlegung der Soziologie des 
Rechts !) mutet mir Herr Professor Kelsen zu, daß ich die zwei Bedeutun- 
gen des Wortes Regel — Seinsregel (Naturgesetz) und Soilregel — 
miteinander vermenge und die Rechtsregel wenigstens als Regel des 
Handeins als Seinsregel auffasse. Die Rechtsregel als Seinsregel 
(Naturgesetz), das wäre selbstverständlich der reinste Unsinn. Ich 
habe daher in meiner in der letzten Nummer des Archivs abgedruckten 
Entgegnung Herrn Professor Kelsen alles Ernstes, mit Berufung 
auf die Sollregeln des literarischen Anstandes, 
aufgefordert, zu erklären, wo er eine solche Lehre bei mir gefunden 
habe. 

In der gleichzeitig mit der Entgegnung im Archiv veröffentlichten 
Replik 2) hebt Kelsen zunächst den Widerspruch hervor, in dem meine 
Behauptung, das Recht sei stets nur eine Sollregel, stehe zur These 
vom »lebenden Rechte«, das die Rechtswissenschaft nicht dadurch 
erkenne, daß sie darstelle, »was das Gesetz vorschreibt, sondern auch 
dasjenige, was wirklich geschieht«. Kelsen bringt einen Teil des Satzes 
in Anführungszeichen und gibt damit vor, daß es sich um ein von ihm 
bloß in indirekte Rede verlegtes Zitat aus meinem Buche handle. Das 
Zitat ist falsch, ein Satz, der den von Kelsen angegebenen 
Sinn hätte, findet sich in meinem Buche nicht. Die von Kelsen in 
Anführungszeichen gebrachten Worte stehen annähernd in einem 
Satze, der wörtlich lautet: »Auch hier erfüllt die Wissenschaft 
als Lehre vom Recht ihre Aufgabe sehr schlecht, wenn sie bloß dar- 
stellt, was das Gesetz vorschreibt, und nicht auch, was wirklich ge- 
schieht«e. Die Worte beziehen sich daher gar nicht auf den Inhalt 
der Rechtsregel, sondern auf die Aufgabe der Rechtswissenschaft. 

Dann weist Kelsen darauf hin, ich hätte in meinem Buche noch 
keineswegs die Behauptung aufgestellt, ich verstünde unter, Recht 

Bi. 9, S. 8:9 ff. 

5» Bd. 41, S. 850 ff. 


610 Eugen Ehrlich, Replik. 


stets nur eine Sollregel. Muß das wirklich erst behauptet werden? 
Aber auch das ist nicht wahr. Ich sage auf Seite 31, 
gerade mit Bezug auf die Regeln des Handelns, sie seien »ihrer Form 
und ihrem Inhalte nach Normen, abstrakte Befehle und 
Verbote, die das Zusammenleben im Verbande betreffen, ge- 
richtet an die Angehörigen des Verbandes.« Ich wüßte nicht, wie ich es 
deutlicher sagen könnte, daß ich unter Regeln des Handelns nicht 
Naturgesetze, sondern Sollregeln verstehe. 

Endlich beruft sich Kelsen auf meine Lehre vom lebenden Recht, 
»daß es eine Regel tatsächlichen Geschehens, d. h. seienden und nicht 
bloß gesollten Handelns, daß es ein Stück lebendiger, in der Außen- 
welt sich abspielender Wirklichkeit darstellt, von dem man freilich 
nicht weiß, warum es denn auch gesollt sei«. Kelsen hat damit meine 
Lehre vom lebenden Recht höchst ungenügend wiedergegeben. Ich 
bezeichne in meinem Buche als lebendes Recht die rechtlichen Soll- 
regeln, die nicht bloß Entscheidungsnormen geblieben sind, son- 
dern das menschliche Handeln tatsächlich beherrschen. Sie werden 
festgestellt durch die Wahrnehmung des tatsächlichen Geschehens, 
wie das auch die herrschende Jurisprudenz von den Sollregeln des so- 
genannten Gewohnheitsrechtes annimmt, das wenigstens teilweise 
mit dem zusammenfällt, was ıch »lebendes Recht« nenne. 

Anderes Material hat Kelsen nicht beigebracht. Herr Prof. 
Kelsen ist daher meiner an ihn ergangenen Aufforderung, zu erklären, 
wo er bei mir die von ihm behauptete Lehre gefunden habe, nicht nach- 
gekommen. 


611 


Schlusswort. 


Da ich für meinen Teil die sachliche Diskussion mit Herrn 
Professor Ehrlich für abgeschlossen erachte, berührt mich aus seinen 
vorstehenden Ausführungen lediglich die neue Behauptung, ich hätte 
ihn falsch zitiert. Ehrlich will glauben machen, ich habe bei 
Darstellung seines »lebenden Rechts« einen Satz seines Buches un- 
richtig und mit Veränderung seines eigentlichen Sinnes wiedergegeben. 
Ehrlich hält es für notwendig, diesen Satz, den ich offenbar meinen 
Lesern vorenthalten hätte, wiederzugeben: »Auch hier erfüllt die 
Wissenschaft als Lehre vom Recht ihre Aufgabe sehr schlecht, wenn 
sie bloß darstellt, was das Gesetz vorschreibt und nicht auch was wirk- 
lich geschieht«. 

Dieser Satz wurde aber von mir anläßlich 
des Darstellung von Ehrlichslebendem Rechte 
auf S. 873 Zeile 9—ı2 meines Referates wörtlich 
unter Anführungszeichen wiedergegeben. 

Ich akzeptiere wohl die für Professor Ehrlich günstigste Beur- 
teilung seines Vorgehens, wenn ich annehme, daß er diesen Teil meines 
Referates nicht gelesen hat. 

In meiner »Replik«, wo ich mich auf bereits Gesagtes beziehen 
konnte und mich wirklich auch bezogen habe, 
gab ich den Gedanken des zitierten Satzes in einem auf Ehrlichs 
slebendes Recht« bezüglichen Relativsatz wieder: »daß die R e ch t s- 
wissenschaft nicht dadurch erkenne, daß sie bloß darstellt, 
was das Gesetz vorschreibt (d. h. doch wohl eine Soll-Regel), sondern 
auch dasjenige, was wirklich geschiehte. 

Mir — und wohl jedem objektiv Denkenden — muß schlechter- 
dings unverständlich bleiben, worin meine Darstellung in der Replik 
den Sinn des fraglichen Satzes aus Ehriichs Buch ändert. Wenn Ehr- 
lich betont, die Worte des zitierten Satzes beziehen sich auf die 
Rechtswissenschaft, so bestätigt doch seine eigene Wieder- 
gabe meiner Darstellung in der Replik, daß auch ich die »Rechts- 
wissenschafte«e zum Subjekt des fraglichen Satzes mache. 

Hans Kelsen. 


612 


LITERATUÜUR-ANZEIGER. 


Inhaltsübersicht: ı. Enzyklopädien, Sammelwerke,’ Lehrbücher S. 612; 
2. Sozial- und Rechtsphilosophie S. 614; 3. Soziologie, Sozialpsychologie, Rassen- 
frage S, 619; 4. Sozialismus S. 619; 5. Sozialökonomische Theorie und Dogmenge- 
schichte S. 621; 6. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Biographien S. 621; 7. Be- 
völkerungswesen S. 627; 8. Statistik S. 633; 9. Soziale Zustandsschilderungen 
S. 633; 10. Agrarwesen, Landarbeiterfrage S. 634; 11. Gewerbliche Technik 
und Gewerbepolitik S, 638; 12. Kartellwesen, Unternehmerorganisation S. 639; 
13. Gewerbliche Arbeiterfrage, Arbeitsmarkt S. 642 ; 14. Arbeiterschutz S. 642; 15. Ver- 
sicherungswesen (bes. Arbeiterversicherung) S. 642; 16. Gewerkvereine und Tarif- 
wesen S. 642; 17. Allgemeine Sozialpolitik und Mittelstandsfrage S. 642; 18. Privat- 
beamten- und Gehilfenfrage S. 644; 19. Handel und Verkehr S. 644; 20. Privat- 
wirtschaftslehre (Handelswissenschaft) S. 654; 2ı. Handels- und Kolonialpolitik 
S. 654; 22. Geld-, Bank- und Börsenwesen S. 657; 23. Genossenschaftswesen 
S. 657; 24. Finanz- und Steuerwesen S. 657; 25. Städtewesen und Kommunalpolitik 
S. 660; 26. Wohnungsfrage S. 660; 27. Unterrichts- und Bildungswesen S. 662; 
28. Jugendfürsorge, Armenwesen und Wohlfahrtspflege S. 664; 29. Kriminologie, 
Strafrecht S. 664; 30. Soziale Hygiene S. 665; 31. Frauenfrage, Sexualethik S. 665 ; 
32. Staats- und Verwaltungsrecht S. 665; 33. Gewerbe-, Vereins- und Privatrecht 
S. 665; 34. Politik S. 666. 


r. Enzyklopädien, Sammelwerke, Lehrbücher. 


Hell, Hans: Die Arbeit des freien Mannes als 
Quelle des Friedens. Versuch einer deutschen Volkswirt- 
schaftslehre. Teil I, II. Leipzig ıgı6. Krüger und Co. 8°. 120 S. 
M. 3.—. 

Man würde der vorliegenden Schrift nicht gerecht werden, wenn 
man sie lediglich nach den zahlreichen nationalökonomischen Ent- 
gleisungen, die darin vorkommen, beurteilen wollte. Der Verfasser 
tritt diesen Fragen als Laie gegenüber und hebt selbst im Vorwort 
hervor, daß seine Ausführungen auf Wissenschaft keinen Anspruch 
erheben wollen. Was ıhm als Ziel vorschwebt, ist wie schon der Titel 
sagt »eine deutsche Volkswirtschaftslehre«. Wenn er auch dieses mit 
z. T. wohl unzulänglichen Mitteln zu erreichen sucht, so ist doch dieses 
Ziel an sich beachtenswert, ebenso wie die z. T. neuartigen Wege, auf 
denen er an dieses herangeht. 

Seine Ausführungen gliedern sich in 3 Teile: x. Wirtschaftsent- 
wicklung, 2. Wirtschaftstheorie, 3. Wirtschaftspraxis. Der vorliegende 
Band enthält die beiden erstgenannten Abschnitte. Nahezu die Hälfte 


væ ae HER A ea en Zr 


I. Enzyklopädien, Sammelwerke, Lehrbücher. 613 


des ganzen Buches bildet ein mit großem Fleiß zusammengestelltes 
Tabellenwerk, von dem man nur bedauern kann, daß es im Texte keine 
eingehendere Bearbeitung gefunden hat, als es der Fallist. Auch dabei 
soll nicht auf das im einzelnen eingegangen werden, an das sich kriti- 
sche Bemerkungen anknüpfen ließen; es soll lediglich vielmehr das 
Positive und Beachtenswerte hervorgehoben werden. Dazu rechne ich 
in aller erster Linie den Versuch Hells, bei den Mineralstoffen, den 
Pflanzenstoffen und den tierischen Stoffen den Konsum Deutschlands 
in ein Verhältnis zum Weltkonsum zu setzen, z. T. neue Wege zur 
Feststellung des Volksvermögens zu finden und den Versuch, für 
die Arbeitsintensität der Hauptstaaten Europas zahlenmäßige Anhalts- 
punkte zu erhalten. Leider sind, wie schon einmal hervorgehoben, die 
Ergebnisse dieser mühsamen Berechnungen im Text nicht genügend 
verarbeitet worden und doch hätte die ganze Schrift dadurch wesent- 
lich gewonnen. Es würde auch hier zu weit führen, auf die mancherlei 
Bedenken einzugehen, die auch bei diesen Tabellen und den dabei ange- 
wandten Methoden auftauchen. Sie zeigen jedenfalls, daß der Verfasser 
im wesentlichen die Probleme erkannt hat, vor welche sich die zukünf- 
tige deutsche Wirtschaftspolitik gestellt sieht und das ist es auch, was 
dieser Arbeit, trotz zahlreicher Irrtümer im einzelnen, einen gewis- 
sen Wert verleiht. (P. Mombert.) 


Festschrift für Lujo Brentano zum 70. Geburts- 
tag. München und Leipzig IgI6. Duncker und Humblot. 470 S. 
M. 15.—; geb. M. 20.—. 

Das Erscheinen dieser umfangreichen, zu Ehren Brentanos ver- 
anstalteten Publikation ist durch den Krieg erheblich verzögert wor- 
den (der 70. Geburtstag Brentanos fiel auf den 18. Dezember 1914). 
Auch die Zahl der Beiträge wäre ohne den Ausbruch des Weltkriegs 
vermutlich noch größer. Infolge der intensiven und breiten Wirksam- 
keit Brentanos als Lehrer und infolge seiner großen anregenden Kraft, 
die über den Kreis seiner Schüler weit hinausreicht, finden wir unter 
den Mitarbeitern an dieser Festschrift Persönlichkeiten aus verschie- 
denen wissenschaftlichen Lagern (wenn gleich der etliischeGesichtspunkt 
überwiegt) und Beiträge aus allen Problemgebieten der Sozialwissen- 
Schaft. Das zeigt bereits die Aufzählung der Titel, welche ein Bild von 
der Mannigfaltigkeit dieser Publikation geben mag: 

Dr. S. N. Angelescu, Bukarest: Das Gleichgewicht der 
beim Arbeitsvertrag mitwirkenden Kräite und die moderne Auffassung 
von Arbeitsvertrag; Dr. Welimir Bajkıtsch, Belgrad: Begrifi- 
liches und Kritisches über das Moratorium ; Professor Dr. M. J. Bonn, 
München: Die Idee der Selbstgenügsamkeit; Dr. Siegfried Buff, 
München: Zur Frage der Vermögensbewertung in den Bilanzen; Pro- 
fessor Dr. Arthur Cohen, Pullach b. München: Die Mobilisierung 
des bäuerlichen Kredits durch die Bäauernbefreiung; Dr. Robert 
Drill, Frankfurt a. M.: Nationalökonomie und Willensfreiheit: 
Professor Dr. Joseph Bergfried Eßlen, Berlin: Zur Lehre vom 
auswärtigen Handel; Regierungsrat Dr. Johannes Feig, Char- 
lottenburg: Alter und Familienstand der organisierten Arbeiter; Pro- 
fessor Dr. A. Günther, Berlin: Ueber einige internationale Auf- 
gaben der Sozialstatistik und Sozialpolitik; Dr. Ludo M. Hart- 
mann, Wien: Das Wesen der Politik; Geh. Regierungsrat Professor 
Dr. Heinich Herkner, Charlottenburg: Die Geschichte der 


614 Literatur-Anzeiger, 


Nationalökonomie; Dr. Theodor Heu B, Heilbronn: Organisations- 
robleme der »freien Berufe«; Professor Dr. Edgar Jaffe&, München: 
er treibende Faktor in der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung; 

Professor Dr. Emory R. Johnson: Die Unzweckmäßigkeit der 

Befreiung der amerikanischen Küstenschiffahrt von den Kanalge- 

bühren; Professor Dr. Rudolf Kaulla, Stuttgart: Das Objekt 

des Tauschwerts; Dr. Rosa Kempf, Frankfurt a. M.: Die Berufs- 
arbeit der bäuerlichen Ehefrau im rechtsreinischen Bayern; Professor 

Dr. R. Leonhard, München: Die Transhumanz im Mittelmeer- 

gebiet; Professor Dr. Walter Lotz, München: Zur Lehre vom 

»Steuereinmaleins«; Professor Dr. Ernest Mahaim, Lüttich: 

Sur la Liberté; Professor Dr. P. Mombert, Freiburg i. Br.: Zur 

Frage von Kapitalbildung und Kapitalbedarf in Deutschland; Pro- 

fessor Dr. Gerhart v. Schulze-Gaevernitz, Freiburg i. Br.: 

»Wirtschaftswissenschaft ?«; Dr. Freih. Raymund de Waha, Köln: 

Ueber das ökonomische Wesen der Versicherung; Dr. K. A. Wieth- 

Knudsen, Kopenhagen: Entwicklungsgeschichte des internatio- 

nalen Landwirtschaftsinstituts in Rom; Professor Dr. Robert W il- 

brandt, Tübingen: Der Nationalökonom als Arzt. (—p) 


2. Sozial- und Rechtsphilosophie. 


Krefl, F.X.: Die Theorien des modernen Sozia- 
lısmus über den Ursprung des Christentums. 
XXXII und 222 S. Kempten und München 1915. Kösel. 

Das Buch ist eine populäre, apologetische Studie, die bestimmt ist, 
den Ausspruch des Bischofs von Henle über den wesentlich religiösen, 
nicht sozialreformatorischen oder gar klassenkämpferischen Charakter 
des Christentums zu erläutern, den dieser im bayerischen Reichsrat ge- 
tan hatte. Dem entspricht auch die überaus ungenaue Art des Zitierens 
und der wesentlich kompilatorische Charakter. Interessant ist für den 
Nicht-Katholiken die Zusammenfassung all der neuen und neuesten, 
meist schr dilettantischen Auffassungen der Entstehungsgeschichte 
des Christentums, die unter dem soziologischen oder klassentheoreti- 
schen Gesichtspunkt stehen und von den Marxisten zu den Nietzsche- 
Schülern reichen, aber auch radikale Hegelianer und Spiritualisten 
wie Arthur Drews und sozialreformerische protestantische Theologen 
umfassen. Kieil stellt diese ganze, zum Teil überhaupt mehr journa- 
listische oder dogmatische als historische Literatur unter den Einfluß 
Hegels. Er meint, derselbe Hegel, der in den Naturwissenschaften 
und der Philosophie völlig abgetan sei, beherrsche trotzdem die antı- 
christliche Propaganda und Literatur bisheute. Darin liegt in der Tateın 
Problem, nur daß es natürlich anders formuliert werden muß. Das Hegel- 
sche System ist untergegangen, aber die Dialektik als Methode histo- 
rischen Denkens existiert fort, auch wo alle ihre metaphysischen Grund- 
lagen verlassen und geleugnet oder auch den Darstellern gänzlich unbe- 
kannt sind. Der zu einer gedankenlosen Selbstverständlichkeit ge- 
wordene moderne Entwicklungsbegriff setzt die Methode fort, aus einem 
indifferenten Urzustande unter der Herrschaft eines bestimmten Ent- 
wicklungstriebes die geschichtliche Folge in logischer Entfaltung, 
Umschlag zum Gegensatz und Synthese der Gegensätze, herzuleiten. 
Der Zusammenhang ist ein logisch notwendiger und schlechthin 
kontinuierlicher, wo jeder Realgegensatz aus seinem Mutterschoße 


Pi. 


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2. Sozial- und Rechtsphilosophie. 615 


mit logischer Notwendigkeit hervorgetrieben wird, um seinerseits 
einen neuen aus sich hervorzutreiben und durch diese Gegensätze 
hindurch schließlich zur Befriedigung seiner vollen und gegensatzlosen 
Durchsetzung zu kommen. In diesen Gedankengang, der doch seiner- 
seits auf der Metaphysik der Identität von Denken und Sein und auf 
der Logisierung der Bewegung durch Aufnahme des Widerspruchs 
in die logische Vernunfteinheit beruht und ohne diese Grundlagen 
sinnlos wird, münden Darsteller ein, die im Sinn der darwinistischen 
Biologievom Kampf ums Dasein ausgehen oder im Sinn einer psycho- 
logistischen Kausalität die Kausalerklärung an dem scheinbar Schöp- 
ferischen, Originalen und Heroischen durchführen oder den subjek- 
tiven Einzelgeist aus der Massenpsychologie verstehen wollen. Auch 
ein radikaler Vernichter jedes Logizismus, wie Nietzsche, konstruiert 
doch in dieser Weise den Umschlag der Antike zum christlichen Ple- 
bejertum und den Rückschlag aus diesem in eine neue Aristokratie 
hinein. Es ist in der Tat nicht zu leugnen, daß die dialektische Methode 
uns heute noch in allen Gliedern sitzt, wo sie den Zusammenhang mit 
Hegels Geist und Sinn doch völlig verloren hat. Sie scheint einen 
derartig festen Halt an der Deutung der Tatsachen durch sie und an 
der Möglichkeit, Kausalität und Teleologie in ihr zu verbinden, ohne 
daß von der lezteren die Rede zu sein braucht, daß auch die der Hegel- 
schen Philosophie fremdesten oder auch ganz unphilosophische Geister 
sich ihrer bedienen. Die Dialektik hat sich gegen das System verselb- 
ständigt, aus dem sie erwachsen ist, und übt, frei in der Luft schwebend, 
trotzdem wie selbstverständlich ihre Macht in der Deutung und Ord- 
nung der Tatsachen aus. Das ist nur möglich, wenn wirklich wenigstens 
ein Teil des wirklichen Geschehens sich ihr fügt und wenn für die sich 
nicht fügenden Tatsachen doch wenigstens ein derartiges Vorurteil 
zugunsten der Dialektik besteht, daß sie als selbstverständliche wis- 
senschaftliche Forderung erscheint und ihr zu widersprechen den 
Verlust des Anspruches auf wissenschaftliche Methode bedeutet. 
Wahrheit und Vorurteil, das in diesem Gebrauch der Dialektik steckt, 
gegen einander abzugrenzen, wäre ın der Tat die wissenschaftliche 
Aufgabe des echten Kritikers, der von da aus dann natürlich auch 
auf die letzten Grundlagen des geschichtsphilosophischen Denkens 
zurückgehen müßte. 

Daran denkt Kiefl natürlich gar nicht. Er zeigt nur mit dem 
natürlichen antimonistischen Instinkt des wundergläubigen Katho- 
liken, wie einheitlich und gleichartig auf einen solchen die von so ver- 
schiedenen Geistern in so verschiedenem Interesse gehandhabte Dia- 
lektik wirkt. Er selber vereinfacht sich die Sache sehr, indem er lediglich 
erklärt S. 8: »Die Staatsvergötterung Hegels muß eben von selbst 
zum Sozialismus werden, sobald sie die arıstokratischen Höhen des 
Lebens verläßt und in die breiten Regionen des Wirtschaftslebens 
niedersteigt. In diesen Regionen erfolgt von selbst der 

mschlag des monistischen Gedankens nach der mater::lien 
und wirtschaftlichen Seite, und diese Einseitigkeit ist der letzte Prüf- 
stein für die Unwahrheit des Monismus.« In diesem Falle argumentiert 
er selber dialektisch! Allein die Sache ist viel komplizierter. Der 
larxismus, an den er hierbei vor allem denkt, bestreitet den Spiri- 
tualismus, die mystische Identitäts-Metaphvsik, und erkennt daher 
das, was für Hegel Kern und Triebkraft der Benennung war, den sich 
in den objektiven Werten auseinanderlegenden Geist, nur als Folge- 


616 Literatur-Anzeiger. 


erscheinung niedrigerer und massiverer Dinge an, nämlich der von der 
Technik und Wirtschaftsweise abhängigen soziologischen Grundge- 
staltung des menschlichen Produktions- und Reproduktionstriebes. 
Auf diese Triebkraft, den Produktions- und Reproduktionswillen, 
und auf die von ihm hervorgebrachte Kernmasse der Geschichte, 
dieGesellschaft, wird die Dialektik übertragen, aus der sich hierbei ansich 
zunächst lediglich eine unbegrenzte Bewegung durch Spaltungen und 
Synthesen hindurch ergibt. Sie ist eben die wissenschaftliche Methode 
und bedarf keiner Begründung, da es ohne sie nur den Wunderglauben 
gäbe. Neben dieser ersten Dialektik gibt esaber im Marxismus eine zwei- 
te, vermöge deren er allein zu einem Ziel der Gesellschaftsentwickelung, 
zu der mit der Herrschaft des modernen Proletariats einsetzenden 
Assoziation freier und gleicher Entwickelungsmöglichkeit aller Indi- 
viduen innerhalb einer vom Klassengegensatz befreiten Gesellschaft 
»für immer« kommt. Das ist die Dialektik der Freiheit und Gleichheit, 
die vom Urkommunismus ausgeht, in allen Eroberungen, Versklavungen 
und Klassenherrschaften immer wieder die unterdrückten Klassen 
emporstreben und nach Herrschaft verlangen läßt, bis in der heutigen 
Situation eines einheitlich und ausschließlich gewordenen Klassen- 
gegensatzes die U’eberwindung dieses selber möglich wird in einer 
klassenlosen Gesellschaft der Freiheit und Gleichheit. Das erste ist 
die Dialektik der Gesellschaft im Klassenkampf, das zweite die Dia- 
lektik der Gleichheit in der immer neuen Durchsetzung und schließ- 
lich siegreichen Verwirklichung des idealen Grundtriebes nach Freiheit 
und Gleichheit. Die erste Dialektik ist relativ materialistisch, die zweite 
ideell; die erste konservativ, die zweite revolutionär; die erste moni- 
stisch, die zweite dualistisch. Beide Dialektiken aber schweben, philo- 
sophisch gesprochen, in der Luft und haben keinen Halt in einem Sy- 
stem. Würde man einen solchen suchen, so würden sich zwei ganz ver- 
schiedene Svsteme ergeben, und aus keinem dieser beiden würde die 
Dialektik selber ohne weiteres gelolgert werden können. Achtet man 
auf diese Sonderzüge des Marxismus, so wird sofort deutlich, daß bei den 
anderen von Kiefl angeführten Autoren die Dialektik wieder anderen 
Sinn und andere Hintergründe hat, so daß als eigentliches Problem 
überall die Dialektik rein für sich selber übrig bleibt. 

Allein derartiges liegt nicht im Interesse Kıeils. Es sei hier auch 
nur als Gedanke ausgesprochen, wozu die Lektüre des Buches anregen 
kann. Sonst ist von ihm nur noch hervorzuheben die Mitteilung der 
Auslcgungen von I Cor. 7, 20, jener Stelle, die den sozial-konserva- 
tiven, rein religriös-spiritualistischen Sinn der altchristlichen Bewegung 
besonders deutlich dartut. Fast die gesamte katholische Tradition 
und die alten Uebersetzungen verstehen sie als Aufforderung an die 
Sklaven in ihrem Stande zu bleiben und sogar eine etwaige Möglich- 
keit der Freilassung lieber nicht zu benützen. Die sämtlichen Refor- 
matoren haben dagegen die letztere Stelle dahin übersetzt, daß die Be- 
nutzung solcher Möglichkeit von Paulus vielmehr empfohlen werde. 
Die Aufklärer haben dann gar darin die Empfehlung der Menschen- 
rechte gesehen. Die modernen wissenschatftlichen Erklärer sind sämtlich 
zur alten katholischen Uebersetzung und Auslegung — mit Recht — 
zurückgekehrt. 

Aut Grund dessen betont Kiefl eifrigst den sozialkonservativen 
Sinn des Christentums. Aber er ignoriert vollständig den radikalen 
Untergrund der christlichen Idee, der in der Gleichheit und Freiheit 





2. Sozial- und Rechtsphilosophie. 617 


des Urstandes und in dessen Deckung mit dem sittlichen Naturgesetz 
oder Naturrecht sowie in der Wiederherstellung dieses Urstandes 
im himmlischen Jenseits oder im messianischen Reiche liegt. Von dieser 
Seite der Eschatologie und des Urstandes her liegt nun doch wieder 
ein starker Fond von naturrechtlichem, individualistisch-personalisti- 
schem Radikalismus im Christentum, der doch wahrlich oft genug zum 
Durchschlag mit größerer oder geringerer Schroffheit gekommen ist. 
Diese Seite der Sache, die ich in meinen vo Kiefl so vielfach ange- 
zogenen »Soziallehren« doch stark betont habe und die das ausführ- 
liche Buch von Schilling über das »Naturrecht und die alte Kirche« 
1913 bestätigt hat, verschwindet bei dem Verfasser völlig, obwohl 
die von ihm zitierten altchristlichen Autoren darauf mehrfach an- 
spielen. Ebenso hat er ja auch im Marxismus die zweite Dialektik 
der Gleichheit und Freiheit ignoriert. Das aber weist auf ein noch ganz 
ungelöstes wissenschaftliches Problem hin, auf die Geschichte der 
Gleichheitsidee, die schwierig genug sein mag aber ohne welche die 
Entwickelung des europäischen Geistes nicht zu begreifen ist. 
(Troeltsch.) 
Schleiermachers Werke. Auswahl in vier Bänden mit einem Bild- 
nis Schl.s und einem Geleitwort Prof. Aug. Dorners herausg. 
und eingeleitet vonDr.OttoBraunundProf. Joh.Bauer. 
Gr. 8°. I. Bd. 547 S. II. Bd. 703 S. III. Bd. 748 S. IV. Bd. 680 S. 
Felix Meiner, Leipzig 1910—1913. 

Wenn heute allmählich wieder anerkannt wird, was für Quesnay 
und Smith, Adam Müller und Marx in weitestem Maße zutraf: daß 
gründliche philosophische Bildung eine Voraussetzung sozialwissen- 
schaftlichen Denkens und Forschens sei (und zwar nicht nur für metho- 
dologische Grundfragen, wie »Sein und Sollen« sondern auch für den 
Aufbau der Theorie selbst, wie z. B. das Freiheits- und das Sozial- 
prinzip, Freihandel und Schutzzoll) — dann darf mit Recht betont wer- 
den, daß dazu nicht nur das erkenntnistheoretische Studium Kantens 
und der Neukantianer gehöre, sondern daß auch die nachkantische 
Philosophie der Sozialwissenschaft etwas zu sagen habe. Fichte, 
Schelling, Schleiermacher und Hegel sind die Ueberwinder jenes In- 
dividualismus, der einstens der klassischen Nationalökonomie und ihren 
Epigonen seinen Stempel aufdrückte. Schleiermacher im 
besondern soll in diesem Kreise nicht zurückstehen, denn seine Philo- 
„bus hat gerade den Gesellschaftswissenschaften Bedeutendes zu 

ieten. 

Bekanntlich ist ja seine Philosophie (deren Grundage in Schellings 
Identitätssytem liegt) vor allem auf eine Vereinigung des Gegensatzes 
von Empirismus und Spekulation, Realismus und Idealismus gerichtet. 
Wenn gleich ihm dies philosophisch zuletzt nicht durchaus geglückt 
sein mag, so liegt doch in der starken Hervorhebung und Aufsuchung 
des Real- und Erfahrungsgemäßen — das er durchgeistigen, nicht 
ableiten wollte — sowie in der zentralen Stellung der Ethik, die sich aus 

er Hervorhebung des realen Daseins und Lebens der Vernunft ergab, 
ein besonderer Gewinn für die sozialen Begriffe und Beziehungen des 
Systems. Das Streben, die Gegensätze zu vereinigen, führt bei Schleier- 
macher niemals zu gewöhnlichem Eklektizismus, vielmehr zum Auf- 
Suchen und Herausarbeiten des Wirklichen. 
Die gesellschaftstheoretische Grundauffassung Schleiermachers 
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 2. 40 


618 Literatur-Anzeiger. 


leitet sich von seiner Religionsphilosophie und Ethik her, welch letz- 
tere sich ihm in hohem Maße zur Soziologie erweiterte. Der Begriff 
der Religion geht aus vom Wesen der Vernunft, des Selbstbewußt- 
seins. Das Selbstbewußtsein in seiner Unmittelbarkeit, d. h. als G e- 
fühl, ist zugleich Gottesbewußtsein, und als solches wieder absolutes 
Abhängigkeitsbewußtsein der Vernunft von Gott. Das Individuum weiß 
Gott in sich, weiß sich von Gott abhängig — aber nicht allein, sondern 
mit allen andern Individuen, und hierin liegt die Anerkennung der 
andern Individuen d.h. der Gemeinschaft! Hierin liegt zugleich die 
Ueberwindung des Gegensatzes von individuell unduniversell: das Indi- 
viduum ist nicht rein individuell in seinem Grunde und Dasein, sondern 
mehr universell. Denn der göttliche Geist, der in allen Subjekten ist, 
wirkt auch einereale Gemeinschaft, ihre Gottesgemeinschaft. In Schlei- 
ermacher liegt somit eine entschiedene Ueberwindung des Individusalis- 
mus und Rationalismus, er geht darin, ähnlich wie Fichte, über Kant 
=- hinaus, und macht eine positive Wendung zum Ueber-Individualis- 
mus, zum Universalismus. Das lehrt auch deutlich sein Staatsbegriff: 
»Den Staat in eine bloße Rechtsanstalt verwandeln [also individua- 
listisch, naturrechtlich auffassen] heißt, den ethischen Prozeß rück- 
wärts schrauben« (II, 338. der vorl. Ausg.). Und: »Je mehr das Aus- 
gehen von einzelnen Funktionen nur einen unzureichenden Begriff 
vom Staate gab, je mehr wir glauben mußten, daß die Vollständigkeit 
des Guten in ihm sei, desto leichter kommen wir auf den Satz, daß die 
Tätigkeit des Staates sich über die Totalität des Lebens erstreckts 
(wenn es auch »Gebiete geben muß, worin derselbe sich nicht mischt«. 
Vgl. Bd. IIJ S. 545). 

Von grundlegender Wichtigkeit für Schleiermacher ist sein Be- 
griff des ethischen Prozesses oder der Vernunfttätigkeit (s. z. B. Bd. Il. 
S. 258 ff. der vorliegenden Ausgabe). Das was man gewöhnlich Han- 
deln nennt, bestimmt Schl. als das organisierende oder bildende Han- 
deln; ihm steht das symbolisierende Handeln oder Erkennen gleich- 
berechtigt zur Seite. Beide sind ihm nur Hauptfunktionen der einen 
Vernunft, daher in der Realität nicht zu trennen. Durch diese Unter- 
scheidung vermeidet Schl. jeden Utilitarismus, dem das Erkennen nur 
im Dienste der Praxis steht, wie jeden einsertigen Rationalismus, der 
das Handeln im Erkennen enden läßt. In der modernen 
Gesellschaftslehreist Schls Begriff des Han- 
deilns, sovielich übersehen kann, bis jetztleider unver- 
wertet geblieben. Nur Schäffle scheint daraus für seine 
ausführliche Behandlung der symbolisierenden Darstellung oder 
Ideenmitteilung (s. Bau und Leben des sozialen Körpers, Tübingen 
1896, z. R. Bd. I S. 125 ff.) eine nachhaltige Anregung geschöpft zu haben. 

Sein universeller Sinn bat Schl. wie in der Philosophie zur 
Geschichte, Philologie, Pädagogik, Aesthetik, soauf seinem eigen- 
sten Gebiete, in der Ethik, immer wieder zu dem geführt, was wir heute 
pıaktische »Sozialetnik« nennen, wasaber in Wahrheit zugleich ein Stück 
(Gresellschaftslehre ist. Schl. hat in seiner Ethik soziale Fragen, sowie die 
Probleme der Staatslehre und Politik, ferner mit besonderer Vorliebe 
die Gesclligkeit behandelt. Zu diesem letzteren Thema bringt die vorl. 
Ausgabe ein von Nohl neu auigefundenes Stück »Versuch einer Theorie 
des geselligen Betragens« (Bd. II S. 1—75). Wäre Schl.s Theorie der 
Geselligkeit mehr beachtet worden, so hätte z. B. Simmel seinen Vortrag 
über die »Soziologie der Gesclligkeit« (Verhandlungen des deutschen 


4. Sozialismus. 619 


Soziologentages Bd. I. Tübingen 1911) schweılich so gehalten, wie es 
geschah. Doch muß ich gestehen, daß auch ich bei Abfassung meiner 
»Gesellschaftslehre« (Berlin 1914) damit leider noch nicht bekannt war. 
— Die soziologische Natur der Schleiermacherischen »Ethik« bekundet 
sich am deutlichsten in dem, was er als die »vollkommenen Formene 
d.i. die »Organismen« oder Kreise der menschlichen Gesellschaft be- 
zeichnet. Sch. hat das große Verdienst, als erster solche Kreise oder 
Provinzen im Leben der Gesellschaft systematisch abgegrenzt zu 
haben. Und zwar unterscheidet er im ganzen etwa: die Geschlechter 
und ihre Ehe (Familie); die Nation; den Staat (samt Wirtschaft); 
die Gemeinschaft des Wissens (auch der Religion, Kunst) ; die Gesellig- 
keit. Welche bedeutende Gedankenarbeit in dieser Systematik steckt, 
könnte nur in einer weit ausholenden Darstellung der Grundlehren 
Schl.s auseinandergesetzt werden, was zu weit führen würde. 

Die vorliegende von Otto Braun besorgte Ausgabe leistet Vorzüg- 
liches sowohl in der Textgestaltung (im 2. Bd. auf Grund eigener Hand- 
schriftenforschung) wie in der Auswahl. Die ethischen Schriften bil- 
den mit Recht ihren Grundstock, doch sind auch Politik und Päda- 
gogik, Dialektik, Glaubenslehre, Psychologie, Aesthetik und Her- 
meneutik entsprechend berücksichtigt und im 4. Bande auch die 
schönen populären Schriften vereinigt. Der 1. Bd. enthält die »Grund- 
linien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre« (mit einer sehr wert- 
vollen Inhaltsanalyse) und die wertvollen Akademieabhandlungen 
(z. B. Begriff des großen Mannes; Tugendbegriff; Pflichtbegriff; 
Höchstes Gut u. a.); der 2. Bd. die Entwürfe zu einem System der 
Sittenlehre (nach den Handschriften hrsg.); der 3. Bd. in Auswahl: 
die »Dialektiks, »christliche Sitte«, »Predigten über den Hausstand« 
(vollst.), »Pädagogik«, »Staatslehre« »Der christliche Glaube«; der 
4. Bd. endlich: Psychologie, Aesthetik, Reden über die Religion, 
Monologen, Weihnachtsfeier, gelegentliche Gedanken über Universi- 
täten, die Rezensionen aus dem »Athenaeum« behandelnd »Engel, der 
Philosoph f. die Welt« und »Fichte, Bestimmung des Menschen«. — 
Wertvolle Einleitungen, ausführliche Sachregister in jedem Bande, 
ein ganz ausgezeichnetes Geleitwort von August Dorner und eine aus- 
führliche biographische Arbeit Otto Brauns über Schleiermachers 
Leben und Werke, geben dem Leser alle Hilfsmittel in die Hand, die 
er sich beim Studium Schleiermachers nur wünschen kann. 

| (Othmar Spann.) 


3. Soziologie, Sozialpsychologie, Rassenfrage. 


4. Sozialismus. 


Piorkowski, Kurt: Beiträge zur Psychologi.- 
schen Methodologie der wirtschaftlichen Be- 
rufseignung. Beihefte zur Zeitschrift für angewandte Psycho- 
logie und psychologische Sammelforschung. II. Heft. 84 S. Verlag 
von J. A. Barth 1915. M. 3.—. 

Wenn sich jemand über die auf die Berufseignung angewandte 
Psychologie nicht aus den Quellen, sondern aus einem Referat orien- 
tieren will, so ist Piorkowskis Arbeit sehr geeignet. Sie ist einerseits 
ein kritisches Uebersichtsreferat, andererseits eineArt Programmschriit. 

40* 


620 -  Literatur-Angzeiger. 


Piorkowski bemüht sich, aus der großen (zum Teil etwas spielerisch 
großen) Zahl »exakter« psychologischer Methoden jene herauszustellen, 
die sich wirklich praktisch verwenden lassen, die nicht lebens- 
fremd bleiben, sondern die im technischen Betriebe, in der Schule oder 
in der Berufsberatungsstelle angewandt werden können. P. ist kritisch 
genug, mancherlei Methoden aus logischen Gründen abzulehnen und 
bei anderen zu erkennen, daß sie nur scheinbar exakt sind. Alle die- 
jenigen, die P. gelten läßt, lassen sich im Grunde auf 2 Arten zurück- 
führen. 

„a Entweder es handelt sich um die Prüfung einfacher (soge- 
nannter elementarer) seelischer Fähigkeiten, die bei dem in Frage 
kommenden Beruf besonders wichtig sind (z. B. Reaktion- oder Auf- 
merksamkeitstypen bei einem relativ einfachen aber doch schon spe- 
zialisierten Beruf etwa einem Weber). 

Oder es steht eine sehr komplizierte Berufsart in Frage (Gelehr- 
ter), deren einzelne Funktionen sich nicht in elementähnliche Bestand- 
teile zerlegen lassen, sondern bei der die Probe gleichsam einen Extrakt 
aus den Funktionen, oder ihren Grundriß oder ihre stärkste Abkürzung 
darstellt. In der Praxis freilich muß man gelegentlich beide Prü- 
fungsarten kombinieren, da es Berufe gibt, die eben sehr verschieden 
artige Anforderungen an den einzelnen stellen. Und so ergibt sich 
z. B. bei dem von P. selbst ausführlich beigebrachten Beispiele der 
Angestellten eines großen Barsortiment- und Kommissionsgeschäftes, 
daß der Lagerist nicht nur ein gutes Ortsgedächtnis, starke Uebungs- 
fähigkeit und -festigkeit usw. haben, sondern auch imstande sein muß, 
sehr schnell auf Leitern zu klettern. Nun wird wohl niemand den künf- 
tigen Beruf eines jungen Mannes — selbst wenn dies leicht prüfbar 
wäre — von einem Examen im Leiterklettern abhängig machen wollen. 
Und dies führt zu der Frage der praktischen Grenzen der Psychologie 
der Berufseignung. Man wird gern zustimmen, daß man in Anerkennung 
des Satzes »der richtige Mann auf den rechten Platz« (besonders bei 
den relativ einfachen Berufen) durch geeignete psychologische Experi- 
mente eine große Anzahl Ungeeigneter wird ausschalten können. 
Daß man indessen (besonders bei den »höchst« stehenden Berufen) 
die wirklich Geeigneten durch entsprechende Tests wird herausfinden 
können, — daran dürfte man wohl Zweifel hegen. Denn die ungemein 
komplizierten Funktionsgewirre, die bei den»höchsten«Berufen lebendig 
sind, lassen sich eben weder in Abkürzungen noch Extrakten usw. ein- 
fangen. Der psychologische Berufsberater wird sich hüten müssen, 
die Tendenz zu überspannen, die persönliche Menschenkenntnis und 
das Erproben ganz auszuschalten und alles in meßbare seelische Funk- 
tionen verwandeln zu wollen; besonders dann, wenn es sich um »höhere« 
Berufe handelt. 

Es geht aus dem Gesagten wohl schon herver, daß P. die Methodik 
des eigentlichen Tailorsystems eben nur dort streift, wo es sich um 
die Auslese der Geeigneten handelt. Die Fragen, wie man durch geeig- 
nete Maßnahmen aus den Arbeitern das Maximum der Arbeitsleistung 
BEIAUEDLENE gehören hier nicht zum Thema. 

(Hans Gruhle.) 


Die Eee und der Weltkrieg. Materialien 
gesammelt von Carl Grünberg. I. Abt. Leipzig 1916. C. L. Hirsch- 
feld. 318 S. M.8.—. 

Diese systematische Materialsammlung, welche Professor Grün- 


6. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Biographien. 621 


berg zuerst in seinem »Archiv für die Geschichte des Sozialismus und 
der Arbeiterbewegung« veröffentlicht hat (VI. und VII. Band) und jetzt 
in einer Separatausgabe publiziert, ist — ın deutscher Sprache wenig- 
stens — bisher die wichtigste und auch vollständigsie Sammlung der 
offiziellen und inoffiziellen Dokumente der sozialistischen Bewegung 
zum Problem des Weltkriegs. Dieser erste Teil umfaßt bloß die Zeit 
vor dem Kriege und während der ersten Kriegswochen (bis zur zweiten 
Augusthälfte 1914); ein zweiter und dritter Teil werden folgen; jener 
wird das Material bis zur italienischen Kriegserklärung (25. V. 1915); 
dieser die Quellen der späteren Zeit enthalten. 

Professor Grünberg konnte sich bei der Zusammenstellung dieser 
Materialien (die mit außerordentlich großer Umsicht, stetiger Bedacht- 
nahme auf das wesentliche erfolgt ist) der Mitarbeit zahlreicher Fach- 
männer ım In- und Ausland erfreuen. So ist es gelungen, das oft sicher- 
lich sehr schwer zu beschaffende Material in relativ kurzer Zeit zu er- 
werben. Der Umfang des dieser Auswahl zugrundeliegenden Urmaterials 
übersteigt vermutlich alle Vorstellungen, und wir haben es daher bei 
dieser Publikation mit dem Resultat sehr mühevoller und wissenschaft- 
lich gar nicht überschätzbarer Sichtungsarbeit zu tun, die es nun allen 
späteren mühelos gestattet, die Entwicklung der Gedanken zu ver- 
folgen. Jemelir sich in den späteren Kriegsperioden der Strom der 
Kundgebungen, Pamphlete, Flugblätter, offizieller und privater ver- 
breitert, um so dringlicher aber auch mühevoller, ist die von Professor 
Grünberg übernommene Aufgabe, welche nach dem Kriege, wenn 
viele der Materialein nicht mehr zu beschaffen sein werden, ganz un- 
möglich wäre. 

Die Zusammenstellung umfaßt die Beschlüsse und Kundgebungen 
der Internationale, der sozialistischen Parteien aller am Krieg beteilig- 
ten Staaten, sowie der Schweiz, Hollands, Rumäniens, Schwedens und 
Amerikas. — Besonders dankenswert wäre es, wenn in den folgenden 
Teilen auch die Sonderrichtungen innerhalb der Parteien zu Worte 
kämen, da deren oft geheime, in wenigen Exemplaren verbreiteten 
Pamphlete sonst kaum in einer leicht zugänglichen Weise erhalten 
bleiben könnten. (—p) 


5. Sozialökonomische Theorie und Dogmengeschichte., 


6. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Biographien. 


Bosse, Ewald: Norwegens Volkswirtschaft vom 
Ausgang der Hansaperviode bis zur Gegenwart, 
mit besonderer Berücksichtigung der inter- 
nationalen Handelsbeziehungen. Jenaıgı6. M.48. 
2. Bände. 

Das vorliegende Werk, die 22. Veröffentlichung der »Kaiser- 
Wilhelm-Stiftung für Seeverkehr und Weltwirtschaft an der Universi- 
tät Kiel« paßt deshalb vorzüglich in den Rahmen der Publikationen 
dieses Instituts, weil sie die Anschauungen ihres Leiters vollauf zu 
bestätigen scheint. Die Wirtschaftsgeschichte von Norwegen, zu der 
sich die beiden umfangreichen Bände auswachsen, ist wirklich nicht 
viel anderes als eine Geschichte der auswärtigen Handelsbeziehungen 
dieses Landes, während Ackerbau und Handwerk nur dürftige Anhängsel 
der Reederei und des zwecks Exporthandels betriebenen Fischfanges 
sind; desgleichen trifft für Norwegen zu, daß die auswärtigen Handels- 


622 Literatur-Anzeiger. 


beziehungen sich früher und stärker geltend machen als der dürftige 
Binnenhandel, so daß in diesem Falle von der schematischen Stufen- 
folge einer Entfaltung der Stadtwirtschaft zur Nationalwirtschaft und 
dieser zur Weltwirtschaft keine Rede sein kann. Das Institut scheint 
deshalb die beiden mit zahlreichen Tabellen versehenen Bände mit 
besonderer Liebe herausgebracht zu haben. 

Indessen wir wollen prinzipiellen, bereits oft mit einer gewissen 
Schärfe gepflogenen Erörterungen, ob jene für Norwegens zutreffenden, 
aber durchaus exzeptionellen, vorwiegend auf geographischen Voraus- 
setzungen (verkehrstechnisch ist ja das langgestreckte, durch hohe 
Gebirge nach Osten abgeschlossene norwegische Küstenland nahezu 
eine nur von Westen zugängliche Insel) beruhenden Verhältnisse 
eine Verallgemeinerung vertragen, aus dem Wege gehen und nicht noch- 
mals erörtern, ob man von einer Weltwirtschaft methodologisch über- 
haupt reden kann, da es an einem wirtschaftenden Subjekt, das die 
internationalen Beziehungen autoritativ regelt, völlig fehlt, und da 
jene weltwirtschaftlichenBerührungen nur dieVerknüpfung der über den 
Rand der einzelnen Nationalwirtschaften hinaushängenden, aber fest 
in deren Gewebe steckenden Fäden sind. 

Jedenfalls, in Norwegen ist es neben geographischen Ursachen 
speziell die Schwäche der Staatsgewalt und die Dürftigkeit der eigenen 
agrarıschen und städtischen Produktion, welche den Schwerpunkt 
der Wirtschaft gewissermaßen nach Außen verlegt. Zwar setzt der 
erste Band von Bosses Arbeit mit der Verdrängung der Hanseaten 
aus ihrer rechtlich privilegierten Stellung ein, aber wirtschaftlich be- 
hielten sie in Konkurrenz mit den Engländern und Niederländern noch 
lange eine beherrschende Stellung, und noch bis tief ins 17. Jahr- 
hundert hinein konnten Handel treibende Ausländer unter Umgehung 
der ganz zurückgebliebenen machtlosen norwegischen Städte an jeder 
Stelle der ausgedehnten, auch gar nicht zu bewachenden Küste landen 
und den Bauern direkt Holz und andere Rohstoffe abkaufen, wofür 
nur ein geringer Ausfuhrzoll an den König zu entrichten war. In Rück- 
wirkung dieses Freihandels konnten die einheimischen Städte lange 
Zeit nicht aufkommen, nur Bergen, das die Erbschaft des hanseatischen 
Kontors angetreten, spielte im 17. Jahrhundert eine größere Rolle, 
hatte aber auch nur 3000 Einwohner. 

Vom letzten Drittel des 17. Jahrhunderts ab datiert dann eine 
zielbewußte Merkantilpolitik, oder, wenn man will, verspätete Stadt- 
wirtschaftspolitik, die aber nicht von den Städten selbst, sondern 
von der Zentralgewalt ausgeht, und welche den eigenen Städten das 
Handelsprivileg einräumt. Diese Prinzipien sind bis zum Ende des 18. 
Jahrhunderts herrschend, im 19. Jahrhundert wechseln Freihandel und 
Protektionismus miteinander ab, letzterer aber nun nicht mehr von 
den Städten, sondern von der einheimischen Landwirtschaft gefordert, 
die sich erst im Laufe des IQ. Jahrhunderts zu größerer wirtschaftlicher 
Bedeutung im Staate erhoben hat. 

Eine straffere Zusammenfassung des reichen Inhalts, der hier 
kaum skizziert werden kann, wäre vielleicht ım Interesse des Lesers 
wünschbar gewesen, indessen ist zu berücksichtigen, daß hier über- 
haupt zum ersten male aus einer Unmenge von Einzelpublikationen, 
deren namentliche Zusammenstellung ım zweiten Teil zehn Seiten 
einnimmt, ohne nennenswerte Vorarbeiten eine Zusammenarbeitung 
gegeben wurde, welche infolge der Ueberfülle des bisher noch nicht 


6. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Biographien. 623 


ausgeschöpften Stoffes kaum kürzer ausfallen konnte; niemand konnte 

zu dieser Arbeit sich besser eignen als der Autor, der selbst norwegi- 

scher Nationalität ist, die deutsche Sprache aber völlig beherrscht. 
(Rudoli Leonhard.) 


Grossmann, Henryk: Oesterreichs Hanrdelspolitik 
mit Bezug auf Galizien in der Reformperiode 
1772—1700. Hett X der »Studien für Sozial-, Wirtschafts- und 
Verwaltungsgeschichte«, herausgegeben von Prof. Dr. KarlGrün- 
berg. Wien 1914, Carl Konegen. 8. XVII und 510 S. (I2 Kr). 

Es ist keine bescheidene Aufgabe., die sich der Verfasser in der Vor- 
rede stellt: er will zeigen. wie sich die » Umwandlung der wirtschaftlichen 
und sozialen Struktur Galiziens aus der feudalen in die kapitalistische 

Form« vollzog, die in der Republik Polen eben in Bildung begriffen 

war, als nach der zweiten Teilung des Landes (1772) Galizien unter 

die Herrschaft der Habsburger gelangte, und nun die theresianisch- 
josefinische Wirtschattspolitik mit ihren scharfen merkantilistischen 

Maßnahmen in diesen Prozeß eingritf und ihn mit kraltvoller Hand 

durch Hinwegräumung der entgegenstehenden Hindernisse zu fördern 

suchte; vor allem im Kampfe gegen den an den alten Traditionen 
eines rückständigen Wirtschaftslebens interessierten adeligen Grund- 
besitz des Landes. Das vorliegende Buch bringt den ersten Teil dieser 
wertvollen und vielverheißenden Untersuchung: eine Darstellung der 
für Galizien erlassenen handelspolitischen Maßnahmen der Wiener 

Regierung von der Besitzergreifung des Landes bis zu Josef II, Tode, 

dem die Reaktion in der österreichischen Wirtschaftspolitik folgt. 

Dem größeren Endzweck der Arbeit entsprechend beschränkt sich 

indes die Untersuchung, die auf gewissenhafter und erschöpfender 

Erforschung des Aktenmaterials in den Wiener, Lemberger, Krakauer 

und Pariser Archiven beruht, nicht auf eine Schilderung der einzelnen 

Phasen dieser Handelspolitik; sie bemüht sich vielmehr, deren Zu- 

sammenhang mit den leitenden Gesichtspunkten der allgemeinen Wirt- 

schaftspolitik wie der auswärtigen Politik jener Zeit herzustellen, und 
bringt reiches, mit großem Verständnis verwertetes Material zur Be- 
urteilung der Ziele und Pläne, welche die beiden großen Habsburger, 

Maria Theresia und Josef II., im Sinne einer wirtschaftlichen Hebung 

Ihrer Länder verfolgten. Grossmann sah sich dabei in eine ganz 
eigenartige Stellung gedrängt. In der polnischen Literatur ist seit der 

im Jahre 1790 erschienenen Beschwerdeschrift des galizischen Adels, 

der »Magna Charta Leopoldina«, bis auf den heutigen Tag die Auffassung 

herrschend geblieben, daß die Wiener Regierung von Anbeginn an nur 
von einem Bestreben geleitet gewesen sei: Galizien in eine Kolonie der 
Frblande zu verwandeln, in ein Exploitationsgebiet der westlichen 
Provinzen, mit dem Ergebnisse, »daß, wenn der kommerzielle Zustand 
Galiziens im Augenblicke der Besitzergreifung . . . ein vortrefllicher 
war, das Land nach Ioo Jahren in vollständigen wirtschaftlichen 

uin gestürzt wurde«. (So noch 1909 Cholkowski, Politische 
Geschichte der Kirche in Galizien.) Diese landläufige Auffassung 
sucht Grossmann als völlig unrichtig nachzuweisen; der Kampi 
gegen diese gcehässige, politisch nicht ungelährliche Legende von den 
teindseligen Absichten der Habsburger gegen Galizien verleiht dem 
Buche einen stark polemischen Charakter, der an manchen Stellen 
den Fluß der Darstellung beeinträchtigen mag, auf der anderen 


624 Literatur-Anzeiger. 


Seite aber den Reiz und die Kraft der Schrift erhöht, weil er immer 
von neuem zur Zusammenfassung und Gruppierung des Tatsachen- 
materials unter einem bestimmten Gesichtspunkte zwingt, und den 
Verfasser veranlaßt, die Größe der merkantilistischen Wirtschafts- 
politik in möglichst hellem Lichte zu zeigen. War durch die Teilung 
Polens Galizien von jenem Wirtschaftskörper abgeschnitten worden, 
mit dem es eine Jahrhunderte alte Zusammengehörigkeit verknüpfte, 
so ist, für die österreichische Wirtschaftspolitik zunächst der Gedanke 
mıßgebend gewesen, daß jene alten Verbindungen wieder hergestellt 
werden müßten. Der Abschluß eines Handelsvertrags mit Polen, die 
Schaffung eines Freihandelsplatzes in Brody verfolgen dieses Ziel; 
bis 1783 bleibt auch Galizien außerhalb der Zollgemeinschaft der Erb- 
lande, in der Erwägung, daß die Vorteile, welche die auswärtigen 
Handelsverbindungen des Landes für seine wirtschaftliche Entwick- 
lung bieten, jene Nachteile aufwiegen, die aus einer Ermäßigung der 
Zölle Galiziens für dieses entstehen mögen. Auch die Aussicht, den 
Erblanden durch Herstellung der Zullgemeinschatt ein Absatzgebiet 
für ihre industriellen Erzeugnisse zu sichern, ist keineswegs maßgebend. 
Der eingehenden Darstellung der verschiedenen handelspolitischen 
Maßnahmen dieser ersten Periode und ihrer Folgen für die wirtschaft- 
liche Entwicklung des Landes sind drei Abschnitte des Buches ge- 
widmet. Wenn dann scheinbar plötzlich im Jahre 1783 — im Zu- 
sammenhange mit dem bekannten josefinischen Zollpatente von 
1784 — die Einverleibung Galiziens in die Zollgemeinschatt mit den 
Erblanden erfolgt, so liefert den Schlüssel zum Verständnis dieses 
jähen Wechsels die auswärti,se Politik, der Kampf Preußens mit 
Oesterreich um die wirtschaftliche und politische Vorherrschaft in 
Deutschland, dem Grossmann einen vierten Abschnitt widmet. In 
Ergänzung der Forschungen L. M. Hartmanns und Adolf 
Beers, die frühere Phasen dieses Kampfes behandelt hatten, zeigt 
Grossmann, wie das Streben Preußens, den nach Norden führen- 
den Handel Oesterreichs zu hindern, auch zwischen 1772 und 1790 
trotz aller Versuche der Wiener Regierung, den Erzeugnissen Oester- 
reichs einen freien Weg nach Deutschland und zu den Meeren des 
Nordens zu bahnen, siegreich blieb; für Galizien hatte die teindsel'ge 
Haltung Preußens, die in hohen Zöllen auf der Weichsel zum Ausdruck 
kam, die Unterbindung des einst blühenden Handels mit Danzig zur 
Folge. Erst als jede Hoffnung, von Preußen eine Herabsetzung jener 
Zölle im Wege eines Handelsvertrags durchzusetzen, aufgegeben werden 
muß, entschließt sich Joseph II. die Erblande durch ein Prohibitiv- 
system gegen den Norden ganz abzusperren (Zollordnung von 1784) 
und Galizien als Ersatz für den Verlust des Absatzgebietes im Norden 
die Märkte der Erblande zu öffnen. Die Handelspolitik Josephs II 
erscheint durch den Nachweis dieser Zusammenhänge in einer ganz 
neuen Beleuchtung. Bedeutungslos bleiben dagegen die im letzten 
Abschnitte des Buches geschilderten Versuche, den Warenverkehr 
über Triest zu leiten und den Handel mit der Türkei und nach dem 
Schwarzen Meere zu größerer Bedeutung zu bringen. — Daß eine solche 
von den großen Ideen des staatlichen Absolutismus getragene, durchaus 
in der Richtung eines wirtschaftlich notwendigen Entwicklungspro- 
zesses sich bewegende Politik in dem an der Erhaltung der über- 
kommenen feudal-agrarischen Zustände stark interessierten Adel Gali- 
ziens einen lebhaften Gegner fand, ist leicht verständlich ; das vernich- 


aal 


ranee 


6. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Biographien. 625 


tende Urteil, das dieser natürliche Gegner über die josefinische Wirt- 
schaftspolitik gefällt hat, wird in Grossmanns Buche zum 
ersten Male kritisch geprüft und völlig überzeugend widerlegt. Der 
Verfasser ist selbst Pole; das Buch ist vor Ausbruch des Krieges er- 
schienen; von den Hoffnungen und Wünschen, die der Kampf der 
Zentralmächte mit Rußland in den Polen erweckt hat, ist es noch 
unberührt. Es darf heute eine erhöhte Aufmerksamkeit beanspruchen, 
da das Schicksal der ehemals selbständigen polnischen Länder vor 
einer ähnlichen Entscheidung steht wie im Jahre 1772. Vielleicht 
wird die Zerstörung der Legende von einer Galizien feindseligen Wirt- 
schaftspolitik der Wiener Regierung auch den polnischen Politikern 
Galiziens jetzt willkommen sein, da das Schicksal ihres Vaterlandes 
von neuem aufs engste mit jenem des Habsburgerreiches verkettet 
wurde. Der angekündigten Fortführung der Grossmanschen Unter- 
suchungen darf man mit berechtigten Erwartungen entgegensehen; 
sie werden, wenn sie sich auf der Höhe der vorliegenden Arbeit halten, 
nicht nur in Ergänzung der Misesschen Arbeit einen neuen wertvollen 
Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte Polens bringen, sondern versprechen 
auch eine wichtige Bereicherung unserer Kenntnisse von dem Ueber- 
gange der feudal-agrarischen Zustände in die modernen Formen eines 
vom Kapitalismus ergriffenen Wirtschaftslebens. 
(Karl Pribram.) 


Sieghart, Dr. Rudolf: Zollirennung und Zoll- 
eınheit. Die Geschichte der österreichisch-ungarischen Zwi- 
schenzoll-Linie. Nach den Akten dargestellt. Wien 1915. Manzsche 
k.u.k. Hof-, Verlags- und Univ.-Buchhandlung. 413 S. M. 10.20. 

Das Buch Siegharts, das sich der dankenswerten Aufgabe unter- 
zieht, auf Grund der Akten den langen Leidensweg darzustellen, der 
von den Tagen Karls VI. und Maria Theresias zur Aufhebung der Zoll- 
grenze zwischen Oesterreich und Ungarn im Jahre 1850 führte, unter- 
scheidet sich von anderen wirtschaftsgeschichtlichen Untersuchungen 
in einem wesentlichen Punkte: sein Verfasser, der früher als Sektions- 
chef im österreichischen Ministerratspräsidium einen maßgebenden 

Einfluß auf die innerpolitischen Angelegenheiten übte, und heute als 

Leiter einer großen Bank eine führende Stellung im Wirtschaftsleben 

Öesterreichs einnimmt, ist auch als Wirtschaftshistoriker in erster 

Linie politisch orientiert. Im Grunde genommen ist keine geschicht- 

liche über eine bloße Materialiensammlung sich erhebende Darstellung 

denkbar, die nicht von einem leitenden Gedanken, einer Forderung 
beherrscht wäre, die ihr als Ziel einer Entwicklung gilt, als Auslese- 
prinzip für die Auswahl der maßgebenden Tatsachen, als Kriterium 
für die Bestimmung der positiven und der negativen Phasen der Ent- 
wicklung. Innerhalb jener Grenzen, die durch die Gewissenhaftigkeit 
der Forschung gezogen sind, steht jedem Betrachter die Deutung einer 
historischen Entwicklungsreihe frei. Für Siegharts Darstellung ist 
es die politisch-wirtschaitliche Einheit der österreichisch-ungarischen 

Monarchie die als schwer errungenes Endziel einer wechselvollen Ge- 

Schichte erscheint, in der die lebendigen Kräfte des wirtschaftlichen 

und gesellschaftlichen Lebens ebenso wie die schwankende Macht 

und Energie der Regierung eine gleich interessante Rolle spielen. Um 
diese Entwicklung in großen Zügen zu kennzeichnen: Die Zwischen- 
zölle, welche Oesterreich und Ungarn ebenso von einander trennten, 


626 | Literatur-Anzeiger. 


wie die einzelnen Erblande Oesterreichs sind ein Erbstück jener Zeit 
der Bildung des Habsburgerreiches durch Vereinigung kleinerer Terri- 
torien. Während die wirtschaftliche Verschmelzung der österreichi- 
schen Länder im wesentlichen im Jahre 1775 unter der kraftvollen 
zentralistischen Regierung der Kaiserin Maria Theresia gelang und 
1784 durch Einbeziehung Galiziens ergänzt wurde, verhinderte es die 
Steuerverfassung Ungarns, die dem Adel das Privilegium der Be- 
freiung von allen Abgaben gewährte, auch Ungarn in das gemeinsame 
Zollgebiet einzubeziehen und zur Beseitigung jenes verfassungsmäßigen 
Hemmnisses reichte selbst die Macht des absolutistischen Herrschers 
nicht hin. 1781 formuliert Fürst Kaunitz, der Staatskanzler, die Auf- 
gabe dahin, »daß man diesen großen Endzweck stets vor Augen haben 
und durch die Hinwegräumung der in Ungarn noch entgegenstehenden 
Hindernisse ununterbrochen darauf hinarbeiten sollte«.. Die über- 
stürzten Versuche Josefs II. (im Zusammenhang mit den Zollordnungen 
von 1784 und 1788) führen nicht zum Ziele; nach seinem Tode stellt 
(1793) die Reaktion die alten Zollbestimmungen des Vektigals von 
1754 samt den bis 1784 dazu erflossenen Normalien wieder her. Wäh- 
rend der ersten Hälfte des ıg. Jahrhunderts ist es der ungarische 
Reichstag, der für die Aufhebung der Zwischenzollinie in immer er- 
neuten Kundgebungen eintritt, weil er wohl erkennt, wie sehr die Ent- 
wicklung des Landes unter der Erschwerung des Absatzes seiner Pro- 
dukte leidet. Dagegen nimmt die Wiener Regierung, vor allem mit 
Rücksicht auf die wesentlich geringere Besteuerung der ungarischen 
Landwirtschaft, die durch das Zwischenzollsystem zum Teile ausge- 
glichen wird, und unter Berufung auf das österreichische Tabakmonopol 
eine ablehnende Haltung ein. Von ungarischer Seite wird dagegen 
1829, vielleicht nicht ganz mit Unrecht, die auswärtige Handelspolitik 
der Monarchie als ein Mittel gedeutet, das industrielle Monopol der 
deutschen Provinzen zu behaupten. Aus dem Bereiche der geräusch- 
losen Verhandlungen zwischen Behörden und Reichstagsdeputati- 
onen wird der Streit um die Zolleinheit zu Beginn der 4oer Jahre 
in den Kreis der erregten öffentlichen Diskussion gezogen, als mit dem 
Erwachen des nationalen Geistes ın Ungarn die List’schen Ideen hier 
siegreich ihren Einzug halten und sich fast plötzlich ein Umschwung 
in der öffentlichen Meinung vollzieht, die nun stürmisch unter Führung 
Ludwig Kossuths den Ausschluß der österreichischen Industrie vom 
ungarischen Markte forderte. Die interessante Geschichte des ungari- 
schen Schutzvereins, dessen Aufgabe ein Boykott aller nicht ungarischen 
Industrieerzeugnisse war, bildet den Mittelpunkt dieser dramatisch 
bewegten Entwicklung, die einen jähen Stellenwechsel zeigt: Die 
Wiener Hofkammer unter Leitung Kübecks nimmt gegen die auf- 
strebende Opposition Ungarns die Herstellung des einheitlichen Wirt- 
schaftsgebietes in ihr Programm aut, die Gegenrevolution des Jahres 
1849 führte diesen Gedanken zum Siege, der gleichzeitig tief verankert 
ist in dem großen politisch wie wirtschaftlich gedachten Plane des 
Fürsten Schwarzenberg und des Freiherrn v. Bruck, ein Siebzig- 
millionen-Reich unter Oesterreichs Führung zu gründen, das vom Belt 
bis zur Adria reichen sollte. In die Darstellung dieser großen Haupt- 
linien der Entwicklung werden vom Verfasser mit geschickter Hand 
die Schilderungen all jener zollpolitischen und wirtschaftlichen Einzel- 
fragen verwebt, welche die Behörden beschäftigten !); die Streitschrif- 
1) Ein störender Druckfehler ist es, daß der Präsident des Generalrechnungs- 








7. Bevölkerungswesen. 627 


ten der Publizistik, die Daten der Handelsstatistik finden entsprechende 
Würdigung, ein umfangreicher Anhang bringt lesenswerte Aktenaus- 
züge, und handelsstatistische Uebersichten; er ergänzt und belegt 
die Darstellung. Weit hinaus über den unmittelbaren Zweck der 
historischen Forschung erheben sich jene Betrachtungen politischen 
Charakters, die der Verfasser einstreut ; sie sind alle von dem Gedanken 
getragen, daß nur die wirtschaftliche und politische Einheit der öster- 
reichisch-ungarischen Monarchie ihr dauernd die notwendige Ent- 
wicklung des Wirtschaftslebens und eine machtvolle Stellung gegenüber 
dem Auslande sichern kann. Mit scharfen Strichen wird die Ent- 
schlußlosigkeit der franziszeischen Regierung charakterisiert; immer 
wieder klingt die Mahnung an die Gegenwart durch, von den Fehlern 
der Vergangenheit zu lernen. Ein letzter Abschnitt vergleicht die 
Rückständigkeit der wirtschaftlichen Verhältnisse Ungarns während 
der Zeit der Zolltrennung mit dem gewaltigen Aufschwunge, den das 
Land seit der Herstellung der Zollgemeinschaft genommen hat, ein 
kurzer Ausblick schildert die Gefahren, die aus einer neuerlichen Zoll- 
trennung entstehen würden, wie sie von manchen ungarischen Poli- 
tikern angestrebt wird. So ist das Buch weit mehr als eine Schilderung 
einer wirtschaftspolitischen Entwicklung auf Grund von vergilbten 
Akten; es ist ein von einem bestimmten politischen Programme ge- 
tragener Versuch, der Geschichte neues Leben einzuhauchen und ihre 
Stimme vernchmlich werden zu lassen in den Kämpfen der Gegenwart 
um die neuerliche Entscheidung einer längst beantworteten Frage. 
(K. Pribram.) 


7. Bevölkerungswesen. 


Guradze, H.: Statistik des Kleinkindalters. Mit 
einem Vorwort von G. Tugendreich. Verlag von Ferd. Enke in 
Stuttgart 1916. 8°. 28 S. Mk. 1.—. 

Im Gegensatz zur herkömmlichen Statistik will Guradze als 
Kleinkindalter die Jahre 1—6 betrachtet wissen. Seine Begründung, 
daß gerade das 6. Lebensjahr, also die Altersklasse 5—6 Jahre, we- 
gen der mit dessen Zurücklegung beginnenden Schulpflicht besondere 
soziale und wirtschaftliche Bedeutung besitzt, ist durchaus zutreffend. 
Seins Ausführungen behandeln nacheinander 1. den Bestand der Klein- 
kinder, 2. die Sterblichkeit der Kleinkinder Der erstere ist hinsicht- 
lich seiner Entwicklung besonders interessant durch seine Beziehungen 
zu dem neuerdings so häufig erörterten Geburtenrückgang. Seine 
Zahlen zeigen deutlich dessen Wirkungen, die durchaus parallel mit den 
bekannten Eigenaiten jenes gehen. Im allgemeinen eine nicht un- 
beträchtliche Abnahme der Anzchörigen des Kleinkindaltersund zwar 
am stärksten in den Städten und in den Schichten der wohlhabenden Be- 
vökerung. Insow:it ist seine Arbeit besonders beachtenswert als sie 
mit zum ersten Male tür Deutschland diese Wirkungen des Geburten- 
Tückganges zahlenmäßig für die nachfolgenden Altersklassen feststellt. 
Es ist dies wohl der gangbarste Weg umzu zeigen, ob und in welchem 
Maße der Geburtenrückgang im Hinblick aui die zahlenmäßige Ent- 
wicklung der nachfolgenden Generation durch die Abnahme der Sterb- 
lichkeit im Säuglings- und Kleinkindalter ausgeglichen wird. Freilich 
direktoriums in den 20er Jahren des 19. Jahrhundert, Baldacci (S. #9) regelmäßig 
Baldari genannt wird, 


628 Literatur-Anzeiger. 


ist auch Vorsicht geboten, die der Verfasser auch durchaus anwendet, 
in dem er an keiner Stelle diesen relativen Rückgang der Zahl der 
kleinen Kinder, unmittelbar auf den Geburtenrückgang zurückführt. 
Immerhin scheint er daran zu glauben, denn seinen diesbezüglichen 
Ausführungen folgen immer Aufstellungen über den Rückgang der 
Geburten des betreffenden Landes in der betrachteten Periode. Es 
findet sich auch keinerlei Hinweis bei ihm, daß dieseı relative Rück- 
gang der kleinen Kinder auch noch andere Ursachen haben könne. 
ie Frage ist deshalb wichtig, weil es sich um die eventuellen Wir- 
kungen dieses so viel beklagten Geburtenrückganges handelt. 

Wir wollen deshalb diesen Zusammenhang etwas eingehender 
prüfen, wenn auch diese Ausführungen damit über den Rahmen einer 
Besprechung etwas hinausgehen. Den Kenner der neueren Bevölke- 
rungsentwicklung bei unsmuß schon die aus des Verfassers Darlegungen 
hervorgehende Tatsache stutzig machen, »daß der Rückgang des Säug- 
lings- und Kleinkinderanteils an der Gesamtbevölkerung erst im letz- 
ten Beobachtungsjahrzehnt (von 1900—1910) erfolgt ist, während das 
vorhergehende (von I890—1900) fast durchweg eine Zunahme an 
beiden Arten von Kindern zeigt«. Diese Tatsache zwingt zur Ueber- 
Jegung, weil gerade in diesem Jahrzehnt 1900—ı91o mit der starken 
Verminderung des Anteils dieser Altersklasse eine ganz besonders 
starke Verminderung der Säuglingssterblichkeit Hand in Hand ge- 
gangen ist, dieauch z.T. stärker als der in dem gleichen Zeitraum erfolgte 
Geburtenrückgang gewesen ist. Die folgende kleine Zahlenreibe soll 
dieses für das Säuglingsalter, für die anderen Altersklassen stehen 
mir hier im Felde die notwendigen Zahlen nicht zur Verfügung, dar- 
tun. In Preußen, in Städten und auf dem Lande zusammen fiel die 





eheliche Fruchtbarkeits- 

ziffer Die Säuglingssterblichkeit 
‚berechnet auf Frauen im aut !) 
Alter von 15—45 Jahre) 


Von den Jahren 

















a ee en 
1891 /95—96 Joo 163,97 161,85 1,29 193 189 2,07 
1896 [0o0—01/05 161,85 154,83 4,33 189 179 5,29 
1901 [05—06 [Io 154,83 142,94 7,68 179 158! 11.70 


Daraus ergibt sich, daß wenigstens der Rückgang des Säuglings- 
anteils an der Gesamtbevölkerung auf anderen Ursachen als dem Rück- 
gang der Geburten beruhen muß, wahrscheinlich darauf, daß in den 
noch höheren Altersklassen als dem Kleinkinderalter, die Sterblichkeit 
selbst ganz erheblich zurückgegangen ist. Die Frage ist jedenfalls 


1) Diese Zahlen beziehen sich nur auf die ehelich Geborenen, da ich hier über 
keine anderen Daten verfüge. Da aber in den gleichen Zeiträumen auch die Säug- 
lingssterblichkeit der Unehelichen stark abgenommen hat, würde auch das obige 
Zahlenbild bei deren Berücksichtigung kaum eine wesentliche Aenderung er- 
fahren. 


7. Bevölkerungswesen. 629 


wichtig genug, um eingehender geprüft zu werden. Guradze spricht an 
einer Stelle seiner Schrift von einer an anderer Stelle zu veröffent- 
lichenden Untersuchung über den Anteil, den die gestorbenen Säug- 
linge an den überhaupt gestorbenen ausmachen; vielleicht daß er in 
diesem Zusammenhange die berührte Frage einer genaueren Prüfung 
unterzieht. 

Was seine Ausführungen über die Sterblichkeit der Kleinkinder 
anlangt, so möchte ich hier als beachtenswert — auch das ist nur ein 
Auszug aus der noch zu erwartenden eben erwähnten anderen Unter- 
suchung — seinen Versuch nennen, zu sehen, ob die Gebiete mit hoher 
Säuglingssterblichkeit in einem Jahre, in dem darauf folgenden eine ge- 
ringe Sterblichkeit der Altersklasse von r —5 Jahren aufweisen. Es han- 
delt sich hier um den berühmten Ausl:seprozeß durch die Säuglings- 
Sterblichkeit. Zu einem positiven, eindeutigen Ergebnis gelangt der 
Verfasser nicht, auch hier muß man das Resultat weiterer Unter- 
suchungen abwarten. 

Die vorliegende Arbeit stellt nur einen Auszug dar aus einem 
in der Ausführung begriffenen »Handbuch der Kleinkinderfürsorge«. 
Diese Tatsache, daß der Verfasser wohl mit beschränktem Raum zu 
rechnen hatte, erklärt es, daß er mehr Probleme aufrollt, als beant- 
wortet. Aber auch die Bedeutung der ersteren soll man n'cht unter- 
schätzen Es liegt darin unbestreitbar ein Verdienst des Verfassers 
ebenso wie darin, daß er so ziemlich als erster dieses Gebiet ange- 
Schnitten hat. (P. Mombert.) 


Larass, Kreisarzt Dr.: Untersuchungen zum Ge 
burtenrückgang in der Provinz Posen. Veröffent- 
lichungen aus dem Gebiete der Medizinalverwaltung Bd. V. Heft 5. 
Berlin 1916. Verlagsbuchhandlung von Richard Schoetz. 8®., 
30 S. Preis M. I.—. 

. Die vorliegende kleine Schrift bietet eine sehr sachliche, auch in 

Ihren Ergebnissen recht beachtenswerte Detailstudie über den Ge- 

burtenrückgang eines kleineren Gebietes, doppelt wertvoll dadurch, 

daß es sich dabei um Verhältnisse der Landbevölkerung handelt, wäh- 
rend die meisten bisherigen Untersuchungen sich vornehmlich auf die 

Stadt- und Industriebdevölkerung erstreckten. 

Das Ergebnis faßt der Verfasser in die Worte zusammen: »In 
der Landbevölkerung der Provinz Posen ist zwar eine Abnahme der 
Geburtenziffern festzustellen, doch ist sie weder auf eine Verminde- 
tung der Fruchtbarkeit, noch auf eine gewollte Beschränkung der 
Kinderzahl zurückzuführen, sondern die Folge einer unter dem Ein- 
fluß der Abwanderung veränderten Zusammensetzung des Volkskör- 
pers«. Es handelt sich dabei um Veränderungen im Altersaufbau der 
Ehefrauen. Von den Jahren 1895 —ıgıo ist der relative Anteil der 
unter 30 Jahre alten unter allen Ehefrauen von 38,0 auf 33,4 % zurück- 
gegangen; auch für die männliche Bevölkerung läßt sich die gleiche 
Tatsache feststellen, während sich in der Gesamtheit der ländlichen 
Bevölkerung in Preußen nicht die gleiche Erscheinung zeigt. Man kann 
hier eher sogar von einer kleinen Zunahme des Anteils dieser Alters- 
klassen sprechen. Es handelt sich hier also anscheinend um Verhält- 
nisse, die sich nur oder vor allem in der Provinz Posen finden und es 
Wäre eine sehr dankenswerte Aufgabe zu untersuchen, warum gerade 
In ihr dieser starke Einfluß auf diese Altersklasse eingetreten ist. Man 


639 Literatur-Anzeiger. 


könnte so den Ursachen dieser Abwanderung näher treten und damit 
auch Anhaltspunkte zu ihrer Bekämpfung gewinnen. Es liegen ja auch 
bereits für einige preußische Provinzen solche Untersuchungen vor 
(z. B. Langerstein: Die Entvölkerung des platten Landes in Pommern 
1890—1905. 1912. Henkes: Der Einfluß der Verteilung des Grund- 
besitzes auf die Wanderungsverluste in Ostpreußen. Diss. Königs- 
berg 1908.) 

Larass mißt ebenfalls und mit Recht der Grundbesitzverteilung 
einen wesentlichen Einfluß auf die Abwanderung zu und sieht in einer 
durchgreifenden inneren Kolonisation d. h. einer Vermehrung des bäuer- 
lichen Besitzstandes, das wirksamste Mittel dagegen. Den Nachweis, 
daß es sich um keine Verminderung der Fruchtbarkeit, auch um keine 
gewollte Beschränkung der Kinderzahl handelt, — eine Behauptung, 
die er jedoch aufstellt — konnte der Verfasser auf Grund seines vor- 
handenen Materials nicht führen, wenngleich er durch seine Unter- 
suchungen wohl einwandfrei nachgewiesen hat, daß den Veränderungen 
im Altersaufbau eine ganz wesentliche Rolle bei dem Geburtenrück- 
gang zufällt. Wichtig dafür ist auch sein Hinweis, daß durch die dauern- 
de oder vorübergehende Abwanderung der Männer eine große und 
steigende Zahl von Frauen in getrennten Ehen (im Jahre IgIo 12 600) 
lebte. 

Etwas mehr Beachtung, als ihm der Verfasser widmet, hätte dann 
auch der Rückgang der Eheschließungen verdient. Zwar ist, worauf 
er mit Recht hinweist, der Anteil der unter 30 Jahr alten bei den hei- 
ratenden Frauen im Steigen begriffen, aber es sind absolut be- 
trachtet immer weniger Frauen, die in diesem Alter heiraten. Vom 
Durchschnitt der Jahre 1867—80 bis IgOI—ı2 ging ihre Zahl dauernd 
von 8013 auf 6143 zurück. Nicht als ob dadurch die Ergebnisse seiner 
Untersuchung beeinflußt würden, aber dieser Rückgang der Eheschlies- 
sungen ist vielleicht nicht weniger bedenklich als derjenige der Gebur- 
ten und steht in seinen Ursachen wohl auch mit der Art der Grundbe- 
sitzverteillung im Zusammenhange. 

(P. Mombert.) 


Vaerting, M.WieersetztDeutschlandamschnell- 
sten die Kriegsverluste durch gesunden Nach- 
wuchs? Der Arzt als Erzieher Heft 38. München 1916. Verlag 

der Aerztlichen Rundschau. Otto Gmelin. 715.8°. M. 1.50. 

Wir haben es in der vorliegenden kleinen Schrift mit einer Arbeit 
zu tun, die alle Beachtung verdient; was der Verfasser sagt, ist zwar 
keineswegs immer neu, aber für die großen Fragen, die für uns in be- 
völkerungspolitischer Hinsicht nach dem Kriege auftauchen werden, 
in äußerst eindrucksvoller und nachhaltiger Weise zusammengestellt. 
Wenn Vaerting auch mit großem Nachdruck auf die qualitative Seite 
des Bevölkerungsproblemes für uns hinweist, jede reine Massenver- 
mehrung, wie sie heute so oft als Forderung aufgestellt wird, ablehnt, 
so liegt doch darin nicht der Hauptwert seiner Schrift. Ich sehe diesen 
vielmehr in der Erforschung der biologischen Mittel um nach dem Kriege 
einer zu befürchtenden Abnahme des Bevölkerungswachstums ent- 
gegenzuwirken. 

Sein Gedankengang ist in kurzen Worten der folgende: Aus ver- 
schiedenen Gründen haben wir nach dem Kriege mit der Gefahr einer 
Abnahme des bisherigen Volkswachstums zu rechnen. Eine überaus 


7. Bevölkerungswesen. 631 


große Zahl von Männern, und gerade die im zeugungsfähigen Alter, 
auch ın demjenigen, wo noch keine Nachkommen bis jetzt vorhanden 
waren, sind im Kriege gefallen, während gerade die älteren, für die 
Fortpflanzung wertloseren, im wesentlichen unverkürzt erhalten ge- 
blieben sind. Eine weitere Verringerung der Zeugungsfühigkeit wird 
eintreten müssen. Durch Erhöhung der Zahl r. der Geschlechtskrank- 
heiten, 2. der Nervenerkrankungen, 3. durch Schwächung der gesamten 
Körperkonstitution. Soziale Ursachen dieser drohenden Gefahr sieht 
er darin, daß im Zusammenhang mit den wirtschaftlich schwierigen 
Zeiten, denen wir entgegengehen, damit zu rechnen ist, daß die Ehe- 
schließungen abnehmen werden und in den bestehenden Ehen weiter- 
hin eine absichtliche Beschränkung der Kinderzchl stattfinden wird. 
So ganz sicher scheint mir wenigstens das erste doch nicht ganz zu sein. 
Mögen auch die wirtschaftlichen Verhältnisse nach dem Kriege keine 
leichten sein, so kann doch gerade der große Ausfall an arbeitsfähigen 
Männern einen günstigen Einfluß auf den Arbeitsmarkt und damit aut 
die Heiratsmöglichkeit ausüben. Seine biologischen Vorschläge zur 
Bekämpfung der Bevölkerungsabnahme — soll wohl besser heißen 
Abnahme des bisherigen Wachstums — beruhen in der Hauptsache 
in Vorschlägen zur Reform unserer bisherigen Eheverhältnisse, vor 
allem des Heiratsalters beider Ehegatten, einer Verjüngung desjenigen 
des Mannes, dieser soll das Fruchtbarkeitsmaximum bereits mit dem 
25. Lebensjahr erreichen, und einer Erhöhung desjenigen der Ehefrau, 
da Ehen von Frauen im Alter von unter 25 Jahren infolge mangelhaft 
funktionierender Konzeptionsfähigkeit und infolge des hohen Beitrags, 
den gerade diese Ehen zu Fehl-, Früh-, Totgeburten und Säuglings- 
sterblichkeit stellen, relativ wenig Anteil an dem Wachstum der Be- 
völkerung haben. Die Fortpilanzungskraft der Frau setzt später als 
beim Manne ein und erreicht auch später ihre Grenze (hier 38. Lebens- 
Jahr) als bei diesem (30. Lebensjahr). Damit soll auch eine Aenderung 
ım Altersverhältnis beider Ehegatten eintreten; die eheliche Frucht- 
barkeit ist weit größer, wenn beide Geschlechter gleichaltrig sind, 
als wenn der Mann älter ist, wie die Frau. Es kommt noch die Tatsache 
hinzu, daß bei jüngerem Heiratsalter der Männer die Generationen 
sich weit schneller folgen, so daß die Zahl der Nachkommen dadurch 
eine bedeutende Steigerung erfährt. Im Anschluß an diese biologischen 
Mittel zur Bekämptung der Bevölkerungsabnahme werden dann noch 
die dem gleichen Ziele dienenden sanitären und sozialen Maßnahmen 
besprochen. Jedoch liegt der Schwerpunkt und Hauptwert von Vaer- 
tings Ausführungen durchaus auf biologischem Gebiete. 

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß seine diesbezüglichen 
Vorschläge in hohem Grade geeignet sind, das Volkswachstum zu 
fördern; man soll auch alles tun, was dicnlich ist, diese erwünschte 
Entwicklung, vor allem des Heiratsalters, zu unterstützen. Dazu 
gehört in erster Linie eine diesbezügliche Herabsetzung des gesetz- 
lichen Heiratsalters für Männer. Auch über Lohnaufbesserungen und 
Heiratszuschüsse für junge Männer u. dgl. läßt sich reden, wenngleich 
dabei aus wirtschaftlichen Gründen ganz erhebliche Vorsicht am Platze 
Ist, wie ich vor kurzem an anderer Stelle dargetan habe ?). In den hier 


—— 





) Mombert. Bevölkerungspolitik nach dem Kriege. Nahrungsspiel- 
raum und Volkswachstum in Deutschland. Kriegswirtschaftliche Zeitfragen. 
Heft 2/3. )J.C.B. Mohr Verlag. 1916. 


632 Literatur-Anzeiger. 


berührten Punkten liegen auch die Hauptschwierigkeiten Vaertings 
Vorschläge durchzuführen. Das darf freilich uns nicht davon abhalten, 
alles zu tun, was diese fördern kann, wir müssen uns aber auch dieser 
Schwierigkeiten bewußt bleiben; denn erst in dem Maße, in dem wir 
sie kennen und demgemäß auch zu bekämpfen in der Lage sind, werden 
sich auch Vorschläge, wie die oben genannten, in das wirkliche Leben 
umsetzen lassen. Es sind in erster Linie wirtschaftliche Probleme, 
die hierbei in Frage kommen; es handelt sich darum die wirtschaft- 
lichen Voraussetzungen steigender Volkszunahme zu beschaffen und 
auch den Entwicklungskräften entgegenzutreten, die das Heiratsalter 
in einem dem Volkswachstum ungünstigen Sinne beeinflußt haben und 
weiter beeinflußen können. Der Verfasser zitiert ein Wort Raubers: 
»Wo begründete Forderungen der Biologen und Ansprüche der Volks- 
wirtschaftslehre feindlich zusammenstoßen, da muß letztere sich zu 
einem Kompromisse und zur Nachgiebigkeit entschließen. Denn der 
Mensch und die menschliche Gesellschaft ist nicht bloß ein zahlen- 
mäßiger, volkswirtschaftlicher, sondern ein viel tiefer angelegter Kör- 
per, der auch andere als bloß ökonomische Lebensaufgaben zu erfüllen 
hat... . Die Volkswirtschaft muß einen gewissen ökonomischen 
Schaden sich gefallen lassen, damit hohe biologische Aufgaben nicht 
unerfüllt bleiben können.« So sehr man diesen Worten gerade auch als 
Nationalökonom zustimmen kann, so wenig treffen sie doch den Kern 
der zwischen Biologie und Wirtschaft möglichen Gegensätze. Für das 
vorliegende Problem liegen sie nicht, wie obige Worte Raubers an- 
nehmen, in den etwaigen Widersprüchen der Lehren der Wirt- 
schaftswissenschaft, sondern unter Umständen in den wirtschaft- 
lichen Tatsachen; es handelt sich nicht allein darum, ob wir 
so wollen, wie es biologisch wünschenswert erscheint, sondern ob wir 
auch so können, ob uns nicht die Tatsachen der Wirtschaft als ernstes 
Hindernis entgegenstehen. 

So kann es kommen, daß man sich den eindrucksvollen Ausfüh- 
rungen Vaertings gerne anschließt um trotzdem gegen die Möglichkeit 
der Durchführung manche ernste Bedenken zu haben. Es handelt sich 
um die großen Probleme des Nahrungsspielraumes, der allgemeinen 
Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Bevölkerung, die aus wirt- 
schaftlichen Gründen dem biologisch wünschenswerten oft ein starkes 
Hindernis bereiten. Es würde den Rahmen einer Besprechung über- 
schreiten, diese Zusammenhänge für das vorliegende Problem im ein- 
zelnen auszuführen. Damit soll nichts gegen die von ihm vorgeschla- 
genen Maßnahmen gesagt sein. Es gibt keinen Grund, der dagegen 
spräche in dem von ihm angegebenen Sinne tätig zu sein; es fragt sich 
nur, ob jene aus den angedeuteten wirtschaftlichen Gründen den ge- 
wünschten Erfolg haben können, ob nicht, um den Kern des Problems 
herauszugreifen, bei einem bestimmten Verhältnis von Volkszahl 
und Größe des Nahrungsspielraumes, sich das biologisch wünschens- 
werte nicht durchführen läßt, ob nicht etwa, wie Vaerting an einigen 
Stellen auch selbst andeutet, die Gefahr vorliegt, daß Maßnahmen, 
welche lediglich die Vermehrung fördern, die Qualität schädigen. 
Das wäre eine Entwicklung, die, wie er mit Nachdruck hervorhebt, 
vermieden werden soll. Können aber nicht die Dinge so liegen, eine 
Frage, die hier nur aufgeworfen werden soll, daß das biologisch un- 
günstige z. B. der neueren Entwicklung von Heiratsalter und Geburten, 
eine seiner Hauptursachen in dem so starken Wachstum unserer Be- 
völkerung hat? (P. Mombert.) 


9. Soziale Zustandsschilderungen. 633 


8. Statistik. 


Publikatsonendesstatistischen Amtes der Haupr 
und Residenzstadt Budapest. Nr. 43. Die Re- 
swltate der Volkszählung vom Jahre 1900. 
Budapest 1914. Puttkammer und Mühlbrecht. Berlin 216 u. 288 S. 
8%. M. 4.—. 

Der vorliegende Band bietet vornehmlich Tabellen, während 
die textliche Bearbeitung der Zählungsergebnisse dahinter zurücktritt. 
Am eingehendsten gelangt dabei die Wohnungsstatistik zur Darstel- 
lung, während die Verhältnisse der Bevölkerung ihr gegenüber sehr 
kurz, wohl auch zu kurz, behandelt werden. Der Wert der ersteren 
liegt vor allem darin, daß auch immer wieder ältere Ergebnisse zum 
Vergleich herangeholt werden, so daß sich in derRegel die entsprechende 
Entwicklung bis zum Jahre 1880, an manchen Punkten sogar noch 
weiter zurück, verfolgen läßt. Man kann dadurch deutlich erkennen, 
in welcher Hinsicht sich die Wohnungsverhältnisse verschlechtert, 
in welcher gebessert haben. Der \Wohnungspolitiker wird nicht ohne 
Erfolg in diesen Tabellen Umschau halten. Im einzelnen ist dann dabei 
manchen Fragen und Zusammenhängen nachgegangen worden, deren 
Feststellung und Verarbeitung sonst nicht zu den regelmäßigen Pro- 
grammpunkten der amtlichen Statistik gehört. Von allgemeinerem 
Interesse dürften hier die Aufnahmen über die Zahl der küchenlosen 
Haushaltungen nach Berufen, die Zusammensetzung der Haushal- 
tungen hinsichtlich der Familienzugehörigkeit und der Stellung im 
Haushalt sein und ferner noch die Frage, ein wie großer Teil der Jahres- 
miete, getrennt nach einzelnen Mietstufen, durch die Weitervermie- 
tung, also durch Aftermiete, aufgebracht wird. Was die Bevölkerungs- 
verhältnisse anlangt, so zeigt sich, daß in Budapest die bisher in den 
Großstädten allgemein aufgetretene Entwicklung einer stärkeren Zu- 
nahme der Frauen als der Männer mit dem Jahre 1900, in dem auf 
1000 Männer 107I Frauen entfielen, ihren Höhepunkt überschritten 
hat, indem im Jahre 1906 das Verhältnis auf 1053 zu Iooo zurück- 
ging. Im Gegensatz dazu ist der Anteil der im eigentlich erwerbsfähigen 
Alter (15—40 Jahre) stehenden Personen auch noch weiterhin in der 
Zunahme begriffen gewesen. (P. Mombert.) 


—— 


9. Soziale Zustandsschilderungen. 


Most, Otto: Zur Wirtschafts- und Sozialstati- 
Stik der höheren Beamten in Preußen. München 
und Leipzig 1916. Dunker und Humblot. 42 S. 8°% M.ı —. 

Mit der vorliegenden Schrift schneidet Most eine sehr wichtige 
aber auch überaus schwierige Frage an. Er benutzt neben einer Reihe 
bereits vorliegender Arbeiten in erster Linie die Ergebnisse einer im 
Sommer 1913 von ihm bearbeitenden Erhebung über die persönlichen 
Verhältnisse aller bei der Königlichen Regierung in Düsseldorf und 
den ihr unterstellten Staats- und Kommunalbehörden beschäftigten 
höheren Beamten. Diese erstreckte sich insgesamt auf 268 unmittel- 
bare Staats- und 231 Kımmunalbeamte. Es handelt sich für den Ver- 
fasser vor allem um den Nachweis, daß die Beamtengehälter in ihrer 

öhe mit den steigenden Kosten der Lebenshaltung in neuerer Zeit 
nicht Schritt gehalten haben, daß damit die wirtschaftlichen Ver- 


Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 2. 41 


634 Literatur-Anzeiger. 


hältnisse der Beamten immer ungünstigere werden, Wirkungen, die 
sich in erster Linie in einem hohen Heiratsalter und geringer Kinder- 
zahl zeigen; damit sei die Gefahr eines wirtschaftlichen und sozialen 
Niederganges des Beamtentums in sichtbare Nähe gerückt. Auch noch 
andere Nachteile seien damit verbunden, so vor allem, daß die Folge 
sei, daß hervorragende Kräfte, die nicht im Besitze eigenen Vermö- 
gens seien vom Staatsdienste ferngehalten würden und die Gefahr 
eines Ueberganges gerade der Tüchtigsten aus diesem in die Privat- 
industrie vorhanden sei. In dieser Beurteilung der Tatsachen wird man 
dem Verfasser im allgemeinen beipflichten können, wenngleich er 
doch vielleicht in mancher Hinsicht etwas zu schwarz sieht, wenn er 
daraus schon die Gefahr eines Zusammenbruches des Beamtentums 
herleitet. Daß aber in dieser Hinsicht vieles reformbedürftig ist, muß 
man Most zugeben. Es wird freilich nicht ganz leicht sein, vor allem 
auch bei der finanziellen Lage nach dem Kriege, in dieser Hinsicht zu 
durchgreifenden Reformen zu kommen. Darüber äußert sich der Ver- 
fasser gar nicht; er will anscheinend nur auf die vorhandene schlechte 
. wirtschaftliche Lage hinweisen. Und doch muß man in diesem Zu- 
sammenhang auch von der Frage der Reform sprechen; denn eine 
gründliche Aufbesserung in finanzieller Hinsicht muß auch Hand in 
Hand mit anderen Reformen, gerade auch im Interesse des Staates 
und des Beamtentums, gehen. Es würde sich nicht allein um die schon 
so" oft erörterte Vereinfachung der Verwaltung und anderer Zweige 
des Staatsdienstes handeln, auch die ganzen sonstigen Grundsätze 
der heutigen Beamtenbesoldung, wie zum B. die Art der Gehaltsskala, 
das Anciennitätsprinzip und manches andere ist verbesserungsbe- 
dürftig. Nicht nur im Hinblick auf die Höhe der zu zahlenden Ge- 
hälter, sondern auch noch in manch anderer Beziehung kann der Staat 
bei seiner Beamtenpolitik von der Privatindustrie lernen. 
(P. Mombert.) 


10. Agrarwesen, Landarbeiterwesen. 


Jacobj, C.: Weitere Beiträge zur Verwertung 
der Flechten. Tübingen r916. Mohr. 0.60M. 

Den bereits an gleicher Stelle besprochenen zwei Veröffentlichun- 
gen des Autors über dasselbe Thema folgt hier eine weitere Abhandlung 
über die Nutzbarmachung des sogenannten isländischen Mooses, 
das in den meisten deutschen Gebirgsgegenden bisher unbenutzt vor- 
kommt und dessen Verwertung zur menschlichen Ernährung der Autor 
vorschlägt, da das Renntiermoos durch seinen Gehalt an gelatinie- 
renden Rohstoffen sich nach erfolgter Entbitterung gut zur Herstellung 
einer Reihe von Gerichten eignet. Vielseitigte Rezepte zur Zuberei- 
tung werden am Schlusse angegeben. (Rudolf Leonhard.) 


Schulman, Leon: Zur türkischen Agrarfrage. 
Palästina und die Fellachenwirtschaft. (2. 
außerordentliche Veröffentlichung des Archivs für Wirtschafts- 
forschung im Orient.) Weimar IgI6. Gustav Kiepenheuer, XXVIII 
und I81 S., M. 4.50. 

Die deutsche Orientforschung hat heute neben ihren wissenschaft- 
lich theoretischen Zwecken außerordentlich bedeutsame politische 
und wirtschaftspolitische Aufgaben zu erfüllen. Während sie auf der 





10. Agrarwesen, Landarbeiterwesen. 635 


einen Seite durch die Tatsache. daB man in der Türkei eines der wich- 
tigsten Gebiete künftiger deutscher Auslandshetätisung erblickt, 
gewaltige Antriebe eriahren hat. erwachsen andererseits aus der 
engen Verknüpfung mit bestimmten politischen Bestrebungen und 
Wünschen gewisse Gefahren, die ihr in besonderem Maße die Pilicht 
zu kritischer Beobachtung und unpartetischer Beurteilung auferlegen. 
Vor allem erscheint die gewissenhafte, eindringende Einzeltorschung 
dazu berufen. in Deutschland die Kenntnis der wirtschaftlichen Zu- 
stände der Türkei und des Charakters ihrer Bevölkerung zu ver- 
breiten und zu vertiefen. In diesem Sinne heiert die Schrift von 
Schulman einen wertvollen Baustein zum Gebäude deutscher Orient- 
forschung. Auf Grund genauer Sachkenntnis wird in ıhr die tür- 
kische Agrarfrase erörtert, das Problem, von dessen Lösung in erster 
Linie die Wiederbelebung des osmanischen Reiches abhängt. Die 
Arbeit hat zweifellos dadurch an Gründlichkeit und Tiete gewonnen, 
daß der Verfasser für seine Untersuchung ein geographisch begrenztes 
Gebiet, seine Heimatprovinz Palästina, herausgegritien hat, deren 
agrarısche Zustände jedoch als tvpisch für die gesamte türkische Land- 
wirtschaft gelten können. Inhalt und Zweck des Buches werden am 
besten durch die Worte gekennzeichnet, mit denen der Verfasser die 
ihm gestellte Aufszbe umschreibt: »die wirtschaftliche und soziale 
Lage der Bauernbevölkerung, die die Grundpfeiler der Türkei aus- 
macht, darzustellen, die Ursachen der Stagnation der Agrarpro- 
duktion klar zu erkennen, wie die Richtung, in der sich die künftigen 
Reformen zu bewegen haben, anzudeuten«; er ist der Meinung, daß 
es ihm gelungen ist, den Beweis dafür zu erbringen, »daß weder der 
Volkscharakter noch die mohammedanische Religion irgendwie für 
den trostlosen Zustand der Fellachen verantwortlich zu machen sei«. 
Die Hauptschuld an dem elenden Zustand der arabischen Landwirt- 
schaft, die nicht einmal die einheimische, stagnierende Bevölkerung 
von 700 000 Menschen, zu ernähren vermag, während Palästina zur 
Zeit seiner Blüte im Altertum an 5 Millionen Einwohner aufwies, tra- 
gen vielmehr das unrationelle, den Bauern auf das härteste bedrückende 
türkische Steuersystem und eine Handelspohtik, die den Ausländer 
bis vor kurzem auf Kosten des einheimischen Produzenten bevorzugt 
hat. Der Untersuchung dieser beiden Grundübel der türkischen Volks- 
wirtschaft und der für ihre Beseitigung in Betracht kommenden Re- 
formen widmet S. den Hauptteil seiner Studie, nachdem er im ersten 
Teile die natürlichen Bedingungen sowie die rechtlichen und histori- 
schen Grundlagen der heutigen arabischen Agrarwirtschaft darge- 
stellt hat. 

Die Betrachtung der türkischen Steuerverhältnisse ist nicht nur 
für den Wirtschaftspolitiker, sondern auch für den Wirtschafts- 
theoretiker von großem Interesse, denn hier liegt der, wenn auch unbe- 
wußte, Versuch vor, die Steuerpraxis im Sinne der phvsiokratischen 
Lehre zu gestalten. Der ganz überwiegende Teil, etwa 6 /7, der Steuer- 
einkünite werden direkt oder indirekt vom Grund und Boden auixe- 
bracht, und zwar wird nicht nur der eigentliche Bodenertrag, sondern 
»der ganze landwirtschaftliche Ertrag im weitesten Sinne des Wortes« 
von der Steuer erfaßt. An der Spitze der Einkünfte stehen im türki- 
schen Staatshaushalt die Einnahmen aus der Zehntensteuer, einer 
Sich teilweise aus religiösen Ueberlieferungen herleitenden Abgabe vom 
Bodenertrag, die aber heute nicht mehr ein Zehntel, sondern ein Achtel 

41 ® 


636 Literatur-Anzeiger. 


beträgt; als Maßstab der Bemessung gilt nicht der Reinertrag, sondern 
der Rohertrag ohne jede Rücksicht auf die Produktionskosten. Diese 
an sich drückende, den Grundsätzen einer gerechten Besteuerung 
in keiner Weise entsprechende Abgabe wird noch verschärft durch 
ihre Erhebung auf dem Wege der Steuerverpachtung, die den Bauern 
der Willkür und Habsucht des Pächters bei der Steuerveranlagung aus- 
liefert und ihn an der vorteilhaftesten Ausnutzung seiner Arbeitskraft 
und an der einträglichsten Verwertung der Ernte hindert. Neben dem 
Zehnten bestehen eine große Anzahl anderer Steuern, die direkt oder 
indirekt vom Bebauer des Bodens getragen werden müssen, wie die 
Grundsteuer, die als eine Art Vermögenssteuer. neben dem Zehnten 
vom Werte des Grund und Bodens erhoben wird, die Gebäudesteuer, 
die jedoch seit ihrer Reform im Jahre ıgıo der landwirtschaftlichen 
Produktion eine gewisse Schonung angedeihen läßt, die Viehsteuer, 
die eine außerordentlich hohe Belastung des Viehbestandes vorsieht und 
daher unmittelbar hemmend auf die arabische Viehzucht wirkt. Auf 
hochwertige Kulturen, wie die des Oelbaumes und des Weinstockes, 
für die das Land die günstigsten natürlichen Bedingungen bietet, und 
die ihm einen wichtigen Anteil an der Weltwirtschaft sichern könnten, 
wirken die Steuerverhältnisse geradezu vernichtend;; so muß der Wein- 
bauer außer Grundsteuer und Zehnten noch eine Steuer von I5 % des 
Ertrages entrichten, eine Belastung, die den Weinbau nicht nur für den 
kapitalarmen Eingeborenen, sondern auch für die mit ansehlichen Ka- 
pitalien arbeitenden Unternehmungen von Juden und Deutschen un- 
rentabel macht. Für den Fellachen, der zudem infolge seines meist 
schlechten Besitzrechtes stets mit dem Verlust des Eigentums amGrund 
und Boden bedroht ist, und dessen Felder den räuberischen Ueber- 
fällen der benachbarten Beduinen ausgesetzt sind, ist unter diesen Ver- 
hältnissen privatwirtschaftlich die extensivste Wirtschaft die ratio- 
nellste, ja allein mögliche. Die von S. nur kurz angedeuteten Reform- 
vorschläge liegen vor allem in der Richtung einer Umwandlung des 
Zehnten in eine alle Bodenkategorien treffende Grundsteuer, der eine 
staatliche Katastrierumg, Bonitierung und Einschätzung vorauszugehen 
hätte; einzelne Kulturen, wie die des ODelbaumes, müßten von jeder Be- 
steuerung befreit, möglicherweise durch staatliche Prämien gefördert 
werden. 

Nicht minder reformbedürftig ist nach S. s Ansicht die türkische 
Zollpolitik, deren Inhalt ausgedrückt ist in den Worten: »Erleichte- 
rung der Einfuhr bei gleichzeitiger Erschwerung und Unterdrückung 
der Ausfuhr«. Der mangelnde Zollschutz, gemeinsam mit der Bestim- 
mung, daß alle Seetransporte von inländischem Getreide in bezug auf 
die Verzollung der ausländischen Einfuhr gleichzustellen sind, ist die 
Hauptveranlassung dafür, daß ein reines Agrarland wie die Türkei 
eine massenhafte Getreideeinfuhr zu verzeichnen hat. Während die 
türkische Landwirtschaft nach dem Wortlaut des Gesetzes mit 12,63 % 
des Rohertrages, tatsächlich infolge der willkürlichen Art der Steuer- 
bemessung und -erhebung noch wesentlich höher belastet ist, betrug 
der Zollsatz auf eingeführtes Getreide und Mehl bis Igog nur 8 %, 
seit IgII ıI % des Wertes, erfüllte also nicht einmal die Aufgabe eines 
die inländische Besteuerung ausgleichenden Finanzzolles. Drei Tat- 
sachen aber machen die türkische Agrarproduktion in besonderem 
Maße schutzbedürftig, falls sie in den Stand gesetzt werden soll, sich 
auch nur den Hauptanteil an der Versorgung des inländischen Marktes 


j 
ali 


Kè! 


10. Agrarwesen, Landarbeiterwesen. 637 


zu sichern: das für den Fellachen nur zu Wucherzinsen erhältliche 
Betriebskapital, die ungenügenden, sehr teuren Transportwege vom 
Innern des Landes nach der Küste, die es für die syrischen und arabi- 
schen Küstenstädte bei weitem vorteilhafter machen, sich mit russichem 
und rumänischem Getreide zu versorgen statt mit inländischem, der 
Mangel einer leistungsfähigen, einheimischen Mühlenindustrie, die 
dem Bauern eine gewinnbringende Verwertung seines Erzeugnisses 
auf dem inländischen Markt gewährleistet. Eine mit der ausländischen 
Fabrikation konkurrenzfähige Mühlenindustrie kann wegen der höheren 
inländischen Betriebskosten jedoch nur dann in Palästina entstehen, 
wenn ihr ein höherer Zollschutz als bisher zugebilligt wird, vor allem 
ist eine’zollpolitisch verschiedene Behandlung von ausländischem Ge- 
treide und ausländischem Mehl erforderlich. 

Wenn bei der dauernden Unterernährung der einheimischen Be- 
völkerung und der wachsenden Getreideeinfuhr aus dem Auslande 
dennoch eine nicht unbeträchtliche Ausfuhr von Agrarprodukten aus 
Palästina stattfindet, so ist hierin eher ein Symptom ungesunder Zu- 
stände als ein Zeichen wirtschaftlichen Gedeihens zu erblicken. Der 
Getreideexport wird durch die Notlage des Bauern bedingt, der, um 
seinen Verpflichtungen gegenüber dem Steuerpächter und seinen 
Gläubigern nachkommen zu können, gezwungen ist, seine Erzeugnisse 
zu den ungünstigsten Preisen loszuschlagen, oit in solchem Umfange, 
daß es ihm an der Aussaat gebricht. Die Hauptmenge des palästi- 
nensischen Agrarexportes besteht jedoch aus solchen Produkten, die 
in bestimmten ausländischen Produktionszweigen Verwendung finden 
— wie Weizen in der italienischen Makkaronifabrikation, Dari bei der 
Herstellung vonSpiritus, Gerste in der Bierbrauerei, — alles Erzeugnisse, 
die nur einen beschränkten ausländischenMarkt haben und daher großen 
Preisschwankungen unterworfen sind, die vor allem aber für die tür- 
kische Volkswirtschaft bedeutend höhere Erträge abwerfen könnten, 
wenn sie im Inlande verarbeitet und als Fabrikat ausgeführt würden. 
Schulman fordert deshalb einen wirksamen Zollschutz für die landwirt- 
schaftliche Produktion mit Einschluß der landwirtschaftlichen Pro- 
dukte verarbeitenden Industrien, während er die Industriezölle er- 
niedrigt oder wenigsten nicht über ihre jetzige Höhe gesteigert wissen 
will, ein Programm, das inzwischen durch den türkischen Zolltarif vom 
März 1916 in weitgehendem Maße verwirklicht worden ist. | 

Während S. im Hauptteil seines Buches die volkswirtschaftlich 
und moralisch verwüstenden Steuer- und Zollverhältnisse der Türkei 
als die Hauptwurzel der elenden Lage der arabischen Bauern aufdeckt, 
sucht er im Schlußabschnitt den Beweis zu erbringen, daß weder der 
arabische Volkscharakter noch die mohammedanische Religion dem 
Uebergang zu einer intensiven, technisch hochstehenden Wirtschafts- 
weise hinderlich sind, daß mit anderen Worten die heute zweifellos 
vorhandene Indolenz und fortschrittsfeindliche Bedürfnislosigkeit 
des Fellachen nicht Ursache, sondern Folge seiner niedrigen Lebens- 
haltung sind. Zum Beweis führt Schulman vor allem 2 Tatsachen 
an: den blühenden Zustand der arabischen Landstriche unter der 
Herrschaft der Kalifen im frühen Mittelalter und die Schwierig- 
keiten, die auch Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften, wie 
den jüdischen und den deutschen Kolonisten, den gewinnbringenden 
Betrieb des Getreidebaues heute in Palästina unmöglich machen. So- 
weit der Jahrhunderte währende ökonomische Druck in dem Fel- 


638 Literatur-Anzeiger. 


lachen Eigenschaften erzeugt hat, die dem wirtschaftlichen Fortschritt 
wenig günstig sind — übermäßige Genügsamkeit, Mangel an Sparsinn 
und jedweder Vorsorge für die Zukunft, Mißtrauen —, so bedingen 
diese keinen Verzicht auf die Reformarbeit, sondern lassen nur neben 
der Einführung moderner Rechts- und Wirtschaftsformen eine aus 
gedehnte Erziehungsarbeit an der Bevölkerung notwendig erscheinen. 

Hierbei warnt Schulman, wie andere Kenner des ÖOrientes vor 
ihm, davor, dem Araber europäische Wirtschaftsformen aufzudrängen; 
auch nach dem Einzug technischer Verbesserungen wird seine 
Wirtschaft orientalisch bleiben, aber, was oft übersehen wird, »auch 
eine orientalische Wirtschaft kann sich aller technischen Betriebs- 
mittel bedienen, kann allen Anforderungen des modernen Wirtschafts- 
lebens entsprechen und dabei orientalisch bleiben.« 

In den interessanten Schlußausführungen legt Schulman dar, daß 
auch der Islam, obwohl in seiner fatalistischen Glaubenslehre der 
Keim zu wirtschaftlicher Indolenz liegen kann, keineswegs so wirt- 
schaftsfremd und kulturfeindlich gerichtet ist, wie es bei oberfläch- 
licher Kenntnis den Anschein hat. 

Die sachkundigen und überzeugenden Darlegungen von Schulman 
lassen mit großer Deutlichkeit die gewaltigen Aufgaben erkennen, die 
der Staatsmänner und Wirtschaftspolitiker in der Türkei harren, Auf- 
gaben, die gewiß nicht dadurch erleichtert werden, daß es sich um die 
Beseitigung von Schäden und Rückständigkeiten eines Jahrhunderte 
alten politischen Systemes handelt. Anderseits führt gerade die Un- 
tersuchung der türkischen Agrarfrage zu dem ermutigenden Ergebnis, 
daß dem wirtschaftlichen Fortschritt keine in der Natur des Landes 
und im arabischen Volkscharakter begründeten unüberwindlichen 
Hindernisse entgegenstehen, sondern daß zielbewußte, ausharrende 
Reformarbeit ihren Lohn finden wird. Den ersten Schritt auf dem Wege 
wirtschaftlicher und nationaler Gesundung hat die Türkei mit der Ab- 
schüttelung der Kapitulationen getan, jener Fessel, die bisher jede wirk- 
same, ausschließlich türkischen Interessen dienenden Wirtschaftsreform 
verhindert hat. 

Einer Ergänzung bedarf die vorliegende Arbeit nach der politischen 
Seite. In den arabischen Landesteilen tritt die Tatsache, daß 
die Türkei ein Nationalitätenstaat ist, am schärfsten hervor, die wirt- 
schaftlichen Probleme sind hier aufs engste mit politischen Fragen 
verknüpft, ihre Lösung muß daher auch auf politischem Gebiet be- 
deutsame Rückwirkungen zeitigen. Es ist zu wünschen, daß der Ver- 
fasser, der durch seine ausgezeichnete Kenntnis von Land und Leuten 
jener Gebiete hierzu berufen erscheint, seiner Untersuchung des wich- 
tigsten türkischen Wirtschaftsproblemes eine Ergänzung in dieser 
Richtung folgen läßt. (Charlotte Leubuscher.) 


II. Gewerbliche Technik und Gewerbepolitik. 


Rörig, Prof.Dr.G.und Binz, Prof.Dr.A.: Die tierischen 
Rohstoffe und ihre Veredlung. (Die Rohstoffe des 
Wirtschaftsgebietes zwischen Nordsee und Persischem Golf, I). 
Braunschweig 19106. Friedr. Vieweg und Sohn. 222 S. M.8.—.. 

Die wirtschaftliche Lage der Zentralstaaten im Weltkrieg hat die 

Ausrüstung des Vierbundes mit Rohstofien in den Vordergrund des 

Interesses gerückt. Das vorliegende Buch (das erste einer kleinen Serie, 


er 


ee I ee 


12. Kartellwesen, Unternehmeroryanisation, 639 


welche”die Rohstoffe des Wirtschaftscedietes zwischen Nordsee und 
Persischem Golf und ihre Verediung behandelt) betaßt sich mit den 
tierischen Rohstotiien, soweit sie in Deutschland. Oesterreich-Ungarn, 
Belgien, den russischen Grenzzrebieten, Serbien, Bvuigarien und der 
Türkei nach den statistischen Ermittelungen für Iol2 zur Vertüsun x 
stehen, und mit ihrer Veredlung. oder Verarbeitung in der Nahrungs- 
mittel- und Heilmittelindustrie, mit der Abtallverwertung und der 
Verwendung tierischer Rohstotte in den Bekleidungs- und verwandten 
Industrien. Das Buch ist nicht eine Untersuchung. inwieweit Autarkie 
des angedeuteten Wirtschattsgebietes möglıch, sondem im Wesen 
eine Aneinanderreihung produktions- und handelsstatistischer Daten, 
welche durch einige technische Bemerkungen ergänzt werden. (—eẹ) 


12. Kartellwesen, Unternehmerorganisation. 


Goldstein. Eduard, Dr. jur. et phil: Monopole und 
Monopolstewern. Leipzig 1910. A. Deichertsche Verlags- 
buchhandlung. 560 S. M. I.—. 

Der sächsische Finanzminister spricht in der sächsischen I. Kam- 
mer aus, was weite Kreise schon seit langem erwägen: Das Reich müsse 
zur Deckung seiner so stark angewachsenen Lasten nach dem Kriege 
Monopole einführen. Die Nächstbeteiligten, das sind nach der Mei- 
nung des Verfassers die Unternehmer, »schweigen dazu, rühren sich 
aus sich selbst nicht, sehen vielmehr geduldig und tatenlos herannahen 
was nicht nur für sie, sondern für weite Kreise Unheil bedeutet«. 
Diese Umstände bewegen Goldstein, alle die Waffen, die gegen Mono- 
pole in Hülle und Fülle da seien, dem groBen Kreise derer, die es an- 
gehe, noch einmal vorzuführen. 

I. Ein erster allgemeiner Teil verbreitet sich über Wesen und 
Arten der Monopole (private, öffentliche, reine Verwaltungs, gemischte, 
reine Steuer-Monopole), ohne viel bisher Ungesagtes zu bringen. AbD- 
zulehnen aber sind in diesem Teile nur die Darlegungen, welche die 
mittelalterlichen Regalien als Einrichtungen bezeichnen, die samt 
und sonders mühelos unter den Begriff der Staatsmonopole gebracht 
werden könnten. 

2. Im zweiten, die wichtigsten gegenwärtig bestehenden staat- 
lichen Finanzmonopole behandelnden Abschnitte macht der Verfasser 
in nicht ungeschickter Darstellung eine Reihe von Angaben aus der 
Entwicklung und der gegenwärtigen Verfassung des französischen, 
Tussischen österreichischen Tabakmonopoles, des französischen Zünd- 
holz- und des schweizerischen und russischen Branntweinmonopoles. 
Angaben, die auch für denjenigen von Belang sind, der der Einführung 
von Monopolen anders als der Verfasser gegenübersteht: So sind die 
ungünstige Lage der Tabakptlanzer in Rumänien, die auf der geringen 
Höhe der von der Monopolverwaltung für Rohtabak bezahlten Pre is 
beruhe, sowie die schlechten Lohnverhältnisse der Arbeiter in den 
österreichischen staatlichen Tabakfabriken. Umstände, die 
man beider Einführungeines Tabakmonopoles 
oder eines Zigarettenmonopoles in Deutsch- 
land zu vermeiden hätte. — Die bei allen behandelten 
Ländern und Monopolen wiederkehrende Klage über geringfügige 
Ausfuhr in den Monopolerzeugnissen läßt das für Deutschland sehr 

wesentliche Problem ofien, ob staatliche Monopole 


640 . Literatur-Anzeiger. 


etwaunbedingtexportfeindlichwirken müssen. 
— Der geringe Ertrag des schweizerischen Branntweinmonopoles, 
eines Teilmonopoles, das die feineren Spirituosen nicht umfaßt und 
noch an weiteren Punkten durchbrochen ist, scheint uns, die wir 
Monopole mit hohen Erträgen brauchen, vor der Einführung 
solcher Teilmonopole zu warnen und Monopole zu 
empfehlen, die alle Arten des zu monopolisierenden Stoffes umfassen, 
Vollmonopole in bezug auf den Monopolgegenstand sind. — Aus der 
ungünstigen Entwicklung des französischen Zündholzmonopoles darf 
die Mahnung zur sorgfältigsten Prüfung der Frage entnommen werden, 
ob ein für die Monopolisierung in Aussicht genommener Stoff seiner 
technischen Herstellung und seinem Verbrauchsumfang nach sich 
auch wirklich für die Monopolisierung eignet. 

3. Eine derartige Auswertung der mitgeteilten Tatsachen ent- 
spricht natürlich nicht den Absichten des Verfassers, der im dritten 
Abschnitte der Broschüre nun alle die Argumente entwickelt, die ihn 
in der Einführung von Monopolen ein Unheil sehen lassen. Die 
meisten dieser Argumente, von der mangelnden Eignung des Staates 
zum kaufmännischen Unternehmer, von der Erstickung technischer 
Fortschritte bei Fortfall der Konkurrenz, von dem gefährlichen An- 
wachsen der Zahl vom Staate abhängiger Staatsbürger, von der Ver- 
kümmerung des parlamentarischen Steuerbewilligungsrechtes an- 
gefangen bis herab zur Klage über die geringe Mannigfaltigkeit und 
Güte der Monopolfabrikate, sind alte Bekannte. Weit mehr als das An- 
führen dieser Argumente dürfte ein Nachprüfen bedeutet haben; 
denn die erwähnten Anschauungen sind fastschon Dogmen geworden, 
so wenig neu sind sie, ohne daß fest stände, daß diese Dogmen zu- 
treffend sind. Es besteht immer noch die Möglich- 
keit, daß die Nachteile, die sieangeben, weni- 
ger mitderstaatlichenUnternehmerschaftund 
dem Monopol und zwar notwendig verknüpft 
sind, als vielmehrnurausden Methoden die bis- 
her befolgt wiorden sind, resultieren, daß neue 
Methoden und relativ geringfügige Maßnahmen aber genügen, die Nach- 
teile, soweit sie wesentlich sind, zu beseitigen. 

4. Die geringfügige Mannigfaltigkeit derMono- 
polfabrikate rechnen wir zu diesen wesentlichen Nachteilen 
nicht, im Gegenteil gerade für die Zeit nach dem Kriege, die, darüber 
sind die meisten sich einig, eine Zeit des Sparens werden muß, ent- 
spricht die größere Einheitlichkeit mit ihren geringeren Produktions- 
kosten durchaus den Interessen unseres Wirtschaftens. — Die poli- 
tischen Nachteile dagegen sind solche, die durch, wie wir 
oben sagten, relativ kleine Maßnahmen beseitigt, beziehungsweise 
verringert werden können. Angesichts früherer Monopolvorschläge 
sind aus den Kreisen einer deutschen Reichstagspartei einmal die 
Forderungen zusammengestellt worden, denen ein eventuelles Mono- 
pol genügen müsse. Im Punkte 4 dieser Zusammenstellung, hieß 

es da: 

»Den Arbeitern und Betriebsbeamten darf das Vereins- und Ver- 
sammlungsrecht nicht geschmälert werden«. 

Im Punkte 9: 
»Die Verkaufspreise der Monopolfabrikate sindim Gesetze fest- 
zulegen«. 


e n... , ar 


ı2. Kartellwesen, Unternehmerorganisation. 641 


Würde im letzten Satze noch das Wort »valljährlich« einge- 
fügt, so würde jegliche Gefahr der Verkümmerung des parlamentari- 
schen Steuerbewilligungsrechtes beseitigt sein, während Punkt 4, 
durch die Autorität des Parlamentes sehr wohl die innere Kraft be- 
kommen könnte, die volle politische Freiheit auch einer ganzen Klasse 
von Monopolangestellten zu gewährleisten. — Was endlich die wirt- 
schaftlichen Nachteile: Verzögerte technische Fortschritte, 
bei Fehlen der Konkurrenz und Unrentabilität der staatlichen Unter- 
nehmertätigkeit, angeht, sosind das die Nachteile. bei denen eine ver- 
-änderte Methode manches zum Vorteil wenden könnte. 

5.Heranziehung kaufmännisch und wirtschaft- 
lich geschulter Persönlichkeitenfürdieleiten- 
denStellungen, wiesiemitsovorzüglichenErgeb- 
nissenaufdemGebietederreinenStaatsverwal- 
tungsichinunsallenbekanntenFällenderjüngs- 
tenVergangenheitbewährthat,wärederwesent- 
lichste Zug der neuen Methode. | 

6. Die weiteren Aenderungen, bei denen es sich im wesentlichen um 
Verminderung des Bürokratischen handelte, würden von diesen Per- 
sönlichkeiten ausgehend alsdann wohl von selbst folgen. Es ist nicht 
ersichtlich, warum die Ingenieure der großen Aktiengesellschaften, 
die mehr als 1000 Chemiker der Bayerschen Farbwerke z. B., die mit 
dem eigentlichen Unternehmer doch nicht enger verknüpft sind, als 
der höhere technische Angestellte eines staatlichen Monopoles, unbe- 
dingt interessierter sein müssen, als der letztere, warum es einer aufmerk- 
samen, die Qualitäten des Angestellten, sorgfältig beobachtenden Lei- 
tung nicht möglich sein sollte, eine gleiche Entfaltung der Kräfte bei ihm 
zu erzielen. Und, wäre das erreicht, warum sollteder Wunsch der Mono- 

lverwaltung nach Steigerung der Reinerträge durch Verbilligung und 

erbesserung der Produktion ein schwächerer Anreiz zu technischen 
Fortschritten sein, als etwa der auf die Konkurrenz hinweisende Wunsch 
des Direktors der privaten Großunternehmungen. Freilich eine beson- 
dere Gegenleistung müßte den staatlichen Angestellten, wie jenen pri- 
vaten, als Gewinn in Aussicht stehen. Aber würde eine schnellere 
Beförderung, eine Beförderung nach der Art des Geleisteten, nicht 
nach der Dauer der Leistung, nicht als Gegenleistung genügen ? 

7. BeiAnwendung derartig neuorientierter Me- 
thoden dürften die staatiichen Monopole, weitent- 
fernt davon,die Unternehmergewinneder früheren 
privatwirtschaftlichen Betriebe im »unrentablen 
öffentlichen Betrieb« aufzuzehren, steigern. Die Vor- 
teile der Konzentration und der Auslese unter den einzelnen Betrieben 
(die nicht alle fortgeführt werden würden), würden die Steigerung er- 
höhen. Das würde ein ganz anderes Ergebnis zeitigen, als jenes, 
welches Goldstein uns in der These vor Augen steilt: »Bei einem 
Steuersatz, der den Preis des Steuerobjektes mit dem Preise über- 
einstimmen läßt, der bei etwaiger Monopolisierung für das Mono- 
polfabrikat festgesetzt werden würde, vermögen Verbrauchssteuern 
höhere Erträge zu liefern als Monopole«. Ein Satz, der schon darum 
nicht zutreffend sein kann, weil er der nun so häufig gemachten 
Erfahrung nicht Rechnung trägt, daß bei jeder Steigerung oder Neu- 
einführung einer Verbrauchssteuer Fabrikanten und Händler sich 
mit einer Preiserhöhung um den Wert der Steuer nicht begnügten. 


642 Literatur- Anzeiger. 


8. So hat die Goldsteinsche Broschüre, was bei ihrer Tendenz natür- 
lich ist, zur Klärung der zurzeit dringlichen Frage der Monopole nicht 
allzuviel beigetragen. Die meisten Fragen harren noch ihrer Unter- 
suchung und zwar einer baldigen, wenn die Nationalökono- 
mie nicht hier, wie bei derEinrichtung der Kriegs- 
wirtschaft,wiedereinwichtiges Gebiet preisgeben 
will, das,dem Politiker fürseine Anordnungen wis- 
senschaftlichgeschöpfte Vorarbeiten, andieHand 
zugeben. 

9. Berufen zu diesen Vorarbeiten aber ist nur, wer — nicht die Un- 
ternehmer etwa zu monopolisierender Betriebe als Nächst-Beteiligte 
anspricht, sondern vielmehr die Gesamtheit des ganzen Volkes, die 
ganze Volkswirtschaft. Denn darum wird es sich doch handeln, die- 
ser die Bleigewichte auszubalancieren und so 
zu erleichtern, diein Gestalt derkünftigerfor- 
derlichen hohen Leistungen an den Staat, ihr 
Schaffen belasten werden, und, schlecht ver- 
teilt, erdrücken würden. (Ernst Meyer.) 





13. Gewerbl. Arbeiterfrage, Arbeitsmarkt. 


14. Arbeiterschutz. 
15. Versicherungswesen (bes. Arbeiterversicherung). 
16. Gewerkvereine und Tarifwesen. 


17. Allg. Sczialpolitik und Mittelstandsfrage. 


Ferenczi, Dr. Emerich: Die Wiedereinstellung 
der Kriegsinvaliden ins bürgerliche Erwerbs- 
lebenin Deutschland, OesterreichundUngarn. 
Wien und Leipzig 1916. Manz. 27 S. 

Der Titel der vorliegenden Flugschrift verkündet eine vergleichende 
Uebersicht der Fürsorgeeinrichtungen für Kriegsbeschädigte inDeutsch- 
land, Oesterreich und Ungarn. Der Verfasser, ein Ungar, ist voller 
Lobes für die deutsche Organisation und schildert ihre Formen in 
anschaulicher Weise. Seiner Absicht bleibt er aber insofern nicht treu, 
als wir über österreichische und ungarische Verhältnisse nur ganz ge- 
ringe Andeutungen erhalten. 

Die Hauptvorzüge der deutschen Einrichtungen sieht er in erster 
Linie in der streng durchgeführten Dezentralisation. Der Umstand, 
daß die praktische Durchführung der Fürsorge provinziellen und ört- 
lichen Ausschüssen anvertraut worden ist, die Invaliden also in der 
Heimat beraten werden können, ermöglicht eine individuellere Be- 
handlung jedes einzelnen Falles infolge eingehender Kenntnis der 
örtlichen Verhältnisse. Die baldige Ueberführung der Invaliden in 
die Heimatlazarette hat ferner den großen Vorteil, daß weitere Kreise 
schon frühzeitig bei der Berufsberatung fachmännisch mitwirken und 
dazu beitragen können, den Prozeß, der den Invaliden in das Wirt- 
schaftsleben zurückführen soll, zu beschleunigen. Die Heranziehung 
der Berufskreise kann unter keinen Umständen entbehrt werden zur 
Lösung der schwierigen Frage, welche Arbeitsmöglichkeiten, bei denen 


17. Allg. Sozialpolitik und Mittelstandsfrage, 643 


Vollwertiges geleistet werden kann, sich für Teilinvaliden in Landwirt- 
schaft und Industrie bieten. 

Abgesehen von der Arbeitsteilung zwischen Behörden und Gesell- 
schaft verfolgt der Verfasser die in Deutschland gehandhabte Methode 
der Dezentralisation und Spezialisierung im einzelnen weiter auf dem 
Gebiet der Berufsschulung, der Arbeitsvermittlung usw. und hat dabei 
hauptsächlich das in der Rheinprovinz gegebene Vorbild im Auge. Ge- 
wicht gelegt wird auf die dezentralisierte Benutzung aller bestehenden 
Einrichtungen des Fachunterrichts zur Fortbildung der Invaliden, 
damit sie an der Qualität der Arbeit das wieder erlangen, was sie an 
Quantität verloren haben. — Die Arbeitsvermittlung geschieht in 
engster Anlehnung an die örtlichen gemeinnützigen Arbeitsnachweis- 
stellen, soweit nicht einzelne Berufsorganisationen die Zurückführung 
der Invaliden in den alten Beruf für ihre berufsangehörigen Kriegsbe- 
schädigten seiber übernommen haben. 

Im Rahmen eines kurzen Vortrages konnten die Probleme natür- 
lich nur angedeutet werden und es mag diese Anregung durch den 
Hinweis auf deutsche Verhältnisse für Oesterreicher und Ungarn 
wertvoll sein. (Gerta Stücklen.) 


Ergebnisse der KriegsinvalidenfürsorgeimKel. 
orthopäd. Reserve-Lazareti Nürnberg. Heraus- 
gegeben von Stabsarzt der R. Dr. Adolf Silberstein- Berlin, 
leitender Arzt des Kgl. orthopädischen Reserve-Lazaretts Nürn- 
berg, Fr. Maier-Bode, Rektor der Kgl. Kreislandwirt- 
schaftsschule Nürnberg, Walter Möhring, städt. Zeichen- 
Inspecktor zu Nürnberg, Keidt, Kgl. Professor, Direktor der Kgl. 
Korbflechtlehranstalt Lichtenfels, Paul Bernhard, stell- 
vertretender Lazarettinspektor, Nürnberg. Mit 112 Abbildungen 
T Fa und auf 10 Tafeln. Würzburg 1916. Kurt Kabitzsch. 161 S. 

Die Ergebnisse der Kriegsinvalidenfürsorge im Kgl. orthopädi- 
schen Reserve-Lazarett Nürnberg faßt ein Bericht von 5 Herren der 
verschiedensten Berufszugehörigkeiten zusammen, die alle im Dienst 
der Sache tätig sind. 

Als erster ergreift Stabsarzt der R. Dr. Adolf Silberstein, der 
leitende Arzt, das Wort und schildert in anschaulicher Weise die Auf- 
gaben der Heeresverwaltung in der Kriegsinvalidenfürsorge. Ihr 
liegt es ob, in den Schullazaretten die Einweisung in die Berufstätig- 
keit anzubahnen, dem Invaliden die Ueberzeugung beizubringen, daß 
er noch zu praktischer Arbeit fähig ist, ihm nötigenfalls Prothesen zu 
beschaffen und ihn über deren Gebrauch zu belehren. In das Gebiet 
der zivilen Fürsorge fallen dann alle weiteren sozialen Maßnahmen. 

Der Umstand, daß der erste Teil der Fürsorgebehandlung — die 
Benutzung der künstlichen Glieder —, noch in der Militärzeit er- 
folgt, ist von großer Wichtigkeit, weil ohne das Machtmittel der Dis- 
ziplin und der Autorität des Militärarztes die Invaliden aus eigner 
Initiative sich wohl schwerlich von dem Nutzen des Arbeitsarmes oder 
des Kunstbeines überzeugen würden. In den Werkstätten bzw. bei 
der Landarbeit müssen sie auf die praktischen Vorteile hingewiesen 

und zu einer gewissen Fertigkeit in der Benützung der Behelisglieder 
erzogen werden. Erst dann wird auch der Versuch zur Wiederaufnahme 
der alten Arbeit von Erfolg gekrönt sein. Wertvolle Abbildungen von 


644 Literatur-Anzeiger. 


Behelfsgliedern und Ersatzteilen zeigen die mannıgfaltigen Verwen- 
dungsmöglichkeiten bei der Arbeit an Maschinen, in der Landwirt- 
schaft, bei Hof- und Maurerarbeiten usw. 

Der stellvertretende Lazarettinspektor Paul Bernhard schildert 
die Einrichtung, den Dienstbetrieb und die Verwaltung, die auch auf 
streng militärische Grundlage erfolgt. 

Ueber die Versuche in landwirtschaftlicher Arbeit auf dem ange- 
gliederten Gutsbetrieb berichtet Landesökonomierat Maier-Bode; 
er bespricht die verschiedenen Verwendungsmöglichkeiten Invalider 
auf diesem Gebiet. Ein kriegsbeschädigter Landarbeiter, der mehr oder 
weniger arbeitsbeschränkt bleibt und sich darum in fremden Betrieben 
schwer anpassen kann, wird bei gutem Willen in einem eigenen Bauern- 
anwesen die mannigfachsten Arbeiten verrichten können, da er hier 
im Verein mit seiner Frau und seinen Kindern den Betrieb so gestalten 
kann, daß seine noch vorhandene Arbeitskraft voll ausgenutzt wird. 
Von überragender Bedeutung für die Bewahrung und Entwicklung 
der lebenspendenden Kräfte des heimatlichen Bodens und des Volks- 
tums ist die Lösung des Problems: Wie ist es zu erreichen, daß dem ge- 
steigerten Zuzug in die Städte gesteuert und die Landbevölkerung an 
die eigene Scholle gefesselt wird? Notwendig wird die Schaffung 
von Kriegerheimstätten. Zu der Klärung der Frage Anregungen 
gegeben und Wege gewiesen zu haben, gereicht dem Verfasser zu 
großem Verdienst. 

Die Ausbildung im kunstgewerblichen, maschinentechnischen 
und Bauzeichnen und die Erlernung des Korbmacherhandwerks geben 
eine methodische Anleitung und Schulung für diejenigen Invaliden, 
deren Arbeitsfähigkeit durch Verlust eines Gliedes — Arm oder Bein — 
vermindert worden ist. Die noch vorhandenen Kräfte und etwa neu 
sich zeigende Begabungen in besonderen Zweigen müssen zurEntfaltung 
gebracht werden. Wenn es gelingen sollte, die Beschädigten nach Mög- 
lichkeit dem alten, oft liebgewordenen Berufe zu erhalten, da weiter- 
zubauen, wo bereits Kenntnisse vorhanden sind und durch eine Spezial- 
ausbildung ein Fortkommen in oft erhöhter Position bei lohnendem 
Erwerb zu sichern, dann würde das Ziel der Kriegsbeschädigtenfür- 
sorge in glänzender Weise erreicht werden. 

Das Buch kann zur Lektüre warm empfohlen werden, da die ein- 
gehende Darstellung von Fachmännern unterstützt durch vortreff- 
liche Abbildungen dem Interessenten eine gute Einführung in die Ar- 
beit der Kriegsbeschädigtenfürsorge gewährt. (Gerta Stücklen.) 


18. Privatbeamten- und Gehilfenfrage. 


ıg. Handel und Verkehr. 


Flügel, Dr. jur. Heinrich, Die deutschen Welt- 
khäfen. Hamburg und Bremen. Mit 6 Plänen. Jena 1914. Gu- 
stav Fischer. 395 S 

Unter diesem Titel ist in den ersten Kriegstagen 1914 ein fast 

400 Seiten starkes Werk erschienen, welches die Verkehısstellung der 

beiden deutschen Welthäfen einer vergleichenden systematischen 

Betrachtung unterzieht. DasBuch wird indessen dieser umfassenden 

und schwierigen Aufgabe, an der sich schon mancher unserer Verkehrs- 

politiker in anderem Rahmen versucht hat, nur in wenigen Teilen 


19. Handel und Verkehr. 645 


gerecht, während der Verfasser gerade in den Hauptstücken vielfach 
versagt hat, weil er offenbar die verkehrswirtschaftlichen Zustände 
und Vorgänge, von denen er ausgeht und die er beschreibt, nicht 
selbst beherrscht, deshalb häufig aus unzuverlässieen Quellen schöpft, 
so daß ihm wesentliche Irrtümer unterlaufen, oder weil er einwandfreie 
Unterlagen irrig ausdeutet. Infolgedessen ist dieses in seinen Teilen 
sehr ungleichmäßige Buch, das in anspruchsvollem Gewande erschienen 
ist, leider nicht geeignet, der weiteren Erforschung der weltwirtschaft- 
lichen Probleme, die sich an die Seehäten Hamburg und Bremen 
knüpfen, als sichere Grundlage zu dienen. Damit dieser schwerwiegende 
Mangel des Buches zum Schaden späterer wissenschaftlicher Arbeiten 
auf diesem Gebiet nicht übersehen werden möge, soll die mit Rücksicht 
auf die Kriegszeit immer wieder zurückgestellte Besprechung des- 
selben nicht länger hinausgeschoben werden. 

Das Werk zerfällt in zwei Hauptteile, in deren erstem die Vorbe- 
dingungen Hamburgs und Bremens für eine Welthafenstellung, im 
zweiten die Kennzeichen ihrer weltwirtschaftlichen Bedeutung im 
einzelnen behandelt werden sollen. Der erste Hauptteil, der gewisser- 
maßen das Kernstück bildet, handelt von der Verbindung mit dem 
Meere (Meereslage, Zufahrtsstraße, Häfenanlagen, Gebührenpolitik 
und Hinterlandsverbindungen der beiden Häfen). Im zweiten Teil 
wird außer den seewärtigen Schiffahrtsverbindungen (Handelsflotten, 
Reedereien und Schiffahrtslinien), die doch wohl bei einer solchen 
Zweiteilung des Stoffes wegen der stetigen Wechselwirkung zwischen 
dem Anwachsen des Verkehrsbedürfnisses und der Verbesserung der 
Austauschmittel, auf die der Verfasser nur andeutungsweise eingeht, 
eher den Vorbedingungen - der besser den Grundlagen der verkehrs- 
politischen Bedeutung der Häfen zuzurechnen wären, der Schiffs- 
und Güterverkehr ziemlich summarisch beschrieben, ohne daß auf den 
70 Seiten, die den Verkehrsleistungen selbst gewidmet sind, auch nur 
ein ernstlicher Versuch gemacht wird, tiefer in den Stoff einzudringen 
und den ursächlichen Beziehungen zwischen den Verschiedenheiten 
der Entwicklung beider Häfen und den verschiedenen Vorbedingungen, 
die Hamburg und Bremen dem Weltverkehr bieten, nachzuspüren. 
Wie hiernach die ganze Anlage des Buches als wenig glücklich be- 
zeichnet werden muß, so ist denn auch der bleibende Eindruck, den es 
hinterläßt, durchaus unbefriedigend. 

Eine Ausnahme machen lediglich die Abschnitte, in denen der 
geschichtliche Werdegang der Elberegulierung und der Unterweser- 
korrektion sowie die Ausgestaltung der hamburgischen und bremischen 
Hafenanlagen unter Berechnung und Bezifferung der einschlägigen 
Anlagekosten eingehend geschildert wird. Hier stützt sich der Ver- 
fasser unter Verwertung aller Quellen erster Hand, wie Verhand- 
lungsberichte von Senat und Bürgerschaft beider Hansestädte, Ver- 
waltungsberichte usw. offenbar auf eigene Forschungen. Man kann 
nur bedauern, daß Dr. Flügel sich nicht auf diese geschichtlichen 
Untersuchungen, die anscheinend den Ausgangspunkt der Arbeit bil- 
den, beschränkt hat. 

Der oben berührte Mangel fällt zuerst in peinlichster Weise bei 
der Erörterung der Hinterlandsbeziehungen auf. Da wird eine Einlei- 
tung in die deutsche bzw. preußische Eisenbahntarifpolitik gegeben, in 
welcher — man staune — die Denkschrift des Ministers der öffent- 
lichen Arbeiten vom Jahre 1908: Der preußische Landeseisenbahnrat 


646 ,  Literatur-Anzeiger. 


in den ersten 25 Jahren seiner Tätigkeit, nach dem Zitat in der Schrift 
eines Lehrers an der Yale-Universität Clapp: The Port of Hamburg, 
verwertet wird. Diese im übrigen recht mittelmäßige Schrift des 
Amerikaners spielt überhaupt eine große Rolle; aus ihr werden die 
Grundsätze der deutschen Eisenbahntarifpolitik entwickelt. Ihr 
werden beispielsweise auch die vergleichenden Frachttabellen für den 
Seehafenausnahmeverkehr der verschiedenen deutschen Hafenplätze 
entnommen, die Clapp seinereits wieder von einem anderen amerika- 
nischen Verfasser (Thackeray, Railway Freightrates, Inland Water- 
ways and Canals in Germany, IgII) entliehen hat. Diese Arbeitsweise 
nimmt den Darlegungen des Verfassers natürlich jede ernsthafte 
Bedeutung, sie hat ihm auch manchen bösen Streich gespielt. Er spricht 
immer von »Spezialausfuhrtarifen«, wo Seehafenausnahmetarife ge- 
meint sind, die beim amerikanischen Buchschreiber »Special Export 
Rates« genannt sind; er stellt der allgemeinen Wagenladungsklasse 
die Spezialtarife gegenüber und verwechselt sie wiederum mit den 
Ausnahmetarifen, wo doch die Spezialtarife I—III ohne weiteres den 
ordentlichen Tarifklassen zuzurechnen sind (S. 66/67). Die Tarif- 
politik der preußischen Staatsbahnen gegenüber den Binnenwasser- 
straßen wird nach Clapp dahin zusammengefaßt, daß die sächsischen 
und österreichischen Bahnen Ausnahmetarife im Verkehr mit Fluß- 
häfen gewähren, die preußischen Bahnen dagegen nur nach Hamburg 
selbst, und daß diese Maßnahmen besonders im Stückgutverkehr 
bedeutsam seien. Abgesehen davon, daß bekanntlich auch die preußi- 
schen Bahnen neuerdings dem Umschlagsverkehr der Binnenschiffahrt 
durch besondere Tarife entgegenkommen, ist es nicht verständlich, wie 
diesen Umständen im Stückgutverkehr eine besondere Rolle zukommen 
soll, da für Stückgut Sondertarife auch im Elbumschlagsverkehr der 
sächsischen und böhmischen Plätze nicht bestehen (S. 80). Ebenso- 
wenig zu begreifen ist die Behauptung, die Vorteile im Sammella- 
dungsvorkehr, die für Hamburg gegenüber Bremen wirkten, bestünden 
in der Frachtersparnis bei »vielfach schnellerer Beförderung« (S. 67). 
Jedermann weiß, ‘daß in keinem Falle die Beförderung als Stückgut 
langsamer sein wird als im Wagenladungsverkehr. 

In der Darstellung des Güterverkehrs Hamburgs und Bremens 
wird ebenfalls auf Clapp zurückgegrifien; über die Massengüter im See- 
verkehr Hamburg wird eine Tabelle desselben aus dem Jahre 1907 
gegeben (S. 324). Die ganzen folgenlen Ausführungen über den 
Hinterlandsverkehr dieses Hafens, insbesondere über vergleichende 
Transportkosten auf dem Bahn- und Wasserwege (bis S. 332) sind 
nur ein fortgesetztes Zitat aus der Schrift dieses Verfassers. Wenn 
Dr. Flügel wohl im Gefühl der Unzulänglichkeit des Gebotenen ent- 
schuldigend sagt, daß die Lesamtfrachten auf den kombinierten Bahn- 
Wasserwegen sergfältig geheim gehalten würden, um der Bahn die 
Konkurrenz zu erschweren, so hat er auch dies von seinem amerikani- 
schen Gewährsmann. Ihm selbst hätte es doch nicht schwer fallen 
können, sich darüber einwandfreie und ausreichende Unterlagen zu 
beschaffen. Die wenigen Angaben über die Gliederung des bahn- 
wärtigen Ein- und Ausgangs der Seehäfen nach Verkehrsgebieten sind 
gleichermaßen aus Clapp übernommen, wobei auch hier der Verfasser 
sich nicht einmal die kleine Mühe gemacht hat, die durch Rücküber- 
setzung der deutschen Bezeichnung entstandenen sinnverwirrenden 
undeutschen Nachbildungen englischer Ausdrücke auszumerzen. Selbst 


Ge 








19. Handel und Verkehr. 647 


diese wenigen mageren Angaben sind im übrigen als aus dem Jahre 
1007 stammend veraltet, und sie beziehen sich, was dem Verfasser ent- 
gangen sein mag, nicht auf Hamburg und Bremen allein, sondern auf die 
Elb- und Weserhäfen. Dabei hätte nichts näher gelegen, als die Statistik 
der Güterbewegung auf den deutschen Eisenbahnen, aus der Clapp 
nach anderen Vorbildern geschöpft hat, selbst zur Hand zu nehmen. 
Es ist danach begreiflich, daß Dr. Flügel zu recht merkwürdigen 
Feststellungen kommt, so wenn er natürlich wieder mit Clapp erklärt, 
für den Wettbewerb zwischen Hamburg und Bremen um das deutsche 
Hinterland komme ausschließlich der Westen und Süden des deutschen 
Reiches in Betracht, da doch Bremen mit dem Osten in großem Maße 
nur Baumwoll- und Tabakhandel unterhalte. Wie es um Mitteldeutsch- 
land steht, wird nicht verraten. 

In bezug auf die binnenwärtigen Wasserverbindungen verläßt 
sich der Verfasser fast ausschließlich auf O. Teubert, Binnenschiffahrt 
I. Bd. 1912, wobei für die eigene unklare Stellung zu seinem Problem 
der Ausspruch (S.68) bezeichnend ist, daß ein gutes Verkehrsmittel das 
Hinterland eines Hafens »künstlich« bedeutend erweitern könne, als 
ob die Größe und Abgrenzung des Hinterlandes nicht gerade von den 
Verbindungen der Häfen mit ihm als den bestimmenden Faktoren 
abhängig wäre. In dieselbe Richtung fällt es, wenn schon eingangs be- 
züglich der Bedeutung der Meereslage (S. 21) einmal betont wird, 
die Lage Hamburgs sei Bremen gegenüber günstiger, insofern Hamburg 
von Natur und durch den Kaiser-Wilhelm-Kanal für Skandinavien 
und die Ostseeländer der gegebene Umschlagsplatz sei, und dann in 
einem Atem weiter erklärt wird, daß es für den Umschlagshandel 
ziemlich bedeutungslos sei, ob z. B. die von Amerika angebrachte 
und nach Stockholm bestimmte Ware in Hamburg oder Kuxhaven, 
Bremen oder Bremerhaven lagert. Sachliche Irrtümer finden sich 
auch hier in Hülle und Fülle. Der Wasserweg Hamburg-Berlin ist bei 
gutem Wasserstand nicht nur für Schiffe von 6 bis 800 t, sondern 
nach den neuen Verbesserungen für Kähne bis zu 1000 t befahrbar. 
Die Angabe auf S. 73, daß auf der Oder von Stettin bis Hohensaathen 
wenig Verbesserungen nötig gewesen seien, wird auf S. 76 durch die 
eigenen Ausführungen über die großartigen Regulierungsarbeiten 
auf dieser Strecke im Zusammenhang mit dem Bau des Großschiffahrts- 
weges Berlin-Stettin selbst widerlegt. Für den Elbe-Trave-Kanal 
werden die Tiefe und die Höchstabmessungen auf 2 m unc 600 t statt 
auf 2,5 m und 1000 t beziffert (S. 78), für den Großschnffahrtsweg 
Berlin-Stettin desgleichen auf 6—800 t statt auf Iooo t. Unter der 
Tabelle auf S. 96 mit der Ueberschrift: Wichtige Binnenschiffahrts- 
straßen Hamburgs, wird nach Teubert auch der Wasserweg Elbe = 
Elbe-Trave-Kanal mit den Endpunkten Hainburg-Mölln auigeführt! 
In allen diesen reichlich ausgedehnten Darlegungen ist fast ausschließ- 
lich von den Wasserstraßen im technischen Sinne die Rede. In auf- 
lallendem Gegensatz dazu fehlen die entsprechenden Angaben über 
Schiffahrtsabgaben, Höhe der Frachten, Organisation der Binnen- 
schiffahrt usw. Ungefähre Angaben über die Frachten wären, um nur 
eines herauszugreifen, nicht, wie der Verfasser meint (S. 103) unmöglich, 
sie dürften in einer systematischen Darstellung keinesfalls fehlen, 
hätten allerdings besondere wirtschaftliche Vorkenntnisse verlangt, 
wie sie bei dem Verfasser, der beispielsweise für die Verhältnisse der 
Rheinschiffahrt wiederum nur eine andere Schrift von Clapp (The 


648 Literatur-Anzeiger. 


navigable Rhine) zugrunde legt, schwerlich vorauszusetzen sind 
(S. 102/3). Die Schlußfolgerungen, die man hinsichtlich der Ver- 
kehrsgestaltung erst an abschließende Stelle erwartet, sind bezüglih 
des Binnenschiffahrtsverkehrs schon gelegentlich der Darstellung der 
Vorbedingungen gezogen. Sie sind den mangelhaften Unterlagen ent- 
sprechend oftmals überraschend. Stettin kann hiernach den Wett- 
bewerb m t Hamburg und Lübeck im Verkehr mit Berlin nicht mehr 
aushalten. Diese Feststellung wird auf eine dem Jahrbuch »Weltver- 
kehr und Weltwirtschaft 1912 /13« entnommene Zahlengruppierung 
gestützt, die die Entwicklung des wasserwärtigen Verkehrs Berlins 
mit Hamburg, Lübeck und Stettin 1902 /ıo darstellen soll. Die Ta- 
belle stammt letzten Endes aus dem Jahresbericht der Vorsteher 
der Kaufmannschaft zu Stettin vom Jahre ıgıı (I. S. 8), wo der ge- 
samte Binnenschiffahrtsverkehr Hamburgs und Stettins mit dem 
Gebiet der märkischen Wasserstraßen dargestellt wird. Hätte der 
Verfasser auf diese Quelle zurückgegriffen, so wäre ihm vielleicht 
selbst der Gedanke gekommen, sich nicht auf das Jahr IgIo zu 
beschränken. Er hätte dann gefunden, daß das nächste Jahr, wel- 
ches ähnliche Wasserstandsverhältnisse wie das Jahr 1902 auf der 
Elbe aufwies, bei fast unverändertem Verkehr des Elbemündungs- 
hafens eine Steigerung des Stettiner Verkehres mit Berlin von 848 000 
auf I 443 000 t brachte. Dies hätte ihn wohl etwas stutzig gemacht und 
ihn die Ausführungen von Stettiner Seite, wo man sich gegen die 
außerordentlich hohen Schiffahrtsabgaben auf dem Goßschiffahrts- 
weg und auf der Seeschiffahrtsstraße zu wehren hatte, etwas vor- 
sichtiger bewerten lassen. Lübeck ferner hätte nach Dr. Flügel im 
Jahre 1902 mit Berlin auf dem Wasserwege einen Verkehr von rund 
106 000 t gehabt, den es bis IgIO um 150% auf rund 268 ooo t hätte 
vermehren können (S. 75). In Wirklichkeit hat dieser Verkehr nur 
wenige Tausend Tonnen betragen und die angeführten Ziffern ent- 
halten den Gesamtverkehr Lübecks auf dem Elbe-Trave-Kanal mit 
dem Gebiet der Mittelelbe, den märlischen Wasserstraßen und der 
Oder! Daß hier kein flüchtiger Schreibfehler vorliegt, beweist der 
diesbezügliche Satz auf Seite 78: »Der wirtschaftliche Erfolg des Kanals 
für Lübeck zeigt sich in der oben dargestellten Entwicklung des Binnen- 
schiffahrtsverkehrs mit Berlin, nach dem Lübecks Verkehr sich in den 
neun Jahren wie I: 2,5 gesteigert hat.« Nach diesem fundamentalen 
Irrtum macht sich der Leser auf alles gefaßt. Und richtig, es kommt 
noch besser. »Der (Elbe-Trave-) Kanal, zu Lübecks Nutzen und zum 
größten Teil von Lübecks Gelde erbaut, ist »ein neues Einfallstor des 
Hamburger Handels in Lübecks Hinterland«. Das Hinterland 
Lübecks, dem Hamburg durch den Kanal nähergerückt sein könnte, 
ist der vom letzteren durchschnittene Streifen Holsteins von Lauen- 
burg bis Lübeck (67 km), der auch heute nur einen ganz geringfügigen 
Wasserverkehr mit dem Elbhafen unterhält und den der Verfasser 
unmöglich im Auge gehabt haben kann. Um so unfaßlicher und leerer 
bleibt diese pathetische Redewendung. Aber der Verfasser über- 
trumpft sich noch: »Thüringen, Sachsen, Böhmen, Schlesien, Posen, 
Brandenburg und Pommern, ja sogar Lübeck sind durch die 
Schiffahrtswege zum sicheren Hinterland Hamburgs 
gemacht« (S. 79). Stettin, dessen unbestrittener nächster Verkehrs- 
bereich, die Provinz Pommern, hiermit zu Hamburg geschlagen wird, 
kommt immerhin nicht ganz so schlecht weg wie der Seehafen Lübeck 


19. Handel und Verkehr. 649 


mit einem Güterverkehr von doch immerhin rund 2 Millionen t im 
Werte von 453,7 Mill. Mk. (1913). Eigentümlich mutet sodann in diesem 
Munde die selbstverständliche Wahrheit in bezug auf Bremen an: »An 
eine Wasserstraße, wie sie der Rhein für Antwerpen und Rotterdam 
darstellt, ist im Wesergebiet nie zu denken« (S. 102). 

Auch bei der Darstellung der Hafenanlagen, deren geschichtli- 
cher Teil recht ausgiebig behandelt ist, stößt man immer wieder auf 
Widersprüche, sobald der Verfasser sich auf verkehrwirtschaftliches 
Gebiet begibt. Auf S. 121 wird es unternommen, die Notwendigkeit 
zur Schaffung neuer Häfen in Hamburg durch Vergleiche des Schiffs- 
verkehrs mit der Kailänge zu erweisen, wobei aber verschiedene Miß- 
geschicke und Unstimmigkeiten sich eingeschlichen haben. Beim 
Vergleich der zur Verfügung stehenden Kailängen, bzw. Liegepläze 
in den Jahren 1882 /1908 wird im letzteren Jahr ein Abzug von !/, der 
Kailängen, als zum Absetzen in Flußfahrzeuge benötigt, gemacht. 
Ein entsprechender Abzug für das Jahr 1882 ist indessen versäumt, und 
deshalb die Zunahme an Liegestellen verhältismäßig zu gering bewertet. 
Weiter wird die Gesamtlänge der Seeschiffsliegeplätze im Hamburger 
Hafen für das Jahr 1908 auf 42,2 km beziffert, hingegen auf S. 129 
für März 1912 (ohne die bewilligten Neubauten) auf 60,5 km, obwohl 
laut Tab. S. 125—127 in der Zwischenzeit keine Vergrößerung erfolgt 
ist. Gemäß der S. 149 niedergelegten Anschauung, daß »die verschie- 
dene staatsrechtliche Oualität des Freihafens und des Freibezirkes 
für die Entlöschung und Beladung der Schiffe praktisch keine Be- 
deutung habe«, worüber ihn in bezug auf den Stettiner Freibezirk und 
die in seiner Zollordnung vorgezeichnete Zollkontrolle und die dadurch 
dem Handelsverkehrerwachsenden Hemmungen und Schwierigkeiten im 
Vergleich zum Hamburger Freihafen jeder Stettiner Spediteur eines 
anderen belehrt haben würde, wechselt der Verfasser mit diesen beiden 
Bezeichnungen nach Belieben. Völlig überwältigt scheint den Ver- 
fasser die Idee zu haben, die besondere zollamtliche Begleitung der 
Seeschiffe auf den Zufahrtsstraßen vom Meere bis zum Löschplatz 
durch die Beeidigung des Lotsen auf das Zollinteresse zu ersetzen. 
Was hier als besonders geschickt erdachte Einrichtung gepriesen wird, 
ist dem Verkehrstreibenden auch von anderen Hinsichten so vertraut, 
daß er darüber nicht viel Worte verlieren würde. 

Dieselbe Fremdheit gegenüber verkehrswirtschaftlichen Fragen 
tritt dann besonders auch in den der Gebührenpolitik Hamburgs und 
Bremens gewidmeten Abschnitten in die Erscheinung !). Zunächst 
ist es sehr überraschend, daß unter dem Abschnitt: Strom- und 
Hafenabgaben, als Gebühren mitten zwischen Tonnengeld und Kai- 
Taumgebühr sowie Kailadungsgebühr jeweils Schlepperkosten, Fest- 
machen der Trossen, Lukenbesichtigung, Stauattest und Staulohn 





!) Zuvor noch zwei merkwürdige Feststellungen bei Behandlung der Bremer 
Hafenanlagen: Als hindernder Umstand für die Entwicklung der Industrie an See- 
häfen wird (S. 177) im Hinblick auf Bremen »die Verteuerung der Kohlenbeschaf- 
fung« genannt, was wenigstens für Hamburg und Bremen angesichts der englischen 
Kohle sicher nicht zutreffend gewesen ist. Unverständlich ist ferner die Aeußerung 
bezüglich der Getreideverkehrsanlage im Bremer Freibezirk, daß beim Verlassen 
des Zollausschlußgebietes jetzt ein Sackzoll entrichtet werden müsse, der aber ver- 
hältnismäßig teurer sei, als die Totalverzollung des lusen Getreides im Seeschiff. 
(S. 182). 


Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 2. 42 


650 Literatur-Anzeiger. 


aufgeführt werden, bis man endlich in der folgenden Zusammenstellung 
als Anmerkung versteckt die Erklärung auf S. 199 findet, daß Ge- 
bühren hier nicht im verwaltungstechnischen Sinne, sondern soweit 
gefaßt seien, daß auch die an Private zu entrichtenden Gelder darin 
einbegriffen seien. Die Speditionskosten sind aber wiederum außer acht 
gelassen, so daß die alsdann folgenden vergleichenden Zusammen- 
stellungen der auf der Ware beim Umschlag in Hamburg und Bremen 
ruhenden Unkosten unvollständig und daher unbefriedigend bleiben. 
Eine solche Gegenüberstellung hätte allerdings erst dann vollen Wert, 
wenn darin auch die übrigen konkurrierenden Häfen berücksichtigt 
wären. Ein gleiches gilt für die Zusammenstellung der dem Schiff 
zur Last fallenden Unkosten, wie sie für Hamburg auf S. 200 /I ge- 
boten wird. Die hierbei gebotene Tabelle I2 über dortige Hafenun- 
kosten ist in mehrfacher Hinsicht zu beanstanden. Diese Zusammen- 
stellung fußt auf der Annahme, daß ein Dampfer von 1300 Reg.- 
Tons netto 2800 t Stückgut fassen könne, welche Ziffer wohl für Mas- 
sengut zutreffen mag, für Stückgut aber weit zu hoch gegriffen ist, und 
daß das Schiff je 2800 t Stückgut, also zusammen 5600 t in nur drei 
Tagen löschen und laden könne. Wenn nun auch, was übersehen ist, 
nach der Hamburger Kaigebührenordnung dem fraglichen Schiff für 
Löschen und Laden eine Liegefrist von zusammen vier Tagen zusteht, 
nach deren Ablauf erst die Kairaumgebühr sich von 17,5 Pf. für ı cbm 
um je 3,5 Pf. für jeden weiteren Tag erhöht, so würde selbst diese Frist 
nicht ausreichen, sodaß auf jeden Fall die Unkosten zu niedrig ge- 
griffen sind. 

Nur nebenbei sei bemerkt, daß die durch das grundlegende Werk 
von Prof. Wiedenfeld »Die nordwesteuropäischen Welthäfene, 1903 
(S. 175), verbreiteten Aussagen englischer Schiffahrtssachverständigen 
vor dem Londoner Hafenuntersuchungsausschuß, daß die Möglichkeit 
einer schnellen Ent- und Beladung, die Organisation des Hafenbe- 
triebs wichtiger sei als die Höhe der Hafenabgaben, wiederum 
nach dem später erschienenen Buch von Clapp zitiert werden (S. 193). 

Geradezu unverantwortlich für eine wissenschaftliche Untersu- 
chung wird die Kritiklosigkeit in bezug auf die Quellen im zweiten 
Hauptteil über die Kennzeichen der weltwirtschaftlichen Bedeutung 
Hamburgs und Bremens. Auf Ecksteins Historisch-Biographische 
Blätter, deren rein privatwirtschaftlicher Reklamecharakter allgemein 
bekannt ist, sowie auf die verschiedenen Werbeschriften der Hamburg- 
Amerika-Linie und des Norddeutschen Lloyd wird in der Darstellung 
der Schiffahrtsverbindungen fortlaufend verwiesen, nachdem bei Be- 
schreibung der Hafenanlagen bereits das Heftchen der Hapag für die 
Rundfahrt durch den Hamburger Hafen als Quellenangabe aufgetaucht 
war. Schiefe Urteile sind bei so oberflächlichem und einseitigen Material 
natürlich unvermeidlich. Schon in den den Abschnitt: Handelsflotten, 
einleitenden Ausführungen über die Entwickelung der deutschen 
Handelsflotte und die Anteile der einzelnen Staaten und Häfen daran, 
Bemerkungen, die in diesem Rahmen jedenialls zu sehr ins Breite gehen 
(S. 230 /48), wird Mecklenburg-Strelitz zum Küstenstaat erhoben, ob- 
wohl die See ihn überhaupt nicht bespült und nur eine westliche 
Enklave desselben an das hafenlose Ufer der zu Lübeck gehörigen 
Gewässer der unteren Trave grenzt. Statt dessen hätte man lieber 
näheres über die tieıeren Ursachen erfahren, auf welche die verschiedene 
Entwicklung der Reederei in den verschiedenen deutschen Häfen zu- 


tra a, 


19. Handel und Verkehr. 65 I 


rückzuführen ist. Mit der inhaltslosen Bemerkung, der Boden, den die 
anderen Kaufleute beackern, sei nicht so fruchtbar als derjenige der 
beiden Hansastädte, wird darüber hinweggegangen. Als regelmäßige 
Schiffahrtsverbindung wird eine Linie Stettin-Nordamerika der Hapag 
aufgeführt, die tatsächlich seit vielen Jahren nicht mehr besteht. Die 
sorgsame Aufzählung der Millionen Eier und Millionen Pfund 
Kartoffeln, welche die beiden größten Schiffahrtsunternehmungen 
der beiden Plätze jährlich verbrauchen, paßt auch wohl besser in 
deren Reklameschriften als in diese Arbeit (S. 258 und 277/78). Der 
schon sehr zugespitzte Gedanke Wiedenfelds, daß die Hambure- 
Amerika-Linie den Mittelpunkt der hamburgischen Großschiffahıt 
bildet, um den sich in mehr oder minder engem Zusammenhang die 
übrigen Unternehmungen gruppieren, wiıd bei Dr. Flügel zu der 
kühnen These überspannt: »Die übrigen Reedereien gruppieren sich 
um die Hamburg-Amerika-Linie, ihren Betrieb im Detail ergänzend.s 
(S. 260.) Er beruhigt dann Bremen über das in der mächtigeren Aus- 
gestaltung der Schiffahrtslinien zutage getretene Uebergewicht 
Hamburgs mit der dort wohl wenig Glauben findenden Versicherung, 
daß es für die Bremer Kaufleute nicht immer viel ausmache, ob die 
Güter erst nach Hamburg gebracht oder direkt von Bremen aus be- 
fördert würden. (S. 282.) In der Darstellung des Schiffsverkehrs und 
seiner Entwickelung begnügt sich der Verfasser in der Hauptsache 
damit, Tabellen aus den tabellarischen Uebersichten über Hamburgs 
Handel und Verkehr bzw. aus dem Jahrbuch für Bremische Statistik 
lose aneinanderzureihen. Von einem Vergleich des Binnenschiffsver- 
kehrs in Hamburg und Bremen, der hier unvermutet folgt, wird abge- 
seben, weil die erstere Statistik nach Tons-Tragfähigkeit und Bremen 
nach Netto-Register-Tons zähle. Wäre dem Verfasser die einheitlich 
bearbeitete Reichsstatistik zur Hand gewesen, so hätteer dafür die 
genaue Verhältniszahl I: 10,8 (1912) gefunden. Ebenso beschränkt 
sich beispielsweise die für den Rheinschiffahrtsverkehr an der holländi- 
schen Grenze ziemlich unvermittelt gebotene Uebersicht auf die Zahl 
der Schiffe, weil die Tonnengehaltszitfern zufällig in dem angezogenen 
Bericht der Rotterdamer Handelskammer fehlen. In dem gleicher- 
maßen lückenhaft behandelten Abschnitt über den Güterverkehr 
stößt man (S. 326), dafür, daß der Seehandel Hamburgs den Handel 
mit dem Hinter!and — gemeint ist Verkehr = Güterbewegung, zwischen 
welchen Begriffen der Verfasser nach Belieben wählt — stark über- 
träfe, auf die Erklärung, daß dies in erster Linie durch den Um- 
schlagshandel im Freihafen bedingt sei. Hätte sich der Verfasser daran 
erinnert, welcher gewaltigen Mengen an Baustoffen, Kohlen, Nahrungs- 
mitteln usw. ein Wirtschaftsgebiet von der Größe Großhamburgs be- 
darf, so hätte er dem Platzverbrauch wohl jene erste Stelle eingeräumt 
(S. 326). Wie hierfür, so ist der Amerikaner Clapp wohl auch dafür ver- 
antwortlich zu machen, daß bei der Erörterung der Bedeutung des 
Anteils, den Eisenbahnen und Wasserstraßen am Hinterlandsverkehr 
Hamburgs haben, als Gegenden, mit denen Hamburg keine Wasser- 
verbindung hat, Schleswig-Holstein und Mecklenburg 
mit West- und Süddeutschland in einem Zuge genannt werden, um 
daran die Prophezeiung zu knüpfen, daß, wenn Hamburg auch mit 
diesen Gegenden leistungsfähige Wasserstraßenverbindungen hätte, 
der Anteil der Binnenschiffahrt noch bedeutend höher wäre. (S. 327.) 

aß bei den zum nächstgelegenen Hinterland gehörigen Gebieten 


42* 


652 Literatur-Anzeiger. 


Schleswig-Holstein und Mecklenburg nur verhältnismäßig kurze 
Beförderungswege in Frage stehen, bei denen die Voraussetzungen für 
einen erfolgreichen Wettbewerb des Wasserwegs im Verkehr mit 
Massengütern nur ausnahmsweise erfüllt werden, schemt dem Ver- 
fasser entgangen zu sein. Ueberdies hätte ein Blick auf aie Karte 
genügt, um zu erkennen, daß Hamburg in diesen Gebieten vom Kaiser- 
Wilhelm-Kanal abgesehen, den der Verfasser nicht als leistungsfähige 
Binnenwasserstraße gelten lassen will, über die Elbe bis zur Havel und 
den Elbe-Trave-Kanal verfügt, mittels dessen ja nach der vom Ver- 
fasser geäußerten Ansicht sogar Lübeck zum sicheren Hinterland 
Hamburgs gemacht worden ist. Die zusammenhangslosen Tabellen 
über den Güterverkehr Hamburgs und Bremens im Vergleich anter- 
einander und mit den konkurrierenden Häfen (S. 338 /56) sind in mehr 
als einer Hinsicht zu beanstanden. Tab. 66 gibt die wichtigeren Güter 
im Gesamteingang (zur See, Bahn und Binnenschiff) beider Hafenplätze 
im Jahre 1913 und bezeichnet als Güter, die zum größten Teil aus dem 
Inland zugeführt und zur See mit wenigen Ausnahmen wieder aus- 
geführt würden u. a. für Hamburg und Bremen: Erde, Kies und Sand 
(778000t und 221 000 t), für Hamburg weiter: Steine, Platten, Dach- 
ziegel 529 000 t), Sand- und Granitpflastersteine (353 000 t), wobei doch 
gerade diese gewaltigen Transporte bis auf einen verschwindenden 
Teil für das Baugewerbe der Hafenstädte und ihres näheren Wirt- 
schaftsbereiches bestimmt sind. Irreführend und für den Vergleichs- 
zweck ungeeignet sind die Tab. 72 und 73, die den Gesamtwarenver- 
kehr der Haupthäfen von Antwerpen bis Stettin bringen. Anstelle 
dieser auf verwickelten Schätzungen beruhenden Zusammenstellungen, 
in welchen Ziffern von Kalenderjahren mit denen von Verwaltungs- 
jahren unbedenklich addiert worden sind, wäre eine vergleichende 
Uebersicht des Seegüterverkehrs allein brauchbarer. Ueber die Ab- 
grenzung des weiteren Hinterlandes beider Häfen fehlen alle An- 
gaben. Nichts läßt darauf schließen, daß der Einflußbereich derselben 
sich über die deutschen Landgrenzen erstreckt. Jede Andeutung über 
den Hinterlandsverkehr Hamburgs und Bremens mit der Schweiz, 
Oesterreich-Ungarn, Polen und Rußland ist unterblieben, wo doch die 
auffallenden Verschiedenheiten, die beide Häfen in diesen Verkehrs- 
beziehungen aufweisen, zu einer systematischen Behandlung geradezu 
herausfordern. 

Hat sich der Leser bis hierher durch die Anhäufung vielfach zwei- 
telhaften Materials hindurchgearbeitet, so wird er nach einer halb- 
seitigen Zusammenfassung (S. 363) vor Schlußfolgerungen gestellt, 
die, wie der Satz, daß die Ueberlegenheit Hamburgs gegenüber Bre- 
men auf der Elbe beruht, zweifellos richtig sind, oder wie die Bemer- 
kung von dem nationalen Interesse an einer Erstarkung Bremens als 
zweiten Welthafens Deutschlands durch einen Ausbau seiner Wasser- 
verbindungen mit dem Hinterland, von fachmännischer Seite schon 
vorher gezogen sind, die aber in keinem ursächlichen Zusammenhang 
mit dem Wesensinhalt der vorliegenden Arbeit stehen, sondem nur 
als Entlehnungen aus anderen Arbeiten auf diesem Gebiet erscheinen. 
Das Gesamturteil kann unter diesen Umständen nicht anders lauten, 
als daß der Verfasser sich an eine Aufgabe herangewagt hat, der er bei 
weitem noch nicht gewachsen war, und daß das vorliegende Buch in 
keiner Weise den Antorderungen gerecht wird, die an eine systematische 
Darstellung der deutschen Welthäfen zu stellen sind, ja daß es wegen 


19. Handel und Verkehr. 653 


der zahllosen und schwerwiegenden Unzuverlässigkeiten, die stellen- 
weise jede Spur von wissenschaftlich-kritischer Urteilskraft vermissen 
lassen, nicht einmal brauchbare Bausteine liefern kann für eine dies- 
bezügliche spätere Arbeit eines Berufeneren. (Th. M. Cords.) 


Scheffel: Die Verkehrsgeschichte der Alpen. 
Berlin 1908 und 1914. Verlag Dietrich Reimer. 2 Bde. 

Die Alpen sind ein Sammelbegriff, dessen Bewältigung encyklo- 
pädische Kenntnisse erfordert, auch wenn es sich um eine Spezial- 
arbeit, wie in diesem Falle vorwiegend um die Verkehrsgeschichte 
handelt. So hat z. B. France, der Verfasser des »Lebens der Pflan- 
zen«, die Alpen als Gesamtphänomen von allen Gesichtspunkten aus 
betrachtet. Auch unser Autor bringt die Vorbedingung, die solche 
Aufgabe erfordert, umfassende Kenntnisse nicht nur der Kriegs- und 
Verkehrsgeschichte, mit sich. Die wachsende Erschließung unseres 
europäischen Zentralgebirges, seine Beeinflussung von den umliegenden 
Ebenen aus und umgekehrt die Ausstrahlungen aus dem Gebirge in 
Jene werden meisterhaft dargestellt. Das erste Buch geht bis zum Ende 
der Herrschaft Theoderichs und behandelt die Erschließung und Be- 
siedelung der Alpen durch die Römer, während das zweite Buch das 
Mittelalter zum Gegenstande hat und besonders ausführlich auf die 
Erschließung manscher Alpenstraßen durch die Klostergründungen 
der Kirche eingeht. | 

= Mit großer Liebe wird namentlich im zweiten Band den früheren 
Siedelungen Deutscher in jetzt romanisierten Alpentälern nachge- 
gangen und die in entlegenen Zeitschriften weit verstreute Einzel- 
torschung erfolgreich zu einem eindrucksvollen Bild zusammengestellt. 

Das tiefgründige Werk wendet sich zwar, wie in ihm wiederholt 
betont wird, weniger an den Geschichtsforscher als an den gebildeten 
Leser, dürfte aber doch nur von dem ersteren völlig gewürdigt werden, 
denn der eilige Durchschnittsleser verlangt, durch die populären 
Zeitschriften und Vorträge verwöhnt, eine komprimierte und leicht 
verdauliche Geistesnahrung, wie sie die vorliegenden beiden Bände, 
die gewisse Vorkenntnisse und eigene Mitarbeit erfordern, nicht ge- 
rade bieten. 

Zu bedauern ist nur der Mangel an Landschaftsbildern und Zeich- 
nungen, die trotz aller Anschaulichkeit der Darstellung nie zu ersetzen 
sind; freilich hätte dies das Werk bedeutend verteuert. 

Mit Spannung kann man dem letzten Band, der das Werk zum Ab- 
schluß bringen soll, entgegensehen. (Rudolf Leonhard.) 


Wiedenfeld, Kurt: Sibirien in Kultur und Wirt- 
schaft. (Moderne Wirtschaftsgestaltungen, Heft 3.) Bonn Igıb. 
A. Marcus und E. Weber. VI. und 86 Seiten. M. 2.20. 

Diese Schrift ist das Ergebnis einer Studienreise eines wissen- 
schaftlich interessierten Beobachters; aber es ist nicht eigentlich wis- 
senschaftlich-systematisch verarbeitet, sondern es wird in einer Reihe 
lose aneinandergereihter Bilder verwertet. 

Diese Bilder selbst sind sachkundig und anschaulich gestaltet. 
Man erfährt einiges Geographische, sehr viel über die Lebens- und 
Produktionsverhältnisse der verschiedenen Schichten der Bewohner 
Sibiriens (Kosaken, Bauern, Deutsche, Kirgisen, Verbrecher und Ver- 
schickte); den Schluß macht eine anregende Schilderung der Ver- 


aa a S 


654 Literatur-Anzeiger. 


flechtung Sibiriens in die Weltwirtschaft, aus der besonders die tief 
revolutionierende Wirkung des Baues der transsibirischen Bahn sich 
plastisch abhebt. Das Buch ist ansprechend geschrieben und gleich- 
mäßig für wissenschaftlich wie für anekdotisch interessierte Leser 
fesselnd. Irgendwie Neues erfährt man aus dem Buche nicht. 
(Herman Krancld.) 


20. Privatwirtschaftsiehre (Handelswissenschaft). 


21. Handels- und Kolonialpolitik. 


Junge, Reinhard: Das Problem der Europäisie- 
rung orıenlalischer Wirtschaft, dargestellt an 
den Verhältnissen der Sozialwirtschaft von Russisch Turkestan. 
I. Band. Weimar 1915. G. Kiepenheuer. XLI und 516 S. M. 8.—. 

Das Buch beginnt mit einer Darstellung der Bedeutung Turkestans 
für die Erforschung des »Orientproblems«. Der Verfasser findet diese 
Bedeutung darin, daß die turkestanischen Verhältnisse uns zeigen, wie 
eine auf typisch orientalischen Bedingungen erwachsene Wirtschaft 
mit europäischer Wirtschaft zusammenprallt und in kürzester Zeit 
mit dieser verschmolzen wurde. 

Zunächst werden nun die Entwicklungsbedingungen in der »nicht 
menschlichen Natur« dargestellt. Turkestan ist der Uebergang von den 
Ketten des asiatischen Zentralgebirges zu der Depression des Kaspi- 
schen Meeres und des Aralsees; am Hochgebirge, an der mittelhohen. 
Hochebene und an der Tieflandsteppe hat es gleichermaßen Anteil. 
So sehr auch diese Gebiete nach Wind, Luftdruck, Temperatur usw. 
verschieden sind, so sind sie doch dadurch miteinander verbunden, 
daß menschliche Wohnsitze ohne besondere Vorkehrungen nur in ganz 
kleinen, völlig vereinzelten »Oasenterritorien« möglich sind. Gerade 
das aber ist das typisch Orientalische: daß die Verteilung der Wasser- 
läufe und Wasserstellen und ihre Ausnutzung der ganzen Wirtschaft 
von Turkestan ihren Stempel aufgeprägt haben. 

Der Boden Turkestans ist in der Hauptsache Lößboden. Er ist 
wasserarme Sandwüste. Die Randgebirge kehren dem Lande ihre 
steilabfallende Seite zu. Infolgedessen kommt es nur zur Bildung 
einiger großer, reißend schnell dahinfließender Ströme, deren Fluten 
in der Zeit der Hochgebirgsschneeschmelze anschwellen und im Sommer 
fast im Sande versickern. Der eigene Regenfall der Hochebene und 
der Tiefebenensteppe ist ganz minimal. Wo während des größten Teils 
des Jahres kein Wasser ist und wo die kontinentalen Winde ungehindert 
über große Sand- und Lößflächen dahinstürmen können, da sind Wan- 
derdünen. Infolgedessen ist menschliche-ansässige Wirtschaft nur mög- 
lich in den Oasengebieten, die, da sie auf die gemeinsame Bewirtschaf- 
tung der wenigen größeren Flußgebiete angewiesen sind, für die Ent- 
stehung einer straffen sozialen Bindung der Menschen prädestiniert 
erscheinen; auch dies ein typisch orientalischer Zug. 

Die Ausstattung Turkestans mit Bodenschätzen kann als gün- 
stig bezeichnet werden. Kohle kommt vielfach vor, und zwar in allen 
Qualitäten von der geradezu überreichlichen Braunkohle bis zum frei- 
lich recht seltenen Anthrazit, ebenso gibt es viel hochwertiges Naphtha. 
Ferner sind sehr reichlich vorhanden: Kupfer, Blei, Schwefel, Asbest, 
Gips, Steinsatz. Eisen dagegen scheint recht selten zu sein. Die Lage 





21. Handels- und Kolonialpolitik. 655 


der Vorkommen ist der Tiefe nach im allgemeinen nicht ungünstig, 
aber insofern nicht übermäßig günstig, als die Minerallager zum großen 
Teile verkehrsmäßig sehr schwer zugänglich sind; sie liegen entweder 
im Hochgebirge (Metalle) oder in der Wüste (Kohle, Naphtha, Salz). 

Bei der nun folgenden Besprechung der Bewohner des Landes 
wird besonders hervorgehoben, wie die natürlichen Verhältnisse bei 
den mongolisch-tatarischen Stämmen, die das Land im Laufe der 
Geschichte unter ihre Herrschaft brachten, zu einer Entwicklung ein- 
zelner Despotien führten und führen mußten. 

An diese Einleitung schließt sich dann eine ganz ins einzelne ge- 
hende Schilderung der wirtschaftlichen Entwicklung seit dem Ein- 
dringen der russischen Herrschaft an. Zunächst wird die Beschaf- 
fenheit der turkestanischen Wirtschaft unmittelbar vor der russischen 
Eroberung besprochen. Dabei ist nun, wie auch heute noch, obwohl 
die Unterschiede jetzt nicht mehr so schroff sind wie früher, ein großer 
Gegensatz zwischen der Usbekenwirtschaft, der Wirtschaft der Oasen- 
territorien, einerseits, und der Wirtschaft der nomadisierenden Völker 
andererseits. Bei den Usbeken war die Wasserwirtschaft auf die land- 
wirtschaftlichen Betriebe schon damals recht hoch entwickelt; da- 
gegen war die Regelung der Verkehrsverhältnisse weit hinter den 
riesigen Aufgaben zurückgeblieben, welche die Schwierigkeit der na- 
türlichen Bedingungen und die Weltlage des Landes an die Leistung 
der Herrscher stellte. Die Abwendung des indischen Handeis mit Eu- 
ropa auf das Meer, besonders seit dem Hochkommen der Dampf- 
schiffahrt, hatte noch dazu den Umfang des Transitverkehrs sehr 
herabgesetzt und dadurch eine intensive Verbesserung der Verkehrs- 
verhältnisse noch mehr erschwert. Die Mineralvorkommen wurden 
so gut wie gar nicht ausgenutzt. Der Handel mit dem Auslande war 
außerordentlich gering entwickelt, wenn auch freilich der Handel 
zwischen den einzelnen Oasenterritorien eine recht beträchtliche Aus- 
dehnung erlangt hatte. Dabei ist besonders auffallend, daß diese ganze 
Wirtschaft in sich kaum einen Keim zur Fortentwicklung trug. Und 
hierin wiederum ist nur die Folge eines Umstandes zu sehen, der für 
orientalische Verhältnisse überhaupt typisch ist und der mit den ge- 
meinsamen natürlichen Grundlagen des ganzen Orients auf das engste 
zusammenhängt. Die Entwicklung der Despotien, wie sie durch die 
Notwendigkeit einer zusammenfassenden Regelung des Wasserver- 
brauchs bedingt war, führte nämlich wirtschaftlich zu einer solchen 
typisch orientalischen Ausbeutung aller über das Existenzminimum 
hinaus prosperierenden Wirtschaften, daß jeder reine Erwerbstrieb 
dabei einschlafen mußte. Man mochte arbeiten, so viel man wollte. 
Immer kam doch der Steuerpächter und raubte, was man nicht aufessen 
konnte. Diese Wirkung des Steuerpachtsystems ist ja auch aus ande- 
ren Ländern und Zeiten bekannt. Aber typisch orientalisch ist, daß 
es nicht, wie anderswo ein Durchgangsstadium der Wirtschaft war, 
sondern dauern mußte, solange die einheimischen Despotien dauerten, 
weil die Despotien sich nur so gegen Sturz durch Rivalen sichern konn- 
ten, bis sie dann durch die Russenherrschaft ersetzt wurden und damit 
das Steuerpächtersystem zu Boden fiel. Typisch orientalisch ist ferner, 
daß bei diesem System der Handel als reine Liebhaberei, als Befrie- 
digungsmittel des Triebes nach Anerkennung in ganz ungewöhnlichem 
Maße gedieh, so daß er, obwohl reiner Binnenhandel, gegenüber der 
übrigen Wirtschaft durchaus hypertrophisch war. So stellte sich all- 


656 Literatur-Anzeiger. 


mählich ein völliges Gleichgewicht der Wirtschaft ein, es mangelte 
durchaus an Anstößen zu fortschreitender Entwicklung. 

Diese Wirtschaft »mußte ewig akapitalistisch« sein, wenn nicht 
von außen her eine mächtige Aenderung in sie hineingetragen wurde. 
In der Verstiftung des Vermögens zu Waqfs war sogar noch eine direkte 
Versicherung gegen die Möglichkeit auch der kleinsten Fortentwick- 
lung gegeben; und von dieser Möglichkeit wurde reichlich Gebrauch 
gemacht; nicht weniger als ein Drittel alles Kulturlandes gehörte 
schließlich dieser Form des Eigentums an. Und so wurde denn, bei 
der langen Dauer dieser Entwicklungslosigkeit, schließlich auch die 
unveränderte Fortdauer dieses Gleichgewichtszustandes ein Ideal 
der Bevölkerung, und es bedurfte ungeheuer starker Anstöße, diese 
träge Masse in Bewegung zu bringen. 

Die ersten zwanzig Jahre der russischen Herrschaft gingen ohne 
wesentliche Aenderung vorüber; das einzige für die Zukunft be- 
deutsame Geschehnis war die Ersetzung des Steuerpächterwesens durch 
den Mechanismus der russischen Verwaltung. An sich wäre damit die 
Bahn zum Wiederaufkeimen eines Erwerbstriebes mit all seinen Fol- 
gen frei gewesen. Da aber die Russen einerseits nichts taten, um diesen 
Erwerbssinn stark anzureizen und da andererseits die natürliche Be- 
harrungstendenz von Jahrhunderten her in der Bevölkerung sehr 
groß war, so blieb jede von dieser Aenderung zu erwartende Steigerung 
der Intensität des Erwerbstriebes zunächst noch aus. 

Mit dem Jahre 1885 beginnt nun die zweite Phase der Europäi- 
sierung des Landes; der gegenwärtig allein vorliegende I. Band des 
Jungeschen Werkes behandelt jedoch nur die Zeit bis 1900. Nach Voll- 
endung der Eroberung konnte der russische Kaufmann in Sicherheit 
seinen Geschäften nachgehen und an die Stelle der rein militärischen 
Gesichtspunkte für die Verwaltung traten wirtschaftliche Gesichts- 
punkte. Dadurch kam also zu der Regelung der Steuerverhältnisse 
die Möglichkeit ausgedehnten Handels durch europäische Kaufleute 
hinzu. Und dann war gleichzeitig mit diesem Ereignis ein drittes 
gegeben: die Fertigstellung der Eisenbahnverbindung mit Rußland 
im Jahre 1885 /86. Die verkehrsmäßige Isolierung Turkestans wurde 
dadurch und durch die allmählich sich anschließende Intensivierung 
der Schiffahrt beseitigt. Das vierte vorwärtstreibende Moment wurde 
dann die Sperrung der Zollegrenzen gegen Britisch Indien. Jetzt wäre 
Gelegenheit gewesen, in planvoller Arbeit russisch Zentralasien in 
die Wirtschaft des russischen Reichsleibes einzugliedern. Das aber tat 
man nicht, sondern man überließ das Land der Wirkung der vier auf- 
gezählten Faktoren und der Privatinteressen russischer Händler. 

Das Ergebnis dieser Methode, dessen Zustandekommen J. ein- 
gehend darstellt, ist folgendes: Noch jetzt (zu Ende dieser Epoche, 
1900) ist die Abschließung der Oasenterritorien gegeneinander nicht 
völlig überwunden; auch ein integrierender Teil Rußlands ist Turke- 
stan noch nicht geworden. Die Beziehungen zwischen beiden Gebieten 
sind immer noch in der Hauptsache Handelsbeziehungen, nicht solche 
der gegenseitigen Abstimmung der Produktionsgewohnheiten. All- 
mählich aber beginnt sich doch eine tiefe Veränderung der seelischen 
Stellung der Bevölkerung zum Wirtschaftsleben geltend zu machen. 
Der Trieb nach Anerkennung durch andere, der bisher, bei der Ab- 
wesenheit des reinen Erwerbstriebes eine übermächtige Determinante 
des Wirtschaftslebens gewesen war, verliert diese Ueberlegenheit 


24. Finanz- und Steuerwesen. 657 


über die anderen wirtschaftlichen Motive. Infolgedessen schwindet 
auch die einseitige Hypertrophie des Handel- und Wuchergeistes ein 
wenig dahin; es beginnt Kapitalbildung; besonders im Baumwoll- 
handel nach Rußland sehen wir Einheimische (Juden und Sarten) 
Reichtümer nicht nur sammeln, sondern auch wieder ın Geschäften 
anlegen. Das heimliche Thesaurieren, das bis dahin die einzige Form 
von Reichtumbildung war wird durch die Kapitalbildung ersetzt. 
Gleichzeitig erfolgt in gewissem Maße der Uebergang von der autarki- 
schen Wirtschaft zur Produktion für den Weltmarkt, in erster Linie 
für den russischen Markt. Der Absatz von Baumwolle und anderen 
Produkten, in erster Linie aber von Baumwolle, wird regelmäßig. 
Der Baumwollanbau dringt vor, die Nahrungsmittelerzeugung geht 
zurück; die Wirtschaft erleidet das Schicksal der Verflechtung in den 
Weltmarkt. Jetzt machen sich auch die üblen Wirkungen dieser Ver- 
flechtung geltend, in erster Linie in wachsender Verschuldung der für 
den Weltmarkt produzierenden Bauern an die Zwischenhändler, die 
ihnen das für die spekulative Erweiterung der Produktion erforder- 
liche Kapital vorstrecken und sie dadurch allmählich mit kräftiger 
Nachhilfe im großen geübtenWuchers in Abhängigkeit bringen. Schließ- 
lich ist der Bauer wieder auf dem alten Fleck: Er ist nur noch Platz- 
halter und Taglöhner des Kapitalisten ; wie er früher nur für den Steuer- 
einnehmer arbeitete, so arbeitet er jetzt nur für den Gläubiger; aber 
mit dem Unterschied, daß der Steuereinnehmer ihn nicht zwingen 
konnte zum Arbeiten über das Existenzminimum, während er jetzt, 
unter der beständigen Drohung der Exekution durch den Gläubiger, 
gezwungen ist, zu arbeiten oder von der Scholle zu weichen. Damit 
ist in das alte System endgültig Bresche gelegt: allmählich entsteht 
ein größeres Maß von Arbeitsgewohnheit als das geringe Maß, das 
bisher, in typisch orientalischer Weise, in Turkestan üblich war. Das 
ist der Stand der Dinge um 1900, und hier bricht das Buch ab. 

Es enthält für die Zeit bis 1900 auch ausführliche Angaben über 
die Nomadenbevölkerung, während das Ausgeführte sich nur auf die 
ansässige Bevölkerung bezieht. Aber es mag hiermit der Inhaltsangabe 
genug sein. Daß Junges Buch geradewegs auf eine theoretische Sozio- 
logie der orientalischen Wirtschaft losgeht, wurde schon mehrfach 


angedeutet. Das gibt ihm auch seine Bedeutung, 
(Herman Kranold.) 


UL a 


22. Geld-, Bank- und Börsenwesen. 


23. Genossenschaftswesen. 


nn m 


24. Finanz- und Steuerwesen. 


Leon, Dr. George N: System der direkten Sieuern 
in Rumänien und der Einkommensteuergesetz- 
entwurf von 1910. Jena 1914. Druck von Hermann Bren- 
del. 78 S. 

Die kleine Schrift giebt eine interessante Uebersicht über das be- 
stehende Steuersystem in Rumänien, sowie die wichtigsten Grundzüge 
seiner historischen Entwickelung. Es ist dem vorwiegend agrarischen 
Charakter der rumänischen Volkswirtschaft angepaßt, weist aber außer- 
ordentliche Mängel auf, die vorwiegend darauf zurückzuführen sind, 


658 Literatur-Anzeiger. 


daß Steuerreformen stets nur unter dem Drucke großen Finanzbe- 
darfes vor sich gegangen sind. Das Steuersystem besteht aus einer 
Grund- und Gebäudesteuer, einer Patenterwerbsteuer, Gehaltsteuer, 
Kapitalrentensteuer, Steuer auf Weingärten und einer Personalsteuer. 
Die rumänische Grundsteuer charakterisiert sich u. a. dadurch, 
daß sie vom Reinertrag der Grundstücke, als welcher der wirkliche oder 
vergleichsweise ermittelte Pachtzins gilt, erhoben wird, des weiteren, 
daß aus sozialpolitischen Gründen eine Steuerabstufung (4% % für 
unverpachtete Grundstücke bis Io ha, 5% % für unverpachtete Grund- 
stücke über Io ha, 6% % für verpachtete Grundstücke, deren Eigen- 
tümer in Rumänien leben, 13%, wenn letztere im Auslande leben (!), 
vorgenommen wird. Einerseits sollen dadurch die selbstbewirtschaf- 
tenden Kleinbauern geschützt werden, andererseits ist die rumänische 
Grundsteuer agrarpolitisch überhaupt gegen das Verpachtungssystem 
gerichtet, welches bekanntlich der Hauptgrund des Bauernaufstandes 
vom Jahre 1907 war. Dem gleichen Zwecke dient der besonders hohe 
Satz für die vielfach im Auslande lebenden Verpächter, die nur vom 
Arbeitsertrag der rumänischen Pächter leben und diese häufig aus- 
beuten. Nicht berücksichtigt werden bei der Grundsteuer die Schuld- 
zinsen, was sehr ins Gewicht fällt, weil in Rumänien viele Eigentümer 
die Hälfte ihrer Bodenerträge für Schuldzinsen ausgeben. (S. 34.) 

Die Gewerbesteuer ist eine, der französischen nachge- 
bildete Patentsteuer, die mit einem festen und einem veränderlichen 
Satze in mehreren Klassen erhoben wird. Wie der Verfasser mit Recht 
hervorhebt, ist sie außerordentlich ungleichmäßig und hat nur die 
eine bemerkenswerte Eigentümlichkeit, daß bei ihr die Kleingewerbe- 
treibenden der untersten Klassen seit IgI2 überhaupt befreit sind. 
Die 3 % Gehaltsteuer ist eine Sondersteuer auf feste Besol- 
dungen aller Art, die 5% Kapitalrentensteuer ist eine 
Steuer auf Kuponzinsen (mit Ausnahme der Staatspapiere), Hypo- 
thekenzinsen (nicht auch gewöhnliche Darlehenzinsen). Sie wird im 
Abzugswege erhoben und trifft überhaupt nur einen Teil des beweg- 
lichen Vermögens. Das unvollkommenste Glied des gegenwärtigen 
rumänischen Steuersystems ist wohl die »Personalsteuer«, 
welche von allen in Rumänien wohnhaften Personen über 21 Jahre zu 
entrichten ist und aus einem festen Steuersatze nach Art einer Kopf- 
steuer und einem proportionalen Satze nach dem Mietwert zusammen- 
gesetzt ist. Der Einfluß des französischen Steuerrechtes ist unverkenn- 
bar. Zu sämtlichen direkten Steuern wird ein Staatszuschlag von !/» 
(ursprünglich zur Deckung der Einhebungskosten) erhoben. Ihre 
Veranlagung erfolgt nur alle 5 Jahre im Zusammenhange mit der Volks- 
zählung. Ueber alle diese charakteristischen Eigentümlichkeiten des 
rumänischen Steuersystemes findet sich eine Fülle interessanter De- 
tails in der vorliegenden Abhandlung Leons. 

Auch Rumänien hat sich gezwungen gesehen, infolge des Wachs- 
tumes der Ausgaben und des Bestandes eines chronischen Defizites 
(seit 1864 bis 1901) neben den mehr oder weniger konstanten direkten 
Steuern in der letzteren Zeit die indirekten Abgaben stärker 
auszugestalten. Zum Schlusse bringt der Verfasser den im Jahre 1910 
vom Minister Costinescu eingebrachten Gesetzentwurf einer 
Einkommensteuer zur Darstellung. Er läuft im wesentlichen auf eine 
Kombination des gegenwärtigen Ertragssteuersystems mit einer, alle 
Steuerobjekte (also auch Schuldzinsen, Zinsen von Staatspapieren usf.) 





24. Finanz- und Steuerwesen. 659 


erfassenden Einkommensteuer hinaus. Interessant hiebei ist ins- 
besondere der Umstand, daß neben einer progressiven Grundskala 
vom Gesamteinkommen noch »Ergänzungstaxen« in den einzelnen 
Einkommenskategorien an Stelle der selbständigen Ertragssteuern 
erhoben werden sollten. 

In seiner interessanten Schlußkritik des rumänischen Steuer- 
systemes verweist der Verfasser darauf, daß die indirekten Steuern 
in einem Agrarstaate wie Rumänien mit Rücksicht auf die Verschieden- 
heit der Witterungs- und Ernteverhältnisse eine außerordentlich 
schwankende Einnahmsquelle seien und daher bei dem gegenwärtigen 
Mißverhältnisse zwischen indirektem und direktem Steuerertrage 
die Reform der direkten Steuern als Hauptaufgabe betrachtet 
werden müsse. Unter den verschiedenen gangbaren Wegen entscheidet 
er sich für den Entwurf Costinescus, da nur die Einführung 
einer allgemeinen Einkommensteuer die Berücksichtigung der wahren 
Leistungsfähigkeit des einzelnen gestatte. Die dankenswerte Schrift 
gewährt einen interessanten Einblick in das noch wenig durchforschte 
Steuerwesen Rumäniens und gibt hiefür auch eine Reihe von wert- 
vollen Literaturangaben. 

(E. H. Vogel.) 


Seitz, Dr. Hans Karl: Schweiz. Anleihepolitik 
in Bund, Kantonen und Gemeinden. Zürich ıgıs. 
Art. Institut Orell Füssli. 285 S. M. 6.40. 

Der Verfasser schickt seiner auf einem reichen Material aufge- 
bauten Darstellung des Schweizerischen Anleihewesens zunächst all- 
gemeine Ausführungen über die Natur des außerordentlichen Finanz- 
bedarfes und die Arten seiner Deckung voraus. In Bund und Kantonen 
fehlen jegliche gesetzliche Begriffsumschreibungen des außerordent- 
lichen Bedaries, so daß in dieser Hinsicht keine Einheitlichkeit be- 
Steht. Auch für die Gliederung der Defizite, die Klarlegung ihrer Ur- 
sachen und ihre Behandlung fehlt die wichtigste Voraussetzung, näm- 
lich die Aufstellung der Voranschläge und Rechnungsabschlüsse nach 
wissenschaftlichen Bedarfsunterscheidungen. Besonders interessant 
smd die Ausführungen des Verfassers über die Frage, inwieweit die 
Anleihen des Bundes, der Kantone und Gemeinden als produktiv oder 
unproduktiv aufzufassen sind. Er nimmt an, daß die Anleihen des 
Bundes (Militärauslagen) zur Gänze unproduktiv, jene der Bundes- 
bahnen zur Gänze produktiv, jene der Kantone zu ?j4. jene der Städte 
und Gemeinden zur Hälfte produktiv seien. Zu den unproduktiven 
Auslagen rechnet er hierbei die staatswirtschaftlichen (im Gegensatze 
zu den privaterwerbswirtschaftlichen) Ausgaben für Hochbauten, 
Verwaltungsgebäude, Schulen, Krankenhäuser usf. Für Ende IgIo 
ergebe sich für alle öffentlichen Körper zusammen eine Gesamtschuld 
produktiver Art von 2148 Mill. Fr. (80 %) und eine solche unproduk- 
tiver Art von 552 Mill. Fr. (26 %). Die Totalsumme aller öffentlichen 
Schulden aber beträgt für diesen Zeitpunkt 2700 Mill. Fr. (auf den Kop! 
719.36 Fr.). Was die schwebenden Schulden anbelangt, so sei die rich- 
tigste und in der Schweiz auch gebräuchlichste Form die Aufnahme 
kurzfristigen Kredites im Kontokurrentverkehr mit Banken. (S. 31.) 
Die Schweizerischen Finanzhaushalte bekennen sich in ihrer Mehrzahl 
zum System der kleinen Anleihen. Zur Beiriedigung der laufenden 
Deckungsbedürfnisse genügt im allgemeinen der Kontokurrentkredit 


660 Literatur-Anzeiger. 


der Banken. (Nationalbank, Kantonalbanken usf.) Eine Politik der 
eigentlichen schwebenden Schulden in Form von Eigenwechseln, 
kurzfristigen Schuldverschreibungen, Schatzscheinen usf. gebe es 
für die Regel nicht. Kurzfristige »Kassenscheine« wurden nur vom 
Kanton Tessin ausgegeben. Interessant ist auch, daß die Schweiz 
bisher noch nie in die Lage gekommen ist, Staatsnoten ausgeben zu 
müssen. (S. 49.) Nach Ausbruch des Weltkrieges hat die Nationalbank 
Bundeskassenscheine zur Erleichterung des Zahlungsverkehres zu 
5, Io und 20 Fr. in Umlauf gebracht, die zwar Zwangskurs haben und 
bis auf weiteres nicht einlöslich sind, aber doch vollwertiges, durch 
Edelmetall und Wechsel gedecktes Bankpapiergeld sind. 

Von den verschiedenen Arten der Anleihen ist die sonst typi- 
sche Schuldform größerer Staaten, die Rentenanleihe, hier relativ 
wenig vertreten. Die Eidgenossenschaft hat Rentenschulden bis heute 
nur zweimal begeben, 1890 und 1900 zum Zwecke des Rückkaufes 
der Schweizerischen Eisenbahnen. Aber selbst in diesen Fällen hat die 
Schweiz die gesamten Eisenbahnrentenschulden freiwillig einer 60- 
jährigen Tilgung unterzogen. Dies sei, wie der Verfasser treffend 
bemerkt, ein erfreulicher Beweis für die Zuverlässigkeit und Kredit- 
würdigkeit der Schweizer Bundesbahnfinanzen. Heute werde im 
übrigen von keinem Kanton mehr Rente ausgegeben. »Die Schweiz 
mit ihrem demokratischen, tiefeingewurzelten Grundsatz der möglichst 
raschen Schuldentilgung ist, auch bei dem Vorhandensein des nötigen 
Kredites, überhaupt nicht der Boden für Rentenemissionen.« (S. 98.) 
Die allgemein übliche Schuldform ist vielmehr jene der Tilgungsan- 
leihen und zwar entweder mit Rückzahlung nach bestimmter Frist 
(Terminsystem) unter Anlage eines Tilgungsfonds, oder auf Grund 
eines längeren Tilgungsplanes. (Annuitätensystem.) Hiebei bevor- 
zugen der Bund und die welschen sowie einige gemischtsprachige Kan- 
tone samt ihren Städten und Gemeinden überwiegend das System der 
Schuldentilgung nach festem Tilgungsplan, die deutschen Kantone 
mit ihren Städten und Gemeinden dagegen das System der Schuld- 
aufnahme auf feste Termine. 

Eine besonders gründliche und fachkundige Bearbeitung haben in 
dem Buche die eigentliche Anleihetechnik, speziell die Emission der 
Anleihen in ihren verschiedenen Formen (allgemeine öffentliche Sub- 
skription, freihändiger Verkauf, Begebung unter Garantie der Banken, 
feste Begebung an Bankenkonsortien), dann die verschiedenen in An- 
wendung gebrachten Emissionsbedingungen (Zinsfuß, Kurs, Titelgröße, 
Sicherstellung usf.), endlich die Konversion und Tilgung der Anleihen 
gefunden. Interessante Ausführungen über den Anleihemarkt im 
allgemeinen und speziell die Stellung der Schweiz als Anleihemarkt 
sowie ım Verhältnis zum Ausland, endlich die Ursachen und Wirkungen 
Schweizerischer Anleihen im Auslande beschließen die instruktive 
Arbeit. i (E. H. Vogel.) 


25. Städtewesen und Kommunalpolitik. 


26. Wohnungsfrage. 


Eberstadt, R.: Die Kreditnot des städtischen 
Grundbesiıtzesund die Reform des Realkredits. 
Jena 19160. G. Fischer. 40 S., M. 1.50. 

Verfasser hat sein Referat für die Immobiliarkreditkommission 





26. Wohnungsfrage. 661 


durch einige Zusätze erweitert und als selbständige Schrift erscheinen 
lassen. Der erste Teil entwickelt die bekannten Ansichten des Ver- 
fassers in gedrängter Form. Sie sind zu bekannt, als daß wir hier in 
ihre Kritik einzutreten hätten. Im zweiten Teil werden die Maßregeln 
zusammengestellt, die der Verfasser zur Sanierung des Realkredits 
für notwendig hält. Die dauernden Maßnahmen sind vom Verfasser 
ebenfalls früher in einer großen Reihe von Schriften entwickelt worden. 
Neu ist daher nur der Vorschlag, die Kreditnot der Hausbesitzer, die 
nach dem Kriege durch das Fälligwerden ihrer Hypothekenschulden 
entstehen wird, dadurch zu erleichtern, daß eine Verlängerung der 
Fälligkeit auf etwa fünf Jahre gegen Leistung einer entsprechenden 
Tilgung gewährt wird. Voraussetzungen der Verlängerung sollen sein: 
I. sie muß von dem Schuldner selbst verlangt und begründet werden, 
2. der Wert der Hypotheken darf den Grundstückswert nicht über- 
steigen, 3. die durch Anzahlung frei werdende Stelle darf von dem Eigen- 
tümer nicht neu belegt werden, so lange Nachhypotheken mit Fällig- 
keitsverlängerung offen stehen. Die Mittel für die Tilgung gewinnt 
Eberstadt in der folgenden Weise. Die Hausbesitzer seien schon jetzt 
gern bereit, für fällige Hypotheken eine Zinserhöhung von % % zu 
gewähren, die üblichen Kosten für die Erlangung eines hypotheka- 
rischen Darlehens betragen 2—3 %, also etwa ?/s—?/s % für das Jahr. 
Werde nun die Laufzeit der Hypothek ohne weitere Nebenwirkungen 
(Erhöhung des Zinsfußes usw.) verlängert, so könne eine Mehrzahlung 
von I % auf den Gesamtbetrag der Hvpothekenschuld von dem Hausbe- 
sitzer übernommen werden, ohne daß unter den heutigen Verhältnissen 
eine Mehrbelastung für ihn eintrete. Tatsächlich muß aber doch deı 
Hausbesitzer 1 % auf den Gesamtbetrag der Hypothekenschuld mehr 
aufbringen gegen früher. Wie er das machen soll, darüber sagt Eber- 
stadt nichts. Darauf aber kommt es an. Außerdem: wenn Eberstadt 
dieses 1 %, zur Tilgung eines Viertels der Hypothekenschulden be- 
nutzt wissen will, so wendet er damit dem Hausbesitzer auf Kosten 
der Hypothekengläubiger einen Vorteil zu. Mit welchem Recht? wer- 
den diese mit gutem Grunde fragen. Der Vorschlag umgeht also das 
schwierige Problem, woher die Mittel für die Mehrbelastung beschafft 
werden sollen. Schließlich werden die Mieter die Mittel für diese Ent- 
schuldungsaktion aufzubringen haben. (H. Lindemann.) 


Terhalle. F.: Die KreditnotamstädtischenGrund- 
stücksmarkt. Jena, G. Fischer, 19I6. 268 S., M. 7.—. 

Wenn der Verfasser in seinem Schlußworte meint, das Ergebnis 
seiner Untersuchungen werde in weiten Kreisen mehr Widerspruch 
als Zustimmung finden, so hat er ohne Zweifel recht. Er kritisiert 
manchen in den letzten Jahren modern gewordenen Reformvorschlag 
—- unseres Erachtens wiederum häufig mit Recht — und solche Kritik 
ist natürlich bei den Kritisierten nicht beliebt. Die Untersuchung 
gliedert sich in zwei Hauptabschnitte, von denen der erste die Ursachen 
der Kreditnot nachzuweisen sucht, der zweite einige Reiormprojekte 
auf dem Gebiete des städtischen Realkredits kritisch würdigt. Der 
erste Hauptabschnitt bringt wenig Neues. Der Verfasser, der sich im 
zweiten Teile als ein so scharfer Kritiker an den Reformvorschlägen 
erweist, läßt in seinem ersten Hauptteil es recht oft an der genügenden 
Kritik fehlen. Behauptungen Pohles, A. Voigts und namentlich 
Ad. Webers, werden auf Treu und Glauben hingenommen, obschon sie 


662 Literatur-Anzeiger. 


häufig nichts anderes als Behauptungen sind, für die nirgends ein Be- 
weis gegeben ist. Selbst die Klagen der Grundstücksinteressenten 
werden ohne Prüfung als ebensoviele Beweise angeführt. Der wissen- 
schaftliche Wert dieses ersten Teils kann daher nur sehr gering einge- 
schätzt werden. Versucht doch der Verfasser nicht einmal, die ver- 
schiedenen Ursachen in eine Rangfolge zu bringen. In dem zweiten 
Hauptabschnitte bespricht der Verfasser die Amortisationshypothek, 
die Regelung des Taxwesens, die Mängel im Hypothekenrecht und die 
zu ihrer Beseitigung vorgeschlagenen Reformmaßregeln (Eberstadts 
Vorschläge) und die Organisation des zweitstelligen Hypothekar- 
kredits. Er lehnt die gesetzliche Einführung der unkündbaren Til- 
gungshypothek wenigstens für die Großstadt ab, mit guten Gründen und 
schätzt auch die Bedeutung der öffentlichen Taxämter im großen und 
ganzen zutreffend ab. Auch die Auffassung, die der Verfasser über 
die kommunalen Hypothekenämter und die Beschränktheit ihrer 
Wirksamkeit entwickelt, wird man im wesentlichen unterschreiben 
müssen, so wenig sie den Hausbesitzern und einigen kommunalen 
Wohnungspolitikern gefallen mag. Schon aus dem örtlichen Charakter 
der Gemeinde fließt mit Notwendigkeit, daß sie an den Fragen des 
städtischen Realkredits nicht vorbeigehen darf, daß sie aber nicht 
imstande ist, einer Kreditnot abzuhelfen, die auf allgemeinen wirt- 
schaftlichen Ursachen beruht. Die Versuchung liegt nur zu nahe, diesen 
Komplex von Ursachen beiseite zu schieben, weil man ihm gegenüber 
hilflos ist. Kleine Mittel, die nur geeignet sind, verhältnismäßig wenig 
bedeutende, nebensächliche Schäden zu verbessern, werden dann in 
den Vordergrund gerückt und in ihrer Wirksamkeit oft ungeheuerlich 
übertrieben. Die schärfere Herausarbeitung dieser Gesichtspunkte 
hätte der Kritik des Verfassers ein festeres Ziel gegeben. 
(H. Lindemann.) 


27. Unterrichts- und Bildungswesen. 


Kuckhoff, Joseph: Höhere Schulbildung und 
Wıirtschaftsleben. Erwerbsaussichten und Be- 
rufsberatung für Schüler höherer Lehranstal- 
ten. Volksvereinsverlag M.-Gladbach 1916. 8°. 140 S. Preis M. 2.—. 

Boden, Kapital und Arbeit sind bekanntlich die Bestandteile 
der Güterproduktion, die sog. Produktionsfaktoren, von deren Zu- 
sammenwirken und deren Leistungen der Güterertrag abhängig ist, 
das Nationaleinkommen, das einem Volke für einen bestimmten Zeit- 
raum zum Verbrauche und für andere Zwecke zur Verfügung steht. 

Wir werden nach dem Kriege in höherem Grade als jemals zuvor, alle 

Veranlassung haben die größtmöglicheLeistungsfähigkeit der deutschen 

Volkswirtschaft zu erreichen, um so die Wunden, die dieser Krieg ge- 

schlagen hat wieder ausheilen und uns weiterhin in dem politischen 

und wirtschaftlichen Wettkampfe der Völker behaupten zu können. 

Boden und Kapital, als die sachlichen Voraussetzungen der 

Produktion, sind relativ leicht Ueberlegungen zugänglich, die auf eine 

größere Wirtschaftlichkeit oder Leistungsfähigkeit hinzielen. Anders 

liegt es bei dem persönlichen Produktionsfaktor, bei der Arbeitskraft, 

beim Menschen selbst; zwar hat auch durch zahlreiche Fortschritte im 

Arbeitsprozesse selbst, es sei nur an die Arbeitsteilung erinnert, ihre 

Ergiebigkeit gewaltige Fortschritte gemacht, aber nach anderen wich- 


———-. 


Di 0 a LI s 


27. Unterrichts- und Bildungswesen. 663 


tigen Seiten hin liegt hier noch sehr vielesim Argen. Welchen Fortschritt 
würde es bedeuten, wenn es gelingen könnte, jeden auf seinen richtigen 
Platz im Leben zu stellen, in höherem Maße als heute die für bestimmte 
Berufe begabtesten und fähigsten auch diesen zuzuführen und bei der 
Berufswahl die Arbeitskraít der jungen Generation in die Zweige der 
Volkswirtschaft hinüber zu leiten, wo sie nach den vorhandenen Auf- 
gaben am dringendsten gebraucht werden, also der Gesamtheit den 
größten Nutzen stiften können. Es handelt sich hier um ein wirt- 
schaftliches Ideal, das für uns unerreichbar ist, denn wir haben es mit 
Menschen und nicht mit Werkzeugen zu tun, dem steht es aber nicht im 
Wege, daß wir den Versuch machen müssen uns ihm anzunähern. 
Das sind die Hauptverbindungsliniem, die von der Volkswirt- 
schaftslehre zu dem Buche Kuckhotfs »Höhere Schulbildung und 
Wirtschaftsleben« hinüberführen und die es gerade auch für den Na- 
tionalökonomen überaus interessant und lesenswert machen; hat es 
der Verfasser doch auch recht gut verstanden auf die große wirtschafts- 
politische Bedeutung der von ihm behandelten Fragen hinzuweisen. 
Die Schriit zerfällt in vier Abschnitte: I. die Berufswahl der 
studierten Erwerbstätigen, 2. die Erwerbsmöglichkeiten für akade- 
misch gebildete Erwerbstätige, 3. Bestand und Entwicklung der hö- 
heren Lehranstalten und Universitäten im Verhältnis zu den Erwerbs- 
möglichkeiten ihrer Absolventen, 4. Berufsberatung im Anschluß an die 
höheren Schulen. Die ersten Abschnitte schildern im wesentlichen 
auf Grund des heute vorliegenden statistischen Materials und eigener 
guter Beobachtungen unsere derzeitigen Zustände. Der Verfasser 
kommt zu dem nicht sehr erfreulichen aber unbestreitbar zutreffen- 
dem Ergebnisse, daß die Akademiker immer mehr auf der sozialen 
Stufenleiter herabsinken, daß sie immer mehr die Reihen der Ange- 
stelltenklasse füllen und daß sich in gewissen Industrien immer mehr 
ein akademisch gebildetes Beamtentum herausbildet. Es handelt 
Sich hier um Verschiebungen, die ziemlich allgemeiner Natur sind. 
»Bei dem vermehrten Angebot steigert sich die Qualifikation der Be- 
werber ständig. Wenn man von den rein manuellen Erwerbsformen 
absieht, so kann man sagen, daß heute immer mehr an Stelle des Volks- 
schülers der Mittelschüler, an dessen Stelle der Absolvent der Mittel- 
lassen der höheren Lehranstalten eintritt und daß sich in die Posten 
des Einjährigen der Abiturient eindrängt. Der Erscheinung also, 
die wir bei der Industrie bemerken, daß sie die Intelligenz in ihre Dien- 
ste zwingt, und zwar mit dem Bestreben, ihr aus Gründen der Wirt- 
schaftlichkeit nur die Angestelltenposten einzuräumen, kommt die 
Entwicklung unseres Schulwesens und der Universitäten entgegen. 
Sie bietet den wirtschaftlichen Unternehmungen hochwertige Arbeits- 
kräfte in großer Zahl an, die sich bezüglich der Arbeitsbedingungen 
gegenseitig immer weiter unterbieten.« l 
Es gehört mit zu den wichtigsten Fragen, ein Problem, das jedoch 
der Verfasser nicht berührt, ob und in welchem Maße dieser Zudrang 
ın die studierten Berufe, diese Berufsüberfüllung, lediglich oder doch 
in der Hauptsache, auf falschem Streben, schlechter Berufsberatung 
u. dgl. mehr beruhen oder vielmehr vielleicht ihren Hauptgrund in 
der gewaltigen Zunahme der deutschen Bevölkerung in den letzten 
ahrzehnten gehabt haben, darin, daß eben in gewissem Sinne wenig- 
stens eine partielle Uebervölkerung eingetreten ist. Es gibt doch man- 
cherlei Symptome, die dafür zu sprechen scheinen. Wie dem aber auch 


664 Literatur-Anzeiger. 


sei, die Aufgabe einer besseren Ausgestaltung der Berufsberatung, 
deren Erörterung der Verfasser sich im letzten Abschnitte zuwendet, 
bleibt bestehen. 

Im Anschluß an von anderen bereits gemachte Vorschläge, for- 
dert Kuckhoff die Einrichtung einer organisierten Berufsberatung; 
für sehr zweckmäßig würde ich es halten, nicht den Schülern allein 
diese zugänglich zu machen, sondern auch die Eltern daran auf das 
intensivste teilnehmen zu lassen; sie sind es doch, die vielleicht in 
der Mehrzahl der Fälle, den treibenden und entscheidenden Faktor 


bei der Berufswahl des Sohnes abgeben. Mit dem, was Kuckhoff als ' 


Ziel der Berufsberatung hinstellt, den jugendlichen Nachwuchs nach 
seiner Neigung und nach dem Grade seiner Fähigkeiten in das Berufs- 
leben einzuführen, kann man sich nur einverstanden erklären. »Den 
Bedürfnissen des Arbeitsmarktes entsprechend möglichst hochwertiges 
Material, aber nicht über den Bedarf hinaus zu schaffen, und zu dem 
Zwecke nach Möglichkeit auf jeder Stufe der höheren Bildung, 
sobald der Schüler das Maß seines Könnens erreicht hat, ihn an die 
richtige Stelle im Leben abzugeben und nur das hochwertigste Material 
nach oben kommen zu lassen.« 

Neben der Einführung einer organisierten Berufsberatung macht 
Kuckhoff noch weitere Vorschläge, die dem gleichen Ziele dienen sollen ; 
so tritt er für Abschaffung der sog. Vorschulen, für Hebung der Mittel- 
schulen ein, ebenso schlägt er vor den Schülern der Fachschulen die 
Erlangung des Einjährig-Freiwilligen-Zeugnisses zu erleichtern. Das 
wichtigste ist und bleibt aber für ihn mit Recht eine gründliche Be- 
rufsberatung, ein eigener Unterricht vor allen Schülern über Berufs- 
und Erwerbsverhältnisse bestimmter Berufe. So sehr man allen diesen 
Vorschlägen beipflichten kann, so frägt es sich doch, ob ihre Durch- 
führung allein genügt, um den heutigen Mißständen auch nur einiger- 
maßen abzuhelfen. Zunächst wird es, wie man es auch schon vorge- 
schlagen hat, erforderlich sein, die notwendigen sachlichen und 
statistischen Unterlagen für eine solche Berufsberatung zu schaffen, 
wie sie ja schließlich auch der Lehrer haben muß, wenn er sie mit Erfolg 
ausüben will. Das wird wohl am besten von Reichswegen von einer 
besonderen Stelle aus geschehen können. Es ließe sich auch erwägen 
im Zusammenhang mit dem so viel geforderten staatsbürgerlichen 
Unterricht, diese Fragen der Berufsberatung als eigenen Unterrichts- 
gegenstand aufzunehmen. In wie zahlreichen Fällen hat man es nicht 
als Hochschullehrer erfahren müssen, welch’ geringen Begriff nicht 
wenige Studenten von dem Berufe, den sie sich gewählt haben, zur 
Universität mitbringen. Es gehören hierher noch zahlreiche andere 
Punkte, auf die ich mir jedoch versagen muß im Rahmen einer Be- 
sprechung genauer einzugehen. Ich nenne nur unser ganzes Stipendien- 
und Examenswesen oder das Problem andere Berufe (z. B. Volksschul- 
lehrer) sozial und wirtschaftlich zu heben, um dahin den heutigen Zu- 
drang in die sog. studierten Berufe ablenken zu können. 

(P. Mombert.) 


28. Jugendfürsorge, Armenwesen und Wohlfahrtspflege. 


29. Kriminologie, Strafrecht. 


nn nn 





33. Gewerbe-, Vereins- und Privatrecht. 665 


30. Soziale Hygiene. 
31. Frauenfrage, Sexualethik. 
32. Staats- und Verwaltungsrecht. 


33. Gewerbe-, Vereins- und Privatrecht. 


Fränkel, Franz: Die Gesellschaft mitibeschränk- 
tery Haftung. Tübingen 1915. ]J.C.B.Mohr (Paul Siebeck). 
203 S. 

Das angezeigte Buch sieht bewußt von rechtlichen Erörterungen 
ab. Nur ganz nebenbei werden Rechtsfragen gestreift, die leider auch 
auf dem Gebiete der Gesellschaften mit beschränkter Haftung recht 
häufig Streitfragen sind. Der Verfasser wollte lediglich eine »volks- 
wirtschaftliche Studie« liefern. Er hat damit aber auch eine für den Juri- 
Sten außerordentlich wichtige Arbeit geleistet. Denn eine Reihe Auf- 
gaben vermag dieser nicht mehr mit den alten Mitteln zu lösen, die 
Ihm die überkommene dogmatisch-begriffliche Arbeitsmethode an 
die Hand gibt. Er muß die »Rechtswirklichkeit« kennen und verstehen 
lernen, umfassender als sie ihm im einzelnen Prozesse jeweils unter- 
breitet werden kann. Tiefere Kenntnisse des Wirtschaftslebens, der 
Zusammenhänge der einzelnen Teile desselben sollten deshalb zum 
festen geistigen Besitzstande auch der Juristen zählen 2). Schon aus 
diesem Gesichtspunkte heraus ist das vorliegende Werk auf das \Wärm- 
ste zu begrüßen. Es zeigt, wie das juristische Gebilde der beschränkten 
Hattungsmöglichkeit sich in der wirtschaftlichen Praxis bewährt hat, 
wie die einzelnen Gesetzesbestimmungen gewirkt und Einfluß auf 
die Förderung und Ausgestaltung des Wirtschaftslebens gewonnen 
haben. Auf Grund seiner mit großem Fleiß gewonnenen und sorgfäl- 
tig verarbeiteten Beobachtungen kommt der Verfasser auch zu einer 
Kritik des Gesetzes und zu Vorschlägen zu seiner Abänderung. So 
weist er nachdrücklich auf den Krebsschaden der Ueberwertung der 
Sacheinlagen hin. Eine große Zahl von Beispielen, die aus den Akten 
einiger Registergerichte entnommen sind, belegen die Gefahr, die für 
unsere Volkswirtschaft daraus erwachsen kann, daß Sacheinlagen 
nach dem Gesetze ohne Rücksicht auf ihren wahren Wert, ohne jede 
Prüfung und ohne Gründer-Verantwortlichkeit gemacht werden können. 
Dabei ist die Höhe der Sacheinlagen im allgemeinen eine beträchtliche. 
So beläuft sie sich z. B. bei den am 30. September 1909 tätig gewesenen 
Gesellschaften mit beschränkter Haftung auf 42,4 % des Gesamt- 
kapitals. Eingehend behandelt Fränkel die \..chtige Frage des Kredits 
und der Kreditfähigkeit der Gesellschaften mit beschränkter Haftung. 
In einem weiteren Abschnitt befaßt sich Fränkel mit der Reform der 
G.m.b.H. Wohl so ziemlich alle Neuerungsvorschläge, die das 
Juristisch-volkswirtschaftliche Schrifttum aufweist, werden darin 

esprochen; eigene Vorschläge schließen sich an: für die Zahl der Ge- 
sellschafter ist eine Höchst- und Mindestgrenze zu bestimmen (höchstens 


1) Vgl. hierzu: NußBbaum; Die Rechtstatsachenforschung 1914. 
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 2. 43 


666 Literatur-Anzeiger. 34. Politik. 


30, mindestens 2); die Ein-Manngesellschaft soll verboten werden; 
die Versendung von Prospekten und das sonstige öffentliche Anwerben 
von Gesellschaftern ist zu untersagen; Successiv-Gründungen und der 
Handel in Anteilen sollen unterbunden werden; die Genehmigung der 
Gesellschaft. soll auch für die Uebertragung des ganzen Geschäfts- 
anteils stets erforderlich sein; eine Garantie- und Gründerhaftung 
ist einzuführen. 

Es kann sich an dieser Stelle nicht darum handeln, die einzelnen 
Vorschläge Fränkels einer kritischen Wertung zu unterziehen. Dazu 
wäre eine recht umfangreiche eigene Abhandlung erforderlich. Aner- 
kannt sei aber, daß Fränkel, mag ersich nun auch über manche Schwie- 
rigkeiten verhältnismäßig leicht hinwegsetzen, unterstützt oder viel- 
leicht verleitet durch ein nicht gewöhnliches stilistisches Geschick, 
stets mit guten Gründen seine Ansicht zu belegen weiß. 

(Ludwig Wertheimer.) 


34. Politik. 


507 
die Gey 


le sozi; 
wer} 





667 


SOZIALPOLITISCHE CHRONIK". 


Die Gewerkschaftsbewegung 1915/6 in Oesterreich, 
die sozialpolitische Lage und das Verhalten der Ge- 
werkschaften zu den Problemen des Krieges. 


Die internationalen Gewerkschaften ?). 


p Bereits im Vorjahr wurde auf die schweren Erschütterungen 
hingewiesen, welche der Kriegszustand für die österreichischen Ge- 
werkschaften brachte. In dem jährlichen Bericht der »internatio- 
nalen Gewerkschaften Oesterreichs« (wie sie sich offiziell nennen) 
gibt die Tabelle über die Gesamtmitgliederziffern der Zentralverbände!) 
ein anschauliches Bild von den jähen Schwankungen, welche für die 
österreichische Gewerkschaftsbewegung, als eine junge soziale Be- 
wegung, charakteristisch sind. Sie spiegeln auf das deutlichste die 
Abhängigkeit von der ökonomischen und politischen Lage wider. Die 
Zentralverbände hatten: 


-ei 


Im Jahre Verbände Mitglieder zusammen 
männlich weiblich 
1892 Io 44 390 2 216 46 606 
1896 i7 95 22I 3 448 98 bb 
1904 45 176 006 13055 189 121 
1905 47 294 097 28 402 223 099 
1906 49 400 080 42 190 448 270 
1907 49 454 093 40 401I 501 094 
1909 ?) 52 375 520 39 730 415 250 
I9IO 54 357 958 42 007 400 505 
1912 54 377 947 50 410 428 303 
1913 54 372 210 42 979 415 195 
1914 53 210 421 30 2L0 240 681 
1915 52 I5I 424 25 089 177 113 


*) Abgeschlossen Mitte September 1916. Bei der Abfassung dieses Chronik- 
abschnitts stand leider, da sich der Verfasser in den Sommermonaten in Berlin 
befand, nicht das geuchnte umfangreiche Material zur Verfügung, sondern ledig- 
lich dasZen tralorgan der internationalen österreichischen Gewerkschaften,während 
die übrigen Gewerkschaftsblätter in Berlin nicht eingeschen werden konnten. 

1) Gewerkschaft, 25. VII. 1910. 

?) In diesem Jahre war in zahlreichen Gewerkschaften bereits die Spaltung 
in internationale und tschechische Verbände vollzogen. 

43 * 


668 Sozialpolitische Chronik. 


Deutlich tritt das rasche Anwachsen in den Zeiten guter Konjunk- 
tur hervor, namentlich 1906 und 07; da erreichten die österreichischen 
Gewerkschaften ihren Höhepunkt. Die Abspaltung zahlreicher tschechi- 
scher Mitglieder schwächte die Verbände moralisch, an Mitgliedern 
und materiell, und erst eine neue Konjunktur ließ sie allmählich an 
Boden gewinnen. Die Mobilisierungen gegen Serbien und die damit 
verbundene wirtschaftliche Krise brachte schon vor dem Kriege ein 
Zurückgehen der Mitgliederbestände. Der Krieg vollends hat die 
Mitgliederziffer auf ungefähr 14 der Höchstzahl von 1907 reduziert, 
und der Rückgang der weiblichen Mitglieder um die Hälfte zeigt, daß 
nicht nur die militärischen Einziehungen auf das Gefüge der Organi- 
sationen zerstörend gewirkt haben. — 

Auch wie sich der Mitgliederverlust während des Krieges verteilt, 
ist bezeichnend. Haben doch die Gewerkschaften im Jahre 1914: 
175 000; IgI5: 63 000 Mitglieder verloren. Das sind im Jahre 1914 
(gegenüber 1913): 42%; im Jahre IgI5 (gegenüber 1914): 26%. Die 
militärischen Einziehungen dürfen 1914 mindestens ebenso groß ge- 
wesen sein, als 1915; es muß also die Kriegskrise auf den Mitglieder- 
bestand, weit über den Kreis der Einberufenen hinaus, gewirkt haben. 

Die Mitgliederverluste verteilen sich sehr ungleichmäßig auf die 
einzelnen Gewerkschaften. Die Daten für die wichtigeren Verbände 
seien im Folgenden genannt: 


Ende 1913 °) Ende 1974 °) Ende 1915 


Bäcker 9 838 6 372 2518 
Bauarbeiter 27 187 I0 994 4 550 
Bergarbeiter 14 077 9 020 6 563 
Buchdrucker 16 252 10 897 7489 
Chemische Arbeit 14 506 . 6646 2 840 
Eisenbahner 58 196 41 892 38 013 
GicBereiarbeiter 7 025 3 496 I 896 
Glasarbeiter 5 083 3079 1614 
Handels- und Transportarbeiter 10 617 7393 7763 
Holzarbeiter | 20 352 8 400 5172 
Land- u. forstwirtschaftl. Arbeiter I 903 2 003 I 046 
Lederarbeiter 2 074 I 243 753 
Maschinisten und Heizer 4 794 2 485 2 084 
Metallarbeiter 61 405 31 844 25 606 
Porzellanarbeiter 5 226 3 989 2 697 
Sattler, Tapezierer und Riemer 1 887 2145 2 792 
Schuhmacher 4 888 2 908 1 809 
Textilarbeiteı 40 230 33 235 26 529 
Zimmerer O 806 3 353 1 283 


Einige Verbände sind also bis auf 1⁄4 ihres Friedensbestandes reduziert 
worden (so die Bäcker, Gießereiarbeiter, Lederarbeiter); bei einigen 





3) Gewerkschaft, 13. VII. 1915. 

4) Diese Ziffern stimmen nicht durchwegs mit den im Vorjahr mitgeteilten 
überein (Archiv Bd. 39, Heft 3, S. 927), da inzwischen in vielen Verbänden 
wesentliche Berichtigungen vorgenommen wurden. Die Ziffern für rsgıy und 15 
sind entnommen der Gewerkschaft, 25. VII. 1916. 


Die internationalen Gewerkschaften. 669 


Gewerkschaften ist sogar nur 1/s oder !/, ihres ursprünglichen Be- 
standes vorhanden; selbst große Gewerkschaften wurden in dieser 
Weise ausgehöhlt (so z. B. die Bauarbeiter, chemische Arbeiter, 
Holzarbeiter, Zimmerer). Es finden sich also unter diesen, auf ein 
Minimum reduzierten Organisationen auch solche, deren Mitglieder 
aus Kriegsindustrie mit gutem Beschäftigungsgrad stammen. Während 
die Kriegsindustrie die kapitalistischen Unternehmungen und deren 
Verbände (durch Konzentration und Riesengewinne) in der Machtent- 
faltung steigert, bedeutet die Kriegskonjunktur für die Gewerkschaf- 
ten höchstens eine Verlangsamung der Mitgliederabnahme (z. B. 
Metallarbeiter, Schuhmacher, Eisenbahner) °). 

Bei allen Gewerkschaften ist — auch in Oesterreich — die Ela- 
stizität der Finanzen größer als die der Mitgliederziffern. Es betrugen 
in sämtlichen Zentralverbänden: 


Einnahmen Ausgaben Einnahmen Ausgaben Mehr- Vermögen 
(in 1000Kr.) in 1000 Kr. per Kopf per Kopf Einnahmen in 1IoooKr. 
Kr. Kr. per Kopf 
| Kr. 

1904 3 392 3 004 4 410 
1907 8 120 7.147 16.52 14.04 1.58 8 443 
1908 9 329 8 354 19.79 17.71 2.08 9531 
I9II 9 I9I 8 542 21.78 20.24 1.54 13 154 
1912 9969 9171 23.28 21.41 1.87 15 064 
1913 10 036 10 058 24.17 24:22 0.05 14 735 
1914 8 274 9 922 34.30 41.22 6.80 13 734 
1915 4 979 4 995 258.11 28.20 0.09 14.355 


Die Abnahme des Vermögens war also nur im Jahre 1914 erheblich 
und wurde schon 1915 wieder zum größten Teil ausgeglichen. In den 
negativen Wirkungen, als Verminderung des Eriordernisses für Unter- 
stützungen (vgl. unten die Ziffern für den Arbeitsmarkt), machte 
sich also auch für die Arbeiterschaft und die Gewerkschaften die Kriegs- 
konjunktur bemerkbar. Sie zeigte sich nicht nur in einer Abnahme 
der Ausgaben, sondern auch in der vermehrten Leistungsfähigkeit 
der zurückgebliebenen Mitglieder. Die Verminderung der Mitglieder- 
ziffer auf der einen Seite, die der Ausgaben auf der andern steigert die 
auf den Kopf entfallende Vermögensquote. Betrug sie z. B. 1906 
(nach einer beispiellosen Vermehrung der Mitglieder) 15.75 K. auf 
den Kopf, und stieg sie bis 1913 auf 35.49 K., so beträgt sie 1gI5: 
81.06 K. Diese Gewerkschaften repräsentieren daher, rein finanziell 
betrachtet, noch eine erhebliche Kraft, und man kann sagen, daß 
die vorsichtige Finanzpolitik der Gewerkschaften, welche nie die ganze 
finanzielle Kraft in die Wagschale werfen wollte,. nunmehr einen 
Rückhalt darstellt, und zugleich in den Kassenbeständen ein Attrak- 





°) Auch aus speziellen Gründen ergeben sich Abnahmen der Mitglieder. 
So wird berichtet, daß 4000 Wiener Metallarbeiter, welche crganisiert gewesen 
seien, in den Betrieb der Skcdawerke übergetreten seien, in welchem die Organi- 
setion gewalttätig niedeigehalten werae. (Gewerkschaft, r. II. 1916.) 


670 i Sozialpolitische Chronik. 


tionszentrum geschaffen hat, zu welchem die Mitglieder nach dem 
Kriege zurückkehren dürften. 

Trotz dieser günstigen Finanzlage ist eine entsprechende Wirk- 
samkeit der Gewerkschaften naturgewäß daran geknüpft, daß die 
große Mehrzahl der ehemaligen Mitglieder nach dem Kriege wieder 
in die Organisationen zurückkehrt. Sollte diese Erwartung nicht zu- 
treffen, dann könnte allerdings auch die Erhaltung des Vermögens 
den Einfluß, welchen die Gewerkschaften immerhin vor dem Krieg 
besaßen, nicht aufwiegen. — 

Die genannten Ziffern umfassen nun nicht die ganze finanzielle 
Kraft der Gewerkschaften. Denn es bestehen ja in den einzelnen 
Gewerkschaften sogenannte »freie Organisationen«, welche für spezielle 
Zwecke der Arbeitskämpfe, namentlich für Streikunterstützung, Gelder 
sammeln. Ueber diesen »Solidaritätsfonds« wird, wie bekannt, nicht 
berichtet, um den Unternehmerverbänden keinen Einblick in diese 
für die Lohnkämpfe zur Verfügung stehenden Mittel zu gewähren. 
Naturgemäß haben aber wohl gerade die Beiträge für diesen Fonds wäh- 
rend des Krieges wahrscheinlich eine sehr erhebliche Verminderung er: 
fahren, während die Geldbestände ziemlich gleich geblieben sein dürften. 

Die Finanzpolitik der Gewerkschaften muß bisher als eine außer- 
ordentlich vorsichtige bezeichnet werden. Das zeigen bereits deutlich 
die allgemeinen Ausgabenziffern per Kopf. Zergliedert man 
die Ausgabenziffern ım einzelnen, so findet man, daß, vom Jahre 1914 
abgesehen, das Erfordernis für Unterstützungen seit 1909 kaum gewach- 
sen ist, während die Ausgaben überhaupt um nahezu die Hälfte, 
jedenfalls */, anstiegen. Während Igog die Unterstützungen ca. ' der 
Gesamtausgaben absorbierten, so im Jahre IgI5 nur ca. 1%. Das 
hängt natürlich auch mit der Lage des Arbeitsmarktes zusammen. 
Zum Teil kann man auch annehmen, daß die ökonomisch schwächeren 
Schichten, welche eventuell von Arbeitslosigkeit, Krankheit usw. 
betroffen wurden, aus den Gewerkschaften ausgetreten sind und daB 
dadurch die Unterstützungsausgaben geringer werden. Man muß um 
viele Jahre zurückgehen, um so geringe Ausgaben für die einzelnen 
Unterstützungszweige zu finden, als im Jahre 1915; so betrugen z. B. 
die Ausgaben für Arbeitslosenunterstützung IgI5: 504 000 M. gegen- 
über 3 000 000 im Jahre 1914; sie waren noch geringer als die Aus- 
gaben im Jahre Igo4 (damals: 583 000 M.), in welchem die Gewerk- 
schaften 189 000 Mitglieder zählten (gegenüber 177 000 im Jahre 
1915). Aehnliches gilt von der Kranken- und Invalidenversicherung, 
und ebenso den übrigen Unterstützungsarten. Man sieht aus derlei 
Vergleichen deutlich, wie sehr der Krieg den ganzen Mitgliederstock 
der Gewerkschaften zerstört hat, und daß nur mehr ein Ansatzpunkt 
zu neuer Organisation, nicht aber diese ungebrochen weiterbesteht. 
Da die Organisationen der Unternehmer ungestört existieren, so ist 
es ganz fraglos, daß sich die Macht der Gewerkschaften nicht nur 
absolut, sondern noch mehr relativ selbst in ihrer finanziellen Kraft sehr 
erheblich vermindert hat. Trotz der gesteigerten moralischen Bedeu- 
tung, welche die Gewerkschaften vielleicht auch in Oesterreich als 


pi 
Kir 


AR, 


“sr 


Die internationalen Gewerkschaften. 671 


Träger des Organisationsprinzips besitzen mögen, muß man annehmen, 
daß ihre möglichen undrealen Kräfte sich gegenüber der Friedens- 
zeit vermindert haben. Das zeigt sich besonders deutlich, wenn man 
die Ziffern der einzelnen Gewerkschaften ansieht, die für viele, 
ehemals große, mächtige Verbände eine derartige Verminderung der 
Mitgliederzahl anzeigen, daß man gar nicht annehmen kann, diese 
verminderte Mitgliederzahl könne das Material eines weitverzweigten, 
leistungsfähigen Organisationsgebäudes abgeben, selbst wenn hiefür 
noch die materiellen Grundlagen vorhanden sein mögen. Tatsächlich 
ist ja wohl dieser Rückgang der Mitgliederziffern einer der stärksten 
Antriebe zu einer neuen Aufrollung der Organisationsprobleme. — 
Die Art, wie sich die einzelnen Unterstützungsausgaben verteilen, 
zeigt deutlich, daß die momentane Finanzlage der Gewerkschaften 
noch recht günstig zu beurteilen ist. Es stellt sich das Budget der 
Gewerkschaften in seinen einzelnen Zweigen wie folgt: 


1904 1906 1909 I910 IgII 1912 IgI3 IQI4 1915 
Jahresausgaben für Vereins- 


zwecke überhaupt 15.85 12,03 19.83 20.03 20.24 21.4I 24.22 42.22 28.20 
Davon für: 
Reiseunterstützung 0.50 0.28 0.50 0.48 0.49 0.52 0.57 0.59 0.07 
Arbeitslosenunterstützung 3.08 1.98 3.03 3.34 3-16 3.28 5.31 12.56 2.85 
Krankenunterstützung 2.29 1.25 2.34 2.22 2.37 2.30 2.41 2.88 1.60 
Invalidenunterstützung 0.73 0.39 0.61 0.053 0.72 0.77 0.89 1.53 2.10 
Beihilfe in Sterbefällen 0.47 0.20 0.47 0.56 0.58 0.60 0.63 1.06 1.67 
Notfallunterstützung C.39 0.69 1.34 I.2I 1.26 I.22 1.31 2.22 1.88 
Rechtsschutzkosten 0.22 0.21 0.4I 0.37 0.36 0.40 0.46 0.51 0.49 
Für Unterstützungen zu- 

sammen: 7.68 5.06 9.30 8.82 8.94 9.09 11.58 21.34 10.66 


Hierbei ist der Aufbau der Unterstützungsausgaben im Jahre 1915 
bemerkenswert; die Arbeitslosenunterstützung, welche im Jahre 1914 
das Vierfache der normalen betragen hatte, sank unter den Durch- 
Schnittssatz der letzten Jahre und man muß auf Jahre besonders 
guter Konjunktur (IgI6) zurückgehen, bevor man einen annähernd 
so niedrigen Unterstützungssatz per Kopf findet. Dasselbe gilt von 
der naturgemäß sehr eingeschränkten Reiseunterstützung. Die üb- 
Tigen Unterstützungszweige hingegen zeigen eher eine steigende 
Tendenz, so daß die Gesamtausgabe die der letzten Friedensjahre 
(wenn wir von 1913 absehen) übersteigt. Da nun nach dem Kriege 
wahrscheinlich wieder mit einer erheblichen Arbeitslosenunterstützung 
gerechnet werden muß (denn selbst bei guter Konjunktur ergibt 
Sich ein gewisser »Normalsatz« von Arbeitslosigkeit, und gerade die 
Arbeitslosenunterstützung ist ja die Hauptattraktion der Gewerk- 
schaften, kann also weiter gepflegt und ausgewertet werden), so 
istızu erwarten, daß die Gesamtausgaben nach dem Kriege eher 
größer sein werden als vor demselben. Auch muß man die 
Notwendigkeit gesteigerter Unterstützungssätze (angesichts des sin- 
kenden Geldwerts) in Betracht ziehen, denen vielleicht nicht in dem 
Es eine Steigerung der Mitgliederbeiträge wird gegenübertreten 
Önnen. — 


672 Sozialpolitische Chronik. 


Diese schon jetzt erkennbaren Tendenzen einer Verminderung im 
Budget und Vermögen für die Zeit nach dem Kriege stellen sich in 
den einzelnen Verbänden natürlich verschieden, was hier im einzelnen 
nicht weiter verfolgt werden soll. Nur soviel sei noch bemerkt, daß 
alle diese Angaben über die Finanzen der Gewerkschaften noch die 
Voraussetzung eines unveränderten Geldwerts machen, wenn sie über- 
haupt einen Sinn haben sollen. Diese Voraussetzung aber trifft immer 
weniger zu, so daß selbst trotz steigender Vermögensbeträge die finan- 
zielle Kraft nicht zu-, sondern nurabnehmen kann. Das drückt sich dann 
praktisch darin aus, daß infolge des sinkenden Geldwerts Arbeits- 
losen- und namentlich Streikunterstützungen erheblich 
höher als vor dem Kriege werden bemessen werden müssen, so daß 
die Widerstandskraft der Gewerkschaften trotz steigender Mittel 
abnehmen kann. Diese Verschiebung des Geldwerts wird sich ja bei 
allen Organisationen unselbständig Berufstätiger nach dem Kriege 
geltend machen. — 

Ein sehr bewerkenswertes Symptom für die Abnahme der gewerk- 
schaftlichen Attraktionskraft ist die geringe Werbekraft der Gewerk- 
schaften unter den weiblichen Arbeitern. Geht doch aus den oben 
genannten Ziffern hervor, daß die Zahl der weiblichen Mitglieder 
von ihrem Höhepunkt von 50000 auf die Hälfte zurückgegangen 
ist. Hat sich die Zahl der männlichen Mitglieder in der gleichen Zeit, 
und wenn man als Vergleichsjahr 1907 wählt, noch mehr vermindert, 
nämlich auf 14, so sind eben doch die Einberufungen und die steigende 
Beschäftigung von Frauen in Rechnung zu ziehen, so daß die Organi- 
sationsintensität der weiblichen Mitglieder wahrscheinlich rascher 
noch als die der männlichen gesunken sein dürfte, Das gewerkschaft- 
liche Organ ist zwar der Meinung ®), daß die Relation zwischen Männern 
und Frauen in der Industrie sich nicht geändert habe und daß infolge- 
dessen der Prozentsatz der organisierten Arbeiterinnen auch nicht 
abgenommen habe, aber das ist offenbar für das Jahr ıgı5 unrich- 
tig, und auch für dieses zeigt sich (diese Ziffern liegen allerdings 
der Zusammenstellung der Gewerkschaften vom ıı. I. 16 noch nicht 
zugrunde), daß der Prozentsatz der weiblichen Mitglieder in den 
Gewerkschaften nicht wesentlich zugenommen hat. Er betrug: 


Ocsterreich Deutschland 
1907 9,2% 7,3% 
1910 10,6% 8,0% 
1913 10,3% 8,8% 
1914 12,0% 9,9% 
1915 14% a 


In Oesterreich ist also der Anteil der Frauen etwas größer als in Deutsch- 
land. Das mag aber z. T. wohl mit auf die raschere Heranziehung 
starker Reserven zur Armee zurückzuführen sein. — Jedenfalls ist 
auch in Oesterreich die Zahl der organisierten Frauen ganz außerordent- 





— aa 


®) Die Gewerkschaft, ıı. I. 1916. 


Die internationalen Gewerkschaften. 673 


lich zurückgegangen, und das eröffnet für die Organisation keinen 
günstigen Aspekt. 

Die Lage desArbeitsmarktes hat sich wie in allen 
kriegführenden Staaten gestaltet. Nach der Krise zu Kriegsbeginn, 
einer allmählihen Besserung in Herbst und Winter 1914 nahm die 
Zahl der offenen Stellen so sehr zu, daß die Lage für die Stellensuchen- 
den weit günstiger wurde, als in Zeiten höchster Konjunktur. Nach 
den Berichten der Arbeitsnachweise an das KK. Statistische Amt er- 
geben sich folgende Veränderungen: 


Es entfielen auf je 100 Arbeitsuchende Angebote 7) 


1913 1914 1915 
Januar 57,6 43,0 61,6 
Februar 54,4 42,8 67,4 
März 62,5 52,7 79,6 
April 70,2 57,7 86,5 
Mai 72,0 58,4 95,5 
Juni 07,4 54,0 98,4 
Juli 61,2 53,0 93,7 
August 61,6 39.5 94,8 
September 64,5 57,0 
Oktober 59,3 70,1 
November 43,8 72,8 
Dezember 39,6 57,8 


Späterhin hat sich dann die Situation noch weiter zugunsten der 
Arbeitsuchenden verschoben. Allerdings war die Lage des Arbeits- 
marktes für die Arbeiterschaft nie so günstig, als in Deutschland. 
Das sieht man auch aus der Gestaltung der Arbeitslosigkeit in den 
Gewerkschaften. 

Nach den Angaben der Gewerkschaften, welche für die Soziale 
Rundschau berichten, stieg die Arbeitslosigkeit während des Jahres 
IgI5, namentlich im Winter, und da wieder besonders für alle weiblichen 
Arbeiter, an. Von den Verbänden, welche an das arbeitsstatistische 
Amt berichteten, waren auf je 100 Mitglieder arbeitslos ®): 





1915 männlich weiblich überhaupt 
Januar 6,7 16,1 8,5 
Februar 5,7 11,9 6,9 
März 5,4 9,2 0,2 
April 3,6 9,2 4,8 
Mai 3,4 7,4 4,2 
Juni 3,0 6,3 3,7 
Juli 2,8 6,5 3,6 

August 2,4 4,9 2,9 
September 2,1 44 2,6 
Oktober 2,2 4, 6 2,7 
November 2,5 4,10 2,4 
Dezember 2,0 5,5 2,7 

3,0 7»7 +4 


‘) Die Gewerkschaft, 18. I. 1916. 
°) Reichsarbeitsblat!, August 1916, abgedruckt aus der Sozialen Rund- 


schav, Mai/Juni 1916. 





674 Sozialpolitische Chronik. 


Daraus geht hervor, daß die anfängliche Kriegskrise im Winter 1915 
noch nicht überwunden war, und daß die letzten Monate des Jahres 
1915 wieder eine kleine Verschlechterung brachten. Auch im Durch- 
schnitt sind die Arbeitslosenziffern höher als in Deutschland. 

Für das Jahr 1916 betrugen dann die Ziffern: 


männliche Arbeiter weibliche Arbeiter 


Februar 2,9 8,6 
März 2,8 11,5 
April 3,3 12,0 


Die sozialpolitische Lage. 


Die sozialpolitische Lage hat sich, wenn gleich nicht in bedeuten- 
dem Maße, geändert. Am ı. I. 1915 trat die Unfallversicherung für 
Bergarbeiter in Wirksamkeit. Die Wahlen für den Vorstand fanden 
bereits Mitte April statt, und die meisten Mandate konnten vom Berg- 
arbeiterverband (internationale Gewerkschaft) besetzt werden ?). 

Während des Krieges trat eine gewisse Einschränkung in der 
Gültigkeit der sozialpolitischen Schutzbestimmungen ein; so wurden 
die Schutzbestimmungen für die Arbeit von jugendlichen Personen 
und Frauen, allerdings nur für Ausnahmsfälle, außer Kraft gesetzt. 
Und zwar kann, im Fall die Arbeit dieser Kategorien für Heeereslie- 
ferungen oder dringend notwendige Approvisionierung benötigt wird, 
auch Nachtarbeit gestattet werden 1°). 

Eine wesentliche Veränderung und z. T. Verbesserung des Ar- 
beitsvertragsrechts brachte die kaiserliche Verordnung vom 19. Ill. 
1916, die Novelle zum BGB. (RGBl. Nr. 69), durch welche die sehr 
dürftigen Bestimmungen des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches 
über den Arbeitsvertrag ergänzt werden sollten. Da die parlamenta- 
rische Gesetzgebung Oesterreichs seit Beginn des Krieges ruht, 
wurden diese Bestimmungen, welche im Wesen den Beschlüssen des 
Herrenhauses entsprachen, durch kaiserliche Verordnung in Kraft 
gesetzt. Infolgedessen ist damit nicht definitives Recht geschaffen, 
aber meist macht das Abgeordnetenhaus von seinem Recht, diesen 
kaiserlichen Verordnungen späterhin, bei Wiederzusammentreten die 
Zustimmung zu versagen, keinen Gebrauch. 

Am wichtigsten ist aus dieser Novelle die Neugestaltung des 
Lohnvertrages 4). Hier wurde zunächst die Begriffsbildung des Ge- 
setzes verbessert. Es wird nicht mehr Lohnvertrag, Verlagsvertrag und 
Gesindevertrag unterschieden, sondern: Lohnvertrag und 
Werkvertrag. Der Lohnvertrag ist derjenige zwischen Arbeiter 
und Unternehmer, der Werkvertrag der Vertrag zwischen Unter- 
nehmer und Kunden. — Dadurch sind also alle Formen der Bezie- 
hung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer einheitlich geregelt. 


°’) Die Gewerkschaft, 25. 1. 1916. 
10) Die Gewerkschaft, 22. I. 1916. 
u) Die Gewerkschaft, 4. und ıı. IV. 1916. 


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kaer. =` 
10 -1 


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Die sozialpolitische Lage. 675 


In die Bestimmungen über den Lohnvertrag nun sind einige Verbes- 
serungen zugunsten der Arbeiterschaft neu aufgenommen ??): 

Bisher stand dem Arbeiter, welcher krank wurde, aus dem 
bürgerlichen Gesetzbuch keinerlei Lohnanspruch zu. Nunmehr er- 
hält er bei zufälliger Verhinderung, wenn er 14 Tage im Betriebe tätig 
war: den Lohn für 8 Tage; auf diese Vergütung kann das Kranken- 
geld teilweise in Abrechnung kommen. Wenn hingegen der Unter- 
nehmer die Arbeit nicht weiter fortsetzen läßt, so soll sich der Ar- 
beiter anrechnen lassen, was er erworben hat oder zu erwerben ab- 
sichtlich versäumt hat. 

Neu sind auch die Bestimmungen über die Lösung des Dienst- 
verhältnisses. Ein Dienstverhältnis, welches auf Probe abgeschlossen 
ist, kann jederzeit gelöst werden. Ein für längere Zeit oder mehr 
als 5 Jahre abgeschlossenes Dienstverhältnis kann nach Ablauf 
von 5 Jahren auf 6 Monate gekündigt werden. Ein ohne Zielbestim- 
mung eingegangenes Dienstverhältnis kann jederzeit gekündigt werden, 
und zwar: bei Diensten niederer Art und Lohnzahlung nach Stunden, 
Tagen, Stück- oder Einzelleistungen: jederzeit für den folgenden Tag. 
Wenn es jedoch schon 3 Monate gedauert hat, oder wenn Wochenlohn 
gezahlt wird, so kann auf das Ende der Kalenderwoche, spätestens 
am An’ang der Woche gekündigt werden; bei Diensten höherer Art: 
auf 4 Wochen, sonst auf 14 Tage. Eine vorzeitige Auflösung des 
Dienstverhältnisses kann jederzeit aus »wichtigen Gründen« erfolgen, 
welche jedoch im Gesetz nicht taxativ aufgezählt werden. Diese 
Bestimmungen gelten nicht, soweit Spezialgesetze vorhanden sind. 
Da wird erst die Rechtsprechung den Rahmen abstecken, innerhalb 
dessen das neue Gesetz praktische Wirksamkeit erhält. 

Eine Weiterbildung der Gewerbeordnung ist nach mancher Hin- 
Sicht gegeben, so wenn kein Lohn vereinbart ist, oder über Art und 
Umfang der Dienste nichts vereinbart wurde. Auch wurden Bestim- 
mungen über Akkor verträge, Prämiensysteme und ähnliche Ver- 
hältnisse, und zwar über die Lohnzahlungsfristen hierbei neu geschaf- 
fen. Die Zahlung ist am Schluß der Kalenderwoche jeweils fällig, 
angemessene Vorschüsse können verlangt werden. — Auch die Be- 
Stimmungen über Probezeit bedeuten eine gewisse Verbesserung. 
Ebenso ist neu, daß die Arbeiter (wie bisher nur die Angestellten) für 
das Aufsuchen einer neuen Stellung Zeit beanspruchen dürfen. 

Die Novelle ist im ganzen ein wichtiger sozialpolitischer Fort- 
Schritt; doch wird es auch hier Sache der Organisationen sein, diesen 
Fortschritt lebendig zu machen und zu erhalten, da die meisten Be- 
Stimmungen nicht zwingenden Rechts sind. 

Die wichtigste sozialpolitische Frage ist auch in Oesterreich die 
Versorgung der Kriegsbeschädigten. Von Maßnahmen, welche bis- 
her im Interesse der Kriegsbeschädigten getroffen wurden, seien 
erwähnt die Errichtung eines Zentral-Arbeitsvermitt- 
lungsamtes für Kriegsinvalide, in dessen Kuratorium auch die Ge- 

12) Sie gelten ohne weiteres für alle iejenigen Arbeiterzweige, für welche 
Bestimmungen spezieller Gesetze nicht in Anwendung kommen. 





676 Sozialpolitische Chronik. 


werkschaftskommission vertreten ist. Darüber hinaus scheinen Maß- 
nahmen bisher nicht getroffen zu sein, namentlich ist der Umfang, 
in welchem Kriegsbeschädigte eingestellt werden sollen, noch nicht 
zum Gegenstand besonderer Aktionen gemacht worden '?). Um so 
weniger sind bereits irgendwelche Vorsorgen dafür getroffen, daß die 
nichtinvaliden, aber arbeitslos zurückkehrenden Arbeiter für die 
Uebergangszeit eine Versorgung finden können. Sollte nach dem 
Kriege eine große Arbeitslosigkeit gegeben sein (was im Wesen von 
der Organisation der Produktion abhängen wird), so wird sich eine 
umfassende Fürsorge nicht vermeiden lassen. Das zeigt sich schon 
jetzt bei der Arbeitslosigkeit der Textilarbeiter. Ist doch die Textil- 
industrie, da sie im Wesen weibliche Arbeiter beschäftigt und ihren 
Umfang infolge Rohstoffmangel einschränken muß, eine der wenigen 
großen Industrien (neben Baugewerbe), welche mit außerordentlicher 
Arbeitslosigkeit zu rechnen haben, und auch aus eignem Interesse 
eine gewisse Vorsorge zu treffen trachten müssen, wenn sie sich den 
Arbeiterstock bis in die Zeit nach dem Kriege sichern wollen. 

So wurde zunächst in der Baumwollzentrale ein Fonds gebildet, 
den die Unternehmer, die Arbeiterorganisationen und der Staat, sub- 
ventionieren sollen. Die Verwaltung wird von einem Komitee aus- 
geübt, das aus 9—ıo Unternehmern, 5 Vertretern der Arbeiterschaft 
und außerdem je einem Verrteter der beteiligten Ministerien des Innern 
für Finanzen und Handel, bestehen soll. Dieser Fonds ist allerdings 
nur als einergänzender gedacht; in erster Linie sollen die 
industriellen Unternehmungen ihre Arbeitslosen unterstützen 1$). — 
Die Mittel dieses Fonds sind ziemlich erheblich: so betrug die staat- 
liche Subvention für die ersten drei Monate: 4 Millionen K. Bei der 
großen Anzahl der Unterstützungsbedürftigen allerc.ings besagen auch 
diese hohen Ziffern noch nichts. — 

Die Beteiligung der einzelnen Industriegruppen mit Beiträgen 
ist verschieden je nach der Arbeitslosigkeit, welcher sie ausgesetzt 
sind, und je nach ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit. So tragen die 
Spinnereien ?/s, die Webereien % zur Unterstützung, welche vom 
Fonds gegeben wird, bei. Dort, wo sich ein Industrieller an den Unter- 
stützungen nicht beteiligen kann, wird ein besonderer Beschluß des 
Komitees herbeigeführt 1°). In andern Industriezweigen wurden bis- 
her, soweit zu sehen, analoge Einrichtungen getroffen. Nach dem 
Kriege dürfte sich allerdings mehrfach die Notwendigkeit für derlei 
Einrichtungen ergeben. 

Wie so manchmal in Oesterreich finden wir Anläufe zu großen 
Aktionen, deren Realisierung allerdings dahinsteht. Der Krieg hat 
die große Bedeutung der sozialpolitischen Einrichtungen als Ansatz 
auch zur Kriegsorganisation gezeigt, und so taucht jetzt der Plan auf, 
in Wien (und wohl auch ähnlich in den größeren Städten) ein städti- 

18) Die Gewerkschaft, 18. I. 1916. 

14) Die Gewerkschaft, 25. I. 1916. 

15) Die Gewerkschaft, 7. III. 1916. 


el 


ger 
gen 





Die soziale Lage. 677 


sches Arbeiterfürsorgeamt zu errichten, welches alle Fra- 
gen der Arbeiterfürsorge, der Arbeitslosenversicherung, die Fragen 
der Beschränkung des Zuzugs Arbeitsloser, der Arbeiterversicherung, 
der Berufsberatung usw. zu bearbeiten hätte 1%). Allerdings müßte 
die Wirksamkeit eines solchen Amtes, da vorläufig die sozialpolitische 
Gesetzgebung als Grundlage hierfür noch garnicht vorhanden ist, 
zunächst mehr eine propagandistische und freie Fürsorgetätigkeit sein. 
Fehlt es doch in Oesterreich selbst noch immer an einem genügend 
dichten Netz von Arbeitsnachweisen. Während zu Ende 1912 in 
Deutschland 2200, Ende 1915: 2800 gemeinnützige Arbeitsnachweise 
bestanden, gab es derlei Einrichtungen in Oesterreich im Jahre 1914 
nur 290, und zwar sind hierbei alle gemeinnützigen Arbeitsnachweis- 
einrichtungen aufgezählt, gleichgültig ob sie von Ländern, Bezirken, 
Arbeitern, Unternehmern, Vereinen, Gewerbegenossenschaften usw. 
ins Leben gerufen und unterhalten werden 17). Es hat dann zu Kriegs- 
beginn das Ackerbauministerium durch die Bezirkshauptleute ge- 
meinnützige Nachweise einrichten lassen, und namentlich die Ver- 
sorgung der Landwirte mit Kriegsgefangenen durch diese Stellen 
bewirkt. So wurden 7 Amtsstellen zur Vermittlung von Kriegsinva- 
liden eingerichtet. Es wird sich aber erst zeigen, ob der notwendige, 
weitere Ausbau auch wirklich erfolgt. Nur auf diesem Wege und durch 
eine innige Zusammenarbeit der Nachweise würde es möglich sein, 
die Desorganisation, welche auch nach dem Kriege sich wieder fühl- 
bar machen dürfte, mit Aussicht auf Erfolg zu bekämpfen. 


Die »militärische Sozialpolitik« wurde schon im Vorjahr als 
ein bedeutsamer Faktor für die Entwicklung der Arbeitsverhält- 
nisse während des Krieges erwähnt. Sie ist deshalb in Oesterreich 
beinahe noch wichtiger als in Deutschland, weil die große Aus- 
dehnung des Kriegsleistungsbegriffs die Macht des Unternehmers 
über die Arbeiter außerordentlich erhöht hat, das privatwirtschaft- 
liche Arbeitsverhältnis zugleich zu einem militärischen Dienstver- 
hältnis macht. Daher geht das Bestreben der Gewerkschaften immer 
wieder darauf hin, die Arbeiter als solche, in ihrer Beziehung zum 
Unternehmer, dem militärischen Apparat zu entziehen und ihnen ihre 
Vertragsfreiheit und die üblichen Arbeitsbedingungen zu sichern. 
Diesem Bestreben suchten auch die militärischen Behörden entgegen- 
zukommen. Sie scheinen allerdings darin nicht ganz erfolgreich ge- 
wesen zu sein, da eine Wiederholung der entsprechenden Vorschriften, 
eine Erneuerung und Verschärfung der Schutzes der militärischen 
Arbeiter sich als notwendig erweist. So wurden gleich nach Kriegs- 
beginn die Unternehmer der militarisierten Betriebe verpflichtet, 
»ohne Einverständnis der Arbeitnehmer weder die bestehenden Lohn-, 
Dienst- und Arbeitsbedingnisse abzuändern, noch Mehrleistungen ohne 
angemessene Vergütung zu fordern«, Trotzdem wurden Beschwerden 





16) Die Gewerkschaft, rr. VII. 1916. 
17) Oesterreichischer Volkswirt, 6. V. 1916. 


678 Sozialpolitische Chronik. 


auf Kürzung der Löhne laut, ja, es wurde sogar an Arbeiter, welche 
im Militärdienst standen, nur die Soldatenlöhnung bezahlt 18). 

Infolge von gehäuften Beschwerden über die Arbeiter in mili- 
tarisierten Betrieben hat das Reichskriegsministerium neuerdings 
Bestimmungen zum Schutz der Arbeiterschaft getroffen. Darnach 
sollen die für die privaten Kriegsindustrien, welche auf Grund des 
Kriegsleistungsgesetzes herangezogen werden, notwendigen wehr- 
pflichtigen Arbeiter prinzipiell von der aktiven Dienstleistung (zeitlich 
oder dauernd) enthoben werden. Daher sind sie dann ebenso zu ent- 
lohnen, wie die nicht wehrpflichtigen Zivilarbeiter. Dieselben Grund- 
sätze gelten auch für diejenigen Arbeiter, welche auf Grund des Kriegs- 
leistungsgesetzes in Anspruch genommen und den Betrieben über- 
wiesen werden. Eine Kommandierung von aktiven Militär- 
personen soll nur ganz ausnahmsweise erfolgen ; aber auch diese haben 
die üblichen Löhne zu beziehen. Trotz dieser für die Arbeiter sehr 
günstigen Vorschriften steht naturgemäß die der Wehrpflicht unter- 
liegende Arbeiterschaft in einem gewissen Umfang unter einem Ge- 
waltverhältnis, zumal die Betriebe ja dem militärischen Kommando 
eines Offiziers unterstehen, dessen Hauptbestreben auf die Erzie- 
lung einer Produktionshöchstleistung gerichtet ist. Deshalb ist die 
Durchsetzung all dieser Vorschriften, auch der Schutz des Versamm- 
lungsrechts, und der Schutz der Freizügigkeit in der Praxis nicht 
völlig gewährleistet 19%). Immerhin ist anzunehmen, daß in berück- 
sichtigenswerten Einzelfällen Interventionen der Gewerkschaften 
bei den Militärbehörden Aussicht auf Erfolg haben 2%). Aehnlich 
liegen die Verhältnisse für die Arbeiter der Staatsbetriebe, besonders 
der Eisenbahnen. In den ersten Kriegsmonaten erschien eine ($ 14) 
Verordnung mit strengen Ausnahmsbestimmungen gegen die Eisen- 
bahner, denen sie zunächst auf Kriegsdauer unterworfen bleiben. Eine 
Veränderung dieser, zunächst für Kriegsdauer geltenden Rechtslage 
konnte nicht in Frage kommen, und so beschränkt sich die Tätigkeit 
des Eisenbahnerverbands auf Interventionen. Deren fanden vom 
August IgI4—Oktober IgI5: 824 statt, von welchen 35% vollen 
Erfolg hatten, 19% teilweisen, 10% gar keinen, der Rest ist unerledigt. 
Die Interventionen betrafen hauptsächlich Differenzen der Lohnbe- 
rechnung, Urlaubs-, Arbeitszeitfragen. 

So sehr die Militärbehörde und auch die staatliche Verwaltung 
dafür sorgen mag, daß sich die Rechtslage der Arbeiter nicht ver- 


18) Die Gewerkschaft, ı. VIII. 1916. 

19) Die Gewerkschafl, 1. VIII. 1916. 

26) Gelegentlich aber gibt es in den Beziehungen zwischen Gewerkschaften 
und Behörden auch starke Rückschläge. So wurde einmal der Metallarbeiter- 
verband sverwarnts und mit Auflösung bedroht. Nur infelge eines Einschrei- 
tens des Vorstands beim Minister des Innern wurde die »Verwarnung« zurück- 
genommen (Die Gewerkschaft, 27. VI. 1916). Solche Vorkommnisse zeigen, 
daß man es gegenwärtig nicht auf einen Konflikt ankommen lassen will, daß 
aber solche immerhin möglich sind, und daß dann — zumal im Kriege — die 
Gewerkschaften natürlich sehr leicht zertrümmert werden könnten. 


Die Gestaltung der Arbeits- und Lohnverhältnisse während des Krieges, 679 


schlechtere, so ist doch das Hauptinteresse selbstverständlich auf die 
Produktionsleistung gerichtet. Infolgedessen können die Interessen 
der Arbeiter gleichsam nur nebenbei, wenn es mit den Anforderungen 
irgendwie vereinbar ist, berücksichtigt werden. 


Die Gestaltung der Arbeits- und Lohnverhältnisse während 
des Krieges. 


Aehnlich wie in Deutschland, und z. T. noch früher als dort haben 
die Arbeiter, entsprechend den steigenden Preisen, einen Ausgleich in 
höherem Lohn zu erreichen versucht. Indenstaatlichen Bahn- 
betrieben konnte eine gewisse Beihilfe durch Dotierung der Le- 
bensmittelmagazine gewährt werden, deren Waren direkt für die 
Eisenbahnangestellten und -Arbeiter zur Verfügung gestellt wurden 21). 
Direkte Geldaushilfen an das Personal wurden im April 1915 gewährt; 
sie waren als einmalige gedacht und betrugen 10—60 K. Als sich 
der Krieg mehr in die Länge zog, wurde endlich im Dezember 1915 die 
Regelung getroffen, daß für jedes Kind eine Zulage von 10 h. täglich 
gewährt wurde, bis zum Höchstbetrag von 70 h. täglich. Daneben 
sollten die früher zugestandenen Lohnerhöhungen weiter für Kriegs- 
dauer bestehen bleiben. — Mit der langen Kriegsdauer erhielten auch die 
Bediensteten und Beamten Aushilfen in größeren Beträgen. Ebenso 
die Angehörigen der eingerückten und militärischen Bediensteten. 

In manchen Fälle wurde auch direkte Vorsorge getroffen: es wird 
von der Errichtung von Personalküchen an verkehrsreichen Stationen, 
von der Schaffung von Schuhreparaturabteilungen in den Werkstätten 
usw. berichtet. 

Für die private Industrie kann im allgemeinen gesagt werden, 
daß die Tarifverträge, soweit sie zum Ablauf kamen, mit 
Teuerungszulagen weiter verlängert wurden, und daß auch darüber 
hinaus Teuerungszulagen gewährt wurden. Um nur einige Daten zu 
nennen: Der Tarifvertrag im Holzgewerbe lief stillschweigend weiter, 
bei gleichzeitig von den Unternehmern selbst gewährten Lohnerhöh- 
ungen ??). — Die Wiener Zimmerer verlängerten den Lohntarifvertrag 
auf drei Jahre — bis zum 20. II. 1919 ??). Der tarifliche Stundenlohn 
wurde hierbei ab 8. V. 1916 von 73 auf 78 h. erhöht. Im dritten Ver- 
tragsjahr (ab ı. III. 1918) soll er um 2 h. (auf 80 h.) steigen. Bis zum 
28. II. 1917 wird eine Teuerungszulage von 18 h. per Stunde gewährt, 
so daß der Stundenlohn 96 h., der Tagelohn bei 9 stündiger Arbeits- 
zeit: 8.64 K. beträgt. Erstaunlich ist die Kühnheit, mit welcher hier 
Lohnfestsetzungen über Jahre hinaus, bei einem gleitenden Geld- 
niveau, getroffen werden. Dabei ist auch der interessante Ver- 
such unternommen, einen einigermaßen stabilen Reallohn zu erhal- 
ten; wenn nämlich bis zum 28. II. 1917 die Preise gegenüber den 
städtischen Marktpreisen vom 13. V. 1916 um mehr als 20% gestiegen 


21) Ebenda, 22. II. 1916. 
22) Ebenda, 1. II. 1916. 
282) Ebenda, 30. V. 1916. 


630 Sozialpolitische Chronik. 


sind, so wird die Teuerungszulage erhöht. Sind jedoch die Preise 
um mehr als 20% niedriger geworden, so tritt eine Verminderung der 
Teuerungszulage ein. Damit wird also ein erhebliches Risiko der 
Preisverschiebung (bis zu 20 %) den Arbeitern zugewälzt. 

Die Erhöhung der Löhne ist, dem Geldbetrag nach gerechnet, 
recht erheblich. Sie beträgt 23 h. per Stunde; der Stundenlohn steigt 
von 73 auf 96 h., oder um 31%. Die Steigerung beträgt bei einer 9 stün- 
digen Arbeitszeit: 2,07 K. oder wöchentlich 12,42 K. 

Aehnliche, wenngleich nicht ganz so bedeutende Verbesserungen 
brachte z. B. die Lohnvertragserneuerung im nordböhmischen 
Baugewerbe. Auch dort bleibt die (Io prozentige) Teuerungs- 
zulage vorläufig aufrecht, und zwar bis ı. I. 1917. Für IgI7 und 18 
sind Erhöhungen des wöchentlichen Verdienstes, und zwar 1917 von: 
90 h.—2.13 K., IgI8 von: 56 h.—ı.12 K. in Aussicht genommen. 
Insgesamt wird der Lohn wöchentlich erhöht sein: IgI8 gegenüber 
dem jetzigen Zeitpunkt um I.52—3.25 K.; gegenüber 1915 um 4.48 
bis 6.16 K.°*). 

Von den übrigen, ebenso verlängerten Tarifen seien erwähnt: 
derTarifvertragın der Metallindustrie, verlängert 
bis auf den I. III. 1917 °°). Es wurden an Teuerungszulagen gewährt: 
bei einem Wochenverdienst bis 50 K. per Kopf: 6 K. wöchentlich 
(= 12%); bei einem Verdienst von 50—70 K.: 3 K. wöchentlich (= 4 
bis 6%). Die Jugendlichen erhielten eine Aufbesserung von 2—3 K., 
die Arbeiterinnen eine solche von 2.50 K. 

Inder Wiener Herrenschneiderei erfolgte eine Ver- 
längerung des Tarifvertrags um 2 Jahre (ab 8. IV. 1916). Auch hier 
blieb die früher gewährte Teuerungszulage von 10% aufrecht; außer- 
dem wurde ab o. IV. auf Kriegsdauer ein weiterer Zuschlag von 20 
und 15% gewährt. — Diese Löhne sind auch nach dem Kriege als fort- 
dauernde gedacht, und sollen nur ermäßigt werden, wenn eine pari- 
tätisch besetzte Kommission bei sinkenden Lebensmittelpreisen sich 
dafür ausspricht. Auch hier ist also die Rücksicht auf die Kaufkraft 
des Lohnes zur Geltung gebracht 2%). (Die neuen Löhne betragen 
zwischen 50 und 32.50 K. wöchentlich für Tagesschneider, und 35.60 
bis 26.15 K. für Gehilfen bei Stückschneidern). 

Eine Erhöhung der Löhne fand auch in vielen andern Gewerben 
statt, wo nicht gerade ein Tarifvertrag ablief. So z. B. im Holz- 
gewerbe, wo die Unternehmer selbst den Arbeitern Erhöhungen 
des früheren Lohnes bis zu 30% anboten und Lohnerhöhungen von 
2—Io K. per Woche gewährt wurden 27). Die Teuerungszulage der 
Textilarbeiter in Brünn wurde von 40 auf 50 h. täglich erhöht 28). Er- 
wähnt seien auch die Teuerungszulagen der Damenschnei- 
derei; hier betragen sie 1.20—3 K. für Arbeiterinnen, 6 K für Ar- 


24) Die Gewerkschaft 8. VIII. 1916. 
25) Die Gewerkschaft, 2ı. III. 1916. 
' 26) Die Gewerkschaft, 18. IV. 1916. 
27) Die Gewerkschaft, r. II. 1916. 
28) Die Gewerkschaft, 8. II. 1916. 


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o > 3 


Die Gestaltung der Arbeits- und Lohnverhältnisse während des Krieges. 681 


beiter per Woche. Der Tagelohn der Arbeiter beträgt nunmehr 9.20 K. 
gegenüber einem Tariflohn von 7.60 K. 29) — 

Die Bauarbeiter erhielten — gleichfalls während déi Tarif- 
vertragsperiode — eine Erhöhung ihrer Löhne, und zwar die gelernten 
Arbeiter 7 h. per Stunde, die männlichen Hilfsarbeiter 4, die Frauen 
3 h. per Stunde. Es stellen sich jetzt die Löhne auf 30); 


Maurer im ersten Gehilfenjahr 74 h. 
Maurer im zweiten Gehilfenjahr 78 » 
Die übrigen Maurer 82 >» 
Fassademaurer I02 » 
Gerüster 62 » 
Männl. Hilfsarbeiter über 16 Jahren 52 » 
Weibl. Hilfsarbeiter 38 » 


Im Tischlergewerbe wurde eine dritte Teuerungs- 
zulage zugestanden, und zwar Erhöhungen um 8—4 h. (abgestuft je 
nach Arbeiterkategorie) auf die Stunde und ein Aufschlag von 10% 
auf die Akkorde è). Dies sind nur einige Stichproben. Da sie sich 
großenteils auf Gewerbe und Industrien beziehen, welche nurindi- 
rekt Kriegskonjunktur haben, so muß man annehmen, daß in der 
Kriegsindustrie selbst die Lohnerhöhungen mindestens ebenso hoch 
sind. Es steht ihnen allerdings eine Steigerung des allgemeinen Preis- 
niveaus gegenüber, welche darüber hinausgeht. Diese Preissteigerung 
ist so allgemein, daß sie immer deutlicher als eine Entwertung des 
Geldes erscheint; dies zeigt sich darin, daß auch alle diejenigen Preise, 
deren Kosten keinerlei Veränderung erfahren haben, sich auf ein neues 
Geldwertniveau adjustieren, ein Prozeß, welcher bei den Löhnen und 
Gehältern allerdings sich am langsamsten durchsetzt. Die durch- 
gängige, ziemlich gleichmäßige Erhöhung der Löhne zeigt aber, daß 
die hohen Preise bereits als Dauerpreise zu wirken beginnen, und 
sobald einmal die Adjustierung aller Daten, auch der Löhne, auf das 
neue Niveau wenigstens einigermaßen stattgefunden hat, so ist die- 
ses auch durchgesetzt und stabil, also gegen ein Herabgleiten auf das 
frühere Niveau gesichert. Dann gibt es von der Marktseite her keine 
Kräfte, welche das frühere Niveau herzustellen bestrebt sind, und es 
könnte nur von der Seite des Geldes eine Veränderung des Niveaus 
bewirkt werden. Damit werden alle Maßnahmen der Geldpolitik, die 
Valutagesetzgebung, die Maßnahmen der Handelspolitik von direktem, 
greifbarem Einfluß auf die Position der Gewerkschaften. Schon vor 
dem Kriege war sie immer wieder bedroht durch die Entwertung des 
Geldes, jetzt begleiten die scheinbaren Erfolge bei der Erringung 
höherer Löhne tatsächlich ein Herabgleiten der Lebenshaltung, und 
die Geldentwertung höhlt auch die finanzielle Kraft der Gewerk- 
schaften aus. Deshalb wäre eine Währungspolitik, welche den Geld- 
wert stabilisiert, direktes, vitales Interesse einer Arbeiterpolitik, 
welche nicht bloß in der Auseinandersetzung mit den Unternehmern 
die einzigen Mittel ihrer Wirksamkeit sieht. 

39) Die Gewerkschaft, 27. III. 1916. 
20) Die Gewerkschaft, 27. VI. 1916. 
31) Die Gewerkschaft, 1. VIII. 1916. 


Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 2. 44 


682 p Sozialpolitische Chronik. 


... Noch vor dem Kriege waren ja hie und da Vorschläge aufgetaucht, 
welche die Lage der Arbeiterschaft von der Bewegung des Geldwerts un- 
abhängig machen sollten. So ist schon vor vielen Jahren der Gedanke 
‚erwogen worden, die Löhne mit dem Steigen und Sinken der Indexziffern 

für Artikel des täglichen Verbrauchs automatischvariieren zu lassen, und 
in einigen oben erwähnten Bestimmungen ist dieser Gedanke schon jetzt 
zum kleinen Teil realisiert. Es soll damit der Arbieterschaft ein gewisses 
Minimum an Reallohn automatisch garantiert werden. Die Arbeiter- 
schaft als Verkäuferin der Ware Arbeitskraft hat naturgemäß keinen 
andern Ausweg, als bei Erhöhung der Preise eine Anpassung ihrer Geld- 
bezüge anzustreben, aber sie bewegt sich offenbar in einem Zirkel, 
da sie einen entscheidenden Einfluß auf die allgemeine Preisbewegung 
nicht besitzt, und daher immer wieder die Voraussetzungen für eine 
neue Phase des Entwertungsprozesses schafft, dem sie durch die Lohn- 
erhöhung begegnen wollte. Jetzt namentlich, wo die Entwertung des 
Geldes in ganz außerordentlich stürmischem Tempo vor sich geht, 
können auch große Lohnerhöhungen nur einen Teil der Preisverschie- 
bungen wettmachen, und die Gesamtkaufkraft der Arbeiterschaft ist 
trotz der Lohnsteigerungen von 20%, mit denen man im Durchschnitt 
rechnen kann, enorm gesunken. Wenn also die Lohnerhöhungen 
manchmal von gewerkschaftlicher Seite als ein Erfolg betrachtet 
werden, so ist soviel daran richtig, daß sich die Kaufkraft der Arbeiter- 
schaft noch stärker gemindert hätte, wenn nicht die vorhandenen Ein- 
richtungen der Tarifverträge und Gewerkschaften eine Anpassung an 
das neue Preisniveau wenigstens zum Teilerzielt und (wahrscheinlich) be- 
schleunigt hätten. Aber um mehr als um eine solche teilweise Anpas- 
sung handelt es sich allerdings nicht. Die höhereGeldbasis, von welcher 
man nach dem Kriege ausgehen mag, istnicht Symptom dafür, daß esge- 
lungen ist, einen höheren Reallohn zu erkämpfen, sondern ist nur Konse- 
quenz der Geldwertverschiebung. Die Bemerkungen der Gewerkschaf- 
ten, als ob daher die Tariferneuerungen mit den Lohnerhöhungen eine 
əneue Verhandlungsbasis« nach dem Kriege sichern, übersehen also, 
daß derselbe Ge'dausdruck nicht dasselbe wie vor dem Kriege bedeutet. 
Trotz erhöhten Geldausdrucks wird die Lebenshaltung sehr ver- 
schlechtert und die finanzielle Kraft der Gewerkschaften erheblich 
gemindert sein ??). 

Die reale Bedeutung einer 20 prozentigen Lohnsteigerung kann 
erst im Zusammenhang mit der Größe der Preissteigerungen beurteilt 
werden. Hier sei an das im Vorjahr gesagte (Archiv Bd. 39, S. 948) 

=) Wo die Position der Unternehmer besonders stark ist, sind auch die 
Lohnerhöhungen geringer. Auffallend gering z. B. waren, wenigstens im ersten 
Kriegsjahr, die Steigerungen des Gedinges für Bergarbeiter im Ostrau-Karwiner 
Revier. Dort betrug der Lohn für Häuer Januar- Juli 1914: 4.92 K., Oktober 
1914: 4.87 K., Januar 1915: 5.08 K., September ıgı5: 5.08 K., also eine 
Erhöhung gegenüber Friedenszeiten um 5,3%, bei gleichzeitiger Verlängerung 
der Schichtdauer in manchen Betrieben. (Die Gewerkschaft, 25. I. 1916.) Erst 
späterhin sind dann auch die Bergarbeiterlöhne gestiegen: sie betrugen auf den 
österreichischen Schächten für Häuer: 70—75 h., Regiearbeiter: 35—30 h., Ram- 
penarbeiter: 30—50 h, — im Maximum 18%. (Die Gewerkschaft, 8. VIII. 1916.) 


"N N Ma 


Organisationsfragen nach dem Kriege. 683 


erinnert. Schon am Ende des ersten Kriegsjahres betrug die Preis- 
steigerung in vielen wichtigsten Artikeln 100%. Welche Fortschritte 
sie inzwischen gemacht hat, und welche Rückwirkung sie auf den 
Haushalt der Arbeiterfamilien übte, wird in einem besonderen Aufsatz 
im Archiv zur Darstellung gelangen 33). 

So wenig die Erhöhung des Geldlohnes für den Arbeiterhaushalt be- 
deuten mag, ist sie doch für den Unternehmer eine völlige Verschiebung 
der Kalkulationsbasis. Zwar haben sich auch alle übrigen Daten des 
Produktionsprozesses wesentlich geändert, aber für manche Waren 
gehen diese Verschiebungen nicht in gleicher Richtung mit den Preis- 
änderungen auf dem Markte für die Endprodukte. In allen Industrie- 
zweigen, inwelchen noch eine wirklich lebhafte freie Konkurrenz herrscht, 
und überall dort, wo es zwar keine vollständig freie Konkurrenz gibt, 
aber die Marktsituation nachteilig verändert ist durch Ausschöpfung 
der Kaufkraft für die Artikel des täglichen, dringenden Bedarfs — 
wird die Veränderung der Kalkulation, die Erhöhung der Löhne, Ver- 
änderungen im Betrieb zur Folge haben. So ist z. B. für die Textil- 
industrie bereits ein interessanter, in diese Richtung weisender Vor- 
schlag aufgetaucht: es soll in den mechanischen Webereien ein mög- 
lichst einheitlicher Akkordlohntarif geschaffen werden, und es sollen 
die vorhandenen technischen Anlagen tunlichst mit vollen Arbeits- 
kräften ausgenützt werden. Die zweite Forderung versteht sich von 
selbst; die Vereinheitlichung der Akkorde aber deutet auf das Be- 
streben, zu einem neuen Betriebstypus zu gelangen. Sie 
steuert auf eine einheitliche Kalkulation, auf eine Vereinfachung, 
eine Standardisierung der Produktion. Eine solche Erhöhung der 
Löhne bei gleichzeitiger Spezialisierung bedeutet zugleich eine wach- 
sende Ueberlegenheit des großen Betriebs, eine Verdrängung der klei- 
neren Unternehmer. Es ist dieser Vorschlag endlich ohne ein gewisses 
Einverständnis, ein Ansatz zur Minderung der Konkurrenz schwer als 
durchführbar zu denken. Aber alle Strömungen in der Industrie 
dürften in dieser Richtung liegen. Namentlich die Amerikanisierung 
der Industrie wird infolge der gestiegenen Löhne (hier wird vorge- 
schlagen, von 2.50 auf 3 K. zu gehen; also eine Steigerung um 20%) 
sich als ein willkommener und zweckmäßiger Ausweg darbieten %). 


Organisationsfragen nach dem Kriege. 


Am meisten wird im gewerkschaftlichen Zentralorgan die Frage 
der Organisationsform nach dem Kriege diskutiert. Denn die öster- 
reichischen Gewerkschaften leiden noch mehr als die deutschen unter 
der Zersplitterung. Diese sucht man durch ein Hinsteuern auf die 
Form der Industrieorganisation an Stelle der Brancheorganisation 
etwas zu überwinden. Die Zersplitterung geht sehr weit. Lenn mehr 
als 4, sämtlicher Organisationen zählt nicht einmal je 1000 Mitglieder; 
dieses Dritiel aller Organisationen umfaßte vor dem Kriege nur Yyo 








33) In Band 43, 3 wird Prof. Karl Pribram-Wien über diese Frage berichten. 
24) Die Gewerkschaft, 2r. III. 1916. 


684 Sozialpolitische Chronik. 


aller Organisierten. Nur %/,, aller Verbände zählte je mehr als 20 000 
Mitglieder (Ende 1913), und umfaßte die H äl fte aller G e werk- 
schafter. Dagegen umfaßten 40 von den ca. 60 Verbänden nur !), 
aller Mitglieder ®%). 

Es ist nicht nur die Zahl der Gewerkschaften in Oesterreich er- 
heblich größer als in Deutschland, die Zahl der Arbeiter erheblich 
geringer, sondern wahrscheinlich auch die Organisationsintensität 
kleiner. Deshalb ist die Zahl der großen, leistungsfäbigen Verbände 
so sehr gering. Wenn man selbst berücksichtigt, daß die Zahl der 
organisierten Arbeiter in Deutschland 5 mal so groß ist als in Oester- 
reich-Ungarn, so ist doch die Zersplitterung in viele kleine Verbände 
gegenüber Deutschland ziemlich erheblich: 

Deutschland Oesterreich 

In Deutschland in Verbänden über 100 ooo Mitgl. 
In Gemacı in Verbänden über 20 000 
50—-IO0O 000 


69% 50,7% 

10— 20 000 9,470 20% 
20— 50.000 
5— 10000 
5— 20 000 

I— 5000 - 
über 5 000 


0/ 
12,3 /0 


| 
| 
| 
12,5% 14,5% 
~ 


v vy y y y Ë V y 


1° 2,59 
n 1000 > l 70 ‚5% 


Während in Deutschland 91% aller Arbeiter in Verbänden von 
mehr als 20 000 Mitgliedern organisiert sind, so in Oesterreich in Ver- 
bänden der gleichen Größe nur 50%. Alles nun drängt in Deutsch- 
land auf eine Ersetzung des Berufsverbandsystems durch das Prinzip 
der Industrieverbände. Es wird auch in Oesterreich propagiert; in 
vielen Artikeln bemüht sich das Zentralblatt der Gewerkschaften, das 
‚Unrationelle der Kassengebarung, die Verschwendung an Verwaltungs- 
‚kosten und Drucksachen %), gesteigert durch die Vielfältigkeit der 
Sprachen, und die geistige Kraftverschwendung nachzuweisen ®). 
= Der Widerstand gegen eine rationellere Organisation der Gewerk- 
schaften ist in Oesterreich noch zünftlerischen Charakters. Die kleinen 
Berufsverbände knüpfen vielfach an die offizielle Organisation der Ar- 
beiter in den Gesellenversammlungen der Genossenschaften an; per- 
sönliche Interessen mögen gleichfalls häufig mit diesen kleinen Sonder- 
organisationen verknüpft sein. Vergebens wird von der zentralen 
Leitung der Gewerkschaften auf das Sinnlose dieser Zersplitterung 
hingewiesen, wird betont, daß das Streben nach Autonomie deshalb 


3) Die Gewerkschaft, 7. III. 1916. 

36) 1913 erschienen 52 Fachblätter in tschechischer Sprache in zusammen 
380 000 Exemplaren: das Organ des deutschen Metallarbeiterverbandes allein 
hatte eine Auflage von 560 ooo Exemplaren. Neben den deutschen Fachblättern 
erscheinen 32 tschechische Fachblätter in einer Gesamtauflage von 80 000 Exem- 
plaren, davon ız, deren Auflagen je 1000 Exemplare nicht übersteigen. 

37) Die Gewerkschaft, 14. III. 1916. 


P gg m 0 


Organisationsfragen nach dem Kriege. 685. 


sinnlos sei, weil im modernen Wirtschaftsleben die einzelnen Berufe 
eben nicht mehr geschlossen, sondern durch die industrielle Entwick- 
Jung zersprengt sind. So gehören die Ziseleure in den Metallarbeiter- 
verband, innerhalb dessen sie ihre Interessen wahrnehmen können, 
während sie in ihrer eignen Organisation zur Untätigkeit verdammt 
sind. Die Vereinigung der Schirmmacher mit den Drechslern, der 
Dachdecker mit den Bauarbeitern fließt ganz eindeutig aus der 
Situation und es ist tatsächlich ein Symptom für die Stärke histo- 
rischer Reminiszenzen und persönlicher Interessen, alter Berufsideo- 
logien und eben deshalb ein Symptom für die Schwäche des Klassen- 
bewußtseins, daß diese Berufsorganisationen in Oesterreich bisher 
noch immer gegeben sind und auch die zerstörenden Einwirkungen 
des Krieges auf die Gewerkschaften an diesem Zustand noch nichts 
geändert haben ®). Eine Besserung wäre schon erzielt, wenn eine 
Zentralstelle für Verwaltung, Agitation und gleichartige Bestrebungen 
gegründet würde ; aber auch das dürfte schwer zu überwindende Schwie- 
rigkeiten machen °?) 40). | | 

Von den Zukunftsaufgaben der Gewerkschaften ist wohl 
eine der dringendsten, welche sich schon jetzt in ihrer Bedeutung 
erkennen läßt, die Frage der Frauenarbeit. Diese hat ja im Kriege 
außerordentliche Dimensionen angenommen, und speziell in Oester- 
reich ist unter der Propaganda der Regierung Frauenarbeit in höch- 
stem Maße auch für gelernte Arbeit in der schweren Industrie zur 
Anwendung gelangt. So werden in den Gießereien auch Kernmache- 
rinnen, Hand- und Maschinenformerinnen, Ausstoßerinnen, Guß- 
putzerinnen usw. beschäftigt, was bisher immer Männerarbeit war 41); 
woferne diese Frauen einen halbwegs annehmbaren Verdienst erzielen, 
werden sie trachten, die Arbeit beizubehalten und werden darin dem 
Widerstand der aus dem Krieg zurückkehrenden Männer begegnen. 
Diese Frage ist um so schwieriger, als die Organisation der Frauen, wie 
oben erwähnt, auch im Kriege gelitten hat. 

Wenn man von solchen Einzelfragen, wie Frauenarbeit oder Ar- 
beitsvermittlung, oder Lohnfragen für die Zeit nach dem Kriege ab- 
sieht, so werden die Zukunftsaussichten der Gewerkschaften nur wenig 
erörtert. Weder finden wir (in dem Zentralorgan der Gewerkschaften) 
prinzipielle Bemerkungen %), noch systematische Auseinander- 








38) Die Gewerkschaft, 28. III. und ıı. IV. 1916. 

39) Die Gewerkschaft, 25. IV. 1916. 

40) Nur selten hört man von konkreten Verschmelzungsbestrebungen. So 
z. B., daß die Vorstände der Verbände in der Lebensmittel- und Genußmittel- 
industrie beschlossen hätten, sich auf gemeinsamer Basis zu organisieren. (Die 
Gewerkschaft, 4. VII. 1916.) — Seit langem wird der Anschluß der Gießerei- 
an die Metallarbeiter betrieben. Er ist jedoch bisher noch nicht erfolgt. (Ge- 
werkschaft, 25. I. 1916.) 

4t) Die Gewerkschaft, 25. I. 1916. 

4) Wenn wir davon absehen, daß z. B. gelegentlich gesagt wird, der Krieg 
‚werde den Arbeitern nur noch mehr proletarisches Denken und Fühlen einge- 
qaukt haben«. (Die Gewerkschaft, 29. II. 1916.) 


686 


setzungen über die Aufgaben nach dem Krieg. Sie werden im We- 
sen als eine Häufung der Friedensaufgaben vorgestellt; es werde 
sich nach dem Kriege zeigen, inwieweit das Preisniveau stabil ist und 
eine Anpassung der Löhne notwendig erscheint. Ferner werden nach 
dem Kriege viele Tarifverträge gleichzeitig zur Verhandlung kommen 
müssen, da mehrfach Verträge stillschweigend oder auf je nur ein Jahr 
weiterlaufen. Die Erneuerung all dieser Verträge, in Zusammenhang 
mit steigendem Preisniveau und steigenden Steuern, ist neben der 
Frage der Frauenarbeit und des Arbeitsnachweises wahrscheinlich das 
Hauptproblem unmittelbar nach dem Kriege, und die Gewerkschaften 
werden mit diesen praktischen Fragen aile Hände voll zu tun haben. 
An ihnen werden dann möglicherweise auch alle die prinzipiellen Fra- 
gen wieder auftauchen (sowohl Fragen der Organisation als auch der 
Taktik und der Politik), welche die Diskussion vor dem Kriege be- 
herrscht haben. Namentlich rechnen schon jetzt manche Kenner der 
Gewerkschaftsbewegung mit einem Erstarken syndikalistischer Ten- 
denzen, wofür die allgemeinen Vorbedingungen ja wohl reichlich vor- 
handen sein werden. 


Sozialpolitische Chronik. Organisationsfragen nach dem Kriege. 





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687 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. 


Von 
MAX WEBER. 


Hinduismus und Buddhismus. 
(Schluß.) 


III. Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosi- 
tät. Allgemeine Gründe der Umwandlung des alten Buddhismus S. 687. — 
König Acoka S. 692.— Der Mahayanismus S. 700. — DieMission: ı. Ceylon und 
Hinterindien S. 715.— 2. China S. 724.— 3. Korea S. 730.—4. Japan S. 731.— 
5. Innerasien: der Lamaismus S. 744.— Die orthodoxe Restauration in Indien. 
Allgemeiner Charakter S. 752. — Civaismus und lingam-Kult S.763.— Vischnuic- 
mus und bhakti-Frömmigkeit S. 772.— Die Sekten und die Gurus S. 787.— 
Allgemeiner Charakter der asiatischen Religiosität S. 799. 


Der alte Buddhismus war, wenn nicht die zeitlich letzte, so 
doch jedenfalls die rücksichtslos konsequenteste der hinduisti- 
schen vornehmen Intellektuellensoteriologien !) und insofern 
deren »Vollendung«. Aeußerlich ist er die einzige Erlösungs- 
religion gewesen, welche wenigstens auf einige Zeit einmal: unter 
der Maurya-Dynastie, in ganz Indien offiziell herrschende Kon- 
fession war. Freilich nicht dauernd. Seine innere Konse- 
quenz und darum auch seine äußere Schwäche lag darin: daß er 
auch in Seinem praktischen Verhalten die Erlösung auf diejenigen 
beschränkte, welche wirklich den Weg zu Ende gingen und Mönche 
wurden, daß er sich im Grunde um die andern, die Laien, kaum 
kümmerte. Denn den Vorschriften, welche er für diese schuf, 
sieht man es an, daß sie Akkommodationen ohne innerlich ein- 
heitlichen Gesichtspunkt waren. Und vor allem fehlte äußerlich 

1) Daß er aber eine solche vornehme Intellektuellensoteriologie war, ist der 
Grund aller der Abgründe, die zwischen ihm und dem alten Christentum lagen. 
Denn für dieses war, wie wir sehen werden, gerade der Gegensatz gegen jedes 


vornehme Intellektuellentum das grundlegend Wichtige. 
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 3. 45 


—t 


688 Max Weber, 


das, was der Jainismus geschaffen hatte: eine Gemeindeorgani- 
sation der Laien. Selbst die Mönchsorganisation war ja, sahen wir, 
auf das Allerunentbehrlichste beschränkt. Dies Fehlen der 
Laienorganisation hat geschichtlich die Folge gehabt, daß der 
Buddhismus in seinem Heimatland gänzlich verschwunden ist. 
Er hielt trotz aller Akkommodation, die wir kennen lernen werden, 
dennoch die Konkurrenz derjenigen orthodoxen und heterodoxen 
hinduistischen Sekten nicht aus, welche es verstanden, die Laien- 
schaft in feste Beziehungen zu ihrer Leitung zu setzen. Und ebenso 
erwies er sich widerstandsunfähig gegenüber äußerer Gewalt, 
vor allem gegenüber dem Islam,_ Die muhammedanische Erobe- 
rung suchte neben einer furchtbaren Zerstörung der Idole aller 
hinduistischen Religionen naturgemäß vor allem die führenden 
Schichten der Unterworfenen zu treffen: den Adel — soweit 
er sich nicht konvertieren ließ — und die Mönche, die er mit 
Recht als die eigentlichen Träger des organisierten religiösen 
Gemeinschaftslebens ansah. Schon an sich lag ja, wie wir später 
sehen werden, die Antipathie gegen Mönchsaskese von Anbe- 
ginn an in seinem Wesen. Die »geschorenen Brahmanen«, die 
Mönche und zwar vor allem die buddhistischen Mönche, waren 
es daher zuerst, die er rücksichtslos abschlachtete. Im Bud- 
dhismus aber konzentrierte sich in den Klöstern und der Mönchs- 


gemeinde die Existenz der Konfession überhaupt. Waren diese 


vernichtet, so war es mit der Gemeinschaft zu Ende, und tat- 
sächlich haben auch nur Spuren ihrer Existenz den islamischen 
Einbruch überlebt. So gründlich war die Vernichtung, daß 
selbst die Lage der heiligen Stätten: vor allem Lumbini, des 
sindischen Bethlehem«, völlig vergessen wurde, bis europäische 
Ausgrabung sie wieder aufdeckte. Allein schon lange vor dieser 
äußeren Katastrophe war die einstige Herrschaft des Buddhis- 
mus in Indien durch die Konkurrenz anderer Soteriologien ge- 
brochen worden. Und vor allem: im vergeblichen Konkurrenz- 
kampf mit ihnen hatte er selbst seine innere Struktur tiefgrei- 
fend verändert. Das, hat ihm die Behauptung der Herrschaft 
in Indien nicht ermöglicht, wohl aber ist er wesentlich in dieser 
veränderten Gestalt eine »Weltreligione außerhalb Indiens ge- 
worden. 

Das treibende Moment der Umwandlung war, neben der 
unvermeidlichen Akkommodation an die Bedingungen der Exi- 
stenz in der Welt, das Interesse der Laienschaft. Und zwar einer 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligivnen. Hinduismus und Buddhismus. 689 


Laienschaft von wesentlich anderem Gepräge als die vornehmen 
Kschatriya- und Schreschthi-Familien in der Zeit seiner Ent- 


= stehung. Der Aufstieg des Buddhismus wie des Jainismus voll- 


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zog sich zunächst auf den Schultern des Stadtadels und vor allem 
des bürgerlichen Patriziats. Die Ablehnung des Priesterwissens 
und der unerträglichen zeremoniösen Lebensreglementierung, 
der Ersatz der unverständlichen toten Sanskritsprache durch 
die Volksmundart, die religiöse Entwertung der Kastengebunden- 
heit für das Konnubium und den geselligen Verkehr, verbunden 
mit der Verdrängung der Schlüsselgewalt der unheiligen Welt- 
priesterschaft durch eine Schicht von Heilssuchern, welche wirk- 
lich Ernst machten mit dem heiligen Leben, — dies alles waren 
Züge, welche der Laienbildung überhaupt, vor allem aber den 
patrizischen bürgerlichen Schichten der Zeit der ersten großen 


Städteblüte weit entgegenkommen mußten. Die Kastenschran-| 


ken lockerten sich damals wenigstens für den Zutritt zum reli- 
giösen Heil. Nur die brahmanische Vedanta-Schule hielt streng 
an dem Grundsatz fest: daß nur der Angehörige einer wiederge- 
borenen Kaste die Erlösung erlangen könne. Die Samkhya- 
Schule trug kein Bedenken, auch den Gudra als erlösungsfähig 
anzusehen und der Buddhismus ignorierte die Kastenangehörig- 
keit wenigstens bei der Zulassung zum Mönchsorden- gänzlich, 
so großes Gewicht er auf gute Manieren und also — der Erzie- 
hung nach — gute Familie legte und so nachdrücklich er die 
Herkunft der Mehrzahl seiner Anhänger aus ständisch vornehmen 
Kreisen betonte. 

Nun aber entstand, bald nach dem Alexanderzuge, der die 
ersten, freilich sehr flüchtigen, Berührungen Nordindiens mit 
dem Hellenentum brachte, zum erstenmal — soviel bekannt — 
ein indisches Großkönigtum unter der Dynastie der Maurya., Das 
stehende Heer und die Offiziere, das königliche Beamtentum 
und seine massenhaften Schreiberbüros, die königlichen Steuer- 
pächter und die königliche Polizei wurden nun die herrschen- 
den Mächte. Der Stadtpatriziat wurde als Darlehensgeber, 
Uebernehmer von Lieferungen und Leistungen benutzt, aber 
allmählich zurückgedrängt, die Gewerbe als Träger von Lei- 
turgien und Abgaben zu den neuen Mächten in Beziehung ge- 


setzt. Der Patrimonialismus der Großkönige trat an die Stelle 


des alten Kleinkönigtums. Damit wandelte sich unvermeidlich 
die Lage sowohl des Adels wie des bürgerlichen Patriziats. Die 
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690 Max Weber, 


brahmanische Tradition schreibt der Maurya-Dynastie niedrigen 
Ursprung zu, und mindestens im Beamtentum und Offizierkorps 


mußte ein Patrimonialfürst geneigt sein, den Unterschichten 


Gelegenheit zum Emporkommen zu geben. Das stimmte zunächst 


` vortrefflich mit der Ignorierung der Ständeschranken durch die 


buddhistische Erlösungsreligion zusammen und tatsächlich trat 
derjenige Großkönig der Maurya-Dynastie, dem es zum ersten- 
mal gelang, das ganze Kulturgebiet Indiens zu einem Einheits- 
reich zu vereinigen, Acoka, zum Buddhismus über, zuerst als 
Laie, dann sogar formell als Mitglied des Ordens. 

Die wenigstens relative Nivellierung der politischen 
Macht der vornehmen Stände, namentlich aber der an sich wahr- 
scheinliche und auch ganz offensichtliche Fortfall der alten 
Kschatriya-Schicht mit ihren zahllosen kleinen Burgen, der 
selbständigen Mittelpunkte einer vornehmen ritterlichen Bildung, 
mußte nun aber tiefgehende Folgen für die sozialen Bedingun- 
gen der miteinander konküfrierenden Religionen hal haben. Der »Laie«, 
um dessen Seele sie mitöinander rangen, war nicht ausschließ- 
lich mehr der adlig Gebildete, sondern: der Höfling, der schrift- 
kundige Beamte, daneben aber der Kleinbürger und Bauer. Für- 
sten, Priester und Mönche in gleicher Art mußten darauf bedacht 
sein, ihren religiösen Bedürfnissen entgegenzukommen, die poli- 
tischen Machthaber, um die Massen zu domestizieren, die Träger 
der Religion, um an ihnen Stützen ihrer geistlichen Macht und 
eine Quelle von Pfründen und Kasualien-Einkünften zu haben. 


| Es begann eine plebejische — richtiger: auf die Befriedigung 
| plebejischer religiöser Bedürfnisse eingestellte — Epoche der 
' orthodox indischen Soteriologie.e Man kann sie etwa mit der 
| Gegenreformationszeit und den ihr folgenden Epochen im Occi- 


dent, die ja gleichfalls mit der Bildung der patrimonialen Groß- 
staaten zusammenfiel, vergleichen. Immerhin mit einem ge- 
wichtigen Unterschied. In Europa zog die feste hierarchische 
Organisation der katholischen Kirche, zunächst in dem emo- 
tionalen Charakter ihrer Propaganda - Agitation, dann in der 
zur Kaplanokratie bürokratisierten Struktur ihrer Verfassung, 
die Konsequenzen. In Indien dagegen war eine weit kompli- 
ziertere Anpassung durch eine nur als Stand oder als lockerer Ver- 
band von Klöstern zusammengeschlossene, aber sonst unor- 
ganisierte, Hierokratie zu vollziehen. 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 691 


Die höfische Gesellschaft vermißte am alten Buddhismus \ 


einerseits die vomehme Schriftbildung und Gelegenheit zu 
künstlerischer Formung, andererseits Mittel für die Domesti- : 


kation der Massen. 

Der Kleinbürger und Bauer konnte ja mit den Produkten 
der Soteriologie der vornehmen Bildungsschicht nichts anfangen. 
Am wenigsten mit der altbuddhistischen Soteriologie. Er dachte 
nicht daran, Nirwana zu begehren, ebensowenig wie die Ver- 
einigung mit dem Brahman. Und vor allem: er hatte auch gar 
nicht die Mittel in der Hand, zu diesen. Heilszielen zu gelangen. 
Denn dafür war Muße für die Meditation erforderlich, um die 
Gnosis zu "erlangen. Diese Muße hatte er nicht und sah sich in 
aller Regel nicht veranlaßt, sie sich durch ein Leben als Büßer 
im Walde zu verschaffen. Nun hatten sowohl die orthodoxe wie 
die heterodoxe Soteriologie dafür in gewissem Grade vorgesorgt: 
die orthodoxe durch die Heilsverheißungen des Kastenritualis- 


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mus, die heterodoxe durch eine sekundäre Laiensittlichkeit, für Ä 


welche ebenfalls Prämien in diesem und jenem Leben versprochen | 


waren. Allein das alles war doch wesentlich negativen und vor 
allem: wesentlich ritualistischen Charakters. Es befriedigte in gar 
keiner Art das eigentlich religiöse Bedürfnis nach emotionalem 
Erleben des Ueberweltlichen und nach Nothilfe in äußerer 


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und innerer Bedrängnis. Jenes ungebrochene emotionale Be- ` 


dürfnis insbesondere war und ist aber überall für den psycho- 
logischen Charakter der Religion bei den Massen das ausschlag- 
gebende im Gegensatz zu dem rationalen Charakter aller Intel- 
lektuellensoteriologie. 

Für die emotionale Massenreligiosität nun hat es in aller Welt 


nur zwei typische Möglichkeiten der Soteriologie gegeben: die | 


Magie oder den Heiland. Oder beide zusammen: der lebende Hei- 
land als Magier und Helfer in physischer und psychischer Not, 
der tote vergottete Heiland als Nothelfer, Fürsprech und über- 
irdischer Gegenstand inbrünstiger Andacht und emotional- 
ekstatischer Wiedererweckung im Erlebnis des Gottbesitzes 
oder der Gottbesessenheit. Den Weg der Anpassung an diese 
spezifisch plebejischen religiösen Bedürfnisse ist fast die gesamte . 


indische Soteriologie gegangen. Das ist der grundlegende Tat- 


| 


bestand für das Verständnis der Entwicklung, die nun zu skiz- 


zieren ist. 







692 Max Weber, 


Der alte Buddhismus war auch in der Beziehung zu den 
Laien zum mindesten relativ — vielleicht sogar absolut — magie- 
feindlich gewesen. Denn das strenge, mit der Strafe der Tod- 
sünde belegte, Gebot an die Mönche (viertes Mönchs-Gelübde): 
sich nicht übermenschlicher Fähigkeiten zu rühmen, mußte, 
selbst wenn man seine prinzipielle Tragweite noch so einschrän- 
kend interpretiert, die Bedeutung der Mönche als magischer 
Nothelfer und Therapeuten ausschließen oder "doch entwerten. 
Ebenso war der alte Buddhismus mindestens relativ bilderfeind- 
lich gewesen. Das Verbot des Buddha, ihn bildlich darzustellen, 
ist zuverlässig überliefert und viele genuin altbuddhistische 
Reformatoren haben einen gewissen relativen Puritanismus, 
etwa vom Charakter des cisterziensischen, in die Kirchenkunst 
hineingetragen, sehr oft — wiederum wie bei den Cisterziensern 
— nicht zu deren künstlerischem Schaden. Der alte Buddhismus 
war endlich schlechthin apolitisch gewesen; eine innere Bezie- 
hung zu politischen Gewalten war von ihm aus eigentlich kaum 
auffindbar. In diesem letzten Punkt trat zuerst Wandel ein. 
Der alte Buddhismus ereichte in Indien seine Akme un- 
ter der Regierung des Maurya-Großkönigs Agoka, des ersten 
Monarchen, der nach ägyptischer, assyrischer und achämenidi- 
scher Weise seine Taten und Anordnungen in zahlreichen Felsen- 
Höhlen- und Säulen-Inschriften 2) zu verewigen bemüht war. 
Daß dem König die Möglichkit gegeben wurde, zunächst Novize, 
dann offizielles Ordensmitglieed zu sein ?) und doch König zu 
bleiben, zeigt eine weitgehende Akkommodation des Ordens, 
so sehr auch der König selbst $) betont, wie schwer es sei, diese 
Welt und die künftige zu gewinnen. Denn immerhin galt der 
Monarch nicht als gewöhnlicher Mönch, sondern nahm eine eigen- 
tümliche Sonderstellung ein. Es entstand damit erstmalig im 
| Buddhismus ein Ansatz einer politischen Theorie: die Gewalt 
| des Weltmonarchen (tschakravati) muß die notwendig von allem 
‘ Welthandeln abführende geistliche Gewalt des Buddha ergänzen. 
i Er ist Patron der Kirche etwa in dem Sinn, wie die byzantinischen 

Monarchen dies in Anspruch nahmen. Seine Edikte zeigen auch 


2?) Außer in den großen Sammlungen findet man die wichtigsten auch in 
V. A. Smiths Acoka (Oxford 1901) zusammengestellt. 

3) Dies erklärt der üblicherweise als »Kleines Felsen-Edict I« gezählte Erlaß 
ausdrücklich; der König sei 2!/, Jahre Laienschüler gewesen und jetzt im 6. 
Jahr im Orden. 

$) In dem als »Säulen-Edict Ie gezählten Erlaß. 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 693 


sonst die eigentümlichen Konsequenzen einer Halb-Theokratie. 
Die erste Konversion des Königs erfolgte nach der blutigen Unter- 
werfung des Kalinga-Reiches. Der König erklärt 5): daß er die 
Schlächterei, die dabei unvermeidlich gewesen sei und bei welcher 
zahlreiche fromme Leute umgekommen seien, bereue, daß es 
fortan nicht zum Dharma seiner Nachfahren gehören werde, 
durch das Schwert zu erobern, sondern durch und für die Macht 
des wahren Glaubens, daB aber wichtiger als selbst diese fried- 
lichen Eroberungen ihm das Heil der Seele: die nächste Welt, 
sei. Mit dieser religiös-pazifistischen Fortwendung von dem 
überkommenen Königs-Dharma ging, wie es nicht anders sein 
konnte, die Entwicklung zu einem patriarchalen ethischen und 
karitativen Wohlfahrtsstaats-Ideal Hand in Hand. Der König, 
dem die Sorge für Land und Volk obliegt ®), muß für die öffent- 
liche Wohlfahrt arbeiten, damit die Untertanen sglücklichs 
sind und sden Himmel gewinnen« Zu jeder Tageszeit solle ihm 
rapportiert werden dürfen, denn Eile tue in seinen Geschäften 
not ?). Er selbst wendet sich einem exemplarischen Leben zu, 
entsagt dem Krieg und den Jagdzügen, welche bis dahin, wie 
überall, mit dem Kriegsdienst propädeutisch verknüpft gewesen 
waren bzw. im Frieden dessen Stelle vertreten hatten. Er will 
statt dessen®) auf seinen Fahrten Propaganda der Frömmigkeit 
treiben °). Er verbietet, dem Ahimsa entsprechend, das Schlach- 
ten in der Hauptstadt Pataliputra und die mit Fleischorgien 
verknüpften Feste (samaja), verkündet auch, daß in der könig- 
lichen Küche fortan kein Vieh mehr geschlachtet werde 19). 
Hospitäler für Menschen und Vieh nebst den erforderlichen Apo- 
theken sollen gestiftet, Frucht- und schattengebende Bäume an 
den Straßen gepflanzt !!), Rasthäuser für Menschen und Tiere 
an ihnen angelegt und Almosen verteilt werden 13). Ungerechte 
Tortur und Gefangensetzung sollen aufhören 22). Die wichtigste 
Eigentümlichkeit war dabei die aus der altbuddhistischen Ab- 


5) In dem als Großes Felsen-Edikt Nr. XIII gezählten Erlaß. 

©) Großes Felsen-Edikt Nr. VIII. 

1) Großes Felsen-Edikt Nr. VI. 

8) Großes Felsen-Edikt Nr. IV; »statt der Kriegstrommel soll die Frömmig- 
keitstrommel gerührt werden.« 

9) Großes Felsen-Edikt Nr. VIII. 

10) Großes Felsen-Edikt X, Nr. I. 

11) Großes Felsen-Edikt Nr. II. 

12) Säulen-Edikt Nr. VII. 

13) Kalinga-Felscn-Edikt. 


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694 Max Weber, 


lehnung der Gewaltsamkeit folgende »Toleranz«. Der König er- 
klärt, daß alle seine Untertanen, gleichviel welchen Glaubens, 
seine »Kinder« seien und — mit Wendungen, die an das Bha- 
gavadgita erinnern — daß es nur auf die Ehrlichkeit der Frömmig- 
keit und auf den Ernst, mit welchen die praktischen Folgerungen 
aus ihren Lehren gezogen werden, ankomme. Das Zeremoniell 
und die äußeren Riten seien wenig nütze 1$). Mit solchen Dingen 
würde, besonders von den Weibern, auf welche der König sehr 
schlecht zu sprechen ist 15), sehr viel Unfug getrieben und — ge- 
dacht ist wohl an Sexualorgien — geradezu sittlich verderbliche 
Praxis geübt. Der König aber hält nicht viel von Geschenken 
und äußerer Ehrfurcht vor der Religion, sondern nur davon, daß 
| »das Wesen der Sache« durchgeführt werde 1°). Er ehrt alle Sekten 
und alle Stände, Reiche und Arme, Brahmanen, Asketen, Jaina, 
: Ajivika (vischnuitische Asketen-Sekte) und andere ebenso wie 
| die Buddhisten, wenn nur ein jeder seiner Sekte mit wirklicher 
‘ Aufrichtigkeit anhängt 17). Und tatsächlich hat er ihnen allen Stif- 
tungen gemacht. Insbesondere wird zum mindesten in den frü- 
heren Edikten die Ehrfurcht vor den Brahmanen eingeschärft. 
Die Sekten sollen sich der gegenseitigen Herabsetzung enthalten, 
die unter allen Umständen ein Unrecht ist 1%) und sich gleich- 
mäßig der Pflege des ethischen Gehalts ihrer Lehren zuwenden. 
'Dieser scheint offenbar dem König in allen Glaubensbekennt- 
nissen wesentlich der gleiche zu sein, obwohl er im Dharma des 
Buddha am vollkommensten enthalten ist. Er faßt diesen all- 
gemein verbindlichen Inhalt als »Frömmigkeitsgesetz« zusammen 
und zählt ihn wiederholt dahin auf: I. Gehorsam gegen die Eltern 
(und das Alter als solches) 19), — 2. Freigebigkeit gegen Freunde, 
Verwandte, Brahmanen, Asketen, — 3. Respekt vor dem Leben, 
— 4. Vermeidung von Heftigkeit und Exzessen aller Art 29). 
Nicht jeder kann das ganze Gesetz erfüllen, jede Sekte aber kann 
die Herrschaft über die Sinne, Reinheit des Herzens, Dankbar- 
keit und Treue pflegen und verbreiten *!). Eine jede gute Hand- 
14) Großes Felsen-Edikt Nr. IX. 
15) Ebenda. 
16) Großes Felsen-Edikt Nr. XII. 
17) Säulen-Edikte Nr. VI und VII. 
18) Großes Felsen-Edikt Nr. XII. 
19) Dies ist im Säulen-Edikt Nr. VII und im Großen Felsen-Edikt Nr. V 
besonders erwähnt. 


20) Großes Felsen-Edikt Nr. III. 
21) Großes Felsen-Edikt Nr. VII. 


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Die Wirtschaftseihik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 695 


lung trägt in der nächsten Welt ihre Früchte, oft schon in dieser 22), 
Zur Kontrolle und Durchführung schuf der König eigene Beamte, 
die meist sogenannten »Zensoren« (dhammaraharatra). Ihnen 
unterstand zunächst, scheint es, die Aufsicht über die könig- 
lichen und prinzlichen Harems #2). Weiterhin aber sollten die 
Provinzialbeamten alle fünf Jahre längstens in allen Bezirken 
Versammlungen von Leuten halten, welche »mild und geduldig 
sind und das Leben achten«**). Durch diese (und sicherlich durch 
sonstige Revisionen der Zensoren) sollte das Pietätsgesetz pro- 
pagiert werden. Durch die Zensoren sollte der Lebenswandel 
der Frauen, ferner Verstöße gegen Pietät und gegen die vom 
König anbefohlene Frömmigkeit gerügt werden 25). Der Klerus 2$) 
soll durch Unterricht der Getreuen im Gesetz helfen. Also eine 
Art von karolingischem missatischem System und Rügegericht, 
nur ohne alle formalistische Grundlage, was dem Ganzen einen 
Anklang an die Cromwellschen »Tryers« und seinen Staat der 
Heiligen überhaupt verleiht. 

Der König muß mit diesem ethischen Synkretismus auf fühl- 
bare Widerstände gestoßen sein. Gegen politische Auflehnung 
blieb das bisherige Kriminalrecht in seiner vollen Grausamkeit in 
Wirksamkeit, und die von ihm vorgeschriebene dreitägige Frist 
vor jeder Hinrichtung, damit der Verbrecher durch Meditation 
wenigstens die Seele retten könne 2”), wird kaum als Milderung 
empfunden worden sein. Ein Edikt klagt, daß der König die- 
jenigen, die er für wahr gehalten, als untreu erfunden habe 2%), 
Und es scheint auch erkennbar, von welcher Seite der Wider- 


stand ausging. Der König sagt in einem anderen Edikt ®%): kein /! 
Ruhm tauge etwas, der nicht durch Frömmigkeit gewonnen sei, | — 
zu der man nur durch vollständigen Verzicht auf die Güter der | RL 
Welt gelange: dieser aber sei für Hochgestellte sehr! ' 


#2) Großes Felsen-Edikt Nr. IX. 

23) Großes Felsen-Edikt Nr. V. 

3%) Kalinga-Felsen-Edikt. 

35) Große Felsen-Edikte Nr. V, XII. 

24) So scheint »parisa« übersetzt werden zu müssen. 

2?) Säulen-Edikt Nr. IV. 

28) Kleines Felsen-Edikt Nr. I. Allerdings ist fraglich, ob es sich hier um Men- 
schen oder Götter handelt und die Rupnath-Version würde wohl die Uebersetzung: 
sv die Götter, die er (der König) für wahr gehalten habe, erwiesen sich als falsche, 
bedingen. Indessen liegt der Gegensatz des Königs gegen die Herrenschichten 
in der Sache selbst. 

89) Großes Felsen-Edikt Nr. X. 


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696 Max Weber, 


schwer. Und im Rupnath-Edikt 39) hält es der König für nötig, 
besonders zu betonen, daß nicht nur die Großen, sondern auch 
der kleine Mann durch Verzicht auf die Welt das himmlische 
Heil erlangen könne. Daß der König diese für die Herrenschichten 
peinlichen Feststellungen als Konsequenzen aus dem Buddhismus 
ansah, zeigt das Rupnath-Edikt selbst durch seine Datierung: 
es ist diejenige Urkunde, durch deren Datum ?!) der Zeit- 
punkt der Weltflucht Buddhas geschichtlich festgelegt ist. Hier 
wird also allerdings der Buddhismus höchst absichtsvoll als eine 
spezifisch nivellierende und in diesem Sinn sdemokratische« 
Religiosität behandelt, zumal im Zusammenhang mit der ganz 
geringschätzigen Behandlung des Rituals, also auch des Kasten- 


= rituals. Mindestens jener absichtsvolle Gegensatz gegen die. Her- 


renschichten fehlte dem alten Buddhismus durchaus. Er lag 
nur als Möglichkeit in seiner Entwertung der weltlichen Ordnungen 
überhaupt. Und die Möglichkeit ist nicht ganz von der Hand 
zu weisen, daß gerade die Verbindung mit dem Patrimonial- 
Königtum diese inneren Möglichkeiten im Buddhismus erst ent- 
bunden oder, wenn dies nicht, dann doch verstärkt hat. Denn 
für das Patrimonial-Königtum schien er oftenbar gerade als Mittel 
der Massen-Domestikation wertvoll. | 

Der Eifer des Königs für den Buddhismus scheint allmählich 
zugenommen zu haben; er fühlte sich auch selbst in ähnlicher 
Art als Herr und Patron der buddhistischen, wie die byzantinischen 
Monarchen der christlichen Kirche. Im sogenannten Sanchi- 
Edikt wendet er sich gegen Schismatiker in der Gemeinschaft 
(samgha) und schreibt vor, daß sie nicht gelbe, sondern weiße 
Kleider tragen sollen: »denn die samgha soll einig sein«. 

Die formell größte Neuerung aber, welche höchst wahrschein- 
lich auf diesen vermutlich zuerst zur systematischen Schreiberver- 
waltung übergegangenen König und auf das unter ihm gehaltene 
Kirchenkonzil (angeblich das dritte) zurückgeht, war die schrift- 
liche Fixierung der bis dahin, 2%, Jahrhunderte lang, nur münd- 
lich überlieferten Tradition. Der chinesische Pilger Fa-Hien, vom 


Kaiser ausgeschickt, um authentische Abschriften der heiligen 


Bücher zu besorgen, fand in ganz Indien nur in den Klöstern von 
Pataliputra (dem Sitz des Königs und — angeblich — des Kon- 
zils) und in Ceylon Niederschriften, sonst nur mündliche Tra- 


30) Kleines Felsen-Edikt Nr. I, Rupnath-Version, 
31) 256 Jahre nach der Weltentsagung. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 697 


dition. Es ist klar, was die Niederschrift für die Wahrung der 
Einheit der Kirche, ebenso aber: was sie für die Mission bedeutete. 


In einem Literatenland wie China konnte der Buddhismus nur. 


als eine Buchreligion überhaupt Fuß fassen. Und tatsächlich 
geht die Inszenierung oder wenigstens die programmatische 
Verkündigung der buddhistischen Weltmission auf Agoka zurück. 
Mit Feuereifer warf er sich gerade darauf. Durch ihn erhielt 
der Buddhismus den ersten großen Anstoß, eine internationale 
Weltreligion zu werden. Zunächst sollten die wilden Stämme 
bekehrt werden ®2). Aber dann machte sich der König daran, 
durch Gesandtschaften an fremde Mächte, vor allem auch an 
die hellenistischen Großmächte des Westens bis Alexandria, 
die reine Lehre in aller Welt bekannt zu machen, und eine vom 
König gestützte Mission wendete sich den ceylonesischen und 
hinterindischen Gebieten zu. Einerlei welches der unmittelbare 
Erfolg war, — und er war zunächst nur inCeylon und nach Norden 
zu bedeutend —, so hat jedenfalls die große internationale Ex- 
pansion des Buddhismus in Asien damals ihren ideellen Anfang 
genommen. Er ist offizielle Konfession in Ceylon, Birma, Annam, 
Siam und andern hinderindischen Staaten und Korea, in umge- 
wandelter Form später in Tibet geworden und geblieben und hat 
geraume Zeit sowohl China wie Japan religiös beherrscht. Um 
freilich zu dieser Rolle berufen zu sein, mußte die alte Intellek- 
tuellensoteriologie tiefgreifende Umwandlungen durchmachen. 
Zunächst war schon dies eine vollkommen neue Situation für 
den Orden: daß ein weltlicher Herrscher als solcher Rechte inner- 
halb ihrer Angelegenheiten in seine H ine Hand nahm. Diese Rechte 
und ihre Einwirkung waren nicht cht unbedeutend. Insbesondere die 
später klassischen Gebiete des alten, orthodoxen (Hinayana-) 
Buddhismus geben von der eigenartigen Theokratie der buddhisti- 
schen Monarchen eine deutliche Vorstellung. Durchweg ernennt 
oder (mindestens) bestätigt der König einen »Patriarchen« der 
buddhistischen Landeskirche (in Siam Sankharat, in Birma 
Thatanabaing genannt, stets einen Abt eines charism. tisch aus- 
gezeichneten Klosters.) Es ist — freilich: entgegen der Tradi- 
tion — immerhin möglich, daß diese Würde zuerst unter Acoka 
aufkam; denn vorher scheint einfach die Anciennität (des Klosters 
und innerhalb dieses des Mönchs) entscheidend gewesen zu sein. 
Der König verleiht ferner (so in Siam) ausgezeichneten Mönchen 


3) Kalinga-Felsen-Edikt. 


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698 Max Weber, | 


Titel: dies ist offenbar aus der Stellung des Königs-Kaplans 
hervorgegangen ®). Er revidiert die Klöster auch durch welt- 
liche Beamte auf ihre Disziplin hin und zieht Mönche, die sich 
gegen diese vergehen, zur Verantwortung. Er hat also eine offi- 
zielle Stellung mindestens in der Kirchendisziplin. DaB der 
König selbst das Mönchsgewand nimmt, kommt vor. Allein 
er läßt sich elsdann von seinem Guru von der vollen Innehal- 
tung der Gelübde dispensieren: eben dies ist vielleicht (obwohl 
kein Zeugnis vorliegt) gleichfalls eine Schöpfung Acokas oder 
seiner Nachfolger. Es diente dazu, ihm den kirchlichen Mönchs- 
rang zu sichern. Es hat dazu geführt, daB in den orthodoxen 
(hinayanistischen) Gebieten überhaupt der zeitweise Eintritt 
in die Mönchsgemeinschaft als vornehme Sitte und Teil der 
Erziehung jüngerer Leute galt, und daß die zeitweise oder teil- 
weise Erfüllung von Mönchspflichten seitens der Laien ein spezi- 
fisch verdienstliches, die Wiedergeburtschancen förderndes Werk 
wurde. Dadurch wurde eine gewisse äußere Annäherung der 
Laien-Frömmigkeit an die mönchische Heilssuche herbeige- 
führt 34). Viel weittragendere Folgen hätte die im Anschluß an 
die Klostererziehung der Vornehmen und in deren Nachahmung 


für die Massen der Laien geschaffenen Volksschulerziehung durch 


die Mönche haben können, wenn sie rationalen Charakter ge- 
habt hätte. Denn wenigstens in Birma war die Volksschuler- 
ziehung nahezu universell. Sie umfaßte dort und in Ceylon, 
ihrem Zweck entsprechend, Lesen und Schreiben (in der Landes- 
und in der- Sakralsprache) und religiöse Unterweisung (aber 
z. B. kein Rechnen, da dies ja religiös nutzlos war). Es ist wieder- 
um nicht unwahrscheinlich, daß Acokas Eifer auch für die sinnere 
Missions zuerst den Anstoß zu dieser dem Altbuddhismus zu- 
nächst keineswegs nahe liegenden Arbeit an den Laien gegeben 
hat. Zum erstenmal im Gebiet hinduistischer Kultur trat die 
Idee des »Wohltahrtsstaats«, des sallgemeinen Besten« (von des- 
sen Förderung Acoka als von der Pflicht des Königs redet), auf. 
»Wohlfahrt« wurde aber dabei teils geistlich: als Förderung der 
Heilschancen, teils karitativ verstanden, nicht aber: rational 


33) Der Titel heißt in Siam: »Lehrer des Königs«. 

%4) Es wurde im allgemeinen außer den Grundgeboten: nicht töten, nicht 
stehlen, nicht ehebrechen, nicht lügen, nicht Alkohol trinken, noch die Meidung 
von Tanz, Gesang und Theater, von Salben und Parfüms und eine gewisse Nah- 
rungsreglementierung verlangt. Als besonders verdienstlich galt gutwillige völ- 
lige Keuschheit. — Der früher zitierte Laien-Dekalog dürfte dieser Laienethik 
entspringen. 





Die Wirtschaftseihik der Weltreligionen, Hinduismus und Buddhismus. 699 


ökonomisch. Die gewaltigen Bewässerungsbauten der Ceyloneser +i 
Könige andererseits waren wie die nordindischen (schon Tschand- 
raguptas) durchaus fiskalisch, auf Vermehrung der Steuer- 
zahler und der Steuerkraft, orier orientiert, nicht wohlfahrtspolitisch. 

Indessen mit diesen theokratischen Konsequenzen waren 
die Umwandlungen des altbuddhistischen Mönchtums nicht 
erschöpft. Die alte Mönchsgemeinschatt mußte, zunächst Ba 
infolge des Gewichts der Massen, welche ihr zuströmten, ihren V 
streng weltflüchtigen Charakter mildern und weitgehende Kon- 
Zessjonen machen an die Leistungsfähigkeit des Durchschnitts- 
Tnönchs und auch an die Erfordernisse der Existenz von Klöstern, 
welche nicbt Stätten der Heilssuche vornehmer Denker, sondern 
Zentren religiöser Mission und Kultur sein sollten. Im übrigen 
aber mußte den Bedürfnissen der Laien, welche im alten Bud- 
dhismus dessen Natur nach eine wesentlich zufällige Rolle 
spielen, entgegengekommen, also die Soteriologie in der Rich- 
tung der magischen und der Heilandsreligiosität umgebogen 
werden. Die erste der beiden Tendenzen tritt uns in den Quellen 
zuerst deutlich zutage. 

Ein Edikt Acokas spricht von »Schismatikern« innerhalb der 
Samgha. Die mahayanistische Tradition 3°) läßt das große Schisma 
zuerst auf dem Konzil (Sanghiti) von Vaicali (angeblich dem 
zweiten) zum Ausbruch kommen, welches angeblich Iıo Jahre 
nach Buddhas Tode, vielleicht 3%) aber erst unter Acoka und auf 
seine Veranlassung stattfand. Unabhängig von der historischen 
Korrektheit der Einzelheiten ist der Grund der ältesten Spaltung 
sowohl nach der Tradition wie nach der Natur der Sache selbst 
im wesentlichen klar. Die berühmten »1o Thesen« der Vajji- 
Mönche, über welche eine Einigung nicht stattfand, waren durch- 
weg disziplinärer, nicht dogmatischer Natur. Neben einigen Einzel- 
heiten der-klösterlichen Lebensführung, die sämtlich auf Er- 


38) Tchullavaggha XII. 

3) Die Gründe, welche L. de Millou& (Annales du Musée Guimet, Bibl. 
de Vulgarisatin, Conférence v. 18. XII. 1904) dafür geltend macht, daß der 
inschriftlich und auch sonst nicht nachweisbare König Kalacoka (der schwarze 
Acoka) mit dem bekannten buddhistischen Monarchen und daher auch das unter 
diesem König angesetzte Konzil von Pataliputra (242 v.Chr.) mit dem Konzil 
von Vaicali identisch ist, haben manches für sich. Die Schwierigkeiten liegen 
in der Tradition. Nach der Mahayana-Tradition müßte der Verlauf des Konzils 
von Vaçiali ein anderer gewesen sein als nach den Hinayana-Berichten. Das wäre 
nicht verwunderlich. Aber es sind die Fragen, welche dem Konzil von Patali- 
putra unter Acoka vorlagen, überliefert und sie sind richt nur disziplinärer Natur. 


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700 Max Weber, 


leichterung der Disziplin hinzielten, aber wesentlich formales Inter- 
esse haben und einer organisatorischen Frage, die mit den Prä- 
ludien des Schisma zusammenhing ?”), gab es einen fundamental 
wich igen Punkt. Genau den gleichen, an welchem sich seinerzeit 
die Scheidung der Konventualen und Observanten im Franzis- 
kanerorden vollzog: den ökonomischen. Die Anordnungen des 
Stifters verboten jeglichen Geldbesitz, also 50 auch n die Annahme 
von Geldspenden. Als nun nun — -erzählt die Tradition — einer der 

strengen. Observanz info infolgedessen Geldspenden zurückwies, er- 
klärte dies die Mehrheit für eine Beleidig igung der Laien. Die ihm 


. gewährte Gelegenheit zur öffentlichen Abbitte benutzte er, um 


sein Recht zu vertreten, worauf er, »weil er ohne Auftrag der 
Gemeinde gepredigt habe«, gebüßt wurde. Im übrigen soll nach 


. hinayanistischer Tradition das Konzil die altorthodoxe Lehre 


bestätigt haben. Eine Einigung fand jedenfalls nicht statt. i 

Neben die disziplinären traten aber sehr bald auch dogma- 
tische Kontroversen. Und zwar zunächst im Zusammenhang mit 
der Lehre von der diesseitigen Erlösung. Es ist überliefert, daß dem 
unter Acoka abgehaltenen Konzil vom Vorsitzenden drei Fragen 
vorgelegt worden seien, nämlich I. ob ein Arhat aus der Gnade fallen 
könne, — 2. ob die Existenz (der Welt) real sei, — 3. ob Samadhi 
(die Gnosis) auf dem Wege des fortgesetzten Denkens zu erreichen 
sei. Die erste Frage hatte eine.gewichtige ethische Seite: der 
Anomismus (das auch von Paulus bekämpfte »n&vıa pol čķeotva) 
wäre Folge der Bejahung. Die beiden anderen hingen mit 
der Heilslehre zusammen. Sie zeigen vor allen Dingen deut- 
lich das Eindringen der Spekulation, — entsprechend dem Ein- 
dringen des Hellenismus in die alte Christenheit. Der Mahim- 
sashasaka-Schule stand schon damals die Sarvastivada-Schule 
gegenüber, welcher der Vorsitzende des Konzils beitrat und welche 
das Eindringen der Spekulation abzudämmen suchte. Vergeb- 
lich. Die späteren Konzilien befaßten sich mit Dogmatik, wur- 
den von der jeweiligen Minderheit als tendenziös zusammengesetzt 
nicht anerkannt und das Schisma war damit in aller Form da. 
Geographisch verteilten sich die Parteien im Laufe der Zeit im 
wesentlichen so, daß die altbuddhistische, strenge Observanz 
(Hinayana) schließlich in Südindien, die laxere Richtung 
(Mahayana, das »große Schiffe, d. h. die Universalkirche) seit 


3) Nämlich: ob in der Diözese mehrere Upasatha-Versammlungen zu- 
lässig seien. 





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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 701 


I. Jahrh. nach Chr. 38) im Norden vorherrschte. 

Die Ueberlieferung macht es wahrscheinlich, daß die Laien 
entweder von Anfang an oder doch später auf seiten der laxeren, 
ursprünglich Mahasamghika (große Gemeinde) genannten Rich- 
tung, des Mahayana, und im Gegensatz zu den Sthaviras, den 
»Aeltesten«: erprobten charismatischen Arhats, standen. Denn 
als Spezialität der Mahasamghika ist die Mitwirkung der Laien 
auf den Konzilien überliefert 3°). Es handelt sich natürlich nicht 
um die sunterene Klassen — von denen überhaupt als aktiv 


treibendem Element nie die Rede ist und sein konnte — sondern 


gerade um Herrenschichten. Auch vornehme Damen sollen 
sich als Parteigängerinnen der Mahayana-Schule hervorgetan 
haben. Dies ist ebenso begreiflich wie die Parteinahme der Kurie im 
14. Jahrhundert für die Konventualen und gegen die strenge 


Observanz der Franziskaner. Die „Abhängigkeit. der Mönche. 


von den Herrenschichten war um s so größer, je weniger swell- 
ablehnend«s sie waren.. Die fast schrankenlose klerikale Herrschaft 
der der Hinayana-Òrthodoxie i in Ceylon und Birma über die Laien, 
gegen welche die weltliche Gewalt der Herrscher oft vollkommen 
ohnmächtig war, hatte — wie die bald zu erwähnenden Berichte 
der chinesischen Pilger zeigen — auch in Nordindien unter der 
Vorherrschaft des Altbuddhismus vielfach bestanden. Der gleiche 
Kampf zwischen der Laiengewalt und dem_Mönchtum, der im 
byzantinischen Reich jahrhundertelang bestand, ist auch in Indien 
geführt worden, nur in anderen Formen. Für die weltliche Ge- 
walt bestand das Interesse, die Mönche als Is Domestikationsmit- 
tel der Massen zu gebrauchen.. Denn wenn auch die »Mas- 
sene nie die aktiven Träger der buddhistischen Religiosität 
waren, so haben sie doch selbstverständlich, als Objekt der Be- 
herrschung durch die Mittel des religiösen Glaubens, hier wie bei 
allen religiösen Stellungnahmen der Herrenschichten eine ganz 
entscheidende Rolle gespielt. Im Wege der Hagiolatrie aber 
haben die buddhistischen Mönche vielfach auch die Massen 
stark an sich gefesselt. 

Zu diesem politischen Grund trat der immer stärkere Ein- 
fluß der schulmäßigen .brahmanischen Spekulation und ihrer 
Begriffe auf das buddhistische Denken. Noch die Schilderungen 

383) Nicht jedoch dauernd, z. B. offenbar nicht in der Zeit von J-tsings Reise 
nach Indien (7. Jahrhundert). 


39) Der Name wird schon von Hiuen Tsang davon abgeleitet. (Bei S. Julien, 
Hist. de Hiuen-Tsang p. 159.) 


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702 Max Weber, 


J-tsings aus dem 7. Jahrhundert #9) lassen erkennen, daß man 
an die brahmanische Tradition zunächst vor allem im lehr- 
technischen Interesse anknüpfte. Die Technik der Erlernung 
der Veden gilt ihm als unerreicht zur formalen Schulung des 
Geistes, vor allem für das Behalten der eigenen Argumente, aber 
auch der des Gegners. Das Literateninteresse_ verlangte eben 
die Pflege der Wissenschaft und die 5 Vidya: Grammatik (wie 
stets die wichtigste), Medizin, Logik, Philosophie und auch 
bereits die von den literarischen Künstler- und Techniker-Kreisen 
verlangte theoretische Pflege der sschönen Künste« (Silpastha- 
navidya) tauchten auf — selbst in der Hinayana-Schule — und 
mußten sich wohl oder übel der alt®n brahmanischen Sprache 
bedienen. Klosterschulen für Laien und Kinderfibeln entstanden. 
Daß in dieser ganzen \ Entwicklung, vor allem aber im Mahayana, 
die vornehmen Schichten in besonderem Maße die Führung hat- 
ten, wird nicht nur durch das ausdrückliche Anerkenntnis der 
Kastengliederung ®!), welche vorher ignoriert worden war, hinläng- 
lich dargetan, sondern auch durch den äußerlichen Umstand, daß 
jene Schule im Gegensatz zu den alten Hinayana-Buddhisten 
die später zu besprechende von Kaschmir ausgehende Renais- 
sance des Sanskrit mitmachte: ihre heiligen Schriften wurden 
in der alten Gelehrtensprache abgefaßt, der Pali-Kanon blieb im 
Besitz der südlichen Buddhisten. Die heilige Literatur schied 
sich nun allmählich ebenso vollständig, wie zwischen den beiden 
Jaina-Sekten. Denn in jeder Hinsicht wuchs der Gegensatz 
der Schulen sehr bald über die anfänglichen disziplinären Anlässe 
hinaus. Das Bild, welches man in der Reiseschilderung Fa Hiens 
erhält (um 400 nach Chr.) 4), — der, selbst Mahayanist, doch 
zwei Jahre in Ceylon, dem Hort der Orthodoxie, verweılte, — 
ist noch ein relativ friedliches. Weithin nach Turkestan hat sich 
die Lehre verbreitet. Ganz entsprechend den Edikten Acokas 
halten die dortigen ®) Könige die fünfjährliche Versammlung 


0) Ch. 34 der Uebersetzung von Takakusu bei Nr. 9. 

4) Ein Bodhisattva, lehrte schon das Lalita Vistara, kann nicht nur nicht 
bei Barbaren- und Grenzvölkern (sondern nur auf dem heiligen Boden Indiens), 
sondern auch nur in einer vornehmen Kaste (Brahmanen oder Kschatriya) ge- 
boren werden, nicht im niederen Volk. Die älteren Mahayana-Sutras (übersetzt 
im Band 49 der Sacred B. of the East) behandeln es auch als selbstverständlich, 
daß nur ein »Sohn aus guter Familie« die Erlösung erlangen könne. 

4) Ausgabe von S. Beal (Travels of Fah Hien and Sung Yun, transl. 
from the Chinese, London 1869). 

42) Im Königreich » Kie-che« a. a. O. ch. V, p. 15. 


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Die Wirtschafisethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 703 


ab. In Nagrak (bei Jelladabad) ist der König jeden Morgen im 
Gottesdienst. Aehnlich in Takshasila. Ein Jahrhundert spätere 
Nachrichten ) zeigen, daß die Könige im Pandjab teilweise noch 
im 6. Jahrhundert als strenge Vegetarier lebten, und keine Todes- 
strafen verhängten. Für die Gegend von Mathura berichtet 
Fa Hien #), daß die Beamten des Königs feste Einnahmen 
haben, keine Schollenfestigkeit, niedrige Steuern und nicht das 
im indischen Patrimonialgroßstaat übliche System der Kopf- 
und Steuerlisten bestand, alle Kreaturen geschont, kein Fleisch 
gegessen, keine Schweinehaltung und kein Viehhandel geduldet, 
keine geistigen Getränke und nur von der (unreinen) Tschandala- 
Kaste Zwiebeln und Knoblauch genossen wurden, auch die Todes- 
strafe fehlte. Agokas Reich war längst zerfallen. Aber relativ 
pazifistische Kleinkönigreiche herrschten in Nordindien vor. 
In Oudiana (zwischen Kaschmir und Kabul) dominierte die hinaya- 
nistische Schule. Ebenso in Kanauj. In der in Ruinen liegenden 
Hauptstadt Acokas, Pataliputra (Patna), waren Klöster beider 
Schulen vorhanden und in der Gegend von Farakhabad duldeten 
sie einander am gleichen Aufenthaltsort *). In der Gegend von 
Mathura, von deren politischen Verhältnissen soeben berichtet 
wurde, herrschte die Mahayana-Schule, aber nicht ausschließ- 
lich. Buddhistische Brahmanen werden als Gurus der Könige 
der Gegend von Pataliputra erwähnt %). Bei Sung Yun wird 
sogar gesagt, daB, während ein Erobererkönig in Gandhara 
seinerseits den Buddha verachte, das Volk »der Brahmanenkaste 
angehöre« und großen Respekt vor dem Gesetz des Buddha 
habe *#). Der Buddhismus war nach wie vor eine Lehre der vor- 
nehmen Intellektuellen. Es interessierte alle diese Pilger, ganz eben- 
so wie den über 2 Jahrhunderte später nach Indien pilgernden 
Hiuen-Tsang, lediglich das Verhalten der Könige und ihrer Hof- 
beamten. Im übrigen aber hat sich in der Zeit Hiuen Tsangs 
(628 und folgende Jahre) sichtlich manches geändert. Zunächst 
der Gegensatz der Mahayana-Schulen gegen die hinayanistische 
Orthodoxie. Ein Hinayanist wird von schwerer Krankheit be- 
fallen, weil er Mahayana geschmäht hat %). Es ist überhaupt 


#) Sung Yun bei St. Julien a, a. O. p. 188. 
t8) A. a. O. (Beal) p. 537. 
“) A. a. O. p. 07. 
) A.a. O. p. 103f. 
4) A. a. O. p. 197. 
48) Bei St. Julien p. 109. 
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 3 46 





en ES 


704 Max Weber, 


eigentlich nur vom Mahayana die Rede und Hiuen Tsang hält 
es auch nicht für nötig, nach Ceylon zu gehen. Dazu: gesteigertes 
Eindringen spezifisch brahmanischer Elemente in diezunehmend 
vorherrschende Mahayana-Lehre. Indien heißt bei Hiuen-Tsang 
das »Reich der Brahmanen« (To-lo-man). Statuen von Brahma 
und Indra stehen in Heiligtümern des Gangestales neben dem 
Standbild Buddhas 5%). Die Veden (Wei ho) werden zwar als 
ssubalternes (d. h. laienhafte) Lektüre 5!) bezeichnet, aber eben 
doch gelesen. Der König von Kosala verehrt den Buddha, da- 
neben aber in brahmanischen Tempeln die hinduistischenDevas 53). 
Wenn es auch noch Könige gibt (Ciladitya), welche alljährlich 
das große Konzil des Buddhistenklerus einberufen 53), so ist dies 
doch offenbar nicht die Regel. Zunehmende Schärfe der Schul- 


E :: gegensätze, Zurückdrängung des Hinayana in Nordindien, aber 
(: auch Rückgang des Buddhismus überhaupt ist der Eindruck. 


Für die Verschärfung des Gegensatzes zwischen Mahayana 
und Hinayana waren die alten disziplinären Unterschiede damals 
nicht mehr maßgebend. 

Auch im Hinayana wurde das alte Geldbesitz-Verbot der 
strengen Observanz mit den gleichen Mitteln umgangen, wie bei 
den Franziskanern. Laienvertreter empfingen das Geld und 
verwalteten es für die Mönche, und selbst in der alten orthodoxen 
Kirche Ceylons herrschte schließlich der Klingelbeutelbetrieb. 
Klostergrundherrschaften und dauernde, nicht, wie ursprünglich, 
auf die Regenzeit beschränkte Klosterseßhaftigkeit der Mönche 
bestanden hier wie dort, im allergrößten Umfang zeitweise — 
wie noch zu erörtern — gerade in Ceylon, dem Sitz der strengen 
Observanz. Gegensätze und Anpassungsbedürfnisse anderer, 
religiöser, Art haben vielmehr in der Mahayana-Kirche die weitere 
Fortentwicklung von der alten Soteriologie bestimmt. In erster 
Linie die religiösen Laieninteressen, welche aus propagandisti- 


F schen Gründen zu berücksichtigen waren. Die Laien begehrten 
‘Nirwana nicht und konnten mit einem nur exemplarischen Pro- 
` pheten der Selbsterlösung wie Buddha nichts anfangen. Sondern 


: i sie verlangten nach Nothelfern für das diesseitige Leben und 


. nach dem Paradies für das jenseitige. Es setzte daher im Mahayana 
~ , jener Prozeß ein, welchen man gewöhnlich als die Ersetzung des 








50) Ebenda p. III. 

51) ə Livres vulgaires« übersetzt St. Julien. 
52) Fbenda p. 185. 

53) Ebenda p. 205. 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 705 


Pratyeka-Buddha- und Arhat- (Selbsterlösungs-) durch das 
Bodhisattva- (Heilands-) Ideal bezeichnet. Während die Hinayana- 
Schule ihre Anhänger in Cravakas (Laien), Pratyeka-Buddhas 
(Selbsterlöser) und Arhats (Erlöste) als religiöse Stände teilte, 
wurde das Bodhisattva-Ideal der Mahayana-Sekte eigentüm- 
lich und gemeinsam. Es setzte eine innere Umwandlung der 
Erlösungstheorie voraus. In der Frühzeit des Buddhismus 
wurde der Streit zwischen den »Aeltesten« (Sthaviras), d. h. 
den charismatischen Trägern der Gemeindetradition und den 
»Mahasamghika«, den schulmäßig spekulativen Denkern: den In- 
tellektuellen, geführt, wie wir sahen. Von den Fragen der Dis- 
ziplin und der praktischen Ethik griff er auf spekulative Fragen 
über: die ssattva«-Probleme, die Fragen nach der »Natur« des Er- 
lösungszustandes und folglich zunächst: über die Person des 
Erlösers. Die alte Schule hielt an seiner Menschlichkeit fest. 
DieMahayanisten entwickelten die»Trikaya«-Theorie: die Lehre von 
dem übernatürlichen Wesen des Buddha. Er hat drei Erschei- 
nungsformen: einmal die 'Nirmana Kaya, den »Verwandlungs- 
leib«, in welchem er auf Erden wandelte. Dann die Sambhoga 
Kaya, den, etwa dem »Heiligen Geist« entsprechenden, alldurch- 
dringenden Aetherleib, der die Gemeinde bildet, endlich die 
Dharma Kaya, von der später zu reden ist. 

Auf diesem Wege vollzog sich zunächst an Buddha ib 
der typische hinduistische Vergottungsprozeß. Damit verband 
sich nun die hinduistische Inkarnationsapotheose. Der Buddha 
war eine in einer Serie von Wiedergeburten stets erneut zur Erde 
steigende Verkörperung der (unpersönlichen) göttlichen Gnade, 
für welche vielfach auch ein ewig dauernder Träger: ein Adi- 
buddha, als existierend gedacht wurde. Von da war der Weg nicht 


weit, den Buddha zu einem Typus: dem Repräsentanten des 


zur vollen Erlösung gelangten und dadurch vergotteten Heiligen 
zu machen, der in beliebig vielen Exemplaren erschienen sein 


und noch erscheinen konnte: »Selbstvergottung«, der alte indi- . 
sche Sinn der Askese und Kontemplation und damit: der! 
lebende Heiland waren in den Glauben eingeführt. Der lebende : 
Heiland aber ist der Bodhisattva. Formell war der Bodhisattva mit 


dem Buddha zunächst durch die Wiedergeburts- und die aus der 

hinduistischen Philosophie übernommene Weltepochentheorie 

verknüpft. Die Welt ist ewig, verläuft aber — wie früher erwähnt 

— in immer neuen endlichen Epochen. Es gab nun in jeder Welt- 
46* 


Me, 


N 


706 Max Wcber, 


epoche einen, im ganzen also unendlich viele Buddhas. Der 
historische Gautama Buddha der r jetzigen Epoche hat 550 Wieder- 
geburten vor dem Eingang nach Nirwana durchgemacht. Bei 
der vorletzten Geburt hat der bei der nächsten zum Buddha 
sich durchringende heilige Arhat die Stufe des Bodhisattva (sdessen 
Wesen: sattva, Erleuchtung: bohdi, ist«) erreicht und weilt im 
Tuschita-Himmel, in welchem daher jetzt schon der künftige 
Buddha, Maitreya, sich als Bodhisattva aufhält. Aus dem Tu- 
schita-Himmel hat sich auch der historische Gautama Buddha 
durch wunderbare Inkarnation im Leib seiner Mutter Maya zur 
letzten Erdenfahrt begeben, um vor dem Eingang im Nirwana 
den Menschen seine Lehre zu bringen. Es ist klar, daß mit seinem 
»Verwehen« das Interesse sich dem kommenden Heiland: dem 
Bodhisattva, zuwenden mußte. Ebenso ist klar, daß in jenem 
an sich eintachen und rationalen Schema des Tuschita-Himmels 
und der Vielheit der Buddhas und Bodhisattvas die geeigneten 
Anknüpfungspunkte für eine Pantheonbildung, Wiedergeburts- 
mytholugien und Mirakel aller Art gegeben waren. Uns sollen 
diese zu fabelhaftem Umfang geschwollenen Mythologeme hier 
nicht beschäftigen, sondern ihre ethisch -soteriologische Seite. 
Ein Bodhisattya war, wie wir sahen, nach dem ganz korrekten 
Begriff ein zur »Vollendung« gelangter Heiliger, der bei der 
nächsten. Wiedergeburt ein Buddha werden und nach Nir- 
N 'wana gelangen kann. Daß “dies nun nicht geschieht, daß er 
ti vielmehr ein Bodhisattva bleibt, galt als ein Akt der Gnade, den 
ʻi er vollzieht, um als Nothelfer der Gläubigen wirken zu können. 


ar araa ae ee aon P 


\ 


: Er wurde infolgedessen das eigentliche Objekt der mahayanisti- 
schen Hagiolatrie und es ist klar, wie weitgehend diese Wandlung 
; den Heilsinteressen der Laien entgegenkam. 


Aktive Güte (paramita) und Gnade (prasada) sind die At- 
tribute des Bodhisattva. Er ist nicht nur zu seiner Selbsterlö- 
sung, sondern zugleich und vor allem um des Menschen willen 
da: der Buddha war nicht nur ein Pratyekabuddha, sondern auch 
ein Sammasambuddha, drückt die mahayanistische Termino- 
logie dies aus. Er vermöchte gar nicht den Entschluß zu fassen, 
aus dieser Welt des Leidens sich in einsamer Selbsterlösung zu 
retten, solange noch andere da sind, die leiden. Upäya (die 
Pflicht, eigentlich: in charakteristisch zeremoniöser Termino- 


: logie: »Schicklichkeit«) hindert ihn daran. Die in der Mahayana- 


Schule entstandene spekulative Trinitätslehre erleichterte dies: 


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~. 





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Die Wirtschaftsethik der Welireligionen. Hinduismus und Buddhismus. 707 


nur in der ersten seiner Existenzformen, der Nirwana Kaya, ist 


er in das Nirwana eingegangen. Der Unterschied der buddhisti- 
schen gegen die christliche Trinität ist charakteristisch: der Bud- 
dha wird Mensch, wie die zweite Figur der christlichen Trinität, 
um die Menschen zu erlösen. Er erlöst sie aber nicht durch Leiden, 
sondern durch die bloße Tatsache, daß auch er nun vergänglich 
ist und als Ziel nur das Nirwana vor sich hat. Und er erlöst sie 
exemplarisch, nicht als stellvertretendes Opfer für ihre Sünden. 
Denn nicht die Sünde, sondern die Vergänglichkeit ist das Uebel. 

Alle diese Beispiele zeigen die dritte Richtung jenes An- 
passungsprozesses, welche die Mahayana-Entwicklung bedeutete. 
Neben der Anpassung an die ökonomischen Existenzbedingun- 
gen in der Welt und an die Bedürfnisse der Laien nach einem 
Notheifer_war_es_die_Anpassung.an. das theologische- spekula- 
tive five Bedürfnis c der brahmanisch geschulten, Intellektuellenschicht, 
Die einfache Ablehnung alles Spekulierens über Dinge, welche 
zum Heil nichts nütze sind, wie der Buddha sie konsequent 


religionsphilosophische Literatur entstand, bediente sich zu- 
nehmend ausschließlich wieder der Gelehrtensprache (des »Sans- 
krite), schuf Universitäten, Disputationen, Religionsgespräche 
und zeitigte vor allen Dingen eine ziemlich komplizierte Meta- 
physik, in welcher alle alten Kontroversen der klassischen indi- 
schen Philosophie wieder auflebten. Damit aber war der Riß 
zwischen den wissenden Theologen und Philosophen und den nur 


als exoterische Mitläufer gewerteten Illiteraten ganz in brahmani- ; 
scher Art in den Buddhismus getragen. Nicht die persönliche | 


Gnosis, sondern das geschulte Buchwissen war wieder die herr- 
schende Macht in der Gemeinschaft. Wie in den Literatenkreisen 
Chinas Indien nur als »Land der Brahmanen« gewertet wurde, 
so war der Standpunkt der Mahayana-Literaten in Indien unter 
Hiuen-Tsang der: daß China ein Barbaren- (Mlechcha-) Land sei 
— deshalb eben sei ja der Buddha auf Indiens Kulturboden 
inkarniert worden und nicht dort oder anderswo —, und Hiuen- 
Tsangs charakteristischer Gegenbeweis ging davon aus: daß 
auch in China die Alten und Weisen die ersten seien, die 
Wissenschaft, einschließlich der Astronomie, blühe und die Macht 
der Musik bekannt sei 54). Dieser Begriff war ganz auf brahmani- 
sche — sagen wir: auf asiatische oder vielleicht sogar: auf antike — 
%) Bei St. Julien, Hiuen-Tsang p. 230 f. 









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geübt hatte, konnte nicht aufrecht erhalten werden. Eine ganze ]° 


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708 Max Weber, 


Intellektuellentheologie_ zugeschnitten. Es waren altbrah- 
manische Begriffe, und zwar nunmehr auch vedantistische, vor 
allem der für das Vedanta zentrale Begriff »Maya« (kosmische 
Illusion), nur in Umdeutungen, welche der Theologie des Ma- 
hayana-Buddhismus zugrunde gelegt wurden. Es ist eben kein 
._| Zufall, daß der Mahayana-Buddhismus sich in Nordindien in 
`. | unmittelbarer Nachbarschaft mit den alten Zentren brahmani- 
‚scher Philosophie und Soteriologie zunehmend entwickelte, 
während die orthodoxe Hinayana-Lehre sich schließlich, nach 
| mancherlei Schwankungen, auf dem Missionsgebiet im Süden: 
: Ceylon, Birma, Siam, behauptete, — ähnlich wie den Hort 
' gegen die Einbrüche des Hellenismus in die alte christliche 
Kirche stets, auf allen Konzilien, Rom und der Westen bot, 
‚während im Orient die Nachbarschaft der hellenistischen Philo- 
sophie die dogmatische Spekulation entfesselte. 
Reminiszenzen der Samkhya-Lehre finden sich vielleicht 
in der Mahayana-Theorie von der Alaya-vijňana, der streng 
allem nicht Geistigen entgegengesetzten Seele. Und hier stoßen wir 
auf einen fundamentalen Gegensatz gegen den alten Buddhismus. 
Denn eben die Ablehnung des »Seelens-Begriffes hatte ja grade 
zu seinen wesentlichsten Eigentümlichkeiten gehört. Aber diese 
Vorstellung war sicherlich alsbald wieder verlassen worden. 
Wie die »Seelenwanderung« des Buddhismus die brahmanische 
wurde und nicht die der alten reinen Lehre blieb, so die gött- 
liche Potenz. Sie ist — wie im Vedanta — eine Allseele und die 
extreme Spiritualisierung der als Emanation gedachten Welt 
streift dicht an die Maya-Lehre, die auth gelegentlich ausdrücklich 
auftaucht: es ist alles nur subjektiver Schein und das höchste 
Wissen löst ihn auf. An das Bhagavadgita endlich erinnert die 
nun wieder beginnende organische Relativierung der Ethik. Der 
Bodhisattva erscheint, wie Krischna, stets erneut auf der Erde 
und kann — der »Trikaya«-Doktrin entsprechend — ganz nach 
den jeweiligen ethischen Bedürfnissen der Welt in jeder Form 
und jedem Beruf, jenach Bedarf, auftreten. Nicht nur als Mensch, 
auch als Tier, — zur Erlösung der in Tiere verschlagenen Seelen, 
— und wenn als Mensch, dann in jedem rituell anständigen Beruf, 
Also vor allem auch: als Krieger. Nur wird er seiner Natur 
nach nur in einen »gerechten« und guten Krieg gehen, in diesen 
aber unbedenklich. Es ist diese Theorie‘ praktisch wohl die 
weitestgehende Anpassung an die Bedürfnisse der »Welt«. 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, Hinduismus und Buddhismus. 709 


Theoretisch hatten diese Akkommodationen die Einführung ir- 
gend eines überweltlichen göttlichen Wesens zur Vorbedingung, und 
wir sehen ja ja auch, daß schon in der Ve Vergottung, Buddhas selbst 
eine solche vollzogen wurde. Allein Buddha war im Nirwana für 
immer der Welt entschwunden und konnte nicht selbst oder 
gar allein die höchste Weltgottheit darstellen. Und dem ein- 
mal kanonisch festgelegten Ausgangspunkt der Lehre entsprech- 
end konnte der Weltgott auch kein persönlicher Welt - Gott 
nach Art Vischnus oder Civas sein. Die absolute Endlosigkeit 
und Uebernatürlichkeit des Göttlichen wurde ergänzt durch 
seine streng unpersönlichen Prädikate: Bhutatathata 55), das 
»So-Seine und durch die Entgegensetzung des Acunya (des 
»Leerens, des »Nichtrealen«) als des spezifisch Heiligen, gegen- 
über dem Cunya (dem »Vollen«, »Realen«), ganz nach Art occi- 
dentaler mystischer Versuche und auch der Upanischaden, den 
Gottbesitz zu beschreiben. Das letztlich unaussagbare Göttliche 
zeigte dabei naturgemäß, entsprechend dem »Triratna« des alten 
Buddhismus, in welchem sich ja das »Dharmas« als göttliche Po- 
tenz fand 5%), Neigung, Züge des chinesischen »Tao« anzunehmen: 
Ordnung und Realgrund der. Welt zu werden, ewige Norm und, 
ewiges Sein in Eins zu setzen. Jenseits des schroffen Dualismus 
von ewigem Sein und durch ewige (Karman-)Normen gecrdneter 
absoluter Vergänglichkeit der Erscheinungswelt mußte das Abso- 


lute gefunden werden. Die Unverbrüchlichkeit des Karman | 


war dabei die Stelle, an der allein es für eine hinduistische Meta- 
physik greifbar werden konnte. Das mystische Erlebnis aber 
enthielt hier wie überall nicht »Norm«, sondern im Gegenteil ein 
gefühltes »Sein« in sich. Das höchste Göttliche des Mahayana- 
Buddhismus, das »Dharmakaya« war, wegen dieses rational nie 
überbrückbaren, aber ganz unvermeidbaren Gegensatzes, nicht 
nur, wie selbstverständlich, jenseits jeder »Worte«, sondern 


$5) Da es absolut unmöglich wäre, im Rahmen dieser Darstellung eine Ana- 
lyse der Theologie der (zu J-tsings Zeit) nach der Mindestzählung 18 buddhisti- 
schen Schulen und ihrer Verzweigungen zu geben, wurde nach mancherlei Er- 
wägungen der Weg gewählt, den auch asiatische buddhistische »Modernisten« 
einschlagen: eine von den Extremen der bestehenden Gegensätze etwa gleich- 
weit abliegende Schultheologie in einer möglichst rationalen Form vorzutragen. 
Wie jeder Kenner der Literatur leicht sehen kann, ist nachstehend in der Form 
der Darstellung vielfach Anschluß gesucht an das besonders gut, aber »westlichens 
Bedürfnissen angepaßt, geschriebene Buch von Suzuki, Outlines of Mahayanz 
Buddhism, London 1907. 

se) Im Christentum ist der seiner Natur nach leicht unpersönlich gedachte 
»Heilige Geist« in der Trinität eine entsprechende Konzeption. 


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.710 . Max Weber, 


die Beziehung zu ihm enthielt auch rational heterogene Prädikate 
in sich. Daß »Karuna«, höchste Liebe und »Bodhi«, höchste 
Gnosis, sich in der Beziehung des Heiligen zum Göttlichen ver- 
einen, ist nur aus psychologischen Qualitäten der mystischen Ek- 
stase erklärlich. Wenn also nun »Nirwana«, — ein Zustand, der 
jetzt in eine abgeleitete, sekundäre Stellung rückte —, zugleich 
negativ: Zerstörung allen Begehrens und, positiv: All-Liebe wurde, 
blieb nach wie vor Avidya, die Dummheit, die Quelle alles Uebels. 
Dies ist aus der streng intellektualistischen Herkunft dieser 
Soteriologie erklärlich. Das Mahayana ist so wieder eine letzt- 
lich esoterische Erlösungslehre für die Gnostiker, nicht für 
die Laien. Der praktisch so überaus wichtige Grundsatz der Lehre 
des Buddha: daß die Spekulation über unlösbare Probleme vom 
Uebel und heilsschädlich sei, ist in charakteristischer Art aufge- 
geben. Er wirkte nur darin nach, daß nach der orthodoxen 


| Mahayana-Lehre das letzte große kosmische Rätsel: die Frage, 
wie denn nun eigentlich die große Wurzel alles Uebels, die 
sAvidya« (Dummheit, Stumpfheit oder kosmische Illusion) in 


die Welt habe kommen können, für menschliches Wissen unlös- 
lich blieb und ebenso wie das »Warum ?« der spezifischen Quali- 
täten des Bhutatathata nur der letzten und höchsten, in Worten 
nicht kommunikablen, Gnosis eines Bodhisattva sich erschloß. 

Die erlösende Gnosis: aber trägt selbst die eigentümli- 
chen dualistischen Züge einer Kombination praktischen Liebes; 
fühlens und beherrschter Konzentration. FE Denkens. Sie 
rende exercitia spiritualia aufsteigend in n den zehn Stadien der 
warmen Liebe (pramudita), der Reinigung des Herzens (vimalä), 
der Klarheit der kosmischen Einsicht (prabakhari), des Strebens 
nach Vollendung (arcismati), der Meditation über das Wesen des 
Tathagata (sudurjaya), über die Art der Weltemanationen 
(abhimuki), der Erzeugung der Weltfremdheit trotz des inner- 
weltlichen Tuns (durangama, das »Gehen in die Fernee: — der 





-inneren Haltung des Bhagavata, die wir kennen, nahe verwandt), 


‚, der Erringung der vollen Gelassenhait als einer zur Natur ge- 


wordenen unbewußten und mühelos geübten persönlichen Quali- 


` tät (achala), der vollen Gnosis der transzendenten Wahrheiten 


(sadhumati), und endlich des Hinschwindens in die »Wolken des 


| Dharma« (Dharmamegha) : der Allwissenheit. Man bemerkt leicht 
` die Kreuzung gnostischer und praktisch liebesakosmistischer 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. zıl 


Elemente. Die Nirwana - Konzeption der Mahayana - Schule. 
trägt gleichfalls die Spuren dieser Kreuzung. Unterschieden 
wurden, neben dem absoluten Aufgehen im Dharmakaya mit 
dem Tode, welches jetzt, in vedantistischer Art, das gänzliche 
Erlöschen ersetzte, zunächst zwei Arten von diesseitigem Nir- 
wanay 1, das Upadhigesa Nirwana, die Freiheit von Leidenschaft, 
welche aber noch nicht von Samsara befreit ist, weil die intellek- 
tualistische Gnosis fehlt: — das überall charakteristische ratio- 
nale Element im Buddhismus 5”), —2,das Anupadhicesa Nirwana: 
das Upadhi-(Materialisations-) freie Nirwana, welches, durch volle 
Gnosis, ein von Samsara befreiter diesseitiger Seligkeitszustand 
des Jivanmukti ist. Aber das für die Mahayana-Schule Charak- 
teristische ist, daß der Begriff des innerweltlichen Nirwana auch 
damit nicht ausgeschöpft ist. Sondern neben der weltflüchtigen 
Mystik gibt es 3. die innerweltliche Mystik, das weltindifferente, 
sich gerade innerhalb der Welt und gegen sie bewährende Leben 
in der Welt und ihren Hantierungen, innerlich welt- und tod- 
entronnen, welches Geburt, Tod, Wiedergeburt und Wiedertod, 
Leben und Handeln mit all seinen Scheinfreuden und Schein- 
leiden hinnimmt als die ewigen Formen des Seins und sich gerade 
darin: in seiner weltindifferenten Heilsgewißheit behauptet. 
Als Wissen und Fühlen der absoluten Nichtigkeit dieser Vorgänge 
gegenüber dem zeitlosen Wert der bewußten Einheit mit dem 
Dharmakaya und dadurch mit aller Kreatur, die mit akosmisti- 
scher erbarmender Liebe umfaßt wird, ist es die buddhistischeWen- 
dung der im Bhagavadgita, wie wir sahen, gelehrten Form der ' 
innerweltlichen Weltindifferenz. Spuren dieses Standpunkts 
reichen weit zurück 5%), und es ist begreiflich, daß gerade er 
gegenwärtig als der seigentlich« mahyanistische vertreten wird 59), 
weil er das Bodhisattva-Ideal im Sinn einer sehr modernen Mystik 
zu interpretieren gestattet. 

Jedenfalls scheint etwa im 5. Jahrhundert unserer Zeit- 
rechnung Vasubandus »Weckung des Bodhicitta« schon ins 
Chinesische übersetzt gewesen zu sein und die entscheidenden 
Lehren für diese Wendung des Bodhisattva-Ideals zu enthalten. 
Das »Bodhicitta« 80) ist die in jedem Menschenherzen schlum- 
Sehr nachdrücklich hervorgehoben von Suzuki a. a. O. S. 344. 

s) Wenigstens dies dürften die Quellenzitate Suzukis dartun, so äußerst 
fraglich der Grad der Verbreitung solcher Auffassungen in älterer Zeit ist. 


#) So von Suzuki. 
%) Etwa gleich Gnosis-Liebesherz. 





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712 Max Weber, 


mernde Fähigkeit swissender Liebe«, welche, geweckt, pranidhäna 


weckt: den unerschütterbaren Willen, heißt das, durch die ganze 
Folge der eigenen Wiedergeburten hin hindurch : zum "Heil de der Brüder 


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als Tathagata (Heiland) zu_wirken._ Der Der Bodhisattva, welcher 
diese Qualität erlangt hat, gewinnt dadurch die Fähigkeit, nicht 
nur sein eigenes Heil zu erzeugen, sondern — worauf es ihm an- 
kommt — einen Thesauros von Verdienst anzuhäufen, aus wel- 
chem er Gnade spenden kann. Er ist also in diesem Sinn sou- 
verän gegenüber der ehernen Macht der Karman-Vergeltung. 


Damit war theoretisch die Grundlage für das 3 


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was man n für di die religiösen n Bedürfnisse der aliterarischen Laien 


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schichten benö benötigte und was der alte Buddhismus nicht hatte 


bieten können: lebende Heilande (Tathagatası und d Bodhisattvas) 


~ und die Möglichkeit der Spendung von Gnade. Selbstverständ- 


lich zunächst von magischer, diesseitiger, und erst daneben von 
jenseitiger, auf die Wiedergeburt und das Jenseitsschicksal be- 
züglicher Gnade. Denn wenn hier die spiritualistische Form der 
Mahayana-Lehre, wie sie die nordindischen Philosophenschulen 
erzeugten, wiedergegeben worden ist, so liegt es doch auf der Hand, 
daß in der Praxis des religiösen Lebens alsbald die überall ge- 
gewohnten Laienvorstellungen die Oberhand gewannen. Nagar- 
juna, der im ersten nachchristlichen Jahrhundert lebende erste 
Begründer der Mahayana-Lehre, hat in seinem Prajnaparamiha 
(Ans Jenseits-Ufer gelangtes Wissen) zwar die »Leere« als spe- 
zifische Existenzform (sattva) des Erlösten gelehrt. Neben einer 
als »Mittelweg« (Madhyamika) #2) bezeichneten Kombination von 
allen Mitteln der Selbstentäußerung (darunter vor allem: Almosen 
und Todesbereitschaft für den leidenden Nächsten), galt ihm die 
anhaltende Meditation und Erkenntnis(prajna) als letztes und höch- 
stes Mittel der Heilsgewinnung. Aber schon ihm hat der Wis- 
sende magische Gewalt. Mit dem Bannwort (dharani) und der 
mystischen Fingerstellung zwingt er Menschen und Naturgeister. 
Mit der Lehre Vasubandhus vollends, vier Jahrhunderte später, 
wurde neben dem hinduistischen Pantheon die volkstümliche 
Tantra-Magie, die Erringung des ekstatischen samadhi-Zustandes, 


6) Nämlich zwischen der alten klassischen Lehre der Sarvastavida, welche 
die Realität der Außenwelt (nach Art der Samkya-Schule) behauptete und 
vedantistisch beeinflußten Schulen, welche sich der Lehre von der kosmischen 
Illusion näherten. 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 713 


der Wunderkraft (siddhi) verleiht, eingeführt. Damit schloß 
die Entwicklung ab: Vasubandhu galt als letzter Bodhisattva. 
der Basıs Basis dieser "philosophisch ve vornehmen 'spiritualistischen. So 
teriologie_ des ; Mahayana nicht zu begründen, Der Ausbau der 
alten Laienethik geht über die Empfehlung der landläufigen 
Tugenden und der speziell hinduistisch-buddhistischen Ritual- 
gebote nicht heraus und es lohnt wenigstens hier für unsere 
Zwecke nicht, sie im einzelnen zu analysieren. Denn die Obö- 
dienz gegenüber den durch übermenschliche wundertätige 
Leistungen qualifizierten Bodhisattvas und die Magie wurden 
selbstverständlich der beherrschende Zug. Magische Therapeutik, 
apotropäische und magisch-homöopathische Ekstatik, Idolatrie 
und Hagiolatrie, das ganze Heer der Götter, Engel und Dämenen 
zogen in den Mahayana-Buddhismus ein. Vor allem: Himmel, 
Hölle und Messias #2). Im siebenten Himmel droben thront, jen- 
seits vom »Durst« (nach Leben) ®) und von »Name und Form« 
(Individualität) 6) der Bodhisattva Maitreya, der künftige Hei- 
land, der Träger des spezifisch buddhistischen messianischen 
Glaubens ®). Und ebenso stehen die Schrecknisse der Hölle 
zur Verfügung. Und endlich wurde ein Teil der mahayanisti- 
schen Stufen für die Erlösung in eine förmliche Heils-Karriere 
verwandelt: unterhalb des Arhat selbst gab es drei Stufen deren 
höchste die Wiedergeburt im Himmel als Arhat, deren nächst 
niedere die Wiedergeburt als Arhat nach noch einem Tode und 





2) Die ersteren beiden waren ja nie beseitigt. Aber sie spielten für das Inter- 
esse des alten Buddhismus gar keine Rolle. 

63) Dieser herrscht noch in den untersten Himmeln, wo z. B. vedische Gott- 
heiten und die durch Karman zeitweise in den Himmel versetzten Seelen leben. 

%) Diese herrschen noch in den höheren Himmeln, die von buddhistischen 
Heiligen bewohnt werden. 

*5) Die mahayanistische Literatur zeichnet sich durch ein üppiges Schwelgen 
in gehäuften Wonnen, Wundern und Heiligen aus. So namentlich schon die ziem- 
lich alte mahayanistische Buddha-Legende des Lalita Vistara (übersetzt von 
Lefmann), wo — gegenüber der relativ noch schlichten Schilderung bei Acvago- 
sha — in der denkbar unkünstlerischsten, aber spezifisch mystisch-magischen 
Art die Wunder gehäuft und in einer Art in Juwelen, Lichtstrahlen, Lotos 
und alien Arten von Pflanzen und Parfüms gewühlt wird, welche an die Deka- 
dentenliteratur nach Art von Wilde (Dorian Gray) und Huysmans erinnert. In 
Wahrheit ist es mystische Kryptoerotik, die da wirksam wird. Die Schilderung 
der Schönheit der Theotokos im Lalita Vistara und die Vorschriften der Ami- 
thaba-Meditation im Amitayur-Dhyana-Sutra geben Gelegenheit zu glühender 
erotischer Inbrunst, immer mit Heranziehung von Geschmeide, Blumen und 
schwüler Schönheit aller Art. 





714 Max Weber, 


deren niederste die Wiedergeburt als Arhat nach noch 7 Toden ge- 
währleistete *®). 

Der Mahayanismus ist es auch gewesen, der zuerst durch 
formelhafte Gebetsandacht, schließlich durch die Technik der 
Gebetsmühlen und in den Wind gehängten oder an das 
Idol gespuckten Gebetspapiere das absolute Höchstmaß von 
Mechanisierung des Kults erreicht und mit der Verwandlung der 
ganzen Welt in einen ungeheuren magischen Zaubergarten ver- 
bunden hat. Nicht übersehen werden dürfen dabei jene Züge 
von Innigkeit und karitativem Erbarmen mit aller Kreatur, 
welche der Buddhismus, und in Asien nur er, wohin immer er 
kam, in das volkstümliche Empfinden hineingetragen hat. Darin 
ähnelte seine Wirkung derjenigen der Bettelmönche des Occi- 
dents. Sietreten auch und gerade in den Tugenden der Mahayana- 
Religiosität typisch zutage. Aber sie sind keineswegs ihr im 
Gegensatz zur Hinayana-Schule eigentümlich. 

Gänzlich dagegen fehlt jeder Ansatz zur Erzeugung einer 
rationalen Lebensmethodik der Laien im Mahayana. Weit ent- 
fernt, eine solche rationale Laienreligiosität erzeugt zu haben, 
hat der Mahayana-Buddhismus eine esoterische, dem Wesen 
nach brahmanische, Intellektuellen-Mystik mit grober Magie, 
Idolatrie und Hagiolatrie oder Gebetsformelandacht der Laien 
verknüpft #”). Die Hinayana-Schule hat ihren Ursprung aus einer 
vornehmen Laien-Soteriologie wenigstens insofern nicht ver- 
leugnet, als sie eine Art von systematischer klösterlicher Laien- 


6) Die Lehre ist für die Entstehung gewisser wichtiger Vorstellungen im 
Lamaismus (der Lehre von den Khubilganen) wohl nicht ohne Einfluß 
gewesen. Davon später. 

©) Die ethischen Anforderungen, welche ein für die Mahayana-Mission 
in China und Japan wichtiges Werk wie das Amitayur-Dhyana-Sutra (S. B. of 
the East vol. 49) stellt, sind bescheiden und nach Bedarf abgestuft. Zwar wer 
übel tut und überdies dumm ist, fällt äußerstenfalls in die Hölle, vor der ihn 
jedoch die Anrufung des Buddha Amitayür rettet. Wer übel tut, aber wenig- 
sten nicht schlecht von der Mahayana-Lehre spricht, ist schon günstiger dar- 
an. Wer sich zu seiner Familie gut verhält und Wohlwollen ausübt, noch 
besser. Wiederum besser, wer die rituellen Verbote innehält und sich zu ge- 
gebener Zeit kasteit. Eine höhere Seligkeit erlangt, wer an die richtige Lehre 
(Karman - Determinismus) glaubt, nicht schlecht von der Mahayana-Doktrin 
spricht und nach den höchsten Qualitäten strebt. Noch günstiger ge- 
staltet sich das Schicksal dessen, der den Sinn der Mahayana-Lehre im Kopf 
hat und nicht schlecht von ihr spricht. In das reine Land — das westliche Para- 
dies der spätbuddhistischen Religiosität — wird gelangen, wer entweder die 
Meditation pflegt oder die Sutras der Mahayana-Schule studiert oder endlich 
das »Liebesherz« der reinen Lehre besitzt (s. die Stufen der Vollendung a. a. O. 
$ 22—30). 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 715 


Erziehung entwickelte, die freilich bald konventionell entartete. 
Die Söhne guter Familien pflegten — vermutlich seit Acokas 
Eintritt in den Orden — und pflegen in korrekt hinayanisti- 
schen Ländern noch jetzt einige Zeit — freilich jetzt zuweilen 
nur vier Tage, also wesentlich symbolisch — im Kloster das 
Leben eines Bhikkshu zu führen. Aber auch eigentliche Kloster- 
schulen für Laienbedürfnisse nach Art der Volksschulen waren 
bei der Hinayana-Schule eine vermutlich seit Agoka bestehende 
Erscheinung. Dergleichen ist vom Mahayana-Buddhismus, wenig- 
stens als systematisch gepflegte Einrichtung, nur bei einzelnen 
Sekten in Japan überliefert. Es ist doch wohl anzunehmen, daß 
der klerikale Eifer König Acokas der Hinayana-Schule diesen 
Zug zur sinneren Mission« dauernd aufgeprägt hat. 

So sehr die eigentliche Heilslehre des Buddhismus vornehme 
Intellektuellensoteriologie war, so ist doch nicht zu leugnen, 
daß seine Gleichgültigkeit gegen die Kasten auch praktische Kon- 
sequenzen gehabt hat: Von einigen seiner alten Schulen ist aus- 
drücklich überliefert, daß sie von Cudra gestiftet seien %%). 
Und in der mit der Entstehungszeit gleichzeitigen Epoche der 
Gildenmacht ist zweifellos auch ein literarisches Bildungsbedürf- 
nis der bürgerlichen Schichten vorhanden gewesen. Der Unter- 
richt war freilich, soviel bekannt, keine Schule rationalen Denkens 
und Lebens, sondern wobl von jeher lediglich auf Verbreitung 
der nötigsten religiösen Kenntnisse gerichtet: immerhin konnte 
dazu gerade bei der Hinayana-Schule, deren Schriften in der 
Volksmundart abgefaßt waren, unter Umständen das Lesen 
gehören. 

Eine unmittelbare Stiftungdes Hinayanismus, — vielleicht 
richtiger: der vorschismatischen altbuddhistischen Orthodoxie, 
ist die singhalesische (ceylonesische) Kirche #9). Wenige Jahr- 
hunderte erst waren seit der arischen Eroberung (345) verflossen, 
als (angeblich) Malinda, ein Sohn Acokas, dort als Missionar 


se) von den Schulen der Grenzländer Nordindiens in der Zeit der chinesischen 
Pilgerfahrten galten die Samatya und Mahasthavira als von Cudras gestiftet. 
Beide waren Unterabteilungen der Vaibachia, welche die alte Kirche dar- 
stellten. (Außerhalb ihrer standen nicht nur die Madhyamika-Schule Nagarju- 
nas, sondern auch die Sutrantika (Ritualisten) und Yogachara.) 

$) Das s. Z. grundlegende Werk über Ceylon von Tennant (5. Auflage 1860) 
war mir z. Z. leider nicht zugänglich. In Kerns Geschichte des Buddhismus 
findet man die Klostergeschichte dargestellt. Ueber die Organisation der Klöster 
. unterrichtet der amtliche Bericht von Bowles Daly (Final Report on the Buddhist 
Temporalities Ordinance 1894). im übrigen ist Spence Hardys Eastern Mo- 
nachism grundlegend. 





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716 Max Weber, 


auftrat. Trotz häufiger Rückschläge, wiederholter Eroberungen 
durch Malabaren und besonders die südindische Tamils und einmal 
auch durch die Chinesen, hat sich die Herrschaft der buddhisti- 
schen Klosterhierarchie doch auf die Dauer behauptet. Gestützt 
wurde sie durch das auf einem großartigen Bewässerungssystem, 
welches Ceylon zur Kornkammer Südasiens machte, und der dazu 
erforderlichen Bürokratie ruhende Königtum, und diesem wieder 
diente sie zur Domestikation der Bevölkerung. Sehr große Land- 
schenkungen und die Einschärfung der Autorität der Kloster- 
hierarchie füllen fast die ganze epigraphische 7°) und chronisti- 
sche 71) Hinterlassenschaft der Zeit der ceylonesischen Herrscher. 
Der entscheidende Zug des ceylonesischen Buddhismus waren 
die Klostergrundherrschaften, welche etwa ein Drittel des Landes 
umfaßten. Durch ihre Einrichtung wurde es vor allem ermöglicht, 
dem kanonischen Verbot des Geldbesitzes wenigstens formell 
nachzukommen. Der in den charakteristischen alten vornehmen 
Formen geübte tägliche Bettelgang war demgegenüber offenbar 
praktisch zum rituellen Akt geworden. Denn der gesamte Be- 
darf des Klosters und des für die Laien eingerichteten Kults und 
Tempelunterhalts war in einer an die Einrichtung altkarolingi- 
scher Fisci und Klostergrundherrschaften etwa nach Art des 
Kapitulare de villis erinnernden, sie aber an konsequenter Durch- 
führung der Naturalwirtschaft weit übertreffenden Art auf die 
als Erbpächter auf den verliehenen Landlosen sitzenden Bauern 
in spezifischen Abfaben von Nahrungsmitteln und gewerblichen 
Produkten aller Art so umgelegt, daß ein Ankauf von irgend- 
welchen Bedarfsartikeln nicht erforderlich war (oder doch nicht 
erforderlich sein sollte). Die Belastung der Erbpächter war dabei 
so leicht, daß auch die englische Herrschaft nach eingehender 
Untersuchung von einer Ablösung, und zwar in Uebereinstim- 
mung mit den Erbpächtern selbst, zunächst absah. Anpassungen 
im einzelnen sind selbstverständlich immer wieder vorgekommen. 
Im ganzen haben die Darstellungen sowohl früherer wie moderner 
Reisender aber das Bild bestätigt: daß das Leben der Mönche in 
den Klöstern, vor allem ihre Behausung (pansala) ein bescheide- 
nes, bescheidener als etwa in einer italienischen Certosa, war und 
sich an die wesentlichen Vorschriften des Pratimokkha band; 
ihre berüchtigte Habgier war im wesentlichen auf Vermehrung 


te) Mir sind leıder vorläufig die Uebersetzungen Gregorys nicht zugänglich 
gewesen. 
12) Namentlich das Mahavamsa. 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 717 


der Güter des Ordens als solchen gerichtet. Die Laienfrömmigkeit 
war, soweit sie überhaupt als buddhistisch zu gelten hatte, dem 
Schwerpunkt nach Reliquienkult (vor allem der Kult des Zahns 
des Buddha) und Hagiolatrie, ganz entsprechend der Natur 
der Beziehungen des Buddhismus zu den Laien. Der Einfluß 
des Klerus auf die Laien, als deren Gurus, Exorzisten, Thera- 
peuten ?2) sie fungierten, muß jedenfalls politisch recht bedeutend 
gewesen sein, soweit nicht hinduistische (heterodoxe) Kasten, 
wie die Kammalars (Königshandwerker) sich ihm entzogen. 
Nirgends, außer in Birma, dürfte die Durchführung der buddhisti- 
schen Laienregeln so weitgehend sich den theoretischen Anforde- 
rungen genähert haben wie hier. Allein diese Regeln für Laien 
stellten eben an die Laien ganz geringe und wesentlich formalisti- 
sche Ansprüche. Der Lese- und Schreib-Unterricht, das Anhören 
der Predigt, die zeitweise Askese, die Mantristik und die Konsul- 
tation der Mönche als Magier erschöpften den buddhistischen Inhalt 
des Lebens. In der Praxis beherrscht derDämonenglaube das Leben 
der Laien und es bestanden heterodoxe Magier (besonders Exorzi- 
sten für Krankheiten). Die Mönchsgemeinschaft selbst hat frei- 
lich stets als Hüterin der reinen Tradition und der kanonischen 
Schritten in hohen Ehren gestanden. 

Hinterindien gilt meist als rein hinayanistisches 
Missionsgebiet. Das ist nicht unbedingt zutreffend. Die ver 
schiedenen politischen Gebilde, welche durch wechselnde Er- 
oberungen dort entstanden, sind sowohl hinduistischer (brah- 
manischer), als hinayanistischer, als — offenbar — auch mahaya- 
nistischer Einwirkung ausgesetzt gewesen. Brahmanen, vedische 
Bildung und wenigstens Ansätze zur Kastenbildung (Handwerker- 
kasten) fanden sich. Wohl nur die Nähe von Ceylon als Missions- 
zentrum hat bewirkt, daß schließlich in der Tat die Hinayana- 
Schule das Feld behauptete, nachdem vor allem die mongoloiden 


Erobererfürsten, deren Vorstoß im Mittelalter die bis zur euro- 


päischen Okkupation herrschende politische Machtverteilung 
der Einzelstaaten bestimmte, sich ihr angeschlossen hatten. In- 
dessen schwankte auch dann, wie die Inschriften zeigen, alles 
immer wieder. Das Bedürfnis nach Domestikation der Unter- 
tanen und nach rationaler Schriftverwaltung war der regel- 
mäßige Anlaß für die Könige, Schriftgelehrte ins Land zu rufen, 


72) Wie in Tibet, so wurde auch in Ceylon die apotropäische und exorzisti- 
sche Spruchpraxis systematisch gelehrt. 


718 Max Weber 


je nachdem brahmanische, mahayanistische oder — zuletzt — 
hinayanistische. Samsara und Karman wurden sehr bald all- 
gemein selbstverständliche Voraussetzungen auch im Volks- 
glauben. Im übrigen aber findet sich lange Zeit nebeneinander 
l brahmanische und buddhistische Bildung. Im 8. Jahrhundert 
‚'&°°° werden in einer buddhistischen Inschrift in Siam Brahmanen 
erwähnt und noch im 16. Jahrhundert unterstützt ein König 
adie buddhistische und die brahmanische Religion« 73), obwohl 
inzwischen der ceylonesische Buddhismus in aller Form Staats- 
religion geworden war 7$). Gurus und Acharyas (Lehrer) er- 
wähnt ein königliches Edikt aus dem r0. Jahrhundert ?°), große 
Schenkungen von Sklaven und Terrain an Klöster finden sich 
zu verschiedenen Zeiten. Aber erst seit dem 15. und 16. Jahr- 
hundert ist wirklich eindeutig, daß es sich um buddhistische 
und zwar hinayanistische Klöster handelt 76). Wie es inzwischen 
stand, zeigt eine groBe siamesische Königsinschrift des 14. Jahr- 
| hunderts ziemlich deutlich 77). Der König bezeichnet sich als 
| Kenner der Veden. Er sehnt sich, wie er sagt, nach dem Himmel 
| ; Indras, aber er strebt auch nach Nirwana als dem Ende der Seelen- 
V wanderung. Daher stiftet und baut er — dies letztere durch 
seine eigenen Handwerker — gewaltig. Aber die Hauptobjekte 
der Bautätigkeit sind trotz des buddhistischen Charakters der 
Inschrift zwei Statuen und Tempel der großen Hindugötter 
Çiva (Paramesvara) und Vischnu. Der König schickt dann, um 
seinen Verdiensten die Krone aufzusetzen, nach Ceylon und läßt 
durch einen dortigen Weisen den ersten Tripitaka-Kanon impor- 
tieren. Er erklärt dabei, auf den Himmel Indras und Brahmas zu 
verzichten und ein Buddha werden zu wollen, der allen seinen Unter- 
tanen die Wohltat der Erlösung von der Welt bringe ?®). Er 


13) S. beide Inschriften bei Furneau, Le Siam ancien (Annales du Musés 
Guimet 27 p. 129 bzw. 187). 

74) S. die später noch zu erwähnende Inschrift a. a. O. S. 233 (13. Jahrhun- 
dert). 

?3) A. a. O. S. 141. 

7e) A. a. O. S. 144 (15. Jahrhundert) ist ein Mahasanghəraya (Kongregations 
vorstand), S. 153 (16. Jahrhundert) das korrekte Tri ratna: »Buddha, Dbarma, 
Sangha« inschriftlich erwähnt. 

77) A. a. O. S. 171. Auch sie liegt nach der großen Inschrift des 13. Jahr- 
hunderts, welche die Einführung der Schrift und des korrekten Buddhismus 
berichtet (S. 233). 

78) Ein anderer König, der den Heiligen-Titel (Shri) führt (S. 214 a. a. O), 
hat den Wunsch, als Lohn für seine Verdienste als Bhodisattva wiedergeboren 
zu werden. Sei ihm aber dies versagt, dann als frommer und vollkommener 
Mensch und frei von Körperkrankheit. 


Die Wirtschaftsetbik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 719 


tritt persönlich in den Orden ein, — zweifellos um nun als Ponti- 
fex die Kirche und demgemäß durch sie die Untertanen zu leiten. 
Es geschahen aber nach dem Bericht der Inschrift im Gefolge 
seiner übermäßigen Frömmigkeit so gefährliche Wunder, daß die 
Großen des Reichs ihn baten, aus dem Orden wieder auszutreten 
und das Reich als Laie zu regieren, was er mit Zustimmung des 
genannten Seelenhirten auch tat. — Man sieht, es handelt sich 


ganz wesentlich um Erwägungen machtpolitischer Art und bei 
dem Eintritt in den Orden um die übliche My Re- 


zeption und Dispensation. 

Korrekt hinayanistisch war wohl von jeher die Klosteror- 
ganisation und ist es auch geblieben. Der nach dem Novisiat 
(Shin) ales u pyin-sin rezipierte Mönch wird nach etwa zehn- 
jähriger Bewährung, während deren er lediglich als Pfründner 
im Kloster den geistlichen Uebungen obliegt, Vollmönch, Bonze, 
birmanisch: pon-gyi (»Großer Ruhm«) und hat nun die Quali- 
fikation zur Seelsorge als Guru. Inschriften schon des 13. Jahr- 
hunderts aus Siam zeigen, daß dieser Grundsatz der Abstufung 
der Würde und Titulatur des Mönchs nach der Anciennität schon 
damals ganz ebenso korrekt, dem altbuddhistischen Prinzip ent- 
sprechend, bestand. Die Mönche wurden darnach in Siam mit 
den Titulaturen Guru, Thera, endlich Mahathera ausgezeichnet 
und waren teils Cönobiten, teils Eremiten. Ihre Funktion war aber 
immer dieselbe: Gurus, geistliche Berater, der Laien und Lehrer 
des heiligen Wissens zu sein. Ein Obex-Guru, Sankharat (Lehrer) 
genannt, stand damals, vom König ernannt, über ihnen als Kir- 
chenpatriarch 79). Der König nahm hier, wie einst Acoka, die 
Stellung als weltlicher Patron, membrum eminens (Tschakravati) 
der Kirche, in Anspruch. Der König behielt aber im übrigen 
den alten Kult der Berggeister ausdrücklich bei, weil seine Unter- 
lassung gefährlich für das Wohl der Untertanen sei®%), Das 
Königtum hatte die buddhistischen Weisen vor allen Dingen 
auch herbeigerufen, um eine nationale Schrift zu erfinden ®1), 
zweifellos weil sie im Verwaltungsinteresse erwünscht war. Es 
zeigt sich in den Monumenten deutlich, daß speziell das siamesi- 
sche Königtum zur Zeit der Rezeption (oder Wiederrezeption) 
in kriegerischer Expansion nach allen Seiten und im Kampf mit 


79) S. die großen Inschriften König Rama-Komhengs aus dem Ende des 
13. Jahrhunderts bei Furneau,a. a. O. p. 133 f. v. 85, 109). 
20) Ebenda v. 78. 
è) Ebenda v. 106. 
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik., 42. 3. 47 


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720 Max Weber, 


chinesischen Expansionsversuchen begriffen 8), zum stehenden 
Heer und zur bürokratischen Verwaltung überging, »Kabinetts- 
justiz« übte 8) und die Macht der — vermutlich feudalen — 
!Notablen®) zu brechen trachtete. Hierzu hatte der unter dem 
Patronat des Monarchen stehende hi hinayanistische Klosterbuddhis- 
mus zu helfen und hat dies zweifellos auch mit Erfolg getan. 
Die Bedeutung der alten Sippenzusammenhänge wurde durch 
die Macht der Hierokratie stark entwertet. In großen Teilen 
Hinterindiens fand offenbar die Macht des _Königtums an ihnen 
keine Schranke mehr, wie sonst .in "Asien, U Um so mehr dafür:an 
der Macht der Mönche. Denn die Gewalt der ler Mönchspriesterschaft 
über die Bevölkerung war unter den buddhistischen Herrschern 
fast absolut auch in politischen Dingen. Namentlich die ziemlich 
straffe (äußere) Dizsiplin ermöglichte das, die in den Händen des 
Abts (Sayah) lag. Ein wegen Uebertretung eines der vier großen 
Gebote oder Ungehorsam exkommunizierter Mönch war schlecht- 
hin boykottiert und konnte nicht existieren. Auch die Obedienz 
der Laien gegen die Mönche war grenzenlos. Diese geistliche 
Schicht war — namentlich in Birma — der eigentliche Träger 
der einheimischen Kultur und sie war daher einer der heftigstenGeg- 
ner europäischer Herrschaft, die ihre Stellung bedrohte. Jeder 
junge Laie aus guter Familie in Birma wurde und wird zeitweise 
— wie bei uns die Tochter in eine Pension —, in ein Kloster ge- 
schickt, lebt dort kurze Zeit (1 Tag bis ı Monat) als Mönch und 
erhält nun einen neuen Namen: die »Wiedergeburt« der alten 
magischen Askese ist auf diese rein rituelle Klosterinternierung 
übergegangen. — Im Laienleben ist aber die Herrschaft der Nal 
(Geister) ungebrochen. Jeder Haushalt hat seinen »Nal« (Schutz- 
dämon); im übrigen entsprechen sie den »deva« der Hindus. 
Der König geht nach dem Tode noch immer in das »Geisterdorf« 
(Nal-Ya-tsan-thee). 

Oekonomisch ‚dürfte die Herrschaft des Hinayanismus in 
Hinterindien das ungeheure Uebergewicht des traditionalisti- 
schen Ackerbaus und die, mit Vorderindien verglichen, sichtliche 
Unterlegenheit der technischen und gewerblichen Entwicklung 
mit veranlaßt haben. Stätten rationaler Arbeit waren die bud- 
dhistischen so wenig wie irgendwelche asiatischen Klöster. Da- 
8) S. den Eingang der genannten Inschrift, Die Eroberungen des Königs 





an deren Schluß. 


ss) A. a. O. V. 32. 
84) Ebenda S. 26: Mən soll direkt an den König, nicht an die Notablen gehen. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 721 


bei entwertete der Hinayanismus immerhin in stärkerem Maß 
als der Mahayanismus das Kasten-Dharma oder lieB es — wo 
er auf Neuland eingeführt wurde — gar nicht erst entstehen. 
Damit fielen alle im Kastenwesen liegenden Antriebe zur (tradi- 
tionalistischen) »Berufstreue« fort. Denn das bloße theoretische 
Lob des berufstreuen Arbeiters, wie es auch die unter hinayanisti- 
schem Einfluß stehende süd- und hinterindische Literatur 
kannte, entbehrte jenes starken psychologischen Antriebs, den, 
wie wir sahen, die Kastenheilsordnung enthielt. Dies scheint in 
der Wirkung des Buddhismus z. B. in Birma direkt spürbar zu 
sein. Die hinayanische Klostererziehung in Birma hat zwar ein 
Maß von Elementarbildung erzeugt, welches prozentual für indi- 
sche und überhaupt für asiatische Verhältnisse sehr groß, quali- 
tativ freilich, an europäischen Maßstäben gemessen, sehr beschei- 
den ist (s. darüber den Census Report von 1911, Vol. IX ch. VIII), 
entsprechend dem rein religiösen Zweck der Schulung. Der Grad 
der lokalen Vorherrschaft des Buddhismus ist immerhin ent- 
scheidend für den Grad des Alphabetentums. Für moderne 
intensive Arbeit jedoch (Baumwollentkörnen, Oelraffinerie) 
haben Hindus niederer Kasten importiert werden müssen (eben- 
da ch. XI, XII): — ein Beweis sowohl für das starke Training 
zur Arbeit, welches die in Birma selbst fehlenden Kasten darge- 
boten haben, wie andererseits freilich auch dafür, daß das Kasten- 
regime aus eigener Kraft moderne Arbeitsformen nicht erzeugt. | 
Siam ist fast reines Agrarland geblieben, trotz nicht ungünstiger 
Vorbedingungen für gewerbliche Entwicklung. In ganz Hinter- 
indien schwand ferner mit der Eliminierung des Brahmanentums 
und der Kasten durch die Einführung des Buddhismus als Staats- 
religion (14. Jahrhundert) die alte Kunsttradition der kasten- 
mäßig-geschulten Königshandwerker, und die durch buddhisti- 
sche Einflüsse angeregte Kunstübung hat wirklich Gleich- 
wertiges nicht zu erzeugen vermocht, so erheblich immerhin auch 
ihre Leistungen waren 8). Der korrekt hinayanistische Buddhis- 
mus konnte eben seiner inneren Natur nach nicht wohl anders 
als gegnerisch oder allenfalls duldend zum Gewerbe stehen. Nur 
die fast ausschließlich auf diesen Weg der Erwerbung von Ver- 
dienst verwiesenen Laienbedürfnisse haben auch im Hinayanis- 
mus die für den Buddhismus typische religiöse Kunst entstehen 
lassen und erhalten. Die religiösen Interessen der korrekt bud- 


8%) Vgl. L. Furneau, a.a. O. S. 57. 
. 47° 





geburtschancen zugewendet, wie die monumentalen Quellen 
der Neuzeit ®°%) zeigen. Die Königin-Mutter bittet, stets als eine 
hohe Persönlichkeit mit guten Qualitäten und gläubig wiederge- 
boren zu werden. Wenn der künftige Buddha Maitreya kommt, 
möchte sie mit ihm ins Nirwana gehen ®"). Der Wiedergeburt 
in schlechter Familie wünscht jemand zu entgehen 8). Es wird 
gewünscht, stets als reicher Mann und Anhänger des ‘Buddha 
wiedergeboren zu werden, schließlich Allwissenheit zu erlangen 
und dann ins Nirwana zu gelangen ®). Jemand möchte jedes- 
mal mit seiner jetzigen Familie zusammen (Eltern, Brüdern, Kin- 
dern) wiedergeboren werden ®). Ein anderer wünscht in einem 
künftigen Leben eine bestimmte Frau als seine Frau zu besitzen *). 
Mönche möchten, falls sie als Laien wiedergeboren werden müßten, 
hübsche Frauen haben 9). Daneben sollen gute Werke auf 
Tote, insbesondere solche, die in der Hölle sind #2), übertragen 
werden: — die bekannte spätbuddhistische, aber auch im Hin- 
duismus vorkommende Durchbrechung der Karmanlehre. — 

Die eigentlich große Missionsreligion Asiens war nicht die 
Hinayana-, sondern die Mahayana- Kirche. 

Auch deı Mahayana Buddhismus, gewann, wie seinerzeit 
die Hinayana Schule, seine missionierende Tendenz °’) zuerst 


26) Vgl. die Inschriften, welche Aymonier im Journal Asiat. 9. Ser. 14. 1899 
S. 493 ff. und besonders ebenda 15. 1900 S. 146 ff., publiziert hat (aus dem 15. 
bis 17. Jahrhundert). Einige der Beispiele wurden schon oben verwertet, 
831) A.a. O. S. 10f. 

38) A. 0. O. S. 164. 
9) A. a. O. S. 153. 
0, A. a. O. S. 154. 
3%) A. a, O. S. 170. 

æ; A. z. O. S. 150. 
?3) A. a. O. S. 151. 

?4) Es ist allerdings eigentlich ungenau, den Mahayanismus allein als Träger 
der Mission nach Ostasien anzusehen. China lernte heilige Schriften des Buddhis- 
mus zuerst in der Form kennen, welche sie in der Schule der Sarvastivadas, 
einer Sekte der alten (hinayanistischen) Vaibachika-Lehre angenommen hatten, 
und gerade die älteren, teilweise den Seeweg benutzenden Pilgerfahrten machten 
wenig Unterschied zwischen Mahayana und Hinayana. Aber der Umstand, daß 
Nordindien zunehmend mahayanistisch wurde und infolgedessen die später 
nach China von dort allein, über Land, importierten Werke in Sanskrit geschrie- 
bene Mahayana-Schriften waren, rechtfertigt doch die übliche Behauptung. 
China war eben inzwischen reiner Kontinentalstaat geworden. Andererseits 
ist die Vorherrschaft der Hinayana-Schule in Hinterindien nichts Ursprüngliches. 
Im Gegenteil war hier meist die Mahayana-Mission die ältere und erst spätere 
Revivals gaben Anlaß an die Tradition der altorthodoxen und nächstgelegenen 
Kirche; der Ceyloneser, anzuknüpfen. 

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Po 
722 Max Weber, 
dhistischen Laien sind in Birma, wie sonst, vor allem den Wieder- 


ik imsi ini m r p + k VONG 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus, 723 


durch einen König: Kanischka von Kaschmir und Nordwesthindu- 
stan, kurz nach Beginn unserer Zeitrechnung. Unter ihm ist 
das angeblich dritte und letzte der kanonischen Konzilien 
welche der Mahayana-Buddhismus anerkennt, in einer Stadt 
in Kaschmir gehalten worden. Offenbar zuerst durch die Macht 
dieses Königs wurde der Mahayanismus im Norden Indiens, wo 
einst Acoka das orthodoxe Konzil abgehalten hatte, verbreitet 
und schließlich vorherrschend und der Hinayanismus eine ssüd- 
licher Richtung. Der dazu führende Prozeß war freilich schon 
im Gange und die Entwicklung der esotorischen Mahayana- 
Soteriologie hatte schon lange vorher begonnen. Agvagosha 
schrieb seine allerdings noch maßvoll, mahayanistischen Werke 
mindestens ı Jahrhundert vor dem Konzil. Nagarjuna gilt als die 
treibende Kraft des Konzils selbst. Die anderen von den Mahaya- 
nisten als Autoritäten zitierten Philosophen lebten fast sämt- 
lich in den nächsten Jahrhunderten nach dem Konzil, keiner nach 
dem ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung. Die Hauptex- 
pansionsepoche des Mahayanismus liegt in der Zeit bis zum 7. 
Jahrhundert. Allein schon seit dem 5. Jahrhundert begann der 
Stern des Buddhismus in Indien langsam zu erbleichen. Zu den 
Gründen gehörte außer den schon angeführten Momenten viel- 
leicht auch jener Verpfründungs-Prozeß, welcher für alle Reli- 
gionen irgendwann einzutreten pflegt und den gerade die Ma- 
hayana-Schule fördern konnte. Gnadenspendende_ seßhafte 
Hierokraten, also: Pfründner, traten an die Stelle der wandernden 
Bettelmönche. Es scheint auch, daß der spätere Buddhismus 
ebenso wie der Jainismus sich für den eigentlichen Tempeldienst 
sehr vielfach mit Vorliebe rituell geschulter Brahmanen, welche 
ihm anhingen, bedienten. Denn diese spielen in zahlreichen Le- 
genden eine bei der ursprünglichen Brahmanenfeindschaft zu- 
nächst überraschende Rolle und kommen auch in buddhistischen 


verheiratete, die Kloster-Pfründen erblich appropriierende bud- 


Inschriften vor. So dürfte sich auch in Indien ziemlich bald m | 


dhistische Weltpriesterschaft entwickelt haben. Wenigstens 
zeigt Nepal und das nordindische Randgebiet deutlich diese 
Entwicklung noch heute. Sobald eine straffe, für Missionszwecke 
eingerichtete Organisation konkurrierend auftrat, mußte außer 
der äußeren auch die innere Schwäche des Buddhismus: das 
Fehlen einer so fest umrissenen Laien-Ethik, wie der brahmanische 
Kastenritualismus und auch die jainistische Gemeindeorgani- 


724 Max Weber, 


sation sie darboten, hervortreten. Die Reiseberichte der chinesi- 
schen Pilger, zeitlich miteinander verglichen, lassen deutlich 
den inneren Verfall der jeder hierarchischen oder ständischen 
Einheit entbehrenden buddhistischen Organisation erkennen. 
Die Renaissance des Hinduismus fand ofienbar ein leicht zu be- 
stellendes Feld und hat, wie erwähnt, heute in Vorderindien 
fast jede Spur der alten buddhistischen Kirche ausgerottet. Ehe 
wir uns aber diesem neuen Aufstieg des orthodoxen Brahmanen- 
tums zuwenden, ist in Kürze der, erst seit König Kanischkas 
Zeit mit gewaltigem Erfolg betriebenen Expansion des Mahayanis- 
mus über Indien hinaus zu gedenken, welche ilın zu einer »Welt- 
religion« hat werden lassen. 

Die großen Expansionsgebiete des Mahayana-Buddhismus 
sind China, Korea und Japan. 

Der Mahayana-Buddhismus hat dabei— im allgemeinen — 
politisch insofern mit anderen Verhältnissen zu rechnen gehabt 
als die Hinayana-Schule, als er in jenen Kulturländern, die er 
missionierend wenigstens teilweise eroberte, auf Dynastien stieß, 
die entweder mit einer unbuddhistischen Literatenschicht (China 
und Korea) oder mit einem unbuddhistischen Staatskult (Japan) 
fest verwachsen waren und daran festhielten °). Hier nahm also 
die weltliche Gewalt im allgemeinen mehr die Stelle einer »Reli- 
gionspolizei« als eines »Schutzpatronats« gegenüber der Kirche 
auf sich. Die theokratische Klerikalisierung war infolgedessen 
weit geringer. 

Ueber die Schicksale des Buddhismus in China mußte im 
anderen Zusammenhang schon Einiges gesagt werden, was hier 


‘zu ergänzen ist. Er wurde nach einigen vergeblichen Missionsver- 


suchen zuerst importiert unter der Herrschaft und auf Veran- 
lassung des Kaisers Mingti kurz nach Beginn unserer Zeitrech- 
nung durch Mönchsmissionare, faßte aber erst etwa im 4. Jahr- 
hundert Wurzel, was sich durch das häufigere Auftreten eigener 
chinesischer Mönche äußert. Er ist dann im 5., 6. und 7. Jahr- 
hundert durch zahlreiche Pilgerfahrten und Gesandtschaften, 
amtliche Uebersetzungen buddhistischer Schriften, Eintritt ein- 
zelner Kaiser in den Mönchsorden, schließlich — 526 unter Kaiser 
Wuti — Uebersiedelung des »Patriarchen« Bodhidharma aus 


%) Der Hof des Kaisers in Kyoto z. b. war korrekt shintoistisch. Der rein 
weltliche Shogun in Yedo aber konnte nie die Stellung eines »tschakravati« 
einnehmen, wie Acoka, da er ausdrücklich den Kaiser als die sozial höhere Macht 
anerkannte. 


Teee ee EG E, ET EEE Emmen 77 u el SEE GE gap ern un 


iv 


Die Wirtschaf.seth'k der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 725 - 


Indien nach Nanking und weiter nach Honanfu offiziell in Staats- 


pflege genommen worden. Mit dem 8. und endgültig mit dem ( 
9. Jahrhundert wurde durch die gewaltigen von den Konfu- 


zianern angeregten Kirchenverfolgungen, von denen ebenfalls 


schon gesprochen ist, die Blüte des Ordens in China gebrochen, 


ohne doch ihn dauernd ganz vernichten zu können. Das Verhalten | 


der chinesischen Regierung war vielmehr von Anfang an und ist 
auch nach den großen Verfolgungen bis zum heiligen Edikt Kang 
Hi’s beständig schwankend gewesen. Die entschiedensten Gegner 
waren selbstverständlich die konfuzi raten. Ihren 
Einwänden: daß Pflicht, und nicht die Furcht vor der jenseitigen 
Strafe oder die Hoffnung auf jenseitige Belohnung, die Quelle 
der Tugend zu sein habe und daß Frömmigkeit ım der Verge- 
bung der Sünden willen kein Ausdruck echter Pietät sei, Nirwana 
als Ideal aber das Nichtstun idealisiere, — setzten die Apologeten 
des Buddhismus den Hinweis entgegen: daß der Konfuzianis- 
mus nur das Diesseits, allenfalls das Glück der Nachfahren be- 
rücksichtige, nicht aber die jenseitige Zukunft. Sie wiesen auf 
Himmel und Hölle als allein wirksame Zuchtmittel für den Men- 
schen zur Tugend hin ®). Nämentlich dieses Argument dürfte 
auf die Kaiser Eindruck gemachthaben. Daneben der Glaube an 
die magische Macht auch der buddhistischen Literaten. Denn 
als vornehme Literatenlehre kam die buddhistische Religion 
zuerst nach China. Die Erlaubnis Mönch zu werden wurde zu- 
erst in einem Teilstaat der Zeit des großen Interregnums 335 nach 
Chr. erteilt. Die Idole wurden 423 im Sang- und 426 im Wei- 
Königreich zerstört, 451 wieder zugelassen. Um 400 suchte 
der Kaiser Yao bing durch Aussendung eines Heeres sich einen 
literarisch voll qualifizierten Priester zu beschaffen und gleich- 
zeitig ging Fa Hien in amtlichem Auftrag nach Indien, Ueber- 
setzungen zu beschaffen. Nachdem ein Kaiser der Ling-Dynastie 








geradezu Mönch geworden war, drang mit der Uebersiedelung ' 


des Patriarchen nach China neben der Disziplin auch die ei- 


gentliche Mystik des indischen Buddhismus ein. 515 noch war 


Todesstrafe auf den Betrieb magischer Künste gesetzt. Indessen | 


#0) Die Diskussionen und Argumente sind namentlich aus den Annalen der 
Sung-Dynastie von Edkins zusammengestellt. Mit großer Konsequenz hat die 
konfuzianische Annalistik jede Nachgiebigkeit gegen die Buddhisten als ver- 
ächtliche und feige Schwäche und Furcht vor dem Tode gebrandmarkt. Dies 
tut namentlich auch die von dem Mandschukaiser Kuangti geschriebene Ge- 
schichte der Ming-Dynastie bei jeder Gelegenheit. 


726 Max Weber, 


binderte dies nicht, daß die Magie hier, wie überall, überwucherte. 
Seitdem hat die Palitik der Regierung geschwankt zwischen Be- 
förderung oder Duldung und Schließung aller Klöster, der 
Kontingentierung der Mönchszahl, dem Zwang für den Ueberschuss 
zum Wiedereintritt in den weltlichen Beruf (714), der Konfis- 
kation der Tempelschätze für Münzzwecke (955). Sie adoptierte 
unter der Ming-Dynastie vorwiegend dasschon vorher die Regel 
bildende System der Duldung unter Einschränkung des Boden- 
besitzes, Begrenzung der Klöster und der Zahl der Mönche und 
Kontrolle der Aufnahme durch staatliche Prüfung. Kang Hi’s 
sheiliges Edikt« schließlich verbot (Ende 17. Jahrhunderts) den 
‚ weiteren Bodenerwerb gänzlich und verwarf die buddhistische 
Lehre als unklassisch. Dabei ist es geblieben. 
~-~  Innerlich hatte der Buddhismus in China vor allem die Wand- 
lung zu einer reinen Buchreligion, entsprechend dem Schriftge- 
lehrten-Charakter der ganzen chinesischen Kultur, durchzumachen. 
Die Disputationen und Religionsgespräche, welche Indien eigen- 
tümlich waren, verschwanden: die chinesische Regierung hätte 
sie nicht gestattet und der Natur des chinesischen Schrifttums 
widersprachen sie durchaus. Immun blieb ferner der chinesische 
Buddhismus, — ebenfalls entsprechend der streng antiorgiasti- 
i schen Religionspolizei des chinesischen Beamtentums, —gegen 
‚jedes Eindringen der Sakti-Religiosität, welche den indischen 
‚ Mahayanismus immerhin nicht ganz unberührt gelassen hatte. 
Der chinesische Buddhismus ")ist von Anfang an reine Kloster- 
kirche ohne Wandermönche gewesen. Das buddhistische Kloster 
— im Gegensatz zum konfuzianischen Tempel (Miao) und den 
taoistischen Heiligtümern (Kuan) mit »Sie bezeichnet — ent- 
hielt auch den Tempel mit den Bildern des ursprünglichen und 
der 5 sekundären Buddhas (Fo), 5 Bodhisattvas (Pu sa), die Arhats 
und Patriarchen und eineganze Schar aus der Volksshagiolatrie der 
Chinesen rezipierter Schutzgötter (darunter auch der als Kriegs- 
gott apotbeosierte früher genannte Kuanti). Chinesisch ist dabei 
vor ellem das Auftreten eines weiblichen Bodhisattva: Kwan Yin, 
der Schutzherrin der Caritas. Und zwar scheint diese Figur 
ihren weiblichen Charakter erst im Laute der Zeit empfangen 
zu haben 9), wahrscheinlich unter dem Einfluß der Konkur- 


nun 


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°) Vergl. dazu auch: R. F. Johnston, Buddhist China, London 1913. 
*%) Immerhin ruft schon der Pilger Fa-Hien (um 400) in Seenot die Kwan- 
yin an. 





Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 727 


renz der Sekten, welche — wie apolitische Konfessionen meist — 
auf weiblichen Zulauf reflektierten. Die Gestalt ist Gegen- 
bild der occidentalen Muttergottes als Nothelferin vnd war 
die einzige Konzession, die der Sakti-Frömmigkeit in China ge- 
macht wurde. Die Klöster waren ursprünglich offenbar nach dem 
typisch hinduistischen Filiationssystem gegliedert. Nachdem aber 
die chinesische Regierung ihrerseits besondere Beamte für die 
Aufsicht über die Klöster und die Handhabung der Disziplin 
eingesetzt hatte, bestand später cine von dieseı Hierarchie ge- 
sonderte Organisation nicht. Auch die Ansätze des Patriarchen- 
tums haben sich nach der großen Verfolgung nicht weiter ent- 
wickelt, zweifellos aus politischen Gründen. Es blieb aber 
die Gemeinschaft der Klöster dadurch erhalten, daß jeder 
Mönch das Recht auf die Gastlichkeit in jedem Kloster hatte. 
Im übrigen blieb nur das charismatische Prestige einzelner Klös- 
ter als altbekannter Stätten ritueller Korrektheit bestehen. 
Ganz nach indischer Art spalteten sich die Klöster nach 
Schulen. Und zwar offenbar wesentlich entsprechend den Wellen 
von Mahayana-Revivals, welche unter dem Einfluß großer 
Lehrer von Indien aus über das Missionsgebiet hingingen. Beim 
ersten Import und selbst noch zur Zeit der Uebersiedelung des 
Patriarchen Bodhidharma war die Mahayana-Doktrin noch nicht 
in ihren späteren Konsequenzen (durch Nagarjuna und Vasu- 
bandhu) ausgearbeitet. Die älteste Schule, das Tschan sung, 
hat infolgedessen noch einen stark hinayanistischen Charakter 
in der Art der Heilssuche. Die alte Meditation (dhyana), das 
Suchen nach »Entleerung« des Bzwußtseins, die Ablehnung aller 
äußeren Kultmittel blieb ihr in starkem Maße eigentümlich. 
Sie galt — wohl schon wegen der Verwandtschaft mit der Wu-wei- 
Lehre — lange als die vornehmste und waı geraume Zeit die 
größte der chinesischen Buddhasekten. Die früher dargestellten 
mahayanistischen Lehren Nagarjunas und Vasubandhus haben 
in den Sekten der Hsien-schon-tsung und Tsi-jen-tsung ihre 
Vertreter gefunden. Die Phantastik des Schwelgens in über- 
irdischen Herrlichkeiten bei der ersten, der Liebesakosmismus 
des durch die achtfache Stufenfolge der Konzentration vollen- 
deten Bodhisattva bei der anderen sind hier übernommen. Die 
zweitgenannte Sekte ist demgemäß in starkem Maße die Träge- 
rin der spezifisch buddhistischen Karität in China geworden. 
Von den sonstigen Sekten hat die Tien-tai-tsung wohl die 


P 


Dr 


728 Max Weber, 


größte literarische Popularität erlangt durch Uebertragung und 
Kommentierung des mahayanistischen Saddharma pundarika ) ; 
sie war dem Wesen nach eklektische Mischung der hinayani- 
stischen Meditation mit Ritus und Idolatrie. Die Lutsung- 
Sekte war demgegenüber die am strengsten (im Sinn des Vinaya 
pitaka) ıitualistische, die Tsching-tu-tsang-Sekte dagegen die 
den Laienbedürfnissen am weitesten entgegenkommende. Die 
Verherrlichung des Paradieses imWesten unter Leitung des Buddha 
Amithaba und der Kwan-yin, vermutlich auch die Rezeption 
dieser Figur überhaupt, war ihr Werk. 

= Der chinesische Buddhismus hat teilweise versucht, durch 


| Rezeption der großen Heiligen der beiden andren Systeme, eine 


Einheitsreligion (San chiao i ti) herzustellen. Im 16. Jahrhun- 


. dert finden sich Buddha, Laotse und Konfucius auf Monumen- 
` ten vereinigt und Achnliches soll schon viele Jahrhunderte 


- 2an mnn v 


früher sich nachweisen lassen. Indessen zum mindesten der 
offizielle Konfuzianismus hat diese Versuche abgelehnt und den 
Buddhismus stets mit den gleichen Augen angesehen, wie der 


ı antik römische Amtsadel die orientalischen »Superstitionen. ¢ 


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tums wurde ganz ; wesentlich bestimmt na 


plebejischen Charakter. Ein Mann von Rang und aus guter Familie 
wird heute nicht in ein Mönchskloster eintreten. Dies dürfte schon 
seit dem Jahrhundert der großen Verfolgung, endgültig jeden- 
falls seit dem heiligen Edikt Kang-his so gewesen sein. Die 
Mönche rekrutieren sich aus aliterarischen Schichten, nament- 
lich aus den Bauern und Kleinbürgern. Dies hat zunächst zu 
einer durchaus ritualistischen Ausgestaltung des Mönchslebens 
selbst geführt. Verstöße des Mönchs gegen das Zeremoniell und 
die Disziplin scheinen — wie dies ja dem Charakter des chinesi- 
schen Formalismus entspricht — oft ziemlich streng geahndet, 
in unserem Sinn des Wortes ssittlichee Verfehlungen verhält- 
nismäßig leichter genommen zu werden. Hasard, Trunk, Opium, 
Weiber spielten — angeblich — in manchen Klöstern eine be- 
trächtliche Rolle. Von irgendwelchen Ansätzen zu einer syste- 
matischen ethischen Rationalisierung der Lebensführung der 
Laien konnte gar keine Rede sein. Klosterschulen für Laien exi- 
stierten, wenigstens als verbreitete Erscheinung, wenig und die 


9) Uebersetzt in den S. B. of the East XXI von Kern (The Lotus of the 
True Law). 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 729 


literarische Bildung, welche der Novize, ehe er zum Mönch und 
dann zum Anwärter auf die Bodhisattva-Würde aufsteigt, hat 
sehr wenig rationalen Charakter. Der Schwerpunkt des Mönchs- 
lebens liegt in dreierlei. Zunächst im täglichen Kultus, einem 
Vorlesen heiliger Schriften, herausgewachsen "aus dd alten 
Uposatha-Feier. Ferner in der einsamen oder, charakteristi- 
scher, gemeinsamen Entleerungs-Meditation, dersitzenden und der 


tn a er = 


in Chinaals Spezialität gepflegten Taufenden!%), Endlich in asketi-. 
schen Virtuosenleistungen, welche der Mahayanismus der alten hin- 
duistischen Volksaskese der Magier entlehnt hat. Die höhere 
Weihe alter Mönche, zum Bhodisattva-Anwärter, war mit einer 
Brandmarkung verbunden. Und als Virtuosenleistung kam und 
kommt !%) es vor, daß ein Mönch sich entweder einzelne Körper- 
teile verbrennen läßt oder sich in einen Holzverschlag in der vor- 
geschriebenen Haltung eines Betenden niedersetzt und die um 
ihn zur Selbstverbrennung aufgehäuften Brennstoffe selbst ent- 
zündet, oder endlich, dAß er sich lebenslänglich einmauern läßı. 
Derartige Virtuosen werden nach dem Tode große Heilige des 
Klosters. 

Die zuweilen recht bedeutenden, von einer Schar von Beam- 
ten verwalteten buddhistischen Klöster in China waren, alles in 
allem, Stätten teils irrationaler Askese, teils irrationaler Medi- 
tation, . aber Pilegestätten rationaler Erziehung. Der in 
ratentums fehlte ihnen j je länger je vollständiger, obwohl (zum 
Teil: weil) gerade Sie, im Interesse der Propaganda, Hauptstätten 
des Buchdrucks waren, der sich wesentlich auf erbauliche 
Schriften und magisch wichtige Tafeln erstreckte. Die Chinesen 
wendeten sich an buddhistische Gottheiten, tote oder zuch lebende 
buddhistische Heilige als Nothelfer in Krankheit oder bei anderem 
Mißgeschick, die Totenmessen wurden auch von hochgestellten 
Kreisen geschätzt und das primitive Losorakel in den Sank- 
tuarien spielte bei den Massen eine nicht unerhebliche Rolle. Aber 
das war alles. Die Mönche haben dem Laienglauben die ver- 
schiedensten Konzessionen machen müssen, unter anderem auch 
durch Anbringung korrekter Ahnentafeln und Darbringung von 
Ahnenopfern für tote Mönche. Auch ist die chinesische Pagode, 


100) Umlaufen eines Tisches mit Kultobjekten auf ein gegebenes Zeichen 
mit zunehmender Schnelligkeit und eventuell unter Geißelantrieb. 

101) Nach Hackmann S. 23. a.a.O. aus persönlicher Anschauung gegen 
de Groot a. a. O. S. 227. 


At 


730 Max Weber, 


die aus Indien in alle hinduistisch beeinflußte Gebiete mit den 
nötigen Modifikationen übernommene Form des Tempels, in 
China durch Verbindung mit der Fung-Schui-Lehre aus einer 
buddhistischen Kultstätte zu einem apotropäischen Mittel gegen 
die Luft- und Wasser-Dämonen geworden, welches zu diesem Be- 
huf an geeigneten, von den Magiern ermittelten Stellen aufge- 
führt wird. Die starke Bedeutung der Zeremonien buddhistischer 
Provenienz im Volksbrauch wurde schon früher erwähnt. Der 
ethische Vergeltungsglauben ist durch den (älteren) Taoismus 
und den Buddhismus in die Massen getragen worden und hat 
zweifellos stärkend auf die Innehaltung der alten nachbarschafts- 
ethischen und der speziellen Pietätsgebote der chinesischen 
Volksethik gewirkt. Darüber hinaus ist, wie ebenfalls schon er- 
wähnt, wohl fast alles, was an Innigkeit, karitativem Empfinden 
für Mensch und Tier und stimmungshafter Sinnigkeit in China über- 
haupt zu finden ist, irgendwie durch die massenhaft übersetzte 
und bekannt gewordene buddhistische ° Legendenliteratur er- 
zeugt. Aber einen beherrschenden Einfluß auf die Lebensführung 
hat der Buddhismus nicht gewonnen. 

Er hat dies in Korea !%) in offenbar noch geringerem Um- 
fang getan. Die koreanische Sozialordnung war ein verblaßtes 
Abbild der chinesischen. Kaufmannsgilden (Pusang) und Hand- 
werkerzünfte existierten wie in China. Der Feudalismus war anch 
dort durch das Mandarinentum ersetzt. Sowohl die Beamten- 
anstellung und das Avancement nach sukzessiven literarischen 
Prüfungen wie die Propaganda des Buddhismus als Domestika- 
tionsmittel waren in Korea das Werk der mongolischen Dynastie 
in Peking. Der schon vor der mongolischen Unterwerfung, seit 
dem 6. Jahrhundert, von China aus missionierende Buddhismus 
erstieg daher nach dem 1o., besonders aber im ı3. Jahr- 
hundert die Hochblüte seiner Macht. Die Mönchsklöster haben 
gelegentlich als Zentren der Organisation kriegerischer Orden 
gedient. Denn das buddhistische Mönchtum hatte in Korea 
ganz die gleichen Gegner wie inChina: die Literaten. Sie hatten 
zwar hiernicht das Prestige erlangt, wie in China. Denn sie hatten 
einerseits — wie dort — mit den Eunuchen, andererseits mit den 
(zuletzt sechs) »Generälen« der Armee, d.h. den Condottieren, 
welche die Anwerbung der Armee in Entreprise nahmen, zu 








108) Ueber Korea s. neben der gangbaren Literatur die Reiseschilderung von 
Chaille-Long-Bey in den Annales du Musée Guimet Band 26. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 73] 


ringen. Die Rente, welche die längst ganz unkriegerische Sol- 
datenstellung eintrug, wurde sehr begehrt und die Zugehörig- 
keit zur Armee Gegenstand des Kaufes. Die Armee-Chefs 
standen fast gleichberechtigt neben dem Monarchen, mit demsie 
die Einkünfte teilten. In religiöser Hinsicht scheint die urwüch- 
sige Magie der Berufszauberer, vor allem die ekstatische, in star- 
kem Maße von Frauen (Mudang) betriebenen Magie des thera- 
peutischen und apotropäischen Tanzes, nahezu beziehungslos 
neben den nur durch die einstige Protektion der Herrscher hoch- 
gekommenen buddhistischen Klöstern gestanden zu haben. Ein 
zweifellos von den Konkurrenten der Mönche geschürter Auf- 
stand brach schließlich die Macht der Kirche und damit alle 
Ansätze einer eigenen Kultur in Korea. Die neuerlich berichtete 
Initiative der japanischen Regierung in der Gründung von großen 
Klöstern scheint auf den ersten Blick in Widerspruch mit der im 
japanischen Inland antibuddhistischen Politik. Indessen dürfte 
dabei der Gedanke der pazifistischen Domestikation des unter- 
worfenen Landes durch diese Religion des Friedens ebenso mit- 
srielen, wie bei der Unterstützung der alten offiziellen Riten im 
eigenen Lande der Wunsch, den kriegerischen Geist zu stützen. 

In Japan!) war, wie in Korea, aller Intellektualismus 
chinesischen Ursprungs. Der Konfuzianismus scheint auf die 
Prägung des japanischen Gentleman-Ideals seinerzeit einen nicht 
ganz unbeträchtlichen Einfluß gehabt zu haben, freilich gekreuzt 
durch die bald zu besprechenden heterogenen Bedingungen des 
japanischen Ständewesens.. Der chinesische Soldatengott ist 
in Japan rezipiert. Daneben sind auch unmittelbar hinduistische 
Importe spürbar. Aber im ganzen hat sich das ältere Japan 
der Vermittlung Chinas für alle Kulturrezeptionen bedient. So 
war auch der in den ersten Jahrzehnten des 6. Jahrhunderts dort 
auftretende Buddhismus 1%) auf dem Wege der koreanischen, 


103) Die beiden deutschen Schriftsteller, welche aus eigener Anschauung in 
genauer Kenntnis der japanischen Sprache die Entwicklung der geistigen und 
materiellen Kultur Japans am zuverlässigsten geschildert haben, sind (für die 
erstere) K. Florenz und (mehr für die letztere) K. Rathgen. Das verdienstvolle 
Buch von Nachod fußt auf Uebersetzungen, namentlich der alten Kojiki- und 
Nihongi-» Annalene (erstere von Chamberlain ins Englische, letztere von Florenz 
ins Deutsche übertragen), die für japanische Kulturgeschichte grundlegend, aber 
für unsere speziellen Zwecke nicht wesentlich sind. Einige Einzelzitate weiterhin. 
Von den Rechtsquellen hat Otto Rudorff im Supplementheft zu Band V der 
Mitteil. der D. Ges. f. Natur- und Völkerkunde Ostasiens (1889) die großen be- 
kannten Tokugava-Edikte publiziert. 

108) Sehr schöne Skizze von Florenz in der »Kultur der Gegenwarte. Recht 


’ 
u 


732 Max Weber, 


dann, etwa seit dem 8. Jahrhundert, der direkt chinesischen 
Mission importiert und zunächst wesentlich chinesischer Bud- 
dhismus. Wie ursprünglich die gesamte japanische höfische 
Literatur, so war auch seine heilige Literatur lange Zeit an die 
chinesische Sprache gebunden. Die wirkliche Rezeption erfolgte 
hier wie überall sonst auf Initiative der Regierung und aus den 
typischen Gründen. Der vielgefeierte Regent, Prinz Shotoku- 
Taishi, der sie durchführte, bezweckte damit sicherlich vor 
allem die Domestikation und Disziplinierung der Untertanen. 
Ferner die Verwendung der schriftkundigen buddhistischen Prie- 
ster im Beamtendienst, den sie bis Ende des 18. Jahrhunderts 
oft monopolisierten. Endlich auch die weitere Anreicherung Ja- 
pans mit chinesischer Kultur, der er, einer der ersten sLiteraten« 
Japans, ergeben war. Die zahlreichen Frauen, welche in der 
nächsten Folgezeit auf dem Thron saßen, waren sämtlich leiden- 
schaftliche Anhängerinnen der sich an des Gefühlsleben wenden- 
den neuen Religiosität. 

Wenn der japanische Buddhismus und die japanische Reli- 
gion überhaupt, trotz des sehr bedeutenden Interesses, welches 
sie an sich bietet, hier nebenher und in kurzer Skizze erledigt 
werden, so deshalb 105), weil die für unsere Zusammenhänge wich- 
tigen Eigentümlichkeiten des »Geistes« der japanischen Lebens- 
führung durch einen gänzlich anderen Umstand als durch reli- 

iöse Momente erzeugt worden sind. Nämlich: durch den fe u- 
dalen Charakter der politischen und sozialen Struktur. Nachdem 
Japan zeitweise eine auf streng durchgeführtes Gentilcharisma 
gegründete soziale Verfassung gehabt und einensehr reine Typus 
des »Geschlechterstaats« dargestellt hatte, gingen die Herrscher, 
wesentlich um die unelastische Stereotypierung dieser Sozial- 
ordnung zu überwinden, zur Verlehnung der politischen Aemter 
über und es entwickelte si n jene soziale Ordnung, welche das 
mittelalterliche Japan bis an die Schwelle der Gegenwart be- 
herrscht hat. 

Der Feudalismus war es hier, welcher die Erdrosselung 


lesenswert, weil auch auf Selbstanschauung ruhend, ist die populäre Darstel- 
lung von Hackmann in den Religionsgeschichtl. Volksbüchern (III. Reihe 
7. Heft). 

108) Neben dem entscheidenden im Text erwähnten sachlichen Umstand übri- 
gens auch deswegen, weil das für die Beurteilung stets ausschlaggebende epi- 
graphische Material mir in Uebersetzungen nicht zugänglich war. Leider haben 
mir auch die Transactions der Asiatic Society of Japan, welche otfenbar sehr 
wertvolle Arbeiten enthalten, nicht vorgelegen. 


Die Wirtschaftseihik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 733 u 


des Außenhandels (durch Beschränkung auf Passivhandel in ei- | | 
nem Vertragshafen)und die Hemmung der Entwicklung irgendwel- | 
cher im europäischen Sinn shürgerlicher « Schichten -kerbeiführte.... 
Der Begriff der »Stadt« als eines Trägers autonomer Rechte fehlte S 
in Japan völlig. Es gab große und kleine Ortschaften mit Dorf- 

und Stadtviertelvorständen. Die Städte waren aber weder könig- 

liche Festungen — nur zwei machten eine Ausnahme — noch 

die typischen Sitze der fürstlichen Verwaltung, wie dies in China 

der Fall war. Es war im Gegensatz zu China rechtlich zufällig, 

ob ein Vasallenfürst in einer »Stadt« oder auf einer ländlichen 

Burg seinen Sitz hatte. Es fehlte der bürokratische Apparat 

der chinesischen Verwaltung, die von Amt zu Amt versetzte Manda- 

rinenschicht, ihr Prüfungswesen und die patriarchale Theokratie 

mit ihrer Wohlfahrtsstaatstheorie überhaupt. Das theokratische | 
Oberhaupt saß seit der Tokugava-Herrschaft endgültig in hiero- 
kratischer Klausur in Kyoto. Der primus inter pares der Kron- 

vasallen: der Shogun (Kronmarschall und Chef der Vasallen, also: 

Hausmeier) war der unmittelbare Herr innerhalb seines Hausmacht- 

gebietes und führte die Kontrolle der Verwaltung der Vasallen- 

fürsten. In der Lehenshierarchie 19%) bestand vor allem ein Schnitt 

zwischen den als Landesfürsten mit voller Regierungsgewalt 

ausgestatteten, ebenso wie der Shogun als Vasallen des Kaisers 

selbst geltenden Daimyo einerseits, und den Vasallen und Ministe- 

rialen dieser Landesfürsten (einschließlich des Shogun): den Sa- 

murai der verschiedenen Rangklassen, unter denen im Rang 

voranstanden die zu Pferde dienenden Ritter. Die zu Fuße dienen- 

den Mannen (Kasi) waren einfache Ministerialen, die oft ein 

Büroamt versahen. Die Samurai waren, als allein zum Waffen- 

tragen berechtigt und lehensfähig, von den Bauern und den 

nach feudaler Art im Rang noch hinter diesen stehenden Kauf- 

leuten und Handwerkern streng „:schieden. Sie waren freie 

Leute. Das erbliche Lehen (han) war ihrerseits kündbar und wurde 

durch Felonie oder schwere Mißverwaltung kraft Richterspruchs 

des Lehenshofs verwirkt. Auch auf Versetzung in ein niederes 

Lehen konnte dabei erkannt werden. Dies und vor allem die 

zur Bestimmung der Zahl der zu stellenden Kombattanten 

vorgenommene Katastrierung der Lehen nach der Höhe ihrer 


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106) Dafür eine gute zusammenfassende Darstellung von M. Courant 
(Les Clans japonais sous les Tokugava) in denAnnales du Musée Guimet (Biblio- 
thèque de Vulgarisation, T. XV, 1904). 





734 Max Weber, 


traditionell schuldigen Reisrente (der »Kokudaka«), welche auch 
den Rang ihrer Inhaber bestimmte, stellt das japanische Le- 
hen in die Nachbarschaft jener typisch asiatischen Militär- 
Pfründen, die wir namentlich in Indien fanden 1°97). Jedoch blieb 
die persönliche Treue- und Heerfolgepflicht (neben traditionellen 
Ehrengeschenken) das Entscheidende. Der Standpunkt der 
Bestimmung des Ranges nach der Höhe der Reisrente, nach 
welcher sogar entschieden werden sollte, ob jemand zu den 
Daimyo zu zählen sei oder nicht, ist natürlich die auch sonst ge- 
legentlich eingetretene gerade Umkehrung des ursprünglichen 
gentilcharismatischen Standpunkts, wonach der überlieferte 
Rang der Sippe den Anspruch auf den zu verleihenden Amtsrang 
und die damit traditionell verbundenenMachtbefugnisse verlieh !%). 
Die Kanzlei (bakuhu) des Shogun kontrollierte 109) die Verwaltung 
der Daimyo und ihre Politik und politisch wichtigen Privathandlun- 
gen (z. B. ihre Eheschließungen, die konsensbedürftig waren), die 
Daimyo diejenige ihrer Lehensträger. Der alternde oder durch 
Richterspruch dienstunfähig erklärte Lehensmann hatte ins Alten- 
teil (inkyo) zu gehen. Der Nachfolger hatte die Investitur einzu- 
holen; das gleiche galt für den »Herrenfall«.. Das Lehen war 
unveräußerlich und nur auf Zeit antichretisch verpfändbar. 
Als Bestandteile der fürstlichen Oiken existierten Handelsmono- 
pole und gewisse luxusgewerbliche Ergasterien. Bedeutende Gil- 
den existierten im Vertıagshafen Nagasaki, Berufsverbände wohl 
‚ überall. Irgend eine als politische Macht beachtliche Schicht, 
welche Träger einer »bürgerlichen« Entwicklung im occidentalen 
Sinn hätte sein können, bestand aber nicht, und der durch die 
Reglementierung des Außenhandels aufrechterhaltene hoch- 
gradig statische Zustand der Wirtschaft ließ auch eine kapi- 
talistische Dynamik nicht entstehen. Politischer Kapitalis- 
mus: Staatslieferanten- und Staatsgläubiger- oder Steuerpächter- 


#7) Tatsächlich gab es neben den Landlehen (hado) auch die eintache Renten- 
pfründe, angewiesen entweder (als tsyga-Lehen) auf die Einkünfte eines Be- 
zirkes, oder (als hyomono) auf die herrschaftliche Kammer. 

108) Dies drückte sich sehr deutlich, auch noch unter der Tokugava-Herrt- 
schaft, in dem Anspruch bestimmter Familien auf die kündbaren hohen Beamten- 
(Karo-)Posten aus. Ebenso bestimmte sich im Heere die Kommandogewalt, 
die einem Offizier gegeben werden konnte, nach seiner Kokudaka. Nur ein Mann 
aus einer Samurai-Familie konnte ferner mit dem Blutbann belehnt werden. 

0%) Namentlich auch, indem er die angestellten Minister (Karo) der Kron- 
vasallen direkt zur Verantwortung zog, — während andererseits der persönliche 
Charakter der Lehenshierarchie sich darin ausdrückte, daß die direkte Beziehung 
der Untervasallen zum Oberlehensherrn nicht bestand. 





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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus, 735 


Schichten fehlten fast ganz, da die finanzpolitischen Voraus- 
setzungen fehlten. Denn der Heeresbedarf wurde im wesent- 
lichen durch feudale Selbstequipierung und Aufgebot der Vasallen 
und Ministerialen, also ohne Trennung des Kriegers von den 


Kriegsbetriebsmitteln, gedeckt, und die lange Friedensära unter | 


den Shogunen der Tokugava -Dynastie ließ überdies keine 
Gelegenheit su rationaler Kriegführung entstehen. Nur die 
Privatfehde blühte, wie in unserem Mittelalter. Die Unterklasse 
der Vasallen und Ministerialen: die Samurai und Kasi, stellte 


die für Japan typische Schicht. Der hochgespannte, rein feudale, 


Ehrbegriff und die Vasallentreue waren die zentralen Empfin- 


en en nn 


dungen, um die sich zum mindesten in der literarischen Theorie 


letztlich a. alles d drehte, In der Praxis war die Reisrente die typische 
Form der materiellen Versorgung dieser Klasse. 

Politisch rechtlos war nicht nur der Kaufmann und Hand- 
werker, sondern auch die breite Schicht der Bauern (no), welche 
dazu da waren, die Steuern für den Herrn aufzubringen und bei 
welchen, wenigstens zum Teil, das Prinzip der Neuumteilung — 
im Zusammenhang mit der Steuerpflicht — bestand. Der Ab- 
schluß der Dörfer gegen Außengeborene war, da der Pflicht 
zum Lande auch hier das Recht auf Land entsprach, streng: der 
midzunomi (der »Wassertrinkers, d. h. der Fremdbürtige, 
der kein Recht auf Land hatte) warim Dorf rechtlos. Das Gemein- 
bürgschaftssystem (Gonungumi, je 5 Sippen) war durchgeführt, 
die Würde des Dortvorstandes gentilcharismatisch erblich. Ueber 
ihm stand der Daikwan, ein Samurai, der mit dem Gerichts- 
bann beliehen war. 


Bei wichtigen Angelegenheiten berief jeder Fürst das ' 


Plenum der Lehensmannen zusammen. Solche Versammlun- 
gen der Samurai waren es, welche in einigen der Teilfürsten- 
tümer in der großen Krisis der 6oer Jahre des vorigen Jahr- 
hunderts den Uebergang zur modern.n Form des Heeres und 
die Richtung jener Politik überhaupt bestimmt haben, die 
zum Sturz des Shogunates führte. Der weitere Verlauf der Re- 
stauration führte dann zur Einführung der bürokratischen an 
Stelle le der ler Lehensverwaltung. nicht nur im Heer, sondern auch 
im Staatsdienst und zur Ablösung der Lehensrechte. Diese ver- 
wandelte breite Schichten der Samurai-Klasse in einen kleinen 


Rentner-Mittelstand, teilweise geradezu in Besitzlose. Der hohe ` 


Ehrbegriff der alten Feudalzeit war, unter der Einwirkung des 


Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 3. 48 


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736 Max Weber, 


Reisrentepfründenwesens, schon vorher in der Richtung der 
Rentnergesinnung temperiert worden. Irgend eine Beziehung zu 
einer Ethik des bürgerlichen Erwerbs hätte aber von da her aus 
eigener Kraft nicht hergestellt werden können. Wenn europäische 
Geschäftsleute in der Zeit nach der Restauration oft die sniedrige 
Geschäftsmoral« der japanischen im Gegensatz zu den großen 
chinesischen Händlern beklagt haben, so würde sich die Tatsache 
— soweit sie eine solche gewesen sein sollte — leicht aus der all- 
gemeinen feudalen Einschätzung des Handels als einer Form 
der gegenseitigen Uebervorteilung, wie sie Bismarcks »Qui 
trompe-t-on.?« wiedergibt, erklären. 

Der Gegensatz gegen China, mit dessen feudaler Teil- 
staatenperiode sich der Zustand des feudalen Japan am meisten 
berührte, lag vor allem därim: daß in "Japan. nicht eine unmilitä- 


nn ae 


rische Literatenschicht, sondern e eine ‚Berufskriegerschicht_soz sozial 


nn a nn nr Ae an A Te 


am stärksten ins Gewicht fiel. Rittersitte und Ritterbildung 
wie im Mittelalter des Occidents, nicht Prüfungsdiplom und 
Scholarenbildung wie in China, innerweltliche Bildung wie in der 
occidentalen Antike, nicht Erlösungsphilosophie wie in Indien 
bestimmte das praktische Verhalten. 

Eine Bevölkerung, in welcher eine Schicht vom Typus der 
Samurai die ausschlaggebende Rolle spielte, konnte — von allen 
andern Umständen (dem Abschluß nach außen vor allem) abge- 
sehen — aus Eigenem nicht zu einer rationalen Wirtschafts- 
ethik gelangen. Immerhin bot das kündbare, feste kontraktliche 
Rechtsbeziehungen schaffende Lehensverhältnis eine weit gün- 
stigere Basis für »Individualismus« im occidentalen Sinn des 
Worts dar als etwa die chinesische Theokratie. Japan konnte 
den Kapitalismus als Artefakt von außen relativ leicht über- 
nehmen, wenn auch nicht seinen Geist aus sich schaffen. Ebenso- 
wenig konnte es aus sich heraus die Entstehung einer mystischen 
Intellektuellensoteriologie und die Herrschaft von Gurus nach 
indischer Art erzeugen. Der feudale Standesstolz der Samurai 

“mußte vielmehr gegen diese absolute Oboedienz gegen klerikale 


‚ Leitung revoltieren. So geschah es auch. 


Funktionsgeister- und darunter auch Phalloskulte — so sorg- 
sam auch der prüde moderne Rationalismus heute die Spuren 
der letzteren verwischt —, Amulette und ähnlichen magische 
apotropäische und homöopathische Prozeduren und, als Haupt- 
bestandteil der Religiosität, der Kult der Ahnengeister — der 


- 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 737 


eigenen Ahnen und derjenigen apotheosierter Heroen — als 
der Mächte, vor welchen der Vornehme sich für sein Leben ver- 
antwortli h fühlte, bildeten zur Zeit der Rezeption des Buddhis-, 
mus in Japan die herrschende. Religiosität. Der offizielle Kult 


trug durchaus den Typus vornehmen Ritualismus einer Ritter- 
schicht: Rezitation von Hymnen und Speiseopfer waren seine 
wesentlichen Bestandteile. Die Orgiastik und Ekstatik hatte 
zweifellos das Standeswürdegefühl der Ritterschaft eliminiert, 
der kultische Tanz war nur in Resten erhalten. Rituelle Unrein- 
heit — darunter neben Gebrechen auch? solche durch Blutschuld 
und Incest —, nicht aber_ethische »Sünde«, schloß von der Teil-_ 
nahme am Kult (ähnlich wie von den eleusinischen Mysterien) 
aus. Sehr strenge Reinheitsvorschriften aller Art ersetzten da- 
her die fehlende religiöse ‚sEthik«e. Jegliche Ärt von jenseitiger 
Vergeltung fehlte: die Toten wohnten, wie bei den Hellenen, im 
Hades. Der Souverän, abstammend vom Sonnengeist, war, wie 
in China, Oberpriester. Ordale und Orakel fungierten bei poli- 
tischen Entschlüssen ähnlich wie überall. Von der Masse der 
Götter sind auch heut die große Mehrzahl apotheosierte Heroen 
und Wohltäter. Die Priesterstellen in den zahlreichen schmuck- 
losen Tempeln waren und sind meist erblich in den Sippen der 
inacht Rangklassen geteilten staatlichen »Gottesbeamten«. Rang- 
_ verleihungen an bewährte Götter kamen wie in China vor und 
ebenso stand die Rangordnung der Tempel fest. Neben dem 
offiziellen Tempelkult stand der Privatkult im Hause. Die alte 
Form des Kults der eigenen Ahnengeister wurde später fast ganz 
durch die buddhistische Totenmesse verdrängt. Hier wie überall 
hatte der Buddhismus in der Lehre von der Jenseitsvergeltung 
und dem jenseitigen Heil seine Domäne, während die erst im 
Gegensaiz zu dieser fremden Lehre als »Shinto« (Kult der Landes- 
götter, der Kami) bezeichnete alte Religiosität allen Kult, auch 
der Ahnengeister, nur in den Dienst eigener Diesseits-Interessen 
stellte. 

Der Buddhismus hielt unter höfischer Protektion zunächst 
als eine vornehme Literaten-Soteriologie seinen Einzug, Der 
Mahayanismus hat dann auch hier die verschiedenen Möglich- 
keiten, die in ihm lagen, durch Schul- und Sektenbildung 110) 
sehr bald aus sich entwickelt. Was er im Gegensatz zu all ienen y 








110) Ueber diese s. Haas in der Zeitschrift für Missionskunde und Reli- 


gionswissenschaft. 1905. 
48* 


738 Max Weber, 


}} dem Wesen nach animistischen und magischen, jeglicher unmittel- 
„| bar ethischen Anforderungen entbehrenden, Kulten brachte, war 
;l seiner Natur entsprechend eine — relativ — rationale religiöse 
| Lebensreglementierung, außerweltliche Heilsziele und Heilswege 
= und eine Anreicherung des Gefühlsgehalts. Alles was über den 
feudalen Ehrbegriff hinaus an Sublimierung des Tı Trieb- „und Emp- 
findungslebens in Japan_ entwickelt, wurde, ist unbestritten sein 
‚{ Werk gewesen, Die kühle Temperierung der indischen Intellek- 
i tuellensoteri»logie hat er auch hier beibehalten und sie ver- 
-schmolz offenbar mit dem in Japan wieder ganz ins Feudale 
: zurücktranspopierten konfuzianischen Gebot der »Haltung« und 
| s»Schicklichkeit« zu jenem auf Würde der Geste und höfliche 
Distanz gestimmten Gentleman-Ideal, als dessen Repräsen- 
i tanten gegenüber der ungebrochenen Derbheit oder gefühls- 
seligen Distanzlosigkeit des Europäers sich gebildete Japaner 
| zu fühlen pflegen. Wie stark sein Anteil daran im einzelnen ist, 
' vermöchte nur fachmännische Analyse zu sagen. Immerhin 
zeigt der japanische Buddhismus trotz der Uebernahme der 
meisten Sekten aus China einige nur ihm eigene Entwicklungs- 
richtungen. | 
Von den buddhistischen Sekten (shu), deren Anzahl die üb- 
lichen Aufzählungen gern auf runde Ziffern zu bringen suchen 1), 
interessieren hier nur einige. Von den bis in die Gegenwart be- 
stehenden größeren Sekten ist die Schingon, die älteste (gestiftet 
im 9. Jahrhundert). In ihr ist die Gebetsformel (die hinduisti- 
sche Mantra) zugleich magische Zauberformel und esoterisch 
gedeutetes mystisches Mittel der Einigung mit dem Göttlichen 4), 
Die Jodo-shu 19) (gestiftet gegen Ende des r2. Jahrhunderts) 





TE nn ar An 


At) Es pflegen davon z0 aufgezählt zu werden: die dabei mitgezählten kleinen 
Sekten wechseln jedoch. 

112) Zu ihren Büchern pflegt das Vagrakhedika gerechnet zu werden (S. B. of 
the East Vol. 49). »Dharmas und »Samefiase, ersteres hier als slðoç, Form, 
Individualität, gedeutet, letzteres: »Names, die Bezeichnung für »Begriffe, 
sind die Stichworte der Argumentation. Es gibt keinen »Hunde, sondern nur 
ve diesene Hund. Da also die Begriffe nur Abstraktionen sind, die Dinge » Namens, 
so ist alles nur Schein. Nur die Seele hat Realität und nur die Bodhisattvas 
kennen die Wirklichkeiten. In der Scheinwelt des empirischen Daseins aber 
hat eben deshalb das Wort magische Kraft. 

113) Zu ihren heiligen Büchern gehören das große und das kleine Sukhavati- 
Vyuha (in den Sacrad B. of the East Vol. 49). Das westliche Paradies wird in den 
glühendsten Farben geschildert. Absolute Voraussetzung ist aber »Glaube«. 
Nach dem großen Sukhavati-Vyuha ($ 4ı) kommt kein Zweifler ins Paradies, 
selbst zweifelnde Bhodisattvas (!) schädigen ihre Seligkeit. Das kleine Sukhavati- 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 739 


verheißt nach chinesischer mahayanistischer Art das westliche 
Paradies (indisch: Sakhavati) und empfiehlt als Mittel dazu die 
formelhafte inbrünstig gläubige Anrufung des Amida, des 
in ganz Ostasien populärsten Schülers des Buddha, der hier zu den 
fünf höchsten Göttern (Buddhas) gehört. Wichtiger als beide 
waren die etwas später als die Jodo-shu gestiftete Zen- und die 
Schin-Sekte. 

Die Zen-Sekte, aus drei selbständigen Zweigen bestehend, 
pflegte eine vornehmlich in mystisch gedeuteten Exerzitien be- 
stehende, die Schin-Sekte umgekehrt eine von allen solchen 
Virtuosenleistungen freie innerweltliche Andachts- und Glau- 
bens-Religiosität. Die religiösen Uebungen der Zen-Sekte stan- 
den dem alten hinduistischen Typus der buddhistischen Kscha- 
triya-Religiosität verhältnismäßig am nächsten. Dementspre- 
chend waren ihre Zweige auch lange Zeit die von dem Samurai- 
Stande bevorzugten vornehmen, daher an Tempeln besonders 
reichen Formen des japanischen Buddhismus. Wie der alte Bud- 
dhismus verwarf sie alles Buchwissen und legte den entscheidenden 
Nachdruck auf die Disziplinierung des Geistes und die Erringung 
der Indifferenz gegen die Außenwelt, vor allem auch den eigenen 
Körper. Für das Zen-Mönchtum war der Sinn dieses Training die 
Befreiung von der Welt durch kontemplative Vereinigung mit 
dem Göttlichen. Die Laien, vor allem die Berufskrieger, schätzten 
ġie Uebungen als Mittel der Abhärtung und Disziplinierung für 
ihren Beruf, und es wird, auch von berufenen Japanern, behauptet, 
daß die Sektendisziplin zur militärischen Verwertbarkeit der 
Japaner durch Züchtung einer Stimmung der Nichtachtung des 
Lebens als solchen erheblich beigetragen habe 114). 

Im scharfen Gegensatz zu den Zen-Sekten kann die Anfang 
des 13. Jahrhunderts gestiftete Schin-Sekte wenigstens inso- 
fern dem occidentalen Protestantismus verglichen werden, als 
sie alle Werkheiligkeit ablehnte zugunsten der alleinigen Be- 
deutung der gläubigen Hingabe an den Buddha Amida. Sie 
gleicht darin der bald zu besprechenden bhakti-Religiosität 


Vyuha lehnt ausdrücklich ($ 10) die Werkgerechtigkeit als Weg zur Seligkeit ab. 
Nur gläubiges Gebet zu Amitäya, tagelang vor dem Tod und bis zum Tode, sichern 
cie Seligkeit. 

114) Der Protektor des nach der Verfolgung durch Ota Nobunaga restau- 
rierten Buddhismus freilich, der Tokugawa-Schogun Yieyasu, scheint für seine 
Soldaten wesentlich die Hoffnung auf das buddhistische Paradies als Helden- 
himmel geschätzt zu haben. 


740 Max Weber, 


Indiens, die aus dem Krischna-Kult herauswuchs, unterscheidet 
sich jedoch von diesem durch die allen aus der alten hindui- 
stischen Intellektuellen-Soteriologie hervorgegangenen Religio- 
sitäten eigene Ablehnung aller orgiastisch-ekstatischen Ele- 
mente. Amida ist Nothelfer, das Vertrauen auf ihn das allein 
heilbringende innere Verhalten. Als einzige buddhistische Sekte 
hat sie daher nicht nur den Priesterzölibat, sondern überhaupt 
das Mönchtum beseitigt. Die busso (von den Portugiesen in 
»Bonze« korrumpiert): verheiratete, nur im Amt eine Sonder- 
tracht tragende Priester, deren Lebensführung im übrigen mit 
derjenigen der Laien übereinstimmt, sind, während sie bei den ande- 
ren buddhistischen Sekten innerhalb und außerhalb Japans ein 
Produkt des Verfalls der Disziplin waren, hier vielleicht zuerst 
als absichtsvoll gewollte Erscheinung aufgetreten. Predigt, Schule, 
Belehrung, volkstümliche Literatur wurden, in vielem ähnlich 
der abendländisch-lutherischen Art, entwickelt und die in »bürger- 
lichen« Kreisen überaus zahlreiche Sekte gehörte zu denjenigen 
Schichten, welche der Aufnahme abendländischer Kulturelemente 
am freundlichsten gegenüberstanden. Eine rationale innerwelt- 
liche Askese hat sie jedoch ebensowenig und aus den gleichen 
Gründen nicht entwickelt wie das Luthertum. Sie war. eine Hei- 
landsreligiosität, welche dem feudal gebändigten soteriologischen 
und emotionalen Gefühlsbedürfnisse des Mittelstandes entgegen- 
kam, ohne doch die orgiastische ekstatische und magische We 
dung der alten hinduistischen volkstümlichen oder auch nur die 
starke Gefühls-Inbrunst der späteren hinduistischen Frömmig- 
keit oder unseres Pietismus zu akzeptieren. Ihre Temperierung 
war, scheint es, mehr auf »Stimmung«, als auf »Gefühl« in unserem 
Sinn angelegt, wie sie denn das Produkt vornehmer Priester ge- 
wesen war. 

Die Nitchiren-Sekte endlich, Mitte des ı3. Jahrhunderts 
gestiftet, war eine mönchische G.genreformations-Bewegung, 
eine Rückkehr zu Gautama dem wahren Buddha, der als welt- 
durchdringende magische Kraft der Erleuchtung gefaßt wurde, 
unter schroffer Verwerfung des Heilandes Amida als eines falschen 
Götzen. Sie suchte die typische mahayanistische Verbindung von 
kontemplativer Mystik der Mönche mit Gebetsfermelmagie und 
ritueller Werkheiligkeit (shoben«) der Laien wiederherzustellen. 

Die der Mehrzahl aller Sekten, mit Ausnahme der Schin, eigene 
Beschränkung der Laien auf teilweise höchst irrationale, fromme 


ma RT Gr - 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 741 


Gelegenheitsleistungen liegt weit ab von jeder Erziehung zu einer_ 


rationalen Lebensmethodik. Tatsächlich haben diese Formen. 
des Buddhismus unter den Laien nur eine gewisse allgemeine 
Stimmung der Weltinditferenz, der Ueberzeugung von der Nich- 
tigkeit des Vergänglichen: der Welt mit Einschluß des Lebens 
selbst, erzeugt und im übrigen die Lehre von der Vergeltung 
(Ingwa, annähernd dem »Karman« entsprechend) und die rituelle 
Magie als Mittel, sich ihr zu entziehen, verbreitet. Die äußere 
Organisation des Mönchtums unterschied sich zunächst nicht von 
anderen ’Missionsgebieten. Die scharfe Konkurrenz der Sekten 


untereinander, welche von den einzelnen Vasallenfürsten und | 


Adelsparteien protegiert, politisch benutzt und gegen einander 
ausgespielt wurden, haben jedoch bei dem durch und durch feu- 
dalen Charakter des Landes, namentlich wohl so lange die 
Mönche, wenigstens die Aebte, sich aus den Adelsschichten 


rekrutierten, den Mönchsgemeinschaften in Japan nicht sel- | 


ten den Charakter kriegerischer Gemeinschaften von Glau- 
benskämpfern:: von mönchischen Ritterorden, gegeben. Sie kämpf- 
ten zugleich für die eigene Machtstelluug innerhalb der Bevölke- 
rung. Zuerst im I1. Jahrhundert wurde von einem Abt, dessen 
Beispiel andere folgten, ein Heer von disziplinierten Mönchs- 
soldaten (tonsei) gebildet. Im 14. Jahrhundert stand diese Ent- 
wicklung auf dem Höhepunkt. Mit Ausnahme einiger Zweige 


der Zen-Sekte war die Gesamtheit des Mönchtums militarisiert, .. 


demgemäß die Klöster meist erblich verpfründet und das Zölibat 
verfallen. Der Wiederhersteller der politischen Gewalt, der Kron- 
feldherr Ota Nobunaga, setzte dieser Macht der ecclesia mili- 
tans Schranken. Eine ungeheure Schlächterei brach die poli- 
tisch-militärische Macht der buddhistischen Orden iür immer, 
und ihr Besieger trug kein Bedenken, die Hilfe der Christentums, 
vor allem der Jesuitenmissionare, zu diesem Behuf in Anspruch 
zu nehmen. Die christliche Mission hat daher seit dem Jahre 
1549, wo sie mit dem heiligen Franz Xavier einsetzte, nicht uner- 
hebliche Erfolge erzielt. Der Regierungsantritt der Tokugawa- 
Schogune machte dem ein Ende. Man wollte njcht den buddbisti- 
schen Klerikalismus gegen die Herrschaft eines von auswärts 
her geleiteten Klerus vertauschen, und die Angehörigen jener 
Hausmeier-Dynastie waren und sind bis zuletzt persönlich Anhän- 
ger des Buddhismus, speziell der ritualistischen Jodo-Sekte, ge- 


blieben. Das Religionsedikt von 1614 und die anschließende 


ehe 


m vaen 


irain g A EAE A e a T e P: 


de 


742 , Max Weber, 


Christenverfolgung machten dem Bestande der japanischen 
Christenmission ein Ende. Der Klerikalismus in Japan war damit 
überhaupt gebrochen. Die buddhistische Kirche wurde restąu- 
riert und erstmalig systematisch organisiert. Aber ganz und ga gar 
von Staats wegen. Wie in der Spätantike nur durch das Kaiser- 
opfer, so konnte man unter den Tokugawa nur durch Einschrei- 
bung bei einem japanischen Tempel den Nachweis liefern, kein 
Christ zu sein. Nach chinesischer Art durfte, seit dem Tokugawa 
Yiemitsu, kein Priester amtieren, ohne eine Prüfung abgelegt 
zu haben. Das Auftreten als Prediger und die Vorsteherschaft 
der Tempel war, anknüpfend an das buddhistische Anciennitäts- 
prinzip, an bestimmte lange Fristen mönchischen Lebens ge- 
knüpft. Das Filiationsprinzip beherrschte die Rangordnung und 
die hierarchischen Rechte der Klöster und ihrer Superioren. 
Die Mönchsdisziplin: Zölibat und Vegetarismus, wurde — ohne 
dauernden Erfolg — staatlich für die Priester eingeschärft. Die 
Zahl der buddhistischen Klöster und Tempel vermehrte sich zwar 


:- in kolossaler Weise, aber die soziale Macht der Mönche sank. Die 


` Käuflichkeit der Priesterämter scheint weit verbreitet gewesen 


nn nt 


zu sein. 

Was die Volksreligiosität anlangt, so näherte sie sich den 
allgemein asiatischen und antiken Zuständen insofern, als shin- 
toistische, konfuzianische, taoistische, buddhistische Gottheiten 
und Nothelfer je nach Funktion und Gelegenheit angerufen wur- 


; den. Eine förmliche Verbindung der shintoistischen mit der bud- 


dhistischen Religion wurde unter höfischer Protektion unter- 
nommen. An sich nicht uninteressant, trägt sie doch für unsere 
Zusammenhänge nichts Wesentliches aus. Die vornehmen Schich- 


‘ ten wendeten sich in starkem Maße der konfuzianischen Ethik 


zu. Das hatte soziale Gründe. Eine starkere innere Umwandlung 
des buddhistischen Mönchtums vollzog sich nämlich im Lauf der 
Jahrhunderte ‚insofern, als, wohl unter dem Druck der Pro- 
paganda-Konkurrenz der Sekten, die Rekrutierung der Mönche 
zunehmend demokratischer wurde urd sie schließlich, nach der 
staatlichen Verfolgurg und Reglementierung, wie in China vor- 
nehmlich den aliterarischen Unterschichten angehörten. Sie 
pflegten im allgemeinen nur das für den praktischen Betrieb des 
Kults Erforderliche sich in den Klosterschulen anzueignen 1). 


116) Während dagegen das Amitayur Dhyana Sutra ($ 27) und z. B. auch das 
in Japan vielgelesene Vagrakhedika (»Diamantschneidere«), des Buch der Schin- 


EEE 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 743 


Damit sauk auch sozial das Prestige des Mönchtums und des 
Buddhismus überhaupt b:deutend und es ist dies — neben poli- 
tischen Gründen — wohl auch einer der Gründe gewesen, welche 
bei der Restauration der legitimen Dynastie das disestablish- 
ment« des Buddhismus (1868) und die syrtematische Restaura- 
tion des Shintoismus als Staatsreligion bedirgten. Entscheidend 
war freilich, daß einmal dieser dem Buddhismus gegenüber als 
snationale« Kultform galt, dann aber die Legitimität des Kaisers 
garantierte. Die Tatsache der Sonnenabstammurg der legi- 
timen Dynastie und also die übermenschliche Qualität des Kaisers 
gehören auch im japanischen Verfassurgsstaat zu denjenigen 
Grundvoraussetzungen, die wenigstens der korrekte Japaner 
nicht bezweifeln oder über welche er seinen Zweifel jedenfalls 
nicht äußern darf. 

Der Konfuzianismus, der, wie bemerkt, in den vornehmen 
Schichten zahlreiche Anhänger besaß, konnte die gleiche Leistung 
der Legitimierung der Dynastie nicht vollbringen, da für ihn 
der chinesische Kaiser der Weltmonarch und Oberpontifex war. 
Aber er hatte in Japan auch nicht, wie in China, den Rückhalt 
einer akademisch organisierten, durch das Prüfungswesen und 
vor allem durch die Verpfründung der Staatsämter politisch und 
ökonomisch fest organisierten einheitlich interessierten Schicht, 
sondern war eine literarische Liebhaberei einzelner Kreise. Dem 
Buddhismus andererseits fehlte hier jener sehr starke Rückhalt, | 
den er ebenso wie die hinduistischen Sekten in anderen asiati- | 
schen Gebieten hatte: der charismatische Guru als magischer ! 
Nothelfer. Die Entwicklung dieses Instituts ist zweifellos aus: 
politischen Gründen von der japanischen Regierung — wie von ` 
der chinesischen — gehemmt worden und über relativ bescheidene ; 
Anfänge im allgemeinen nicht hinausgekommen. So fehlte in\ 


Japan eine Schicht von jenem magisch-soteriologischen Heilands- ` 


Prestige, wie es die Literaten in China, die Gurus der Sekten in 


den indischen Gebieten genossen. Als daher die Heeres- und / 


verwaltur gstechnische Revolution unter dem Druck des Gefühls 
äußerer Bedrohung die feudale Militär- und Aemter-Organisation 
umstürzte, war sie in der, rein politisch angesehen, angenehmen 
Lage, tabula rasa oder wenigstens keine magisch cder soteriolo- 
gisch festgewurzelte Macht des religiösen Traditionalismus sich 


Gon-Sekte) von dem »Sohn aus guter Families als dem für die Erlösung allein 
in Betracht kommenden spricht. 


744 Max Weber, 


gegenüber zu finden, welche ihren Absichten auf dem Gebiet 
der ökonomischen Lebensführung in den Weg getreten wäre. 
Ganz andere Formen als beim Vordringen im hinterindischen 
und ostasiatischen Missionsgebiet hat der Buddhismus bei der 
von Nordindien aus nordwärts gerichteten Mission erzeugt. 
Zwar in der Nähe seines Ursprungsgebiets, in Nepal!1®), ist er 
einfach dem typischen Verpfründungsprozeß und daneben der 
Durchsetzung mit der tantrischen Magie und ihren blutigen Op- 
fern unterlegen, hatte außerdem mit der hinduistischen Propa- 
ganda der Civaiten zu konkurrieren und ist, in mahayanistisch- 
nordindischer Art, mit dem Kastensystem des Hinduismus ver- 
schmolzen. Von den drei Hauptklassen der Bevölkerung galten 
die Banhar (Priester) und die Udas (Gewerbetreibende) als ortho- 
dox, der Rest der Bevölkerung als heterodox, weil tantristisch. 
Die Banhars wohnten in Klöstern, jedoch ohne Zölibat, die Pfrün- 
den waren erblich. Ihre höchste Klasse waren die Priester (Gub- 
haju), zu denen man nur durch Ordination nach Prüfung gehörte. 
Wer nicht ordiniert war, gehörte den einfachen »Bhikkshus an, 
welche zwar als Laienhelfer bei gewissen Zeremonien dienten, 
im übrigen aber Gewerbe, namentlich Goldschmiederei, trieben. 
Es folgten, immer noch zur ersten Klasse gehörig, 7 weitere Abtei- 
lungen, darunter Silberschmiede, Zimmerleute, Gießer, Kupfer- 
und Eisenarbeiter (offenbar alte Königshandwerker). Auch ordi- 
nierte Mönche wurden nach 4 Tagen Weihe vom Guru von den 
Gelübden dispensiert. Die Udas-Klasse zerfiel in sieben Unter- 
klassen, deren vornehmste Kaufleute, der Rest Handwerker waren. 
Unter den Banhars bestand Konnubium und Kommenasalität, mit 
den Udas nicht, von den Udas-Handwerkern nahm der Banhar 
kein Wasser. Die untere Volksschicht brauchte, je nachdem, bud- 
dhistische oder brahmanische Priester als Nothelfer. Buddha war 
mitCiva und Vischnu zu einer Trias vereinigt. Daneben wurden 
alle hinduistischen Gottheiten angerufen und bestand der alte 
Schlangenkult fort. Hier ist also in Fortsetzung der Entwick- 
lung, welche die Berichte der chinesischen Pilger in den Anfängen 
zeigen, das Wesen des Buddhismus durch die Einbeziehung in 
die Kastenorganisation und durch die Verpfründung völlig ver- 
loren gegangen. Anders in Zentralasien, wohin über Nepal sehr 
alte Handelsbeziehungen bestanden, insbesondere in Tibet. 
Hier entstand, im schroffen Gegensatz gegen die Organi- 


16) S, darüber den Census Report von Bengalen von Igor. 





Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 745 


sationslosigkeit jener Gebiete, eine Hierarchie von solcher Ein- 
heitlichkeit, daß man die Religion ihrer Träger: der Lama-Mönche, 


geradezu als ein gesondertes Religionssystem: Lamaismus,. 


zu bezeichnen sich gewöhnt hat 17). Hinduistische und wohl 
auch buddhistische Wandermönche müssen als Nothelfer schon 
früh nach Inner- und Nordasien gelangt sein: der Ausdruck 
»Schaman« für die magisch-ekstatischen Exorzisten wird als 
Korruption des indischen Sraman2 (buddhistisch Samana) an- 
gesehen. Die eigentlich buddhistische Mission in diesen Gebieten 
hat etwa mit dem 7. Jahrhundert unserer Zeitrechnung begonnen, 
und wurde im 8. Jahrhundert offiziell begründet. Wie üblich 
derart, daß ein König im Verwaltungsinteresse (zum Import der 
Schriftkunde) und zur Domestikation der Untertanen einen Hei- 
ligen aus dem benachbarten indischen Gebiet (in diesem Fall aus 
Udayana, welches Kaschmir benachbart ist) als Guru impor- 
tierte 118), Der Missionar war ein Vertreter der rein tantristi- 
schen (magischen) Mahayana-Richtung: Alchemie, Zaubertränke 
und die übliche mahayanistische Formel-Magie scheinen bei 
ihm nebeneinander herzugehen. Die Mission hat nach ihm, mit 
zahlreichen Rückschlägen und Kämpfen der konkurrierenden 
Sekten, nicht mehr geruht und es sind zeitweise das östliche Persien 
und große Teile von Turkestan vom mahayanistischen Buddhis- 
mus gewonnen worden, bis die islamische Reaktion der westlichen 
Mongolen-Khaue diese Missionen wieder vernichtete. Das Mon- 
golenweltreich war es aber andererseits, dem die Konstituierung 
der heiligen Kirche Tibets, der Trägerin des »Lamaismus«, ver- 
dankt wurde. 

»Lama«, der »Erhabene«, »Heilige«, hieß zunächst der Su- 
perior (Khen po) eines Klosters, später, höflichkeitshalber, jeder 
voll ordinierte Mönch. Die buddhistische Klostergründung ging 
anfangs ganz den üblichen Weg. Die Machtstellung einiger der 
Klostersuperioren steigerte sich aber im Gebiet von Tibet da- 
durch, daß die größeren politischen Gebilde — dem Charakter des 
Landes als Weidegebiet entsprechend — wieder in kleine Stammes- 


119) Ueber den Lamaismus ist noch immer K ð p pen s Religion des Buddha 
(Berlin 1857/8, im 2. Band) lesenswert. Die heut weitaus bedeutendste Autorität 
ist Grünwedel (s. seine Darstellung in der »Kultur der Gegenwarte I, 3, ı und 
die später zu zitierende Schrift) Im übrigen ist die russische Literatur grundle- 
gend, war mir aber nicht zugänglich. 

118) Der Name dieses »aus dem Lotos geborene (Padmasambhava) »großen 
Lchrere, wie er amtlich genannt wurde, ist nicht bekannt. 


A 





746 Max Weber, 


fürstentümer zerfielen und nun, wie im Occident in der Völker- 
wanderungszeit die Bischöfe, so hier dieKlostersuperioren die einzig 
rational organisierte Macht in der Hand hielten. Die Erziehung 
der Superioren war demgemäß geistlich sowohl wie weltlich 319). 
Die Klöster waren längst reine Pfründnerstätten geworden, 
die »Mönche« beweibt und also eine erbliche Kaste. Wie in Indien, 
war auch in Tibet wenigstens in einigen Klöstern, vor allem auch 
im Kloster Saskya, nahe den höchsten Höhen des Himalaya, die 
Superioratswürde selbst zentilcharismatisch erblich. Die Lamas 
von Saskya knüpften zuerst im ı2. Jahrhundert Bezizhungen 
zu der Dynastie Djingiz Khans an und im 13. Jahrhundert ge- 
lang ihnen die Bekehrung des Mongolenkaisers Kublai Khan, des 
Eroberers Chinas, welcher nun der weltliche Patron (tschakravati) 
der Kirche wurde. Wiederum war das Bedürfnis nach Erfindung 
einer Schrift für die Mongolen, also ein politisches Verwaltungs- 
interesse, offenbar entscheidend. 

Daneben das Interesse an der Domestikation der schwer 
zu regierenden innerasiatischen Bevölkerung. Den Lamas des 
Saskya-Klosters wurde zu diesem Behuf (und weil sie Träger 
der Schriftkunde, also für die Verwaltung unentbehrlich waren) 
theokratische politische Macht eingeräumt. Diese Domesti- 
kation der bis dahin ausschließlich von Krieg und Raub lebenden 
Mongolenstämme gelang tatsächlich und hat welthistorisch 
wichtige Folgen gehabt. Denn die nun beginnende Bekehrung 
der Mongolen zum lamaistischen Buddhismus hat den bis dahin 
unausgesetzt nach Ost und West vorstoßenden Kriegszügen der 


‘ Steppe ein Ziel gesetzt, sie pazifiziert und damit die uralte 


Quelle aller »Völkerwanderungene — deren letzte Timurs 
Vorstoß im 14. Jahrhundert war — endgültig verstopft. Mit dem 
Zusammenbruch der Mongolenherrschaft in China im 14. Jahr- 
hundert verfiel zunächst auch die Theokratie der tibetanischen 
Lamas. Die chinesische nationale Ming-Dynastie trug Bedenken, 
einem Einzelkloster die Alleinherrschaft zu lassen und spielte 
konsequent mehrere charismatische Lamas gegeneinander aus. 
Ein Zeitalter blutiger Klosterfehden brach an, die orgiastisch- 
ekstatische (Sakti-)Seite des magischen Mahayanismus trat wieder 
in den Vordergrund, bis in dem neuen Propheten Tson-ka-pa, 


_— ee, 

ue Grünwedel, Mythologie des Buddhismus in Tibet und der Mongolei 
(Führer durch die lamaistische Sammlung des Fürsten Uchtomski), Leipzig 1900. 
Das Buch gibt die bei weitem beste Entwicklungsgeschichte des Lamaismus 
und ist hier überall benutzt. 











Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 747 


dem größten Heiligen des lamaistischen Buddhismus, ein Kir- 
chenreformator großen Stils entstand, der im Einverständnis 
mit dem chinesischen Kaiser die Klosterdisziplin wiederherstellte, 
und, nachdem ihm im Religionsgespräch der Lama des Saskya- 
Klosters unterlegen war, der mit der gelben Mütze ausgezeich- 
neten und daher meist sogenannten sgelben« Kirche, der »Tugend- 
sektes (DGe-lugs-pa) die Suprematie sicherte. Disziplinär be- 


. deutete die neue Lehre Herstellung des Cölibats und Ent- 


wertung der tantristischen ekstatischen Magie, deren Ausübung 
den Mönchen der Tugendsekte verboten wurde. Sie blieb, durch. 
ein Abkommen, den mit roten Mützen versehenen und — ähnlich 
wie der Taoismus vom Konfuzianismvs — als Mönche niederen 
Rangs geduldeten Anhängern der alten Lehre überlassen. Es 
verschob sich der Schwerpunkt der Mönchsfrömmigkeit auf 
Meditation und Gebetsformel, ihrer Tätigkeit auf Predigt und 
Mission durch Disputation, für welche sie in Klosterschulen aus- 
gebildet wurden: eine Quelle der Neuerweckung wissenschattlicher 
Studien in den Klöstern. — Für die charakteristisch lamaistische 
Hierarchie der Klosterorganisation aber war die Verbindung einer 
besonderen Form der universell hinduistischen und insbesondere 
auch mahayanistischen Inkarnationslehre, in ihrer lamaistischen 
Fassung, mit dem Charisma gewisser berühmter Klöster der gelben 
Kirche wichtig, welche sich in der Generation nach Tsong-ka-pa 
deshalb vollzog weil an Stelle derErblichkeit derSuperioren nun eine 
andere Art der Nachfolgerbestimmung treten mußte. 

Diese war aber nur ein Sonderfall einer allgemeingültigen 
Vorstellungsweise. Wesen und Bedeutung der lamaistischen 
Inkarnationslehre sind an sich einfach !2%). Sie setzt allerdings, 
darin in striktestem Gegensatz gegen alle altbuddhistische Philo- 
sophie, voraus, daß die charismatischen Qualitäten eines Heiligen 
bei ihrer Wiedergeburt aufden Trägerderselben verstärkt über- 
gehen, zieht damit aber letztlich nur die Konsequenz aus dem Um- 
stand, daß die mahayanistische Theorie vom Wesen des Buddha 
dessen frühere Geburten bis zur vorletzten,der Bodhisattva-Ge- 
burt, als an Heiligkeit ansteigende Vorstufen seiner letzten Ge- 
bur. (als Buddha) behandelte. Die früher erwähnte Heilsstufen- 
Lehre des Mahayanismus, welche ganz allgemein den Grad der 


120) Das Folgende im Wesentlichen nach Posdnjejews Otscherki byta bud- 
dijstkIch monastyriei budijstkawo duchowenstwa w Mongclii (mir nicht zugäng- 
lich gewesen, die entscheilenden Punkte aber in zahlreichen übersetzten Zita- 
ten bei Grünwedel a.a.O.). 


748 Max Weber, 


Heiligkeit nach der Zahl der Tode bestimmte, die der Heilige 
vor der Erreichung der Arhat-Würde noch vor sich hatte, war 
lediglich eine Konsequenz daraus. Dies wurde nun kcensequent 
durchgeführt: für jeden Lama, der als Asket, Zauberer, Lehrer, 
Ansehen und Beliebtheit genossen hatte, wurde nach seinem Tode 
die Wiedergeburt: der »Khubilgan«, gesucht und in irgendeinem 
Kinde gefunden und auferzogen. Jede folgende Khubilgan- 
Geburt des ursprünglichen Heiligen aber hatte und hat, normaler- 


weise, steigendes Heiligkeitsprestige. Also wird andererseits auch 


nach rückwärts erforscht, wessen Wiedergeburt denn der ur- 
sprüngliche Träger des Charisma gewesen sei: stets irgend ein Mis- 
sionar, Zauberer oder Weiser der altbuddhistischen Zeit. Jeder 
Khubilgan ist Nothelfer kraft magischen Charisma. Ein Klo- 
ster, welches einen anerkannten Khubilgan in seinen Mauern 
besitzt oder gar mehrere darin zu versammeln verstanden hat, 
ist gewaltiger Einnahmen sicher und die Lamas sind daher stets 
auf der Jagd nach der Entdeckung neuer Khubilgane. Diese 
Heiligkeitstheorie nun liegt auch der lamaistischen Hierarchie 
zugrunde. 

Die Superioren der charismatisch hochqualifizierten Klöster 
sind Inkarnationen großer Bodhisattvas, die nach dem Tode 
des jeweiligen Trägers sich neu in einem Kinde nach 7 mal 7 Tagen 
inkarnieren und also — etwa nach Art der Suche nach dem 
Apis-Stier— nun nach bestimmten Orakeln und Merkmalen avf- 
gefunden werden müssen. Die beiden höchsten derartigen In- 
karnationen waren und sind der Superior des jetzt größten Lama- 
Klosters, der Potala bei Lhasa, der Gryal ba, später gemäß dem 
ihm vom Mongolenkhan nach der Neueinrichtung der lamaisti- 
schen Kirche in der Mongolei im 16. Jahrhundert verliehenen 
Titel meist »Dalai-Lama« genannt, und der Superior des gewöhn- 
lich als Teeshoo lJoombo bezeichneten Klosters, der Pan-c’en 
` rin-po-ce, zuweilen nach seinem Kloster als sTaschi Lama: 
bezeichnet, der erstere eine Inkarnation des Bodhisattva Pad- 
mapani, also Buddhas selbst, der letztere des Amithaba. 

Der Theorie nach liegt in den Händen des Dalai-Lama mehr 
die Disziplin, in denjenigen des Taschi-Iama — entsprechend 
der spezifischen Bedeutung Amithabas als Gegenstand inbrün. 
stiger mystischer Glaubensandacht — mehr die exemplarische 
Leitung des religiösen Lebens. Die politische Bedeutung des 
Dalai-Lama ist die weitaus größere, aber dem Taschi-Lama ist 





Een ge an a 


> 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus.” 749 


geweissagt, daB er nach dem Untergang der Machtstellung des 
ersteren die Religion wiederherstellen werde. Die Inkarnation 
des Dalai Lama wird in Klausur erzogen, mit 7 Jahren als Mönch 
aufgenommen und in strenger Askese bis zur Volljährigkeit wei- 
tergebildet. Gegenüber der göttlichen Würde namentlich des 
Dalai Lama, aber auch der anderen in ähnlicher Art incarnierten 
höchsten lamaistischen Charisma-Träger, gaben der chinesischen 
Regierung die erforderlichen politischen Garantien: I. die Mehr- 
heit der untereinander zwar ungleichwertigen, aber doch kon- 
kurrierenden Inkarnationen, vor allem des Dalai-Lama und Taschi- 
Lama, 2. die Residenzpflicht einer Anzahl der höchsten Lamas 
(jetzt nur noch eines) in Peking, 3. die bei Inkarnationen übliche 
hieratische Klausur des Dalai Lama, verbunden mit der Führung 
der weltlichen Verwaltung durch einen Hausmaier, den sie ein- 
setzte, 4. die Pflicht gewisser hoher Inkarnationen, beim Hcfe 
in Peking zu erscheinen und aller: das Exequatur von dort zu 
empfangen ??!),. Die Neubekehrung und lamaistische Organi- 
sation der Mongolen erfolgte im 16. Jahrhundert und es residieren 
seitdem dort als Stellvertreter das Dalai-Lama mehrerer Inkar- 
nationen großer Heiliger, von denen die bedeutendste der Mai- 
dari Hutuktu, jetzt in Urga, ist. Bei der größeren Schwierigkeit, 
die Mongolei in Botmäßigkeit zu halten, ist jedoch seit der 
Niederwerfung der Dsungaren durch China von der chinesischen 
Regierung für die Inkarnationen dieses Hierarchen vorgeschrie- 
ben worden, daß sie nur in Tibet, nicht in der Mongolei selbst, 
stattfinden und gesucht werden dürfen. Die endgültige Ein- 
teilung der Rangklassen der Lamas, entsprechend den Rang- 
klassen des mongolischen Adels, geschah ebenfalls bei der Neu- 
bekehrung des Mongolenkhans durch diesen. 

Die Rekrutierung der Lama Klöster 1?) — deien jedes 
ncrmalerweise zwischen 200 und I500 Lamas enthält, die größ- 
ten mehr — erfolgt in starkem Maße (wie übrigens diejenige 
auch vieler buddhistischer Klöster in China) durch Hingabe 
von Kindern, teilweise durch deren Verkauf, an das Kloster. In 


121) Diese Pflicht kommt für den Dalai-Lama praktisch inWegfall, soweit das 
weit einfachere Verfahren geübt wurde, den Dalai-Lama gər nicht erst voll- 
jährig werden, sondern vorher vergiften zu lassen, wie z. B. 1874 geschah, 

122) Ueber die Potala von Lhasa liegt jetzt das große Werk von Perceval 
Landon, Lhasa (London 1905) vor, verfaßt auf Grund der Feststellungen der 
englischen Expedition. Gutes Anschauungsmaterial für normale Klöster bringt 
die Reiseschilderung Filchners über das Kloster Kumbum am oberen Hoangho 
(Wissenschaftliche Ergebnisse der Expedition Filchner I, 1906). 


750 Max Weber, 


Tibet sorgt die feste Begrenzung des Nahrungsspielraums dafür, 
daß hinlängliche Nachfrage nach Klosterunterkunft besteht 129), 
Immerhin ist bei der hohen Machtstellung der Lamaklöster der 
Zufluß auch aus besitzenden Schichten nicht unbeträchtlich und 
Mönche dieser Provenienz bringen oft einerhebliches Privatvermö- 
gen mit. Es ist selbstverständlich, aber anscheinend in den Lama- 
klöstern besonders stark ausgebildet, daß der Tatsache nach 
eine stark plutokratische Gliederung der Lama’s besteht 1%): 
die mittellosen Mönche arbeiten für die besitzenden und bedienen 
sie, im Uebrigen pflegen sie Korbflechterei und ähnliche Gewerbe, 
sammeln Pferdemist zur Düngung und treiben Handel 23). 
Keuschheit als Pflicht verlangt nur die orthodox-gelbe Kirche, 
Fleisch- und Alkoholgenuß gestattet auch sie. Der Unterricht 
wird auch in kleineren Klöstern noch jetzt gepflegt und rwar in 
4 Fakultäten: r. der theologischen Fakultät, der wichtigsten, 
die zugleich die Leitung des Klosters hat 12%), weil sie die Weihen 
erteilt, 2. der medizinischen (empirische Kräuterkunde für den 
mönchischen Hausarzt), 3. Tsing Ko (Ritual), die altklassische 
Lehre, hier im Wesentlichen in die Beibringung der Kenntnis der 
Regeln für Totenmessen abgewandelt 12”), 4. Tsu pa (Mystik), 
Schulung in der Tantra-Askese für schamanistische Zwecke 128), 
Im Unterricht spielen, ganz dem alten Charakter aller indischen 
Erziehung entsprechend, noch heut Preisdisputationen (um eine 
Monatspfründe) eine Rolle 139). Die Weihen bringen den Studen- 
ten (dapa) vom Novizen (getsul) zum Gelong (Vollmönch) und 
durch weitere Stufen (zusammen 5)bis zum Khan po hinauf, der 
in der alten literarischen Hierarchie die höchste Stufe des niederen 
Klerus darstellte und als Klostersuperior die Disziplin (Macht 


1233) Filchner gibt an, daß etwa jeder dritte Sohn Lama wird und werden muß. 

124) Hackmann berichtet, daß die Aufnahmen allzu vornehmer Novizen 
gelegentlich bei den Mönchen, die deren soziale Uebermacht fürchten, auf Wider- 
stand stoßen. 

125) Namentlich der sog. »heilige Tauschhandel«e der Lamas ist bekannt, 
ein Kettenhandel, bei dem, entsprechend der Obödienz der Laien, jedesmal ein 
wertvolleres Objekt eingetauscht wird, etwa: gegen einen Seidenschleier ein 
Schaf, gegen dies ein Pferd usw., eine Art von umgekehrtem »Hans im Glücks 
(vgl. Filchner a. a. O.). 

136) Den Unterricht leitet ein Hutuktu. Die Fakultätsbeamten wechseln 
alle 1—3 Jahre, jede Fakultät hat 3. 

18?) Filchner fand in Kumbum dafür r5 Studenten. 
138) Filchner fand in Kumbum dafür 300 Studenten; das Geschäft ist sehr 


ertragreich. 
139) Die Themata sind oft von mehr als stalmudischers Skurrilität (Fil- 


chner a. a. O.). 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 7 SI 


über Tod und Leben) hatte. Der Rang des höheren Klerus, ve m 
Khubilgan angefangen (darüber die Hutuktus, schließlich der 
Dalailama und Pon c'en) sind nicht durch Weihen zu erlangen, 
sondern nur durch Wiedergeburt. Die Mönche haben gegen den 
Islam als Glaubenskämpfer mit Bravour gefochten und sind 
vielfach auch heut — im Gegensatz zu den Laien — wehrhaft. 
Im Uebrigen ist die Zeit der Lama’s weit stärker als in irgend 
welchen anderen buddhistischen Klöstern durch gemeinsamen 
- Kult ausgefüllt. | 

Eine Darstellung des lamaistischen Pantheon hätte für unsere 

speziellen Zusammenhänge keinen Wert 2%. Es ist ein modi- 
fiziertes Mahayana-Pantheon unter noch stärkerer Anreicherung 
durch nichtbuddhistische, vedische, hinduistische (namentlich 
civaitische) und durch lokale tibetanisı he Götter und Dämonen 
und insbesondere auch unter Heranziehung der altindischen 
volkstümlichen weiblichen (Sakti-)Gottheiten, wie sie der später 
kurz zu besprechende magische Tantrismus geformt hatte: auch 
den Buddhas werden hier göttliche Gattinnen beigeordnet, — 
teilweise die glei hen, welche im späteren Hinduismus dem 
Vischnu beigegeben wurden. Der intellektualistische Mönchs- 
charakter aller buddhistischen Religiosität hat immerhin auch 
hier die orgiastisch-ekstatischen, namentlich sexualorgiastischen, 
Züge des Tantrismus stark temperiert, wie wir das im Hinduismus 
schon sahen und noch weiter sehen werden. Dagegen ist die prak- 
tische Religiosität, vor allem die Laienreligiosität, reine Hagio- 
latrie, vor allem Anbetung der Lamas selbst 131), magische Thera- 
peutik und Divination ohne alle ethische Rationalisierung der 
Lebensführung der Laien. Neben ihren Fronleistungen und Ab- 
gaben für die Klöster kommen die Laien nur als Wallfahrer und 
Spender von Gaben in Betracht. 

Die Heilssuche der Lamas selbst trägt buddhistische und 
also hinduistische Züge insofern, als der höchste Heilsweg auch 
hier in methodisch geregelter Meditation besteht. Praktisch ist 
sie fast reiner Ritualismus, speziell Tantrismus und Mantrismus 
geworden und die Mechanisierung des Gebetsformelkults durch 
Gebetsmühlen und Gebetslappen, daneben durch Rosenkränze 
und ähnliche Mittel ist erst im Lamaismus zu ihrer vollen Konse- 


130) Bei weitem die beste Einführung gibt von deutschen Arbeiten auch hier 
Grünwedels mehrfach zitierte Arbeit. 
131) Von diesen selbst glaubt Filchner nicht, daß auch nur einer an seine 
eigenen magischen Kräfte glaube. 
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 3. 49 


752 Max Weber, 


quens entwickelt worden. Der jeweilige Grad der ethischen Klo- 
sterdisziplin hängt sehr wesentlich von der Ordnung der poli- 
tischen Verhältnisse ab und ist meist sehr gering 13%). Die Bauten, 
wie das Berg-Kloster Potala bei Lhasa, die Existenz der — 
heute verfallenen — Wissenschaft selbst in Klöstern zweiten 
Ranges und die Entstehurg einer immerhin umfangreichen re- 
ligiösen Literatur sowie noch mehr einer Aufspeicherung von 
Kunstwerken zum Teil ersten Ranges in diesen Weide- und 
Wüstengebieten, in meist 5000 Meter Höhe über dem Meer auf 
einem 8 Monate des Jahres gefrorenen Boden und mit einer reinen 
Nomaden-Bevölkerung ist unter allen Umständen eine eindrucks- 
volle Leistung, die nur der hierarchisch straff organisierte Jamaisti- 
sche Kloster-Buddhismus mit seiner schrankenlosen Macht über 
die Laien vollbringen konnte. Die alte chinesische militärische 
Fronorganisation einerseits, die lamaistische mönchische As- 
keten - Organisation mit ihren frondenden, steuernden und 
spendenden Untertanen andererseits erzeugten hier Kultur auf 
Gebieten, welche vom kapitalistischen Rentabilitätsstandpunkt 
aus teils zur allerextensivsten ewigen Weide, teils geradezu zur 
Wüste, jedenfalls aber nicht zum Standort von großen Bauten 
und künstlerischer Produktion bestimmt sein würden und die 
mit dem Verfall jener Organisationen auch vermutlich dem von 
jeher über ihnen schwebenden Schicksal ewiger Versandung 
entgegengehen werden. — 


no o ## °%°% Wir kehren wieder nach Vorderindien zurück 13). — Dort 


t 


a cýst der Buddhismus in allen seinen Formen im Lauf des ersten 


3: Jahrtausends unserer Zeitrechr.ung schrittweise zurückgedrängt 


und schließlich fast völlig ausgerottet worden. In Südindien hatte 
er zunächst dem Jainismus zu weichen. Dies dürfte, wie früher 
ausgeführt, mit der überlegenen Gemeindeorganisation dieser 
Konfession zusammenhängen. Aber auch der Jainismus schrumpfte 
in seinem Verbreitungsgebiet zusammen, schließlich bis auf die 
Städte Westindiens, in denen er noch heute fortlebt. Das 
Feld behauptete der Hinduismus mit den Brahmanen an der 


182) Filchner a. a. O. 

133) Zur indischen Sektenreligiosität von neueren Werken vor allem E. W. 
Hopkins, The Religions of India. Boston, London 1895. Von modernen 
binduistischen Werken namentlich Jogendra Nath Bhattacharya (präi- 
dierender Panait), Hindu Castes and Sects, Calcutta 1896 (extrem sektenfemdlich) 
Kurze Skizze: M. Philipps, The evolution of Hinduism, Madras 1903. Von äl- 
teren Werken: Barth a. a. O. und die verdienstvollen Schriften von Wilson. 





hie 


-- 5-17 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 753 


Spitze. Es scheint fast, daß dessen Restauration ebenfalls von 


Kaschmir, dem klassischen Lande der magischen Wissenschaft 


des Atharva-Veda ebenso wie der Mahayana-Lehre, ausgegangen 
ist. Es weist schon der Verlauf der sprachlichen Sanskrit-Rc- 
naissance, — welche freilich keineswegs einfach mit der brahmani- 
schen Renaissance parallel ging, — auf dieses Ursprungsland 134). 
Aber in Wirklichkeit war das Brahmanentum, wie wir sahen, 


niemals verschwunden. Die Brahmanen sind nur selten durch ‚die 


-nn e 


heterodoxen Erlösungskonfessionen wirklich ganz verdrängt 


worden. Dies hatte schon rein außere Gründe. Der Jaina- 


Tirthankara und der buddhistische Arhat verrichteten keinerlei 


Riten. Die Laien aber verlangten nach Kult und also auch nach 
festen Trägern eines solchen. Das konnten, wo jenem Bedürf- 
nisse nachgegeben wurde, im allgemeinen nur entweder Mönche 
— die aber dadurch ihrer Meditationsspflicht und der Aufgabe 
des Lehrens entzogen worden wären — oder geschulte Brahmanen 
sein, welche sich der heterodoxen Soteriologie fügten, ihrerscits 
aber die Riten für die Laien versahen und also die Tempelpfründen 
sich aneigneten. Brahmanen fungierten daher häufig als Tempel- 
priester der Jaina, wie wir sahen, und auch in manchen buddhisti- 
schen Gemeinschaften finden sich Brahmanen in dieser Funktion. 
Die Kastenordnung ferner hatte sich zwar gelockert und große 
Teile ihres heutigen Verbreitungsgebiets hat sie erst seit der 


134) Darüber zu vgl. O. Franke, Pali und Sanskrit (Straßburg 1902). 
Das Pali, die Sprache der Altbuddhisten, des singhaleser Kanons, der Edikte 
Acokas und im 3. Jahrb. vor Chr. anscheinend überhaupt der gebildeten » Ariere 
Nordindiens, stammt nach Franke vom vedischen Sanskrit und hat seinen Ur- 
sprung in Ujjain, dem Gebiet, wo Agoka als Prinz Statthalter war und Geburtsland 
seiner Frau. Franke sucht nachzuweisen, daß der Ursprung der Verbreitung des 
sekundären, nur als Literatensprache fungierenden Sanskrit Kaschmir und der 
Himalaya gewesen sei, von wo es dann in die Königsinschriften, die literarischen 
und monumentalen Denkmälern der Mahayanisien, Jainas und Brahmanen, 
zunächst der Gegend von Mathura (des Landesam Ganges und Jamuna) etwa seit 
I. Jh. v. Chr. vorgedrungen und dann weiter nach Süden und Osten aus pclitischen 
Gründen mit dem Brahmanentum importiert worcen sei. Sylvain Lévy (Jour- 
nal As. 1902, I p. 96 ff., übersetzt mit Bemerkungen von Burgeß Ind. Antiq. 33 
p. 163 ff) weist darauf hin, daß barbarische Eindringlings-Dynastien, vor allem 
die (religiös indifferenten) Kschatrapas, im Gegensatz z. B. zu den brabmanisch- 
orthodoxen Satakarnis (welche im Prakrit dichteten und edizierten) das Sans- 
krit pflegten, bis dann unter der (brahmanische Gottheiten anbetenden, aber 
konfessionell toleranten) Gupta-Dynastie im 4. Jahrhundert Sanskrit in Nord- 
indien die universelle Literatensprache wurde. Sei dem wie ihm wolle, so bleibt 
es höchst wahrscheinlich, daß die magische Bedeutung der alten heiligen 
Sprachen, welche gelegentlich auch von Buddhisten betont wurde, bei ihrer Re- 
zeption jene erhebliche Rolle gespielt hat, die auch Levy annimmt. 

R 4 9 * 


754 Max Weber, 


Restauration gewonnen. Aber wirklich verschwunden war sie 
in ihrem alten nordindischen Verbreitungsgebiet nie. Der Bud- 
dhismus insbesondere ignorierte sie zwar, focht sie aber an sich 
nicht an. Es gibt keine Epoche indischer literarischer oder monu- 
mentaler Denkmäler, in der sie nicht als in irgend einem praktisch 
belangreichen Umfang bestehend vorausgesetzt würde. Aber 
wir sahen, wie die Macht der Gilden in den Städten zu überwiegen 
begann. Und namentlich unter buddhistischem Einfluß hatte 
sich ein wirkliches »Staatsideale: das des Wohlfahrtsstaats, ent- 
wickelt. Zu den Dingen, welche bei dem früher erwähnten be- 
rühmten, im Vellala-Charita geschilderten Konflikt mit König 
Vellala Sena ein bengalischer Händler dem König, der ein Kriegs- 
darlehen begehrte, entgegenhielt, gehörte auch die durchaus 
‘heterodoxe Behauptung: das Dharma des Königs bestehe nicht 
im Kriegführen, sondern in der Fürsorge für die Wohlfahrt der 
! Untertanen !%). Diesen schüchternen Anfängen eines von der 
Kastengliederung absehenden Staatsbürger-Begriffs entsprachen 
ähnlich schüchterne Anfänge von Urstandslehren, welche dann auf 
| den ganz unhinduistischen Gedanken einer ursprünglichen Gleich- 
‘ heit und pazifistischen goldenen Freiheit der Menschen führ- 
ı ten. Die erstarkende Fürstenmacht suchte sich zugleich von 
den Fesseln der buddhistischen plebejischen Hierokratie, — wie 
sie in Ceylon und Birma und auch in nordindischen Staaten ent- 
wickelt war, wie wir sahen, — und von der Plutokratie des Bür- 
fgertums der Städte zu befreien. Sie zog das Bündnis mit der 
| brahmanischen Intellektuellenschicht und die Kastengliederung 
| dem altbuddhistischen Mönchtum und den Gilden vor und vollzog 
: so die Parteinahme zuerst für den Mahayanismus, dann für das 
‚ rein rituelle orthodoxe Brahmanentum. Durchweg ist es — wie 
: die monumentalen Quellen zeigen — die Macht der Könige ge- 
Pwesen, welche die Restauration der Neu-Orthodoxie entschied 129). 
Die brahmanische Hierokratie hatte diesem Prozeß, der sich in 
klassischer Form anscheinend besonders in Bengalen_unter der 
Sena-Dynastie vollzog, durch äußere und innere Neuorientierung 


186) Es findet sich, daß hinduistische Fürsten sich rühmen, niemals getötet 
zu haben, »außer im Krieges, also: in ihrem Beruf. Der orthodox-indische Dua- 
lismus ist dabei aber nicht der zwischen »politischere und »privater Ethik«, son 
dern nur ein Spezialfall der allgemeinen Spezialisation des Dharma je nach 
den Sphären des Handelns. 

186) Der Konfirmation eines Königssohns (Mahadagaputra) als Vischnu- 
Sekten-Mitglied wird aus Anlaß einer Stiftung gedacht. Ep. Ind. IV p. 96 f£. 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 755 


vorgearbeitet. Die Brahmanen waren ja, sahen wir, niemals 
verschwunden. Aber sie waren in die subalterne Lage ritueller 
Tempelpriester herabgedrückt, soweit sie nicht die buddhistische 
Mönchsregel auf sich genommen hatten. Es sind immerhin, seit 


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Açokas Zeit etwə 4 Jahrhunderte, in denen geradezu keine, 
und noch zwei weitere Jahrhunderte, bis gegen 300 nach Chr., 


in denen nur ‘selten Stiftungen zugunsten. von Brahmanen, 


Kon nt re 


inschriftlich. verkommen. Für die Brahmanen, als adlige Welt- 
priesterschaft, kam es vor allem darauf an, sich von dieser sub- 
alternen Lage gegenüber der Mönchskongregation zu befreien, 
die immerhin auch im Mahayanismus bestehen blieb, so sehr er 
den brahmanischen Traditionen entgegengekommen war. Denn 
er war, vom brahmanischen Standpunkt angesehen, dennoch 
ein Fremdkörper im sozialen System des Hinduismus. 

Die Restauration bestand in der Ausrottung_der Hetero- 
doxien < der Intellektuellen-Soteriologie einerseits, in der Stereo- 


—s 


typierung d ‚ des Kastenritualismus, wie sie "namentlich die e Rechts- 
bücher der ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung vollzogen, 
andererseits, schließlich und namentlich aber in der in der Propaganda 
der im altklassischen Indien, vor der Epoche der T Großkönigreiche, 
noch nicht in unseren Gesichtskreis tretenden Hindu-Sekten. 
Und zwar durch die gleichen Mittel, welchen die heterodoxen Ge- 
meinschaften ihre Erfolge verdankten: ein organisiertes Be- 


rufsmönchtum 137). Diese Sekten sind es, mit denen wir uns hier 

137) Der erbitterte Kampf, dessen Hergang hier nicht zu schildern ist und 
übrigens mit dem vorhandenen dokumentarischen Material auch nur höchst un- 
vollständig geschildert werden könnte, hat in den Monumenten zahlreiche 
Spuren hinterlassen. Er wurde nicht nur zwischen Buddhisten, Jainisten und 
orthodoxen Sekten, sondern auch zwischen diesen und zwischen den einzelnen 
Brahmanenschulen geführt. Einige Beispiele müssen genügen. 

Die Zerstörung von Jaina-Tempeln durch Civaiten, welche an seiner Stelle 
das Linga aufrichten, ist Ep. Ind. V p. 285 erwähnt. 

Kaufleute und Händler einer Stadt stiften (Ep. Ind. I, p. 269) ein Kloster 
für Civa-Asketen und Ep. Ind. I p. 338 wird die Gründung einer Schule mit 
Landausstattung für die Verbreitung der brahmanischen Weisheit erwähnt. Der 
betreffende Brahmane ist seinzigartig in der Samkhya-Doktrin«, ein sunabhängi- 
ger Denker in der Tantristike, gkennt die Veden«, ist bewandert in Mechanik, 
Künsten, Musik und Poetik und im Vaigeshika-System. Der große Revival 
des Civaismus unter der westlichen Chalukya-Dynastie wird ausführlich geschil- 
dert in Inschriften aus dem 12—13. Jahrhundert (Ep. Ind. V p. 213 ff.). Einem 
vom Großvater her erblichen Civapriester, Samasvara, wird nachgesagt, daß er 
Selbstbeherrschung, Meditation, unbewegliche Ekstase, Schweigen, Gebets- 
murmeln, tiefe Kontemplation verstehe, einen guten Charakter und tiefe De- 
votion für Paramesvara (Civa) habe. Während die meisten Leute nur entweder 
Logik, oder Rhetorik, oder Dramatik, oder Poctik, oder Grammatik allein ver- 





756 Max Weber, 


zu befassen haben. Auch ihr Aufschwung bedeutete eine Ab- 
wendung von den soteriologischen Interessen der alten, mit der 
Kschatriya-Zeit versunkenen Intellektuellenschichten und eine 
Pflege jener Religiosität, wie sie den plebejischen, das heißt: ali- 
terarischen Schichten adäquat war, mit welchen das Brahmanen- 
tum nun als Klienten zu rechnen hatte: den» Radschputen«schied 
ja vom alten Kschatrya sein Analphabetentum, 

Literarisch äußerte sich die brahmanische_ Restauration 
theoretisch in den Endredaktionen der Epen, praktisch aber, als 
Mission, in dem Aufkommen der Purana-Literatur. Die Schluß- 
redaktionen der Epen sind das Erzeugnis vornehmer brahmani- 
scher Redaktoren. Anders die Puranas. Es waren nicht mehrdieal- 
ten gelehrten vornehmen Brahmanen-Geschlechter, welche diese 
Gattung komponierten. Alte Bardendichtungen, scheint es 1%), 
lieferten den Stoff. Er wurde von den Tempelpriestern und wan- 
dernden Mönchen, von denen bald zu reden sein wird, beschafft 
und eklektisch zurechtgeinacht und enthielt die Heilslehren der 
eigentlichen Sekten, während die Epen, vor allem das Maha- 


stehen, beherrscht Samasvara sie alle. Er beherrscht das Nyaya-und das Samkhya- 
System. Es werden an der Klosterschule gelehrt: Nyaya, Vaigeshika, Mimamsa, 
Samkhya und — erstaunlicherweise — auch Bauddha (buddhistische Philo- 
sophie), ebenso die Puranas. Also eine universelle sinterkonfessionelles Bil- 
dungsanstalt. Ebenda p. 227 werden aber Disputationen mit Feinden erwähnt und 
es findet sich ein Stifter einer Civa-Sekte, von dem es heißt, daß er »ein Untersee- 
feuer im Ozean des Buddhismus«e, ein »Donnerschlag im Gebirge des Mimamsa« 
sei, daß er die großen Bäume der Lokayatas umgehauen, die große Schlange 
des Samkhya erschlagen, die Axt an die Wurzel der Bäume der Advaita-(Ve- 
danta-)Philosophen gelegt, die Jainas vernichtet, dagegen die Nayagikas ge- 
schützt und sich als ein Vischnu in der Unterscheidung, ein Civa in der Klar- 
stellung der Dinge bewährt habe. — Ebenda p. 255 wird eine heftige Disputation 
mit den Jaina erwähnt, außerdem aber taucht der Gründer der Lingayat-Sekte 
Basava Ep. Ind. V p. 23 und a. a. O. p. 239 seine Sekte in heftiger Gegnerschaft 
gegen alle andern, besonders die Jaina, auf. 

Ep. Ind. IV p. ı7 wird der vischnuitische Sektenstifter Ramannja als der 
Vertreter der sechten Dravida-Lehree genannt, »der den Trotz derer bricht, 
welche die Lehre von der Illusion vertreten» (der Vedantisten). 

Von Fürsten veranstaltete Religionsgespräche finden sich auch sonst in 
zahlreichen Inschriften. Ein wichtiges Mittel der Propaganda waren die seit 
etwa dem 7. Jahrhundert in der südindischen (Tamil-) Literatur in großer Zahl 
auftretenden, zum Teil nach dem Urteil der Kenner hervorragend schönen hei- 
ligen Hymnen der Bhakti-Religiosität. Die heiligen Sänger und Lehrer, welche 
die Höfe besuchten, waren fast stets die Träger der Bekehrung. Mit der Ent- 
ziehung der königlichen Gunst brach namentlich der Buddhismus, aber auch 
ler in der Gemeindeorganisation stärkere Jainismus meist in kurzer Zeit, in 
Südindien fast überall seit etwa dem 9. Jahrhundert, geräuschlos zusammen. 
Beide waren eben in der Wurzel Intellektuellensoteriologien. 

138) So Winternitz S. 448. 


r+r 


2 et o 1. Abm. 


Die Wirtschaftsetlik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 767 


bharatha, noch eine Art von interkonfessioneller ethischer Para- 
digmatik sein wollten und als solche auch von allen großen Sekten 
anerkannt geblieben sind. Sieht man zunächst von den eigent- 
lichen Sektengöttern und den spezifischen Heilsgütern der 
Sektenreligiosität ab, so findet man schon in den Epen die 
Arten des offiziell rezipierten Zaubers und der animistischen 
Züge stark erweitert. Sympathischer und symbolischer Zauber, 
der an Fetischismus streift, Geister der heiligen Flüsse (vor allem 
des Ganges), Teiche und Berge, der ganz ungeheuer angeschwol- 
lene Wortformel- und Fingergestenzauber, nach Einführung der 
Schriftlichkeit der Tradition auch der Schriftzauber, stehen neben 
der alten Verehrung der vedischen Götter, vermehrt um die ver- 
schiedensten vergöttlichten und als Geister aufgefaßten Ab- 
straktionen. Verehrung der Ahnen, der Priester und der Kuh 
stehen neben einander, wie Hopkins anschaulich gezeigt hat und 
wie die heutige Folklore es als fortbestehend feststellt. Dazu aber 
treten seit der Entwicklung des Großkönigtums die charakteristi- 
schen patriarchalen Züge, welche jede patrimonialbürokratische 
Monarchie bei den Untertanen fördert. Der König ist schon 
in den jüngeren Bestandteilen des Epos eine Art irdischer Goti 
für sein Volk, trotz aller ungeheuren Machtsteigerung der Brab- 
manen auch seinerseits etwas durchaus Anderes und wesentlich 
Größeres als in den alten Brahmanenschriften. Die patriarchale 
Stellung der Eltern, nach deren Tode des ältesten Sohns, wird 
überaus stark betont. Zweifellos vor allem durch diese Lehren 
empfahl sich der Neu-Brahmanismus der Königsgewalt als Stütze. 
Denn eben darin war der Buddhismus trozt allen Entgegen- 
kommens doch durchweg weniger patriarchal orientiert. Daß 
die patriarchale Gewalt trotzdem nicht chinesische Züge an- 
nehmen konnte, dafür war letztlich nur die trotz allem auch bei der 
Orthodoxie bestehen bleibende Spaltung der höchsten Gewalt 


und vor allem die mächtige Stellung der Asketen und Guru’s, j 
von welchen bald zu reden sein wird, verantwortlich. _.| 


Vermehrt wurden auch die Heilsgüter. Neben dem Hel- 
denhimmel Indras und dem höheren universellen Himmel 
Brahmas sowie endlich der Absorption in die Einheit mit dem 
Brahman steht im Epos auch noch der alte Volksglaube, daß die 
Seelen guter Menschen in Sterne verwandelt werden. Also ein 
buntes Durcheinander, dem nun die spezitisch sektiererischen hin- 
duistischen Züge hinzutraten. Sie sind teils enthalten in den spä- 


\ 


| 


Rn a Re y 


758 Max Weber, 


testen Einschiebungen in das Mahabharatha, durch welche die 
Brahmz2nen offenbar eine Art von Gleichgewicht und Ausgleich 
der Sekten herbeizuführen strebten, teils und vor allem in den 
Puranas, welche reine Sektenkatechismen sind. 

Wie die lehrhaft wumgearbeiteten Teile der Epen, welche 
in ihrer spätesten Redaktion schon durchaus auf dem Wege zu 
dieser Literaturgattung liegen, so sind auch die Puranas, vor 
allem des Bhagavata Purana, noch jetzt Gegenstand der Rezi- 
tation vor dem breiten Hindu-Publikum. Welches nun waren in- 
haltlich die neuen Elemente? Es sind einerseits zwei an sich n sich alte, 
aber wenigstens innerhalb der offiziellen Intellektuellenlehre 
erst jetzt zu Einfluß gelangende und zwar persönliche 1%) Götter: 
Vischnu und Civa 10), andererseits einige neue Heilsgüter 
und schließlich die Umgestaltungen der hierarchischen Organi- 
sation, welche die Sektenbewegung des mittelalterlichen en und 
neuzeitlichen Hinduismus charakterisieren. Wir sprechen gu- 
nächst von den Heilsgütern. 


i T Die alte vornehme Intellektuellensoteriologie hatte, wie wir 


sahen, alle orgiastisch-ekstatischen und gefühlsmäßigen, ebenso 
die damit zusammenhängenden magischen Bestandteile des 
urwüchsigen Vclksglaubens abgelehnt und ignoriert. Sie bestanden 
als eine verachtete Unterschicht von Volksreligiosität unterhalb 
des brahmanischen Ritualismus und der Heilssuche auf dem 
Wege der brahmanischen Gnosis, gepflegt zweifellos, wie überall, 
von einer Schicht schamanenartiger Zauberer. Aber die Brah- 
manen konnten sich im Interesse ihrer Machtstellung dem Ein- 
fluß dieser Magie und dem Bedürfnis ihrer Rationalisierung nicht 
dauernd ganz entziehen, wie sie ja schon im Atharve-Veda 
dem unklassischen Zauber Konzessionen gemacht hatten. In der 
Tantra -Magie hielt schließlich auch die Volksekstatik ihren 
Einzug in die brahmanische Literatur, innerhalb deren die Tantra- 
Schriften von manchen als der sfünfte Vedas angesehen wurden. 
Dies deshalb, weil in Indien wie im Occident die systematische 
Rationalisierung der magischen Künste, namentlich der Alchemie 
und der Nervenphysiologie zu ekstatischen Zwecken, zu den Vor- 


139) Dies darf freilich nur mit Vorbehalt gesagt werden. Für die Intellektuel- 
len blieb ganz überwiegend entweder ein noch hinter diesen höchsten Göttern: 
stebender unpersönlicher göttlicherUrgrund bestehen, oder aber sie selbst wurden 
als halbunpersönlichen Mächte gedeutet. 

140) Da Buddhisten und Jainisten der alten Zeit nicht selten vischnuitische- 
und <ivaitische Namen haben, so schließt Bühler wohl mit Recht auf das Alter 
der Kulte jener Götter. | 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 769 


stufen rationaler empirischer Wissenschaft gehörte: das hatte 
einige hiernicht näher zu verfolgende Nebenwirkungen‘). Die 
Tantra-Magie war ihrem ursprünglichen Wesen nach orgiastische 
Ekstase, hervorgerufen durch gemeinsamen Genuß der in der 
späteren Terminologie, »heiliger Kreis« (puruabhishaka) genannten 
»fünf Mukara«, der fünf Dinge mit »M« als Anfangsbuchstaben: 
Madiya: Alkohol, Mamsa: Fleisch, Matsya :Fisch,Maithura: Sexual- 
verkehr, Mudra: heilige Fingergesten (vermutlich ursprünglich Pan- 
tomimen). Allen an Bedeutung voran stand die mit Alkohol verbun- 
dene Sexualorgie 14) und demnächst das blutige Opfer nebst an- 
schließendem Mahl. Ziel der Orgie war zweifellos ekstatische Selbst- 
vergottung zu magischen Zwecken. Der in den Gottbesitz Gelangte, 
der Bhairava oder Vira, hatte magische Kräfte. Er wurde ver- 
einigt mit der weiblichen Schöpfermacht, der Sakti, welche später, 
unter den Namen Lakschmi, Durga, Devi, Kali, Syana u.a. 
erscheinend, durch ein nacktes mit Fleisch und Wein gespeistes 
Weib (Bhairavi oder Nayika) repräsentiert wurde. In gleichviel 
wie gearteter Form sind diese Kulte selbst sicher uralt. Wie 
überall, war auch hier die Orgie als Form der Heilssuche bei den 
Unterschichten, insbesondere also den Dravidas, besonders 
lange erhalten geblieben, daher gerade in Südindien, wo die 
brahmanische Kastenordnung erst spät durchgeführt wurde. 
Während des Jagannatha-Festes in Pari aßen dort bis an die 


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Schwelle der Gegenwart noch alle Kasten zusammen. Niedere 
Kasten, wie die Parayans und die höher stehenden Vellalar in 
Südindien hatten vielfach noch Eigentumsrecht an berühmten 
Tempeln der alten orgiastisch verehrten Gcttheiten und zahlreiche 
Reste aus der Zeit, wo auch die oberen Kasten diese verehrten, 
hatten sich erhalten. Es ist selbst der sehr energischen Sitten- 
polizei der Engländer nur schwer gelungen, der Sexualorgie Herr 
zu werden und sie wenigstens aus der Oeffentlichkeit ganz zu 
verscheuchen. 

Das Symbol der alten Fruchtbarkeits-Geister, mit welchen 
die Sexualorgie als Homöopathie in Beziehung gesetzt wurde, 
war hier wie überall in der Welt der Phallos (lingam, eigentlich 
die Kombination des männlichen und des weiblichen Geschlechts- 
teils). Es fehlt denn auch über ganz Indien hin in fast keinem 
a) Ueber die wissenschaftlichen Wirkungen der Tantra-Literatur s. oben 


S. 377- 
143) „Weib und Wein sind das fünffache Mukara und nehmen alle Sünden 


forte sagt ein Spruch der Orgiastiker. 


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769 Max Weber, 


Dorf. Die Veden verspotten den Kult als eine üble Sitte der 
Unterworfenen. Uns soll hier diese Orgiastik um ihrer selbst willen 
nicht weiter interessieren 14). Wichtig ist für uns nur ihre zweifel- 
los uralte und ununterbrochene E) ye Existenz, “weil alle erheblicheren 
hinduistischen Sekten ohne Ausnahme in ihrer psychologischen 
Eigenart aus einer oft freilich weitgehenden Sublimierung dieser 
universell verbreiteten orgiastischen Heilssuche durch brahmani- 
sche oder außerbrahmanische Mystagogen entstanden sind. In Süd- 
indien läßt sich der Prozeß dieser Verschmelzung noch in seinen 
Rückständen erkennen, weil er nur unvollständig gelungen ist. 
[Ein Teil der Unterkasten und die zugewanderten Königshand- 
werker widersetzten sich dort der Reglementierung durch die 
Brahmanen und so entstand das noch fortbestehende Schisma 
der Valan-gai (Dakshinacharas) und Idan-gai (Vamacharas), 
der Kasten »rechter« und slinker« Hand: die letzteren blieben bei 
ihren eigenen Priestern und ihrer alten Orgiastik, die ersteren 


| fügten sich der brahmanischen Ordnung 144). Der Kult dieser als 


orthodox brahmanisch geltenden Kasten srechter Hand ist seines 
orgiastischen Charakters entkleidet, insbesondere also auch des 
blutigen Opfers; statt dessen wird Reis gespendet. 








143) Das Mißliche an den englischen Darstellungen ist, daß die Autoren fast 
stets in der üblichen puritanischen prüden Entrüstung über diese »abomingble 
practicese perorieren, statt die Vorgänge sachlich so darzustallen, daß man ein 
Bild des Sinngs gewinnen kann. (Oder sie leugnen die Existenz einfach ab, wie 
z. B. die Cyclopaedia of India es in vielen ihrer Artikel tut und wie es übrigens 
auch von gebildeten Hindus gern geschieht.) 

164) Die Kasten »linker Hande umfassen vor allem die früher erwähnten 
Panchsala (fünf Gewerbe) der Königshandwerker: Schmiede, Zimmerleute, Kup- 
ferschmiede, Steinmetzen, Goldschmiede, denn die Beri-Sethi, offenbar: alte 
Gildenkaufleute, ferner die Devangada: Weber, Ganigar: Oelpresser, Gollur: 
Träger, Palayan (Pariah): früher Weber, jetzt Landwirte, Beda: en 
und Madiga: Gerber und Schuster. 

Die brahmanischen Kasten srechter Hande umfassen außer den aus Nord- 
indien zugewanderten Angehörigen der Banija (Großhändler), Komati (Detail- 
listen), Gujarati (Bankiers aus Gujarat), Kumhar (Töpfer), Rangajeva (Färber 
und Kattundrucker), Naindu (Barbiere), Jotiphana (Oelpresser mit einem 
Ochsen) und den Okhalaya (einer Landwirtskaste) auch die niederen Kasten der 
Kurubar (Schäfer), Agasa (Wäscher), Besta (Fischer und Schirmträger), Padma 
Sharagava (Weber), Upparava (Deichbauer), Chitragara (Maler) und die als 
ein Teil der Palayan-Kaste angesprochenen Wallia Imletzten Fallgeht der Riß 
also mitten durch die Kaste (Paria) hindurch. Ihn mit dem Buddhismus, 
(dem angeblich die Kasten linker Hand angehangen haben sollen) in Zusammen- 
hang zu bringen ist kein Grund. Die Kasten linker Hand haben einfach die Brah- 
manen als Priester (statt ihrer eigenen Schamanen) nicht akzeptiert und ihre alte 
orgiastische Kultpraxis nicht oder jedenfalls nicht zur Zeit des Eintritts des 
Schisma aufgegeben (heut gilt sie als unterdrückt). 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 761 


Die alten weiblichen Fruchtberkeitsgeister wurden bei der Ver- 
schmelzung zunächst zuGattinnen brahmanischer Gottheiten erho- 
ben. Als geeignete Göttergestalt bot sich dafür der alte indenVeden 
aus bekanntenGründen weit zurückgestellte Fruchtbarkeitsgett 14) 
Civa (der vedische Rudra) dar. Daneben stand auch Vischnu, 
als Sonnen- und Fruchtbarkeitsgott, zur Verfügung. Die weib- 
lichen Fruchtbarkeits-Dämonen wurden einem der drei ortho- 
doxen Götter zugeordnet oder vielmehr: untergeordnet. 
So s. B. Lakschmi dem Vischnu, Parvati dem Civa, Sarasvati 
(als Patronin der schönen Künste und der Schrift) dem Brahrna. 
Andere Göttinnen folgten nach. Die alten Sagen, die vielfach an 
hellenische Mythen erinnern und sicher Ausdeutungen der 
apotropäischen oder, umgekehrt, homöopathischen orgiastischen 
Ritualien waren, wurden rezipiert: massenhafte Götter und vor 
allem Göttinnen, von denen die alte Literatur nichts weiß, tauchen 
jetzt als sorthodox« auf. Der Prozeß durchzog ganz Indien und 
die Puranas sind die Stätte, in welcher er literarisch zum 
Ausdruck kam. Philosophisch durchaus . eklektisch, hatten sie 


lediglich die Aufgabe, die Sektenlehren kosmologisch zu. unter- ` 


bauen und auszudeuten. Die treibenden Motive des Brahmanen- 
tums bei diesem Rezeptions- E RA waren 
zum Teil wohl grob mäterielle: die massenhaften Pfründen und 
Kasualien, welche winkten, wenn man sich dem me dieser 
nun einmal unausrottbaren volkstümlichen Gottheiten widmete. 
Daneben auch der Zwang der Konkurrenz gegen die mächtigen 
Erlösungs-Konfessionen der Jaina und Buddhisten, “welche nur 
durch Anpassung an die volkstümlichen Traditionen aus dem 
Sattel gehoben werden konnten. Die formellen Methoden der 
Rezeption waren gegeben: der volkstümliche Dämon oder Gott 
wurde mit einem der dafür geeigneten hinduistischen Götter 
direkt identifiziert oder — wenn es sich um Tierkulte handelte — 
als Inkarnation eines solchen behandelt. Für diese Zwecke kamen 
eben wesentlich die Fruchtbarkeitsgötter, Çiva und Vischnu, 
in Betracht, welche ja selbst auf eine orgiastische Vergangenheit 
ihrer Kulte zurückblickten. Der Kult aber wurde möglichst 
im Sinn des orthodoxen Vegetarismus, der Alkohol- und Sexual- 
Abstinenz temperiertt. Wir gehen auf keinerlei Einzelheiten 


163) Die Vereinigung des phallischen Fruchtbarkeitskults mit den Riten, 
welche der Beschwichtigung des ursprünglich vorwiegend als Krankheitsdämon 
auftretenden Rudra dienten, scheint schon vor dem Mahabaratha vollzogen 
zu sein. 


Sehe q 


———_ 


762 Max Weber, 
dieses Anpassungsprozesses ein, welchen das m 


mit der Voiksreligiosität vornahm, lassen auch den noch immer 
verbreiteten Kult des Schlangengeistes und des Sonnengeistes !4*) 
ganz beiseite und halten uns nur an die für uns wichtigen 
Erscheinungen. 

Die verschiedenen Formen der als unklassisch, aber dennoch 
orthodox brahmanisch rezipierten Verehrung weiblicher Frucht- 
barkeitsgottheiten pflegen als Sakta- Sekten bezeichnet zu 
werden. Wichtige Teile der tantrischen magischen 
esoterischen Literatur, deren Bedeutung für den Buddhis- 
mus wir kennen lernten, bildeten ihren literarischen Aus- 
druck. Ihren religionsphilosophischen Anknüpfungspunkt such- 
ten diejenigen Brahmanen, welche die Tantrik rationalisierten 
und sich dabei zum Dienst der populären Sakti-Göttinnen her- 


beiließen, in den Lehren der Samkhya-Philosophen vonder Prakriti * 


und des Vedanta von der Maya, die sie monistisch als Urmaterie 
oder dualistisch als weibliches Prinzip im Gegensatz zum 
männlichen, durch Brahma als Weltschöpfer repräsentierten, 
ausdeuteten. Diese Religionsphilosophie ist so durchaus sekun- 
dären Charakters, daß wir hier ganz von ihr absehen können, 
obwohl sie, wie wir sahen, auf die exakten Wissenschaften an- 
regend gewirkt hat. Die. intellektualistische Spiritualisierung 
der Orgie führte zur meditierenden Verehrung heiliger Kreise (statt 
des weiblichen Sexualorgans.) Der bürgerliche Sakta-Kult ging 
oft dazu über: daß die Anbetung eines nackten Weibes als Ver- 
treterin der Göttin Kultakt wurde. Mit der im Volkskult daran an- 
knüpfenden Alkohol- und Sexualorgie verband sich oft das spezi- 
fisch saktische Blutopfer, die puja — ursprünglich und bis an die 
Schwelle der Neuzeit: ein Menschenopfer — und eine Fleisch- 
orgie. Solche gänzlich von jeder Rationalisierung der Lebens- 
führung abliegenden Kulte hatten namentlich im östlichen Nord- 
indien (Bihar und Bengalen) Anhang auch unter dem Mittelstand: 
so war die Kayasth-(Schreiber-) Kaste bis vor nicht langer 
Zeit zum erheblichen Teil tantristisch. Die vornehmeren Schich- 
ten des Brahmanentums blieben dieser Akkommodation stets 
fern, obwohl auch sie mit den volkstümlichen Kulten Beziehungen 
suchen mußten. Es finden sich die verschiedensten Stadien von 


14%) Im brahmanischen Ritual war die Anrufung der Sonne (Surya im 
Rigveda) enthalten. Exclusive Sonnenverehrer (Saura) entstanden wohl erst 
unter dem Einfluß eingewanderter Mithra-Priester etwa seit Beginn unserer Aera. 


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Spe-— P y 


S WER, Di 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 763 


der kryptoerotischen Sublimierung bis zur asketischen Umkeh- 
rung der Sexualorgiastik. 

Es gelang den Brahmanen tatsächlich und vor allem, die alte 
Phallos- (Lingam- oder. Linga-) Verehrung ihres. alkohol- und _ 
sexualorgiastischen Charakters zu entkleiden und in einen rein 
Hitualistischen Tempelkult zu verwandeln, der — wie schon be- 
merkt — zu den verbreitetsten Indiens gehörte 146). Dieser als 
orthodox anerkannte Kult empfahl sich nun den Massen durch 
seine nicht zu unterbietende Billigkeit: Wasser und Blumen 

enügen für die normalen Zeremonien. Die brahmanische Theorie 
hat den Geist, welcher das Linga als Fetisch bewohnte oder — 
nach der sublimierten Auffassung — dessen Symbol dieses war, 
durchweg mit Civa identifiziert. Vielleicht schon im Mahabha- 
rata wurde diese Rezeption vollzogen: in charakteristischemGegen- 
satz zu der alten Sexualorgiastik freut es dort den großen Gott, 
wenn das lingam keusch bleibt 4”). Die Tantra-Literatur be- 
stand umgekehrt, ihrem orgiastischen Ursprung entsprechend, 


zum erheblichen Teil aus Dialogen Civas mit seiner Braut. Civa |. 


wurde unterderWirkung von Kompromissen beider Strömungen der 
eigentlich sorthodoxe« Gott des mittelalterlichen Brahmanen- 
tums. Der Givaismus in diesem ganz allgemeinen Sinn umspannt 
also die größten Gegensätze und ist in keinem Sinn etwas Ein- 
heitliches. 

Als der erste große Polemiker gegen. die buddhistische He- 
terodoxie wird der Brahmane- und Mimamsa-Lehrer Kumarila 
Bhatta, genannt Bhattacharya, im 7. Jahrh. unserer Zeitrechnung 
erwähnt. Der erste groß angelegte und dauernd wirksam geblie- 
bene Versuch aber, die Renaissance des Brahmanentums im Sinn 
einer Verbindung der alten philosophischen Tradition der Intel- 
lektuellensoteriologie mit den Propaganda-Bedürfnissen zu ver- 
knüpfen, ging von dem (wahrscheinlich) malabarischen Halb- 
blut-Brahmanen und gelehrten Kommentator der klassischen 
Vedanta-Schriften Sankara, genannt Sankaracharya 148) aus, 
der im 8. oder 9. Jahrhundert lebte und in dem jugendlichen Alter 
von 32 Jahren starb. Er zuerst scheint in die eigentlich damit 


146) Es dürften noch jetzt mindestens 80 Millionen Hindu nur Lingam-Ver- -~ ~ 


ehrer sein. 

144) Mazumdar (J. R. A. S. 1907 S. 337) nimmt gegen Rhys Davids aller- 
dings an, daß slle Stellen des Mahabaratha, welche den Kult erwähnen, Inter- 
polationen seien. 

14) Ueber ihn s. Kashinath Trimbuk Telang im Ind. Antiq. Vol. V. 


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-andern Gottheiten der Sache nach geradezu subordiniert. Kult 


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vom Wanderstabe. Nach der strengen Observanz sollte nur ein 


764 Max Weber, 


unvereinbare Vedanta Lehre den persönlichen höchsten — und im. 
Grunde: einzigen — Gott Brahma-Para-Brahma_ ‚systematisch 
wieder eingeführt su haben. "Alle anderen göttlichen Wesen sind 
Erscheinungsformen Brahmas, er selbst freilich, obwohl Regent 
der Welt, nicht ihr letzter Urgrund, der — im hinduistischen 
System unvermeidlich — überpersönlich und unerforschlich 
bleiben mußte. In jeder hinduistischen Hagiologie steht Sankara 
an der Spitze, alle orthodox givaitischen Sekten betrachten ihn als 
Lehrer, manche als eine Inkarnation Civas. Die vornehmste 
Brahmanenschule Indiens, die Smarta (von Smriti, Tradition), 
besonders im Süden mit der hochberühmten Klosterschule in 
Shringeri,im Norden vornehmlich mit der Klosterschule in San- 
keshwar als Mittelpunkt seßhaft, hält sich am strengsten an 
seine Lehre. Seit seinem Wirken hat jede neue brahmanische 
Reformbew: gung einen persönlichen Gott als Weltregenten 
anerkennen müssen, und die synkretistische Orthodoxie hat dann 
Brahma mit den beiden Volksgöttern Civa und Vischnu zur 
klassischen Hindu-Trias vereinigt. Brahma selbst blieb freilich, 
einem Ursprung aus den Konstruktionen der Philosophenschulen 
entsprechend, einc wesentlich theoretische Figur und den beiden 





wird ihm selbst nur in einem einzigen Tempel von vornehmen 
Brahmanen gewidmet; im übrigen tritt er ganz hinter Civa und 
Vischnu zurück, welche dem orthodoxen Synkretismus als seine 
Erscheinungsformen gelten, während die lebendige Sektenreli- 
giosität umgekehrt entweder Civa oder Vischnu als den höchsten 
und eigentlichen, im Grunde den einzigen Gott betrachtet. Die 
cigentlich klassische neubrahmanische Soteriologie geht fast 


_ durchweg auf den Namen Civa’s. Wichtiger aber als Sankara- 


charya’s naturgemäß eklektische Lehre war seine_ praktische 
Wirksamkeit: im wesentlichen eine Klosterreform großen Stils, 
die mit bewußter Absichtlichkeit zum Kampf gegen die hetero- a 
doxen, buddhistischen und jainistischen, Mönchsorden geschaffen | 
wurde. Der von der offiziellen Tradition in 10 Schulen geteilte 
Mönchsorden, den er ins Leben rief, führt seinen Namen: »Dasdis, 


familienloser (eltern-, weib- und kinderloser) Brahmane in den 
Orden aufgenommen werden dürfen. Den Bettelmönch scheiden 
daher die Puranas vom alten klassischen Waldeinsiedler (Vana- 
prastha und Asrama). Er hatte das Dharma, in der Wanderzeit 





essen DE U (Re 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus, 765 


nicht über eine Nacht in einem Dorf zu sein 149): »Atit«, der sun- 
erwartete Gaste, ist ein alter Name für den Wandermönch. Die 
Regeln für die ethische Lebensführung knüpften durchaus an die 
überlieferten Vorschriften der brahmanischen Soteriologie an: 
wache »Selbstbehertschungse, also Beherrschung von Wort, Körper 
und Seele im Handeln und Denken ist die Grundlage hier wie 
dort. Neu war — wie beiden Jesuiten im Occident — der spezifisch 
auf Mission und, Seelsorge abgestellte Zweck. Zu diesem Behuf 
wurde das Verbot der Annahme von Geld — wohl nach buddhisti- 
schem Vorbild — eingeschärft, gleichzeitig aber für jedes der 4 
großen Klöster, die Sankara persönlich stiftete, ein »Novizen«- 
(Bramacharin-)Orden gegründet, dessen Mitglieder nicht selbst- : 
ständig betteln, sondern nur als „dienende Brüder« die Dandi 
begleiten sollten und eventuell auch Geld für sie in Empfang neh- 
men durften: die inanderer Form auch bei europäischen Bettel- 
orden vorkommende Art der formalistischen Umgehung des un- 
Aurchführbaren Verbots. Nach zwölfjähriger Mönchszeit können die 
Dandi und Sanyasi zur Würde von »Para Hamsa« befördert wer- ' 
den, welche klostersässig sind, vorwiegend Literaten-Obliegen- 
heiten haben und an deren Spitze ein »Swami« genannter Superior 
steht. Der Mönch erlebt durch die rituelle Aufnahme in den 
Orden eine Wiedergeburt und zwar als irdischer Gott. Nur die 
ee Vollmönche. ..waren_ ursprünglich als 
Gurus der Laien zugelassen. Die Gewalt der Mönche über diese 
war von jeher sehr bedeutend, namentlich diejenige der Kloster- 


superioren. Der Superior des Klosters in Shringeri, der mäch-”  ' 


tigste, konnte bis in die Gegenwart durch Exkommunikation in 
ganz Südindien jeden Civaiten aus der Gemeinschaft der Gläu- 
bigen ausschließen. Jeder Mönch und auch jeder korrekte Laie, 
der einer Sekte angehört, hatte seinen Guru. Dessen Sitz war für ` 
ihn selbst, sozusagen, sein geistlicher Wohnsitz. Nur nach dem : 
Sitz dieses Guru und weiterhin nach dessen spiritueller Deszen- 
denz von anderen Gurus kann die Sektenzugehörigkeit ein- ' 
deutig identifiziert werden, bei den korrekten Sankariten also 
durch die Frage nach ihrer »tirtha« (Pilgerstätte, — wie etwa ` 
Mekka für die Islamiten, — in diesem Fall der Sitz des Klosters 
oder des Gurus), ebenso bei anderen, z.B. bei den späteren 
chaitanitischen Sektenangehörigen durch die Frage nach dem 
Sripat (dem Sitz des »Srie, des Guru, den der Einzelne verehrt). 
10) So: Vischnu Purana III, gf. 


766 Max Weber, 


Der literarisch gebildete Wandermönch sollte nach Sankaras 
Absicht durch Religionsgespräche die Gegner vernichten, und 
der klostersässige als Guru die Seelsorge der Gläubigen über- 
nehmen. Dabei aber sollten beide in der Hand der geistlichen 
Leiter der von Sankaracharya gestifteten Schule bleiben. Die 


äußere Organisation der Klöster des Tempeldienstes fand in 
der Zeit der einheimischen Herrscher teils durch königliche Stif- 


tungen 159), oft aber auch so statt, daß der Fürst die formelle 
freiwillige und private Stiftung bestätigte und mit bestimmten 
Zwangsrechten ausstattete, welche ihre äußere Existenz und ihr 
Monopol sicherstellten 151), Es findet sich aber in den monumenta- 
len Quellen schon vor unserer Zeitrechnung, für Tempel wenig- 
stens, die heute in Indien wie in China übliche Gründung durch 
Subskription 15) und Schaffung eines Treuhänder - Komitees 
(goshti), welches die Verwaltung führt und sich meist selbst er- 
gänzt. Die geistliche Leitung, in Klöstern meist und zuweilen 
in Tempeln auch die Wirtschaftsführung, lag in den Händen 
des vom geistlichen Stifter angestellten Superiors 158). Die Schulen 
Sankaracharyas scheinen dauernd, um der Geschlossenheit 
des Mönchtums willen, auf das Cölibat der Gurus den stärksten 
Nachdruck gelegt zu haben. Die als klassisch geltenden 3 von den 
ersten 10 Mönchsschulen haben an dem Grundsatz, daß der Seel- 
sorger ehelos sein müsse, festgehalten. Dies ist indessen bei den 
übrigen nicht mehr die Regel. Die sankaritischen, rituell geweihten 
Grihasthas sind heute Gurus von Laien wie früher die Kloster- 


1560) Dies war die durch eine Unzahl inschriftlicher Dokumente belegte 
Regel bei allen Klöstern und Hochschulen, 

351) Beispiel (für einen Tempel:) die im Ind. Antiq. (XX, 1891, p. 289) abge- 
druckte Inschrift (aus dem 8. Jahrhundert etwa), worin ein (vischnuitischer) 
ı Tamil-König ein »Abkommen« mit den »Patronen« (Stiftern) eines Tempels be- 
: stätigt und dabei verfügt, daß bei Strafe der Vermögenskonfiskation jeder Stifter 

dem Gottesdienst beizuwohnen hat und keinem anderen Gottesdienst beiwohnen 
darf: also eine Zwangseinpfarrung. Bei Strafe müssen ordnungsmäßig gebildete 
Priester zugezogen werden. 
152) Aeltestes Beispiel (für einen buddhistischen Tempel): in der Inschrift 
Ep. Ind. II p. 87f. aus etwa dem 3. Jahrh. vor Chr.: es wird ein Komitee 
(Bodhagothi) für die Buddha-Kult-Verwaltung geschaffen. — Für einen hindui- 
stischen Tempel aus dem 9. Jahrhundert nach Chr.: Ep. Ind. I p. 184: Pferde- 
händler aus verschiedenen Gegenden tun sich zusammen und erlegen sich eine 
Umlage auf, deren Ertrag nach Quoten unter verschiedene Heiligtümer 
verteilt werden soll. Die Verwaltung führt ein panchayat von goshthikas, die 
aus angesehenen Einwohnern gewählt werden und dessen Vorsteher (desi) die 
Vertretung nach außen in der Hand hat. 

153) So in der givaitischen Inschrift eines Kanauj-Königs aus dem 10, Jahr- 

hundert Ep. Ind. III, p. 263. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 767 


mönche, und nur darin ist der Unterschied praktisch geblieben, 
daß sie niemals als purohita (Hauskaplan) oder überhaupt als 
Priester fungieren, selbst ihre eigenen purohitas und Brahmanen 
außerhalb des Ordens wählen. Vegetarismus und Alkoholabsti- 
nenz herrscht in korrekt sankaritischen Kreisen. Ebenso vedische 
(Sanskrit-) Bildung und der Grundsatz, nur wiedergeborene 
Kasten in die Sekten aufzunehmen, nur Brahmanen in den Orden. 
Dies blieb freilich nicht durchweg erhalten. Gerade die heute 


als »Sanyasie bezeichneten Mönche sind oft illiterat, gestatten - 


auch Mitgliedern nicht wiedergeborener Kasten den Eintritt, 
nehmen Geld und treiben eine empirische (übrigens nicht unwirk- 
same) Therapeutik, die sie als Geheimlehre fortpflanzen. 
Jeder Brahmane hoher Kaste hat heut einen lingam-Fetisch 
im Hause. Aber es ist dem givaitischen Revival aus eigner Kraft 
die Durchdringung der Bevölkerung mit seiner orthodoxen Heils- 
lehre und. die Ausrottung der Heterodoxien nirgends gelungen. 
Für das 12. Jahrhundert nimmt Nagendra Nath Vasu 254) für 
Bengalen eine Schichtung der Religionen an, die etwa so aussah, 
daß neben den 800 eingewanderten orthodoxen Brahmanen- 
familien die Hinayana-Schule westlich des Ganges herrschte, 
im übrigen der Mahayanismus in den oberen Kreisen der Mönche 
und Laien, Yogismus und einige buddhistische und hagiolatrische 
Sekten in den Mittelklassen, die rein buddhistische Ritualistik 
und Hagiolatrie in den untersten Schichten, der Tantrismus 
aber in allen Klassen verbreitet war. Erst die Eingriffe der Könige, 
namentlich Vellala Senas, haben hier die brahmanische Ortho- 
doxie zur Herrschaft gebracht. 
 Mit.dem Spätbuddhismus teilte der Civaismus die Eigen- 
tümlichkeit _die obersten Intellektuellenschichten einerseits, die 
Unterschicht andererseits anzuziehen. Denn wie der Buddhis- 
mus neben der Erlösungslehre der Intellektuellen den Tantris- 
mus und Mantrismus als höchst bequeme Ritualistik für die Masse 
rezipiert hatte, so der Civa-Kult neben der altklassischen 
brahmanischen Tradition, die er auf dem Wege über das Epos 
aufnahm, die phallische und apotropäische Ekstatik und Magie. 
nm Civaismus entwickelte daraus eine eigene schulmäßige As- 
kese e_(Charya), welche namentlich in der im Mahabaratha er- 
wähnten Pasupata-Schule einen dem Ursprung entsprechend, 
hochgradig irrationalen Charakter annahm: des Irrereden und 


156) Modern Buddhism. 
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 3. - 5o 





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768 Max Weber, 


andre paranoide Zustände galten als höchste Heilszuständlich- 
keiten, welche sowohl die Zerstörung des Leidens wie magische 
Wunderkräfte verbürgten 154°). 

Namentlich die aus der r Epik allgemein. bekannte Kasteiungs- 
Askese hat der Çivaismus zu einer ' Massenerscheinung gemacht, 


mhea a A Na e WBa A LET n a 


indem seine Sekten sie vielfach auch für die Laien durchführte, 
Mitte April jedes Jahres melden sich massenhaft die korrekten 
givaitischen Laien niederer Kaste bei ihrem Guru und unter- 
ziehen sich eine Woche lang den heiligen Uebungen der aller- 
verschiedensten Art, an denen hier nur interessiert: daß sie durch- 
weg — im Gegensatz zur Yoga-Kontemplation — völlig irratio- 
naler Art sind, oft rein „nervöse Virtugsenleistungen darstellen. 
Neben den meist schreckhaften Geistern und dem furcht- 
baren Gott selbst, der als gewaltiger Virtuose der Magie sowohl 

; wie als dürstend nach Opferblut vorgestellt wird, spielte kultisch 

ı der allmählich vom Ursprung des Symbols sich gänzlich loslösende 
; phallische lingam-Fetisch die Hauptrolle bei den Massen. 

Die vornehme Smarta-Schule rechnet sich alsdie Fortsetzerin 
der alten Tradition, weil sie das vedantistische Heilsziel: Selbst- 
vernichtung durch Vereinigung mit dem Göttlichen, und den vedan- 
tistischen Heilsweg: Kontemplation und Gnosis, am reinsten fest- 
gehalten hat. Die althinduistische Lehre von den drei Gunas: 
satva, rajas, tamas, lebt bei ihnen weiter. Ebenso die Unper- 
sönlichkeit des göttlichen Geistes, der in den drei Formen: Sein, 
Wissen, Seligkeit lebt, im übrigen unprädizierbar ist, wenn er 
will, sich — innerhalb der Maya-Welt der kosmischen Illusionen 
— als persönlicher Gott manifestiert und als induivideller Geist 

'»bewußt« (Viraj) werden kann. Der swache« Geisteszustand des 
| individuell Seelischen ist der Tiefstand der Göttlichkeit, traumlose 
; Entrücktheit die höchste, weil dem Heilssiel nächste. 

Mit dieser Lehre hat der populäre lingam-Kult natürlich kaum 
die geringste Beziehung. Für den einfachen Lingam-Verehrer 
war überhaupt nicht Civa, sondern der lingam-Fetisch und allen- 
falls die alte, männliche oder meist weibliche, stark animistisch 
aufgefaßte Lokalgottheit, die ihn bewohnte, das Objekt des Kults. 
Dabei liefen die alten dem Civakult und namentlich dem al- 
ten Sakti-Kult der als seine Gattin angesehene Göttin Durga ur- 
sprünglich eigenen Fleischorgien und blutigen Opfer als eine 


144) Dazu wie überbaupt zu vielen vorstehenden Bemerkungen vgl. R. G. 
Bhandakar, Vaishnavism, Saivism and minor religious systems in Bühlers 
Grundriß Straßburg 1913. 








Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 769 


unklassische Art von Volkskulten weiter. Sexual- und Blutorgie 
wurden zuweilen in sadistischer Art miteinander verschmolzen? 
Daneben stand nun die individuelle givaitische Heilssuche schein- 
bar beziehungslos. Denn sie war besonders oft in sehr starkemMaße 
asketischen Charakters im Sinne höchst virtuosenhafter Kastei- 
ung. Civa selbst erscheint in der Literatur als starker Asket und | 
bei der Rezeption der volkstümlichen Heilssuche durch die Brah- 
manen sind gerade die schroffsten und für uns abstoßendsten | 
Formen der Mönchsaskese als givaitisch rezipiert worden, zweifel- ' 
los weil das alte Prestige des durch Kasteiung zu erlangenden | 





Charisma als Mittel der Konkurrenz | gegen die Heterodoxie ge- 
schätzt. wurde. Ein Umschlag Von extremer und pathologischer 
Kasteiung zu pathologischer Orgie war aber im populären Givaismus 
offenbar seit alters in teilweise furchtbarer Form heimisch | 
und auch das Menschenopfer hat bis in die neueste Zeit nicht ganz i 
gefehlt 155), Gemeinsam war schließlich aller eigentlich an 
Religiosität im allgemeinen eine gewisse Kälte der Temperierung 
in der Gefühlsbeziehung zum Gott. Civa war kein Gott der Liebe | 

A S 
und Gnade, und seine Verehrung nahm daher entweder ri- 
tualistische oder asketische oder kontemplative Formen an, / 
soweit sie nicht Bestandteile aus der heterodexen Orgiastik bei- A 
behielt. Gerade jene Qualitäten hatten ja diesen Gott der kühlen | / 
Gedanklichkeit der brahmanischen Intellektuellen - Soteriologie | 
besonders akzeptabel gemacht. Für sie hatte die theoretische | 
Schwierigkeit ja nur darin bestanden, daß er eben ein persönlicher | 
Gott war und mit den Attributen eines solchen ausgerüstet werden ' 
mußte. Dafür hatte Sankaracharya das Bindeglied geschaffen. : 

Praktisch schwierig freilich blieb die Einfügung des ganz 
unklassischen Lingam-Kultes in das klassische Ritual, welches 
davon nichts wußte. Das größte givaitische Fest, am 27. Februar, 
ist noch jetzt reine Anbetung des an diesem Tag in Milch gebadeten 
und dekorierten lingam. Der ganze »Geist« dieses Kultes stand 
aber so im Widerspruch mit den Traditionen der Intellektuellen- : 

188) Zu denCivaiten gehörten daher (soweit sie Hindu waren) auch jene Räuber- 
sekten, welche der Kali, einer der GöttinnenCiva’s, außer Anteilen an der Beute 
auch Menschenpofer darbrachten. Darunter gab es solche, welche — wie die 
Thugs — das Blutvergießen aus rituellen Gründen verwarfen und daher die 
Opfer stets erdrosselten (Hopkins a. a. O. p. 493 Anm. I, p. 494 Anm. ı nach Be- 
richten britischer Offiziere aus den 30er Jahren. Ueber die sadistischen Durga- 
Orgien s. das. p. 491 Anm. 2 und p. 492 Anm. 2). Die häufige Art der i 
Darstellung Çivas und der çivaitischen Göttinnen: eine Mischung von Obszönität ;' / 
und wilder Blutgier in Ausdruck, hängt mit dieser Art der Orgiastik zusammen. . 

50* 


en EP 
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770 Max Weber, 


| Soteriologie und auch mit dem klassischen vedischen Ritual, daß 
; die Gefahr eines Bruchs hier stets bestand, der dann auch jene 
"Zwiespältigkeit orgiastischer und asketischer Orientiertheit, wie 
sie der Civaismus umschloß, zutage treten lassen mußte. Er 
erfolgte im großen Maßstabe vor allem in der Häresie Ba- 
savas, des Gründers der Lingayat-Sekte, der, nach allgemeiner 
Ansicht, bigottesten aller hinduistischen religiösen Gemein- 
schaften. Der Stifter, ein südwestindischer givaitischer Brah- 
mane (12. Jahrhundert), geriet mit der Hierarchie in Konflikt, 
weil er das vedische Ritual bei Anlegung der heiligen Schnur, 
welches Sonnenanbetung einschloß, als ketzerisch ablehnen zu 
müssen glaubte und wurde dann Hofbrahmane und Premier- 
minister eines kanaresischen Königs. Seine Anhängerschaft 
war und blieb im kanaresischen Gebiet am stärksten, ver- 

reitete sich aber weit über Südindien. Die Ablehnung des 
vedischen Rituals hatte bei Basava Lossage von den Brahma- 
nen und Sprengung der Kastenordnung zur Folge. Die religiöse 
-Gleichwertigkeit aller Menschen, auch_der Frauen, -wurde gepre- 
digt. Die rationalen, antiorgiastischen, Züge des Çivəismus er- 
starkten. Teile der Sekte galten früher auch in sexueller Hinsicht 
für spuritanische. Doch scheint dies nicht streng festgehalten 
worden zu sein. Um so strenger waren undsind sie in anderen 
rituellen Hinsichten. Sie lehnten nicht nur den Fleischgenuß 
ab, sondern weigerten und weigern sich noch in irgendeiner 
Art am Fleisch- und Viehhandel oder an der Viehproduktion 
teilzunehmen oder Kriegsdienste zu tun. Sie verwarfen nicht nur 
die Tantras, sondern gehörten, wenigstens in ihren Anfängen, 
zu den wenigen Sekten, welche die Samsara-Lehre bezweifelten. 
Die Heilssuche der Intellektuellen bestand in Meditation über 
das in der Theorie zum Symbol der verschiedenen überna- 
türlichen Potenzen Civas spiritualisierte lingam bis zu vollkom- 
mener Weltindifferenz, dem höchsten Stande der Gnade (pra- 
sada). Die volkstümliche Soteriologie 16%) aber war rein magi- 
scher und sakramentaler Art. Der Guru vollzog an dem Eintreten- 
den je nach der Stufe der Vervollkommnung die acht (ashtavarna-) 
Sakramente, welche allein die Rechte des Vollmitglieds gaben. 
Sie waren in der Doktrin strikt »monotheistisch«, anerkannten 
nur Civa und verwarfen das brahmanisch-hinduistische Pantheon 


156) Das Basava Purana, die Grundschrift dafür, ist m. W. nicht übersetzt. 
Leider war mir auch die sonstige Spezialliteratur über die Sekte nicht zugänglich. 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 771 


und die Trias der höchsten Götter. Aber sie verehrten Civa 
wesentlich in magisch-ritueller Form. Sie trugen das lingam 
als Amulett (Jangama-lingam) : der Verlust dieses Objekts galt 
als schwerstes heilsgefährdendes Unglück. Neben der Verehrung 
dieses Amuletts und des Tempel-Phallos (des Sthavara lingam, 
d.h. standfesten, nicht tragbaren, lingam) kannten sie die An- 
dacht zu heiligen Worten und Silben (Om). Ihre Priesterschaft, 
die Jangama, waren teils wandernde und Klöstern zugeteilte 
Asketen, teils Lingam-Tempelpriester; die letzteren gehörten 
zuweilen zum sestablishment« von Lingayat-Dörfern 157). Im 
übrigen fungierten sie als Gurus der Laien. Die Obödienz gegen 
den Guru war bei den Lingayat sehr streng, wohl am strengsten 
von allen indischen Sekten, namentlich bei den rituell und ethisch, 
auch sexvalethisch und in der Alkoholabstinenz strengsten Ob- 
servanten, den Visesha Bhakta. Zu dem auch sonst üblichen 
Trinken des Fußwaschwassers und ähnlichen hagiolatrischen 
Praktiken trat hier hinzu, daß selbst die Götterbilder vor dem 
Guru geneigt wurden, um seine Götterüberlegenheit zu symboli- 
sieren. Diese haben auch an der alten Kastenlosigkeit am streng- 
sten festgehalten. Dagegen wurde schon früher erwähnt, daß im 
übrigen die Lingayat dem allgemeinen Schicksal der Sekten: 
durch die Gewalt der Umstände in die Kastenordnung wieder 
hineingedrängt zu werden, nicht entgangen sind. Zuerst ent- 
wickelte sich die Aristokratie der Sippen der Altgläubigen gegen- 
über den später Konvertierten. Nur jenen blieben die 8 Sakra- 
mente voll zugänglich. Dann begann die ständische Differen- 
sierung nach dem Beruf, der ja auch bei den Lingayat rituell 
in verschiedenem Grade unbedenklich war. Schließlich, sahen 
wir, gliederten sich die Sekten einfach nach den traditionellen 
Kasten 158), Namentlich die Samanya, die »gewöhnlichen«Lingayat 
(im Gegensatz zu den pietistischen Observanten) haben sich in 
dieser Hinsicht leicht akkommodiert. Alles in Allem hat der 
rationalistische Zug, der sich in dem Purismus der Sekte 
äußert, die massive Hagiolatrie und traditionalistische Ritua- 
357) Der Gegensatz der Sekte gegen die Brahmanen war so schroff, daß 


eine Dorfschaft d2s Graben eines Dorfbrunnens ablehnte, weil dadurch ein Brah- . 


mane veranlaßt werden könnte, dort Wohnung zu nehmen (da er dadurch rituell 
reines Wasser zur Verfügung gehabt hätte). 

188) Die Oberkaste nennt sich Vira-Saiva-Brahmana. Die Priester und Händ- 
ler (aus der Baniya-Kaste) bilden den ersten Stand, Handwerker und Oelpresser 
folgen, schließlich die unreinen Kasten. Konnubium zwischen den Kasten besteht 
längst nicht mehr, vielmehr sind die Unterkasten endogam. 


772 Max Weber, 


listik ihrer vorwiegend bäuerlichen Anhängerschaft nicht brechen 
können. — 

Einen vom genuinen Civaismus — trotz aller gegenseitigen 
Beeinflussungen und Uebergänge — merklich verschiedenen 
Typus zeigt die zweite große Religiosität (oder Gruppe von sol- 
chen) der hinduistischen Renaissance: der Vischnuismus. 
Der orthodoxe brahmanische Givaismus kastrierte die Orgiastik 
ritualistisch zum lingam-Kult, übernahm daneben die alte klassi- 
sche Vedanta-Soteriologie unter Einfügung des persönlichen Welt- 
regenten in das System und fand so in seinen innerlich höchst 
heterogenen verschiedenen Formen Anhänger einerseits unter 
dem vornehmen Brahmanentum als Neu-Orthodoxie, anderer- 
seits unter den Massen der Bauern als dörflicher Tempelkult. 
In Wahrheit freilich blieben die von der Orthodoxie nicht aner- 
kannten Blut-, Alkohol- und Sexualorgien die Domäne des im 
wirklichen Volkskult lebenden Çiva. Der Vischnuismus_da- 
gegen temperierte die Orgiastik zur brünstigen Ändacht "und x zwar 
vornehmlich in der Form der Heilandsminne. Die blutigen Opter 
des alten Civaismus und die radikale Kasteiungs-Virtuosität 
waren ihm tremd, denn Vischnu war als alter Sonnengott eine 
Vegetationsgottheit mit unblutigem Kult, dagegen mit sexueller 
(Fruchtbarkeits-)Orgiastik. Durch die bei Sonnenkulten stets 

 naheliegende Verbindung mit inkarnierten Erlösergestalten wurde 
| er die Form spezifischer H eila nds religiosität, welche Indien 
| hervorgebracht hat und fand demgemäß, wie es scheint, seinen 


! Boden vornehmlich in den mittleren, bürgerlichen, Schichten_ 


i i der indischen Gesellschaft. Jener Umschwung zur Innigkeit 
\ | und zum Genrehaften, den man in der italienischen Plastik etwa 
"zwischen Pisano Vater und Sohn beobachten kann und der mit 
der Expansion des Bettelmönchtums Hand in Hand geht, kann 
damit am ehesten verglichen werden, außerdem natürlich die 
gefühlsmäßig ähnlichen Erscheinungen in der Gegenreformation 
und im Pietismus. In Indien war vor allem der Krischnakult der 
Boden, auf welchem diese Entwicklung sich vollzog. Der Visch- 
nuismus wurde die Religion der »Avatars«, der zur Erde nieder- 
steigenden Inkarnationenen des höchsten Gottes. Krischna war 
nicht die einzige: r0, dann 20, dann 22, dann immer mehr, wurden 
erfunden. Aber ebenbürtig neben Krischna trat nur eine zweite 
wichtige und höchst populäre Incarnation Vischnus: Rama, ein 
— vielleicht historischer — siegreicher König, der Held des zweiten 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 773 


großen indischen Epos, des Ramayana. Er wird gelegentlich als 
Bruder Krischnas bezeichnet, gelegentlich (im Mahabaratha) 
sogar als eine von dessen Erscheinungsformen und war in drei 
verschiedenen Figuren, die alle als Inkarnationen des gleichen 
Helden galten, Nothelfer und Heiland. Im Gegensatz zu dem in 
seinen Taten durchaus ınethischen Krischna ist er weit mehr 
moralisierend ausgestaltet. Die Beriehung zum alten Kult der 
Sonne: Surya, ist bei ihm weit stärker festgehalten als bei Krischna. 
Es scheint demgemäß, daß die Vegetationsfeste und unblutigen 
Opfer, welche dem Vischnuismus im Gegensatz wenigstens zur 
alten civaitischen Fleischorgie charakteristisch waren, aus seinem 
Kultstammen. Andererseits traten jene sexualorgiastischen 
Bestandteile, welche im Krischna-Vischnuitentum in sublimierter 
Form stets fortgelebt haben, in den Rama-Kulten anscheinend 
mehr zurück. Auchdas Ramayana gab Anlaß zu Paulo opener. 
Spekulation. Rama ist daher ein vorwiegend ritualistisch durch ' 
Gebetsformeln angerufener universeller Nothelfer teils der philo- 
sophisch Gebildeten, teils umgekehrt der gänzlich bildungslosen 
breiteren Massen geworden. Die eigentliche pietistische Heilands- 
frömmigkeit des aliterarischen aber wohlhabenden Mittelstandes 
hat sich dagegen, scheint es, von Anfang an stärker an die ero- 


tische oder kryptoerotische Krischna - Verehrung angegliedert .| 
Es wurde ausgeführt, wie in der Bhagavata-Religiosität der 


»Glaube«, die persönliche innere Vertrauensbeziehung zum Hei- 
land, in den Vordergrund trat. Die weitere Entwicklung fügte 
einerseits den überweltlichen persönlichen Gott hinzu: Vischnv, 
den alten, in den Veden weit zurücktretenden Sonnen- und 


Fruchtbarkeitgott, mit welchem die alte Gottheit der Bhagavats 


identifiziert wurde, und als dessen wichtigste Incarnation der 
mythische Heiland Krischna galt 159). Die Hauptsache aber 
war die neue Qualität der Frömmigkeit, welche schon in den 
späteren Einschiebungen des Mahabharata entwickelt ist. Hei- 
liges Wissen und Gnosis, rituelle und soziale Pflichterfüllung, 
Askese und Yoga-Meditation sind alle nicht die entscheidenden 


Mittel zur Seligkeit. Diese wird gewonnen durch »Bhaktic«: 
die leidenschaftlich gottinnige innere Hingabe an den Heiland 


und seine Gnade. 


Es ist möglich, daß diese Andachtsfrömmigkeit schon in 


189) Diese Identifikation war zur Zeit des Megasthenes (3. Jahrh. vor Chr.) 


oftenbar schon vollzogen. 


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774 Max Weber, 


früher Zeit einer besondern von den Bhagavats verschiedenen 
Sekte, den Bhaktas, eigentümlich war. Schon in den letzten 
Redaktionen des Epos ist sie aber mit der Gnadenlehre jener ver- 
bunden. Die orgiastische, und zwar sexualorgiastische, Herkunft 
der bhakti-Ekstase steht jedenfalls schon deshalb außer Zweifel, 
weil die Sexvalorgien der Krischna-Verehrer auch nach der brah- 
manischen Sublimierung zur gottinnigen Andacht und bis in die 
Neuzeit daneben fortbestanden. Die Mahaprasada-Eucharistie, 
bei welcher alle Kasten gemeinsam beim Opfermahl sassen, war 
— ebenso wie die früher erwähnte Jaganath-Orgie der südindi- 
schen Kasten linker Hand — ein offenbarer Rest alter vorbrah- 
manischer Riten und sie findet sich bei fast allen eigentlichen 
bhakti-Sekten 1%. Von den sehr handgreiflichen Resten der 
Sexualorgiastik bei den vischnuitischen Sekten wird noch die 
Rede sein. Insbesondere von Chaitanyas später zu erwähnendem 
populärem Revival des bhakti ist bekannt, daB es unter anderem 
der allergröbsten Sexualorgiastik der Massen den Boden abgraben 
wollte, dabei aber selbst sexualorgiastischen Charakters war. 
Vor allem liefert die psychologische Qualität des bhakti selbst 
den Beweis. Denn die vorgeschriebene Stufenfolge soll über drei 
(oder vier) andere Gefühlszuständlichkeiten schließlich zu einer 
‚inneren Gefühlsbeziehung zum Heiland führen !#), welche der- 
' jenigen gleicht, die eine erotisch Liebende dem Geliebten widmet. 
An die Stelle der realen Sexualorgiastik trat also der krypto- 
erotische Genuß in der Phantasie. Zu diesem Zweck wurde die 
derbe alte erotische Krischna-Mythologie mit zunehmend krypto- 
erotischen Zügen angereichert. Die Jugendabenteuer des Helden, 
der nach der Legende ein Hirte (Govinda) war, mit den Hirtinnen 
(Gopis) standen von jeher im Mittelpunkt der Krischna-Mythen 
und wohl auch des Krischna-Mimus. Das im Abendland zuerst 
durch Rückerts Uebersetzung bekannt gewordene Gitagovinda 
war eine glühend erotische poetische Darstellung dieser Abenteuer. 
Aber es ist außer Zweifel, daß für gewisse später hinzugekommene 
Züge auch die Innigkeit einiger christlichen Legenden — der 


160) Grierson, I. R. As. Soc. 1907, p. 311. Die Ansicht, daß derartiges se- 
kundär, womöglich unter dem Einfluß der Nestorianer (wie behauptet wurde) 
habe entstehen können, bedarf keiner Wiederlegune. 

161) In den Chaitanya-Sekten ist die Stufenfolge der Verdienstlichkeit: 1. 
Santi (Meditation) — 2. dasya (aktiver Gottesdienst) — 3. sakhya (Gefühl wie 
für einen persönlichen Freund) — 4. vatsalya (Gefühl wie für einen Vater), endlich: 
— 5. madhurya (Gefühl wie das des Mädchens für ihrenGeliebten,— ein spezifisch 
femininer Habitus also). 





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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 775 


bethlehemitischen Jugendgeschichten vor allem — zur Subli- 
mierung und Anreicherung dieser Heilandserotik herangezogen 
wurde 18), Zur Intellektuellen-Soteriologie der alten Bhagavata- 
Religiosität verhielt sich »Bhakti«e etwa wie der Pietismus, 
namentlich der Zinzendorfsche Pietismus, zur Wittenberger 
Orthodoxie im 17. und 18. Jahrhundert. An Stelle des maskulinen ` 
gläubigen: »Vertrauens« ist ein feminines Gefühlsverhältnis zum 
Heiland getreten. Gegen die certitudo salutis, welche diese Heils- 
zuständlichkeit gab, traten nun alle anderen Heilswege zurück. 
Sowohl die Advaita-Erlösung der Vedantisten, wie die Mimamsa- 
Werkgerechtigkeit, wie vollends das kühle Wissen der Samkhya- 
Erlösung kam für den Bhakti-Praktikanten nicht in Betracht. 
Alle rituellen_oder sonstigen Heilsleistungen der hinduistischen 
Frömmigkeit hatten nicht nur, wie bei jeder spezifischen Glaubens- 
religiosität, nur dann Wert, wenn sie ausschließlich und allein 
auf den erlösenden Gott oder Heiland | bezogen waren, — dies 
hatte schon die Bhagavata-Religion gelehrt, — sondern sie waren 
wichtig letztlich.nur. als technische Hilfsmittel für die Erzeu- 

g des allein entscheidenden Heilszustandes. In diesem Sinn 
kann allerdings schlechthin alles als Mittel dienen, wenn die rechte 
Andacht dabei ist. Die Theologie dieser Gnadenreligiosität ge- 
riet in die gleichen Diskussionen, wie sie der Occident gekannt 
hat. Der Theorie von der gratia irresistibilis, die so erlöst, 
wie die Katze, die ihr Junges im Mund davonträgt, stand die 
andere von der gratia c cooperativa gegenüber, welche die Gnade 
so wirken ließ, wie die Affenmutter, deren Junges sich an ihren 
Hals klammert 163). Immer wurde das »Ọpfer des Intellektse.. 
gefordert: man soll san den Geboten des Veda nicht deuteln 
mit menschlicher Vernunfte. Die »Werke« aber sind nur wertvoll, 
wenn sie — entsprechend der Lehre des Bhagavatgita — sun- 
interessierte (niskama) sind. »Interessiertes (sakama) Werke 
wirken_Karman, die »uninteressiertene dagegen Bhakti 164). 

162) Das Christentum ist im 6. Jahrhundert in Südindien, im 7. Jahrhundert 
in Nordindien zweifelsfrei nachweisbar. 

148) Hierzu Grierson, I. R. A. S. 1908 p. 337 f. Grierson hat auch das moderne 
theologische Werk des Pratapa Simha (von 1866) übersetzt (I. R. A. S. p.1908). 
Griersons Annabme (I. R. A. S. ıgıı p. 800,) daß Bhakti zuerst in Südindien ge- 
predigt worden sei, ist bestritten und nicht glaubhaft. 

168) Das verwendete Gleichnis ist: ein gemieteter Arbeiter (der um Lohn dient) 
hat den Schaden, den er verrichtet, zu ersetzen, Schaden dagegen, den ein im 
Eigentum des Herrn stehender Haussklave anrichtet, trägt der Herr. (Die Evan- 


gelien wenden ein ähnliches Gleichnis an, wenn sie von den Werkgerechten sagen: 
»sie haben ihren Lohn dahin: ) 


776 Max Weber, 


Nach der sublimierten Bhakti-Theorie 1%) bewährt sich das echte 
Bhakti, die Gottesliebe, letztlich in der Abwesenheit unreiner 
Gedanken und Triebe, vor allem: Zorn, Neid, Begierde. Diese 
innere Reinheit gibt die certitudo salutis. Diese Konsequenzen 
mußten da gezogen werden, wo man statt der akuten ekstatischen 
"Vereinigung mit dem Gott oder Heiland den dauernden heiligen 
Zustand erstrebte; vor allem also in den Intellektuellenschich- 
ten 1%), Neben Karma-Marga, den Heilsweg der ritualistischen 
Brahmanen, und Iiana-Marga, den Heilsweg der kontemplə- 
tiven Brahmanen, und neben das Yoga Marga, den Heilsweg der 
(zunehmend) aliterarischen Ekstatik, trat so Bhakti-Marga als 
ein selbständiges Heilsmittel. Indessen den am meisten subli- 
mierten und ethisch rationalisierten Formen standen und stehen 
andere gegenüber, welche den Bhakti-Zustand wesentlich mas- 
siver faßten. Denn »Bhakti« wurde eine Form der Seligkeit, 
welche in allen Schichten des vischnuitischen Hinduismus — 
und teilweise auch darüber hinaus 16°) — verbreitet war und ist 
heute vielleicht von den nicht rein ritualistischen Arten der Heils- 
suche in Indien die verbreiteste überhaupt, obwohl von der 
klassischen brahmanischen Tradition jede ihrer Formen nur als ein 
unklassischer Heilsweg geduldet war und ist. Als eine gefühls- 
mäßige Heilandsreligiosität wurde es ganz naturgemäß die bevor- 
zugte Form der Heilssuche der aliterarischen Mittelstands- 
schichten. Fast alle hinduistischen Reformer vischnvitischer Pro- 
venienz haben in irgend einer Art an der kryptoerotischen Subli- 
mierung 1%) oder umgekehrt Popularisierung der Bhakti-Heik- 

165) 5, dieselbe z. B. in den Aphorismen Sandilyas I. R. A, S. 1907 p. 330. 

160) Eine Vaischnawa-Inschrift aus dem 13. Jahrhundert (Ep. Ind. VII, 
p. 198) sagt: »Ich habe kein Verlangen nach Verdienst, noch nach Häufen von 
Reichtum, und gar nicht nach Sinnenlust. Was kommen soll, o Gott, laß es kom- 
men entsprechend den vorgetanen Handlungen. Darum allein bitte ich dich: 
auch in jedem künftigen Leben laß mich von unverminderter Verehrung zu deinen 
Lotosfüßen beseelt seine. Also: der Besitz der andachtsvollen Gottinnigkeit als 
Selbstzweck. Zugleich zeigt die Inschrift jene inaktive Gestimmtheit des 
Lebens, die jeder reinen Glaubensreligiosität (auch dem Luthertum) eigen ist. 

107) Denn wenigstens in Südindien hat auch der Givaismus Bhakti auf das 
intensivste gepfegt und ist der Hauptsitz einer stark asketisch gewendeten, auf 
dieser Grundlage stehenden, Frömmigkeit gewesen. Hier wurde Civa ein Gott, zu 
dem man nur durch Gnade, nicht durch Verdienst, gelangen kann und nicht das 
vedantistische Aufgehen in ihm, sondern das Weilen bei ihm galt als Erlösung. 
Die Konkurrenz gegen Vischnu war daher hier besonders schroff. (Vgl. Senathi 
Reja auf dem 6. Orientalisten-Kongreß 1883, Bd. III, S. 291). 

268) Die vischnuitischen Tempel-Fresken gelten als minder phantastisch- 
grausig, aber als ebenso eindeutig und gelegentlich kraß obszön wie die givaitischen. 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 777 


suche und an ihrer Kombination mit dem alten vedischen Ri- 
tualismus gearbeitet !®). In Südindien schieden sich die berufs- 
mäßigen Lehrer von Bhakti, die Alvar, von den Lehrern des _ 
Disputierens, den Acharya. Aus den letzteren gingen naturge- 
mäß die am wenigsten »pietistische-gefühlsmäßig orientierten 
Reformer hervor. 

Dahin gehören vor allem die beiden bedeutendsten vischnuiti- 
schen Sektenstifter auf dem Boden des Rama-Kults: Ramanuja 
(12. J ahrhundert) und Ramananda (14. “ Jahrhundert), beide 
Brahmanen, die ein Wanderleben als en als Lehrer führten und ganz in 
der Art Sankaracharyas sich der Organisation und Instruktion 
von Mendikanten-Mönchen als des Mittels zur Massenpropaganda 
ihrer Heilslehren und zur Festhaltung der Anhänger bedienten. 
Ramanuj: soll persönlich 74 (oder gar 89) Gurus als seine von 
ihm eingesetzten Jünger und Seelendirektoren hinterk ssen haben 
und es scheint, daß die Festigkeit seiner Organisation wesentlich 


darauf beruhte, daß diese er bliche Hierarchen waren. Nebendie - 


Dandis und Sanayasins — Namen, welcher fortan für die givaiti- 
schen Bettelmönche gebraucht wurden, —traten die Vairaghis, wie 
(meist) ihre vischnuitischen Konkurrenten bezeichnet wurden 179), 
In der Doktrin wich Ramanuja von dem vedantistischen 
System Sankaras, welches hinter den letztlich zur Maya-Welt 
gehörigen persönlichen Gott das unerforschliche attributlose 
Brahman setzte, insofern ab, als diese Welt keine kosmische Il- 
lusion, sondern der Leib und die Offenbarung des Göttlichen, 
der persönliche Gott (Parabrahma) eine Realität und ein Welt- 
regent, nicht ein Teil der Maya-Welt ist, substanziell verschieden 
sowohl vom Seelischen (chit) als vom Unbeseelten (achit). Maya 
und unpersönliches Göttliche gelten als Produkte sliebloser« Lehre. 
Demgemäß wird als Heilsgut Unsterblichkeit, nicht Aufgehen 
im Göttlichen, verheißen. Die einflußreichste seiner Sekten 
hieß deshalb »Dualistene (Dwaitawadi), weil sie die substan- 


269) Als ein Beispiel solcher Arbeiten kann etwa das Vischnu-Purana (eng- 
lisch herausgegeben von Wilson 1864) gelten. 

170) Der Name (namentlich in der Form Baishnab) ist teilweise zum Namen 
kleiner durch Verpfründung und Säkularisation entstandener Kasten geworden 
ebenso wie derjenige der Yogins. Die Strenge der Askese war im allgemeinen bei 
den vischnuitischen Mönchen geringer als bei den givaitischen — ganz entspre- 
chend dem Charakter der Religiosität. Die Bairagi-Mönche (Bairagi=von der Welt 
frei) Ramanandas namentlich, welche allen Kasten ohne Unterschied den heiligen 
Gürtel bei der Konfirmation gaben, hatten später meist geduldete Nonnen- 
Konkubinen und lebten in ihren oft großen und reichen Klöstern oft ziemlich 
weltlich. 


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778 Max Weber, 


zielle Verschiedenheit Gottes ven der Seelensubstanz lehrten 
und daraus die Unmöglichkeit des Aufgehens in Gott (des ve- 
dantistischen Nirwana) schlossen. Die im Anschluß an das Bha- 
gavadgita entwickelte philosophische Spekulation war bei den 
Intellektuellenschichten der ramanitischen Vischnu-Sekten stär- 
ker entwickelt als bei den krischnaitischen. Namentlich der Kampf 
zwischen den Vadagala, den Anhängern der gratia cooperativa, 
die zugleich Sanskrit-gebildete Mönche hatten, und den Ten- 
gala, den Anhängern der gratia irresistibilis, deren Mönche 
Tamil als heilige Sprache hatten, tobte sehr heftig. Die letztge- 
nannte Schule neigte zu stärkerer Indifferenz gegenüber den 
Kastenunterschieden. Nach der genuinen Lehre Ramanujas 
war die Erlangung des echten »Bhaktie an »upasanae, die alt- 
klassische Meditation, also vedische Bildung, geknüpft, mithin 
dem Cudra nicht unmittelbar zugänglich. Er konnte nur durch 
spiapattie, unbedingte Hingabe an Gott aus dem Gefühl voll- 
: kommener Hilflosigkeit heraus, Heil erlangen und bedurfte dazu 
unbedingt der Leitung des vedisch gebildeten Guru als Mittlers. 
Dabei ist in den Unterschichten, die sie heranzogen, infolge des 
Fehlens der Gefühlsmomente reiner Gebetsformelritualismus 
mit allerhand Tierkulten (so dem des heiligen Affen aus dem 
Epos) kombiniert worden. Die Konkurrenz gegen die Civaiten 
war, namentlich unter Ramanuja, zeitweise sehr scharf und bitter, 
gegenseitige Verfolgungen und Austreibungen, Religionsgesprä- 
che, konkurrierende Klosterstiftungen oder Klosterreformen im 
Sinn der Beseitigung der Gegner finden sich in beträchtlicher 
Zahl. Die Disziplin der vischnvitischen Gurus war teilweise ab- 
weichend und im ganzen weniger asketisch als diejenige der 
civaitischen. Namentlich hat der Vischnuismus in stärkerem 
Maße an das jedem Hindu geläufige Prinzip des Erbcharisma 
angeknüpft und also von Anfang an die Gurvs meist als erbliche 
Hierarchen eingesetzt. Die persönliche Guru-Gewalt war über- 
haupt in den vischnuitischen Sekten besonders stark, im ganzen 
stärker als in den givaitischen entwickelt. Es entsprach dies dem 
Charakter der vischnuitischen Religiosität, welche einerseits 
Hingabe an Autoritäten forderte 171), andererseits die stete An- 
regung zu pietistischen »revivals« insich schloß. Die erbliche Guru- 
Gewalt erscheint in großem Maßstab zuerst in der Sekte Rama- 


171) Jedoch ist im südindischen Bhakti-Civaismus die Priestergewalt ver- 
hältnismäßig gering. (Senzthi Raja a.a.O.) 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus, 779 


nujas, dessen Guru-Familien noch jetzt zum Teil (in Conjeveram) 
existieren. Inhaltlich richtetensich Ramanujas Reformen vor allem 
gegen den Phallos-(lingam-)Kult. An Stelle dieses in seinen Augen 
unklassischen Fetischismus traten daher andere Formen der 
Sublimierung der Orgiastik, namentlich die oft als Arkan-Dis- 
ziplin gehandhabten Kultmahle. Namentlich aber kamen, entspre- 
chend dem Heilands-Charakter der ramaistischen Frömmigkeit, die 
eine Anrufung der Nothelfer enthaltenden Gebetsformeln als 
Andachtsmittel hoch: so namentlich bei den Ramats, den Sekten 
Ramanandas, die sich neben andern Einzelheiten auch hierdurch 
von der Observanz Ramanujas unterschieden. Die mantras, 
die aus wenigen Worten oder aus einer sinnlosen Silbe bestehende 
Anrufungsformel, gewann dadurch eine gelegentlich alles andere 
überwuchernde Bedeutung. Krischna und alte Reste der Sexual- 
orgiastik waren hier am vollständigsten zugunsten Ramas 
und dieser ihm eigenen Andacht in Worten eliminiert. Der Rama- 
Kult ist im allgemeinen sexuell rein, die weibliche Gottheit die 
treue Gattin, im Gegensatz zum Krischna-Kult mit seiner orgia- 
stischen Erotik und der Beschäftigung mit Krischnas Geliebten. 

 Andrerseits aber fand sich, in der Mission Ramanandas, als 
der Kasten. Nicht in der sozialen ee tg und. im 
Àlltags- Ritual: hier haben, mit den weiterhin angegebenen 
Ausnahmen, alle Sekten die Kastenschranken nicht angetastet. 
Wohl aber in der Zulassung der Unterkasten zur Guru-Stellung. 
Die alten wandernden und lehrenden Philosophen, Sophisten und 
Heilskünder der Kschatriya-Epoche, sahen wir, waren zum sehr 
erheblichen Teil vornehme Laien gewesen, sehr oft solche, welche 
erst im Alter oder auch nur zeitweise das Leben des Asketen und 
Wanderlehrers erwählten. Die Heterodoxie, namentlich der 
Buddhismus, hatte prinzipiell die Kastenzugehörigkeit bei der 
Aufnahme in den Orden ignoriert und den »Berufsmönch« ge- 
schatfen. Die brahmanische Restauration übernahm diesen zwar, 
hatte aber für die Aufnahme in die Philosophenschulen und Klöster 
und für die Zulassung als Guru wieder Brahmanenkaste ge- 
fordert und die givaitischen Sekten, wenigstens die offiziell an- 
erkannten, waren im ganzen dabeig geblieben. Zuerst Ramananda 
wich ausdrücklich ab. Dabei spielte freilich wohl auch der Úm- 
stand eine Rolle, daß die islamische Femdherrschaft inzwischen 
über Indien hereingebrochen war. Sie hat, wie früher ausgeführt, 


780 -> Max Weber, 


durch Vernichtung oder Konversior oder politische Entrechtung 
des weltlichen Adels die Stellung der nun allein die alte einheimi- 
sche Tradition tragenden geistlichen Mächte einschließlich der 
Brahmanen im ganzen eher gestärkt, so sehr sie sie bekämpfte. 
Aber die äußerlichen Machtmittel der Brahmanen fielen doch 
fort und die Sektenstifter sahen sich noch mehr als bisher darauf 
| hingewiesen, Anschluß an die Massen zu suchen. Während alle 
erheblichin binduistischen Sektenstifter bis zu Ramananda 
| einschließlich Brahmanen waren und, soviel bekannt, nur Brah- 
| manen als Schüler und Gurus annahmen, brach Ramananda 
' mit diesem Grundsatz. Unter seinen unmittelbaren Schülern 
' fanden sich — der Tradition nach — neben einem Rajputen; 
Pipa, undeinem Jat: Dhuana, ein Weber: Kabir, und sogar ein 
Chamar (Lederarbeiter): Rai_ Das. Wichtiger aber als diese 
schließlich auch bisher nicht gänzlich fehlende Durchsetzung des 
Medikantentums mit nicht-brahmanischen Elementen war die 
Erscheinung: daß sich nunmehr auch Sekten. entwickelten, die 
entweder in aller Form oder doch der Sache nach ganz auf dem 
Boden ständisch oder beruflich gesonderter .aliterarischer Schich- 
ten standen. Daß die Smarttas im wesentlichen eine reine Brah- 
manensekte waren, hing mit ihrem Charakter als »Schule« zusam- 
men. Von den Sekten, welche auf Ramananda zurückgehen, 
scheint gerade die seinen Namen führende (die Ramanandi}-in 
charakteristischer Reaktion gegen die sdemokratische« Tendenz 
seiner Reform später den Zutritt auf die vornehmen Schichten: 
die Brahmanen und die als Kschatriya klassifizierten Kasten, 
beschränkt zu haben. Die angesehenste ramaistische Mendikan- 
ten-Schicht: die Achari, sindsogar nur aus Brahmanen rekrutiert. 
Sie sind rein ritualistisch. Die Rai Das Panthi anderer- 
seits aber, die von seinem Schüler, dem Chamar Rai Das gestiftete 
Sekte, haben entsprechend ihrer sozialenLage aus der Bhakti-Fröm- 
 migkeit den sozialen caritativen Liebes-Akosmismus und aus der 
_ Gegnerschaft gegen die Brahmanen die Ablehnung der Priester- 
gewalt und der Idolatrie entwickelt. Entsprechend der sozialen 
Lage dieser verachteten Berufskaste ist Traditionalismus und 
ein Sichschicken in die unabänderliche Ordnung der Welt die 
Grundstimmung der ziemlich zahlreichen Sekte 172), Die Kon- 


— 





172) Der Sache nach bestand ihre Religiosität bald wesentlich aus Dämonen- 
glauben und »Bhaktis als magischem Mittel. Ihre heiligen Bücher waren aus den 
Puranas kompiliert. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 78 q 


sequenz des Quietismus haben die Maluk Dasis gezogen, während 
die Dadu Panthi, eine von einem Baumwollwäscher im 17. Jahr- 
hundert gegründete Ramanar.dische Sekte, aus den Lehren des 


Bhagavadgita streng deterministische Konsequenzen zogen. Weder 


Himmel noch Hölle soll man absichtsvoll suchen, da alles vorbe- 
stimmt ist, und nur die Fähigkeit spiritueller Liebe zu Rama, 
die Unterdrückung der Begierden, der Illusionen und des Stolzes 
gewährleisten den Gnadenstand und werden gepflegt. Neben 
Bettelmönchen (Virakta) mit strenger Besitzlosigkeit haben sie 
eine Schicht, welche den indischen Rajas Söldner (Naga) stellen 
und eine dritte (Bhistu Dhari), welche den bürgerlichen Berufen 
nachgeht. Ihr Kult beschränkt sich fast gänzlich auf die formel- 
hafte Anrufung Ramas. Die von Ramanandas Schüler Kabir 
gegründete, namentlich unter den Weberkasten weit verbreitete 
Sekte der Kabir Panthi endlich leitete aus der Ablehnung der 
brahmanischen Autorität und aller Hindu-Gottheiten und -Ri- 
tuale eine streng parifistische, an das Quäkertum erinnernde 
und asketische Heilssuche ab: Schonung alles Lebens, Vermeidung 
der Lüge, Meidung aller Weltlust. Hier wie im Occident scheint 
das Textilhandwerk mit seiner Hausgebundenheit und Gelegen- 
heit zum Grübeln diese fast ganz rituallose Religiosität geför- 
dert zu haben. Der hinduistischen Provenienz aber entsprach es, 


daB sie nicht aktiv asketischen Charakter annahm, sondern die > 


andächtige Verehrung des Gründers als Nothelfer und den unbe- 
dingten Gehorsam gegen die Gurus zur Kardinaltugend machte. 
Eine »innerweltliche« autonome Lebensmethodik occidentalen 
Charakters war daher auch hier nicht möglich. 

Einem Teil dieser Sekten war gradezu Verachtung der 
wirtschaftlichen Arbeit gemeinsam. Natürlich vor 
Allem den spezifisch militaristischen. 

Die Mendikanten und Asketen der neohinduistischen Re- 
ligiosität haben nämlich auch jene Erscheinung gezeitigt, 
welche sich in Asien vor allen bei den japanischen Buddhisten, 
am konsequentesten aber bei den islamischen Derwischen entfaltet 
hat: den mönchischen Glaubenskämpter, ein Produkt der Sekten- 
Konkurrenz und der Fremdherrschaft des Islam und dann der Eng- 
änder. Sehr viele Hindu-Sekten entwickelten den Typus des 
»N agas, des nackt, aber bewaffnet, den Glauben propagierenden, 
unter scharfer Kontrolle eines Guru oder Gosain stehenden As- 
keten. Ihrer Kastenzugehörigkeit nach waren sie teils sdemokra- 


mn nn PER 


782 Max Weber, 


tische, teils, wie die Nagas der Dasu Panthi-Sekte, exklısiv auf 
swiedergeborene« Kasten beschränkt. Sie haben den Engländern 
stark zu schaffen gemacht, aber auch untereinander blutige Fehden 

. ausgefochten. So fand 1790, unter Hindv-Herıschaft, eine Schlacht 
zwischen den civaitischen Nagas, welche die Vairaghis von der 
großen Messe von Hardwar ausschlossen, und diesen letzteren, die 
18000 Tote auf dem Felde gelassen haben sollen, statt. Ebenso 
griffen sie wiederholt englische Truppen an. Zum Teil «ntwickel- 
ten sie sich zu Räuberbanden, die von Kontributionen der Be- 
| völkerung lebten, oder zu Berufssöldnern 173}. Das bedeutendste 
. Beispiel dieser Entwicklung von Glaubenskämpfer-Orden waren 
; die Sikh (sSchüler«, des Sektenstifters und der ihm nachfolgen- 
; den Gurus nämlich), welche zeitweilig, bis zur Unterwerfung 1845, 
| Souveränität über den Panjab ausübten und dort einen in seiner 
Art großartigen reinen Kriegerstaat geschaffen hatten. Ihre an 
' sich sehr interessante Entwicklung soll hier nicht verfolgt werden. 
Für uns wichtiger sind vielmehr einige andere auf dem Boden 

der vischnuitischen Heilandsreligion stehende Sektenbildı ngen, 
vor allem diejenigen des Vallabha und einige auf Schüler 
Chaitanyas zurückgehende. Alle waren Renaissancen der Or- 
giastik gegen. die. brahmanische Alleinherrschaft_der Kontempla- 
tion als Heilsmittel. Beide „zeigen, wie die Abwendeng-vom- brah- 


-- ner. 





Er nn m 


Einführung des überwelllichen Gottes. 

Die zu Anfang des 16. Jahrhunderts von dem Brahmanen 
oder Rudra Samperadaya ist wenigstens dem £ Schwerpunkt nach 
noch ħeute eine Händler- und Bankiers-Sekte, vornehmlich Nord- 

‚westindiens, aber verbreitet über das ganze Land. Sie pflegt den 
‘ Krischna-Kult, sucht aber das Heil, in Opposition gegen die intel- 
lektualistische Tradition, nicht in Askese odeı Kontemplation, 
sondern in raffiniert sublimierten Krischna-Orgien, neben einem 
strengen Zeremonialismus. Der Stifter lehrte, daß nicht Entbeh- 
rung, Einsamkeit, Schmutz, Verachtung der Schönheit, sondern 
am) So in ausgeprägtem Maße die Nagar, welche die Masse der Cudra-Be- 
völkerung von Malabar umfaßten, Söldner des Königs und daneben — kraft 
eines systematischen Beurlaubungsverfahrens — Bauern waren. Ihr Bildungs- 


stand war relativ hoch, sie waren (meist) Vegetarier und Verehrer Krischnas 
und Ramas, 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 783 


umgekehrt die die richtige Anwendung. der Herrlichkeiten, Genüsse 
und und Schönheiten der Erde. die Mittel seien, den Gott würdig zu 
verehren_ und die Gemeinschaft mit ihm zu erlangen. (die pushui 
marga, etwa.: Diner-Heilslehre). Daneben steigerte er die Be- 
deutung des Guru gewaltig durch die Vorschrift: da8 nur in d es- ! 
sen Hause gewisse wichtigste Zeremonien in gültiger Art mög- 
lich seien. Ein achtmaliger Besuch täglich war unter Umständen 
nötig. Er selbst hinterließ seinen Sohn Vittala Nath als Leiter, 
dessen Söhne die Dynastie der Gurus in mehreren Branchen fort- 
setzten. Die vornehmsten sind die Nachkommen Gokula Naths, 
die Gokulastha Gosains. Der Tempel Steri Nath Dwar in Ajmer 
ist das Zentralheiligtum der Sekte, zu dem jeder Gläubige ein- 
mal im Leben wallfahrten soll (offenbar eine Nachahmung der 
Mekka-Pilgerschaft). Die Macht der Gurus über die Laien ist ! 
groß: ein SkandalprozeßB von 1862 in Bombay brachte an den 
Tag, daß sie gegenüber den weiblichen Gemeindemitgliedern gele- 
gentlich das jus primae noctis praktizierten, und.daß die heilige Be- 
gattung dabei nach altem orgiastischen Brauch in Gegenwart von 
Gemeindegenossen sich vollzog 17%). Die Fleisch- und Alkohol- 
Orgien wurden zu kulinarisch erlesenen Diners sublimiert und ent- 
sprechend die Sexualorgien. Es ist selbstverständlich, daß die 
Plutokratie: die reichen hinduistischen Händlerkasten, vor allem 
die Baniya, an dieser Art von Gottesdienst Geschmack fanden und 
finden. Ein außerordentlich großer Teil von ihnen gehört dieser 
sozial ziemlich exklusiven Sekte an 175). Es zeigt sich hier schlagend: 
daß asketische Religiosität ganz und gar nicht, wie immer wieder 
behauptet v wird, aus dem immanenten. Wesens des bürgerlichen 
Kapitalismus u und seiner. -beruflichen Vertreter folgt, — im 
Gegenteil. Die Baniyas, »die Juden Indiense, stellen ja 176") das 
Hauptkontingent dieses ausgesprochen anti-asketischen, teils 
hedonischen, teils zeremonialen Kults. Die Heilsziele und Heils- 
wege sind abgestuft. Dem Bhakti-Prinzip entsprechend kommt 
es auf »pustie, die Gnade, allein an. Das auf deren Erlangung 


173) Die Gosains dieser Kaufmanns-Sekte zeichnen sich durch Reellität inso- 
fern aus, als sie feste Tarife für ihre Darbietungen haben, z. B. etwa für die Er- 
laubnis, das Badewasser des Guru zu trinken 17 Rupien, für das Privileg: »being 
closeted with him in the same roome: 50—1oo Rupien (Jogendra Nath Batta- 
charya a. a. O. p. 457). 

175) Zugelassen sind im Prinzip alle Kasten außer den Schustern, Schneidern, 
Wäschern und einer niederen Baıbierkaste. Faktisch sind nur reiche Leute, 
wesentlich Banya dabei. 

173%) Insbesondre die Gujarati und Rastogi Banya. 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 3. 51 





>. 


SL 


ln Rd tr 


N 
bi 


784 Max Weber, 
! gerichtete »pustibhakti« kann bloße innerweltliche rituelle Werk- 


' gerechtigkeit (praveha-pustibhakti) sein, oder dauernde De- 


votion im Dienst des Gottes (maryada-p.), welcher zu »sayujyas 
führt, oder Erlangung des heilsbringenden »Wissens« aus eigener 
Kraft (pusti-p.), oder endlich es kann die Erlösung durch reine 
Gnade dem inbrünstig Gläubigen gegeben werden (suddha-p.): 
dann erlangt man das Paradies und ewige Wonne bei Krischna. 


Ethisch r rational ist keiner dieser Heilswege. 





ER 7 Sow wenig der »Geist« dieses Kults der brahmanischen Tradi- 


n ‚tion entspricht, so haben sich doch relativ vornehme Brahmanen, 
= wie die Derschaschth, angesichts der überaus fetten Pfründen, 


welche die Stellen an den Tempeln der Sekte darstellen, zu deren 
Uebernahme bereit finden lassen. Die eigentlichen spirituellen 
Patriarchen der Gemeinden, die Gosains, sind zwar verehelicht, 
aber dem allgemeinen Typus entsprechend zu fortwährenden 
Inspektionsreisen in ihren Sprengeln verpflichtet. Da sie selbst 
meist große Geschäftsleute sind, so gestattet dieses ambulante 
Leben ihnen die Anknüpfung und Abwicklung von Geschäfts- 
verbindungen. Die feste interlokale Organisation dieser Sekte 
überhaupt ist dasjenige Moment, welches unmittelbar den ge- 
schäftlichen Operationen ihrer Mitglieder zugute kommt. 
Nächst den Parsi und den Jaina, aber aus gänzlich anderen 
Gründen als diese, umfassen sie die größte Zahl ganz großer 
induistischer Geschäftsleute. 

“ Der Ausschluß der Unterkasten aus der Vallabhachari-Sekte, 
außerdem aber der große Aufwand, den ihre pushui-marga er- 
forderte, gab der von Swami Narayand gestifteten, ganz wesent- 
lich moralistischen, Sekte die Möglichkeit, ihnen in den untern, 
aber auch in den Mittelstandsschichten neuerdings erheblich 
Abbruch zu tun. 

Genau entgegengesetzt den Vallabhacharis entwickelte 
sich andererseits die Krischna-Orgiastik im östlichen Nordindien 
in einer Anzahl von Sekten, welche ihren Ursprung auf den zu 
Anfang des 16. Jahrhunderts lebenden Brahmanen Chaitanya 
zurückführen. Er selbst, anscheinend ein epileptoider Ekstatiker, 
lehrte die Identität von Krischna mit Parmaturu, dem uner- 
schaffenen Weltgeist, der sich unsufhörlich in zahllosen end- 
lichen Erscheinungen manifestiert. Sein großes ‚neues Zugmittel 
war Sankirtan, die große Sing-Prozession, die namentlich ip_den 
Großstädten zu einem Volksfest ersten Ranges wurde. Panto- 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 785 


mimische oder dramatische Tänze traten dazu. Vegetarismus und 
Alkoholabstinenz hielten wenigstens die oberen Schichten, 
zu denen namentlich die Kayasth (Schreiber) und die Satsudra 
(rituell reine Gewerbe), in Orissa z. B. aber auch die alte 
Brauerkaste (jetzt meist Kaufleute) bedeutende Kontingente stell- 
ten, aufrecht. Das Prinzip der erblichen Guruschaft bestand 
auch bei dieser Reformsekte. Sie ist die populärste, welche wenig- 
stens Nordindien, vor allem Bengalen, kennt. Im Gegensatz zur 
Tantristik fehlt ihr eben jegliche Esoterik, im Gegensatz zu den 


vornehmen Intellektuellenschichten aller Bedarf nach heiligemWis- 


Du GE 


sen (kein Sanskrit!). Die Bhakti-Andacht kann jeder ohne 


ut tn re nm 


Hülfe praktizieren. In der _Massenreligiosität herrscht krasse 
Sexualorgiastik. Die Zugehörigen der aus den unteren Kasten 
rekrutierten chaitanitischen Sekten bilden die ziffermäßigst be- 
deutendste Schicht von Vischnuiten (in Bengalen 10—ıı Mil- 
tionen) und pflegen sämtlich die orgiastische Anrufung Krischnas 
(Hari, Hari, Krischna) und Ramas, daneben aber — wenigstens 
die meisten von ihnen — die Sexualorgie als Hauptmittel der 
Selbstvergottung, als welche namentlich die Baul sie verab- 
solutierten. Den Sahaya galt, bei der Sexualorgie, jeder Mann als 
Krischna, jedes Weib als Radha (seine Favoritin), die Spashta 
Dayaka hatten intersexuelle Klöster als Stätten der Sexualorgie. 
In minder ausgeprägter Form finden sich Reste der Krischna- 
Orgien auch sonst. In einer Anzahl von Kulten, welche noch heute 
als allgemeine Volksfeste in fast ganz Indien, und zwar nicht nur 
von vischnuitischen Sekten, gefeiert werden, bildet neben 
Krischna selbst namentlich Radha, deren Liebesleben mit ihm 
im Io. Buch des Bhagavata Purana — entsprechend dem »Hohen 
Lied« im Alten Testament — als Symbol der gegenseitigen mysti- 
schen Liebe der göttlichen und menschlichen Seele erzählt ist, 
den Mittelpunkt. Sie werden mit Gesang, Tanz, Mimus, Konfetti 
und Rudimenten sexualorgiastischer Freiheiten begangen. 
Konsequenzen im Sinne einer Bewertung rein inner- 
weltlichen Handels als Heilswegs haben anscheinend nur 
einige verschwindend kleine vischnuitische Gemeinschaften 
gezogen. Am ersten könnte dies bei den von H. H. Wilson 176) er- 
wähnten Madhava sein, Anhängern der vom Brahmanen (und 
Minister des Königs Vijayanagar) Madhava, Abt von Shringeri 


176) Rel. Sects of the Hindus, London 1861. Es standen mir die Quellen nicht 
zur Verfügung. 
51* 


tue u EEE e nn 


786 Max Weber, 


im 13. oder 14. Jahrhundert begründeten Lehre. Er war !”) 
Vischnuit, Gegner des Vedanta und Anhänger der unklassi- 
schen ramaistischen Dwaita- (dualistischen) Doktrin. Auch bei 
ihm ist natürlich Dualismus nicht der Gegensatz zwischen 
Gute und »Böse« oder zwischen »Gott« und »Kreature, sondern 
zwischen vergänglichem Leben und ewigem Sein. Allein nicht das 
ewige Sein ist das — für das Streben der Menschen wenigstens 
— Reale, sondern gerade umgekehrt: das Leben. Es ist ewig 


‚ und unentrinnbar. Eine Absorption in das formal ewige -Seint 


en 


im Sinn der brahmanischen Lehre, namentlich des Vedanta, 
gibt es für den Menschen nicht. Damit fallen alle Voraussetzungen 
der brahmanischen Soteriologie. Innerhalb dieses Lebens hat 
der Mensch sich sein Heil zu schaffen. n. Eine Selbstvergottung 
ist unerreichbar, ein Aufgehen in der Einheit mit dem Göttlichen 
unmöglich, da der ewige Gott absolut überweltlich und über- 
menschlich ist. Yoga und alle Exerzitien der Intellektuellen- 
Soteriologien sind sinnlos: der Gott spendet seine Gnade dem rich- 
tig Handelnden. Damit scheint die Bahn für eine Ethik des aktiven 
innerweltlichen Handelns im Sinn des Occidents frei. Indessen 
gilt auch hier Meditation als der höchste Heilsweg und »in- 
tresseloses« Handeln als allein sündlos. Es blieben eben die 
allgemeinen Voraussetzungen der hinduistischen Theodizee: 
Samsara und Karman, bestehen. Ueberdies auch die abso- 
lute Autorität des mit dem heiligen (vedischen) Wissen aus- 
gerüsteten Seelsorgers über den Gläubigen. Ja das Charisma 
der qualifizierten Gurus ist gerade in dieser Lehre aufs äußerste 
gesteigert und als ein persönlicher, an qualifizierte Reflek- 
tanten verpfändbarer und verkäuflicher Besitz behandelt 
worden !78), Die unbedingte Hingabe an den Guru gilt als 
für die Laien-Erlösung unumgänglich: lediglich von ihm, nicht 
aus Büchern, hat man Kenntnisse zu erwerben, 

Die Stellung des Guru gegenüber dem Gläubigen war über- 


177) S. über ihn Balfours Cyclopaedia of Indıa Vol. II, p. 766. 

178) Geographisch verbreiten sich — um auch dies zu erwähnen — die visch- 
nuitischen — im Verhältnis zu den universell verbreiteten givaitischen — Sekten 
so, daß die Anhänger Ramanujas und Madhavas besonders im Dekkan, die 
anderen besonders in Vorderindienund zwar die Vallabhas insbesondere im Westen, 





. die Chaitanyas in Bengalen, die eigentlichen »Ramas«, die Ramanandi-Sekten 


also, in Nordindien im allgemeinen verbreitet sind. Diese geographische Vertei- 
lung ist, soviel ersichtlich, wesentlich durch politische Umstände bedingt ge- 
wesen. Die relativ schwächere Vertretung der vischnuitischen Sekten im Süden 
hat ihren Grund darin, daß der Peschwa (s. o. I, S. 662) im Mahrattenreich ein 
Civait war. 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 737 


haupt derjenige Zug, welcher in den weitaus meisten seit der brah- 
manischen Restauration entstandenen hinduistischen Gemein- 
schaften beherrschend hervortrat. Vorgebildet war diese Stel- 
lung ja in der absoluten Autorität des vom Schüler (bramacharin) 
fußfällig zu verehrenden Lehrmeisters (guru) in den Veden. 


Indessen damals eben nur für den internen Schulbetrieb. _Diese_ 


alten vedisch gebildeten- Gurus, von denen noch die. Rechts- 
bücher sprechen... welche als Hauskapläne von Königen.und- Ad- 


ligen und.als.Hauslehrex ihrer. Söhne die vornehme Bildung der. 


Kschatriya-Zeit vermittelten, waren aber. seit den Kirchenre-. 
formen des Neo-Brahmanismus durch eine oft wesentlich-plebe- 


ne 


jischere minder literarische Mystagogen- und Seelsorgerschicht 
ersetzt, obwohl gerade darin Sankaracharya hatte reformieren 


wollen. Denn dies: die Schaffung geschulter und klösterlich | 


organisierter wandernder Mendikanten einerseits und die uni- 
verselle Durchführung der Guru-Verfassung waren ganz offenbar 
— neben der Verbindung mit den Höfen — die Mittel, durch 
welche die Brahmanen siegten. Ganz ähnlich wie die Gegen- 
reformationskirche durch Steigerung der Intensität der Beichte 
und Ördensgründung ihre geistliche Herrschaft über die Massen 
neu aufrichtete, brachen diese Mittel die Konkurrenz der Jaina und 
Buddhisten. Zunächst wenigstens waren die überwiegende Mehr- 
zahl der Mendikanten und Gurus Brahmanen oder doch ganz 
in deren Hand. Im wesentlichen ist es auch heute so. Die 
teilweise fürstlichen Einkünfte, welche die Gurus gerade der 
Massensekten bezogen, mußten das Widerstreben der Brahmanen 
gegen die Uebernahme solcher Stellungen stark vermindern. 


Nicht die neuen Lehren, sondern die Universalität der Guru- _ 


mm 


Autorität war al also das Kennzeichen des restaurierten Hinduis- 
mus. Er war — ganz abgeschen von den Krischna- und Rama- 
Kulten, die er sich einverleibte — »Heilands«-Religiosität noch 
in einem andren sehr besonderen Sinn. Er bot den Massen den 
leibhaftigen, lebenden Heiland: den Nothelfer, Berater, magi- 
schen Therapeuten und vor allem: das Anbetungsobjekt, in Ge- 
stalt des sei es durch Nachfolgerdesignation sei es erblich seine 
Würde übertragenden Guru oder Gosain. Alle Sektenstifter wurden 
vergöttlicht und ihre Nachfahren wurden und sind Gegenstand 
der Anbetung. Die Guruschaft galt jetzt als die typische Stellung 
des Brahmanen. Der Brahmane ist als Guru lebender Gott (Tha- 
kur). Kein korrekter Cudra wird versäumen, Wasser zutrinken, 


le 


vea 


788 Max Weber, 


in welches ein Brahmane seine Zehe getaucht hat, oder sich Bissen 
von den Ueberbleibseln auf seinem Teller zu verschaffen. 
Der Genuß der Exkremente des Guru im Gayatri-Kriya-Sakrament 
(angeblich bei der Satnami - Sekte, einer Kschatriya-Gründung 
in Nordindien, sogar noch vor kurzem im Gebrauch) war nur 
“ein äußerster Fall. Der in einem Gebiet leitende Guru ersetzte 
. den Bischof der abendländischen Kirche, visitierte in Begleitung 
ı seines Gefolges seinen — traditionellen oder auch ausdrücklich 
| gesicherten — Sprengel, exkommunizierte im Fall grober Sünden, 
| erteilte die Absolution gegen Buße, erhob die Abgaben von den 
! Gläubigen und war in allem und jedem Betracht die entscheidende 
: beratende und beichtväterliche Autorität. Jeder Sekten-Gläubige 
hatte seinen Guru, der ihm den religiösen Unterricht erteilte, 
ihn dann durch Mitteilung der Mantra (Gebetsformel) und Be- 
zeichnung mit den Sektenmerkmalen durch Brandmarkung oder 
Bemalung in die Sekte aufgenommen hatte und an denersich in 
allen Lebenslagen um Rat wendete. Bei den Krischna-Sekten 
wurden die Kinder mit 6—7 Jahren dem Guru zugeführt und ihnen 
der Rosenkranz umgelegt. Mit ı2 bis 13 Jahren erfolgte die der 
Konfirmation entsprechende (samupana-) Zeremonie, für welche 
die alte Form deı Umgürtung mit der heiligen Schnur (die Sama- 
vartana-Zeremonie) den Ritus abgab: dem Sinne nach aber war 
sie die Weihe des eigenen Leibes an Krischna. Oekonomisch, 
sahen wir, wurden die Guru-Sprengel teilweise als persönliches 
Eigentum der Gurus betrachtet, nicht nur — wie meist — vererbt, 
sondern auch veräußert, wie die »jajmani« eines Handwerkers. 
Religiös ersetzte die Verehrung des Guru gerade bei den Massen 
oft alle andere Heilandsreligiosität: der lebende Heiland oderGott 
inmitten der Gläubigen ersparte alle transzendenten Anbetungs- 
objekte. Das praktische Maß der Guru-Autorität in Dingen der 
Alltagslebensführung war und ist bei den einzelnen Sekten zwar 
verschieden, aber sehr begreiflicherweise gerade bei den spezifisch 
 plebejischen Sekten meist ganz besonders groß. Daß die Institu- 
' tion auch heterodoxen Mystagogen die Chance bot, sich als 
_ Seelenleiter aufzutun und Anhänger um sich zu sammeln, 
— namentlich seit die Stütze der Regierung den Brahmanen 
fehlte —, mußten die hinduistischen Reformatoren mit in den 
Kauf nehmen. Im ganzen bedeutete diese Plebejisierung der 
‚brahmanischen Lehrer eine ganz ungeheure e Stärkung ihrer Macht. 
In den Tagen der islamischen Fremdherrschaft und Verfol- 


Nonn Sn nn De U 
mamy. v E Er ng > 


° Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 789 


gung zumal waren die Gurus für die Massen der Hindu ebenso 
die feste Stütze in aller inneren und folglich auch äußeren 
Not, wie die Bischöfe der katholischen Kirche in der Zeit der 
Völkerwanderung und schon vorher. 

Mit dieser plebejisierenden Entwicklung hängen jene starken 
Verschiebungen in der Stellung und Gliederung des Brahmanen- 
tums zusammen, welche sich seit der Restauration vollzogen 
haben haben 19). Der vornehme Brahmane der Frühzeit war Haus- 
kaplan eines Königs igs (purohita) oder eines Adligen, wie dies sich 
namentlich im Rajputana erhalten hat. An Würde gleich stand 
der Purohita-Stellung die des selbständigen Lehreres von Abkömm- 
lingen von Brahmanen und, demnächst, von Adligen, der durch. 
»dakshinas entgolten wurde. Dakshina durfte und darf ein Bra- 
mane hoher Kaste nur von vornehmen Kasten nehmen 189), 
Andrerseits beanspruchten das Monopol des Nehmens von Dak- 
shina von den vornehmen Kasten die nach ihrem Kastenrang 
vornehmen und vedisch gebildeten (Vaidika-)Brah- 
manen (daher Dakshinacharas genannt). Die mittelalterliche Ent- 
wicklung brachte, wie wir sahen, die großen Pfründenstiftungen 
der Fürsten und Adligen für ritualkundige Brahmanen, deren 
rituelle Dienste, Schrift- und Verwaltungskunde und Lehrkräfte 
dadurch für den Bedarf des Fürsten und seines Adels sicherge- 
stellt wurden. Auch die Fähigkeit, solche Lehen für rituelle 
und Unterrichts-Dienste zu empfangen, wurde natürlich von 
den Vaidika-Brahmanen vollen Kastenrangs monopolisiert. Oft 
war sie den als bhikkschu lebenden vorbehalten, welche je- 
doch nicht selten trotz Beibehaltung dieser Bezeichnung spä- 
ter — wie bei den Buddhisten die »Bonzene — zu einem Welt- 
klerus ohne Zölibat wurden, den eben nur die Abstammung und 
vedische Schulung von den Laukika oder Grihastha genannten 
Laien-Brahmanen unterschied, die an der Pfründenfähigkeit 
nicht teilnahmen. Unter diesen Laien-Brahmanen waren die vor- 
nehmsten diejenigen, welche weltliche Lehen für Leistungen 
im Verwaltungsdienst empfingen, wie z. B. die Bhuinhar-Brah- 
manen (von Bhum, Landlehen) in Bihar und Benares, ander- 


179) Die entscheidenden nenn findet man am bequemsten bei Jogendea 
Nath Bhattacharya a.a. O. 7 

10) Aeußerste Grenze sind de Brahmanen, die nicht als völlig degradiert 
angesehen werden wollen, die »Satgudra«-Kasten, deren Gaben unter Umständen 
— in Bengalen, wenn sie hinlänglich groB sind! — genommen werden dürfen. 
Stets aber sind die »Açudra pratigahi«, die nie vom Gudra nehmenden, die vor- 
nehmsten und verachten die »Cudra yajaka«. 


| 


790 7 Max Weber, 


wärts ähnliche Schichten. Degradiert waren, wie früher er- 
wähnt, alle Tempelpriester (in Bengalen: Madhya genannt). 
Teils deshalb, weil ihre subalternen Manipulationen keine vedische 


| Schulung voraussetzten, die ihnen denn auch meist fehlte, teils 


aber auch, weil sie von Gaben unvormnehmer, oft unreiner Kasten, 
.oder von solchen von fremden Pilgern unsicherer Reinheit 
lebten 181). Innerhalb der Vollbrahmanen nahmen eine hohe, 
nach ihren eigenen Ansprüchen die höchste, Rangstellung ein die 
Pandits: respondierende Sakraljuristen und Richter, deren höchster 
in der Zeit vor der Fremdherrschaft oft für den ersten Mann des 
Landes galt. Die Stellung hat sich in der Restaurationsperiode, 
und zwar anscheinend wie so viele andere hinduistische Insti- 
tutionen von Kaschmir her, entwickelt. Mit ihnen konkurrierten 
an Macht die Superioren der großen charismatischen Klöster, 
deren »Srimukh« (Dekret, dem »Fetwas« des islamischen Mufti 
entsprechend) für die Anhänger der betreffenden Lehre in ver- 
bindlicher Art Ritualfragen 18°) entscheidet, — aber eben nur 
innerhalb der betreffenden, freilich unter Umständen eine Mehr- 
zahl von Sekten 183) umfassenden, Lehrgemeinschaft. 

Bei allen diesen althistorischen brahmanischen Machtstel- 
lungen war der Besitz des heiligen Wissens diejenige Qualität, 
welche das Monopol auf die geistlichen Pfründen der verschie- 
denen Arten verlieh, bildete das profanjuristische Wissen und 
die Literatenqualität als solche diejenige Eigenschaft, welche 
auf die weltlichen Stellungen Anspruch gab. 

So stehen unter den studierten Bikkshu-Dershashths in 
Maharashthra neben den Vaidika die Castri (Juristen), welche 
dort untereinander und mit den Jotishi (Astrologen), Baidya 
(Medizinern), Puranika (Rezitatoren der Purana) im Range gleich 
stehen. Nächst dem heraldischen Rang 18°) entscheidet der damit 
oft, aber nicht immer, zusammenfallende +85) traditionelle Grad 
~ 281) So die überaus reichen Priester gewisser berühmter Wallfahrtsheiligtümer 


in Benares. 

12) So entschied ein Srimukh des Abts von Shringeri über die Zugehörig- 
keit einer bestimmten Gruppe Mysorescher Brahmanen zur Kaste. 

188) Shringeri z. B. alle orthodox givaitischen in Südindien, für welche das 
Kloster auch die Exkommunikationsgewalt in Anspruch nimmt. 

1%) So der Zugehörigkeit zu den Sapta Sati, den 7 vor König Adisaur 
(9. Jahrh.) in Bengalen eingewanderten Sippen, oder den sPanch Gaurs«, den vor- 
nehmsten 5 aller nordindischen Sippen. 

185) Bei den hochadligen Kulin-Brahmanen in Orissa z. B., die aus den 
ausschließlich von Vaidika bewohnten 16 shashan-Dörfern (alten Königsstif- 
tungen) stammen, gilt die Sanskritbildung als mittelmäßig. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 791 


der Veda- und Sanskrit-Schulung über die soziale Schätzung. 
Demnächst der Grad esoterischen, namentlich also tantristi- 
schen »Wissens«, einer wichtigen Machtquelle namentlich eivaiti- 
scher Brahmanen. Die Yoga-Schulung gibt dagegen heute z. B. 
in Südindien (Telinga), wo sie sich bei Brahmanen (Niyogin) 
häufig findet, ebenso wie sonst keine Qualifikation für Pfrün- 
den 18%). Ganz einheitlich ist die Scheidung von geistlichen und 
Laien-Brahmanen nicht 197). Die Qualität der kultischen Pro- 
zeduren wirkt auf den Rang je nach deren ritueller Unbedenk- 
lichkeit: in Bengalen, Orissa, Mithila und im Panjab sind gerade 
vornehme Brahmanen Saktis, jedoch durchweg in der gemäßig- 
ten Form, welche zwar die Teilnahme an blutigen Opfern, nicht 
aber am Alkohol- und Tabak-Genuß einschließt. Die vextremen e, 
d. h. Alkoholgenießenden, Sakti-Brahmanen z. B. in Sindh und 
Maharashtra gelten als niederen Ranges. Daß in Südindien die vor- 
nehmen dravidischen (Dravira-) Brahmanen fast alle Civaiten 
sind, hat rein historische Gründe; in Rajputana sind gerade die 
vischnuitischen Srimali besonders vornehm (weil rein arisch). 
Degradierend wirken nur diejenigen Formen des Vischnuismus, 
welche den Sanskrit aufgegeben haben oder welche dakshina 
von niederen Kasten nehmen, was beides meist zusammentrifft. 
So namentlich die Stellung als chaitanitischer Guru trotz Alko- 
holabstinenz 188). Zwar in Orissa stehen die chaitanitischen (Adhi- 
kari-)Brahmanen an Rang zwischen den Vaidika- und den Laien- 
Brahmanen — unter denen es dort eine rituell befleckende Unter- 
kaste (die Mathan) gibt — in der Mitte. Aber in aller Regel ist 
der Brahmane als chaitanitischer Guru degradiert, sowohl weil 
ihm das vedische und Sanskrit-Wissen, wie die tantristische 
Esoterik entbehrlich ist und fehlt, als weil er (meist) dakshina 
von allen (oder doch fast allen) Kasten nimmt. Diese populären 
vischnuitischen (hauptsächlich auf Ramananda und Chaitanya 
zurückgehenden) Sekten verschoben nun die Stellung der Brahma- 
nen auf das nachhaltigste. Zunächst, indem sie jenes an sich 
schon geringe Maß einheitlicher Organisation, welches für den 
orthodoxen Civaismus die Arbeit nementlich Sarkaracharyas 
p 180) Dagegen können dort diese als sNiyogin« von den Vaidika geschiedenen 
Brahmanen Priester sein. 

187) In Nordindien können vielfach auch »weltlichee Brahmanen, als Gurus, 
dakshina empfangen (stets handelt es sich um Brahmanen niederen Ranges). 


188) Die alte bengalische Brauerkaste (jetzt meist Kaufleute) war abstinent 
und chaitanitisch. 


792 Max Weber, 


geschaffen hatte, für den Vischnuismus völlig sprengten. In 
Nordindien fehlt schon dem dort schwächeren Civaismus ein 
solches geistliches Oberhaupt, wie für Südindien der Abt von 
Shringeri, neben ihm einige andere Klöster, immerhin sind; denn 
die Machtstellung von Sankeshwar scheint auf einige vornehme 
Brahmanen - Kasten beschränkt zu sein. Der Vischnuismus, 


namentlich der chaitanitische Massenvischnuismus, entbehrt 


dessen völlig. Jede einmal anerkannte Guru-Dynastie bildet 
eine (meist) erbliche hierokratische Gemeinschaft für sich. 
Neben diese zunehmende Sekten-Zersplitterung trat die Aende- 
rung der Art der Machtmittel. Vedisches Ritualwissen, tantristi- 
sche und saktistische Esoterik als Grundlage der charismatischen 
Machtstellung fielen bei den »sdemokratisch« orientierten Sekten 
fort. Emotionale konfessionelle Agitation und Konkurrenz 
in der Oeffentlichkeit mit ihren spezifisch plebejischen Mitteln 
der Werbung und Kollekte: neben Prozessionen und Volksfesten 
auch kollektierende Wanderkarren und ähnliche Veranstaltungen, 
traten an die Stelle. Die Zunahme der Zahl der Kleinbürger 
und proletaroiden Massen und die Zunahme des Reichtums der 
bürgerlichen Schichten in den Städten steigerten die Erwerbs- 
: chancen der an sie sich wendenden Guru-Demagogie. Die tiefe 
_ Verachtung der vornehmen Brahmanen gegen diese Konkurrenz 
"konnte ihnen die bittere Erfahrung nicht ersparen, daß aus ihren 
eigenen Kreisen die Neigung zum Ueberlaufen vom Lager der 
‚ Tantristik und sonstigen Esoterik zum Vischnuitentum wuchs. 
‚ Die Autorität der Pandits, ebenso wie die Benutzung der vor- 
nehmen gebildeten sankaritischen und anderen als vollklassisch 
geltenden Brahmanen als Gurus nahm mindestens relativ ab zu- 
gunsten der mindestens relativ aliterarisch (d. h. nicht Sanskrit- 
gebildeten) Hierarchen der Masse 189), Gerade die durch die 
~ englische Herrschaft allmählich propagierte kapitalistische Ent- 
wicklung hat — mit ihrer Schaffung ganz neuer Quellen der 
Vermögensakkumulation und des ökonomischen Aufstiegs — 
diese Umwälzung stark gefördert. Die alte Anrede »Thakure, 
»Gotte«, für den Brahmanen ist nicht nur abgebraucht, sondern 
überdies auch entwertet dadurch, daß heute nur der Guru der 


189) Das Ressentiment darüber spricht deutlich genug aus dem zitierten 
Buch J. N. Bhattacharyas, eines Ober-Pandit, loyalen Anhängers der englischen 
Herrschaft und der Kastenordnung und Verächters der plebejischen Gurus. 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 793 


‚plebejischen Sekten es ist, der ernstlich und wirklich wie ein 
Gott verehrt wird. 

Diese Entwicklung hat überall da, wo die neohinduistischen 
Heilsmittel sich mit den buddhistischen verbunden haben, — was 
besonders intensiv bei der (namentlich in Java verbreiteten) 
yogistisch und mantristisch beeinflußten Mentrayana-Schule 
der Fall ist,— auch diese ergriffen: die Autorität des hinayanisti- 
schen Guru war in den Missionsgebieten ohnehin schon groß und 
die unbedingte Obedienz gegen ihn wurde nun zum absoluten Er- 
lösungsmittel gesteigert 199. NN 

Diese göttliche oder gottähnliche Stellung des Guru ist gerade ` 
auch bei denjenigen hinduistischen Sekten, welche alle Ido- 
latrie und alle andern irrationalen, ekstatischen, orgiastischen 
oder rituellen Kultmittel radikal beseitigten, sehr oft am aller- 
stärksten entwickelt, wie wir sahen. Anbetung des le- 
benden Heilands war also das letzte Wort der ninduistis 
schen Religionsentwicklung. A 

Der Unterschied gegenüber der katholischen Anstaltskirche_ 
war bei € dieser_Organisation,. äußerlich angesehen: “einmal, daß 
Mönche und charismatische oder a Te die aus- 
schließlichen Träger waren. Dann: ihre formale Freiwilligkeit. 
Ganz wie in China vollzog sich die Entstehung der nicht vom 
Fürsten für die offiziellen Opfer oder für Brahmanenschulen ge- 
stifteten Tempel regelmäßig im Wege der Subskription und der | 
Bildung eines Kommitees, welches die äußere Ordnung und die 
Führung der Wirtschaft in die Hand nahm. Unter den hindu- 
istischen Fürsten war diese Art der Stiftung neuer Kulte schwer- 
lich die vorwiegende. Unter der fremdgläubigen Fremdherrschaft 
aber wurde sie die fast ausschließliche äußere Form der Pro- 
paganda der Sektenkulte und diese gerieten dadurch in stärkstem 
Maß unter die Herrschaft der bürgerlich erwerbenden Schichten 
und gewannen nun auch ökonomisch erst die Möglichkeit, sich 
‚vom offiziellen orthodoxen Brahmanentum zu emanzipieren oder 
dies zu zwingen, sich ihnen zu akkommodieren.', Die Inschriften 


190) S, dazu J. S. Speyer, Z. D. M. Z. 67 (1913) S. 347 über die Edition 
des Sang Hyang Kamehäyänikam von I. Katz (Kon. Inst. v. d. Taal-, Land- en 
Volkenkunde v. Ned. Indie (1910). Die buddhistische Ethik ist bis auf Rudimente 
(statt der Mönchskeuschheit z. B. Verbot der Begattung in der Nähe heiliger 
Objekte!) verschwunden. Wer prajfia (die höchste Weisheit) durch puja (Vereh- 
rung Buddhas), Yoga, Meditation über die mantra und unbedingten Gehorsam 
gegen den Guru erlangt hat,dem ist kein Genuß verboten (Strophe37 desGedichts). 


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2 
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794 Max Weber, 


zeigen, daß diese Organisationsform seit langen Jahrhunderten 
bis heute typisch die gleiche geblieben ist. Ebenso typisch die 
gleiche blieb die spirituelle Herrschaft der Gurus. Auch die 
politische Macht dieses Klerus war selbstverständlich groß. Der 
Mendikanten bedienten sich die Könige als Spione (ein solcher 
Asket spielt in der Frühgeschichte von Bombay eine typische 
Rolle), der Brahmanen überhaupt als ihrer Beamten und Bera- 
:: ter. Festzustellen ist, daß offenbar die äußersten Konsequenzen 
` der Guru-Verehrung erst in den letzten 5—6 Jahrhunderten 
gezogen worden sind. Und das ist begreiflich. Sowohl die Könige 
wie die brahmanische Weltpriesterschaft hatten ein Interesse daran 
die Gewalt der Mystagogen und Magier, des Mönchtums über- 
haupt, nicht ins Uebermaß anwachsen zu lassen. Sie haben die 
Macht der Sektenhäupter, auch wo sie sich ihrer zur Domestika- 
tion der Massen bedienten, sich nicht über den Kopf wachsen 
lassen. Erst die islamitische Fremdherrschaft, welche die poli- 
=, tische Macht. der vornehmen Hindukasten_ en_brach, gab i der Ent- 
E wicklung der Guru-Gewalt freie Bahn und.ließ sie zu_ihrer gro- 
tesken Höhe anwachsen. Diese Entwicklung der Guru-Gewalt 
zur Menschenvergottung kann lehren: welche gewaltige Bedeu- 
tung im Occident die Entwicklung der Papstgewalt gehabt hat, 
Sie hat zunächst die Mönchskirchen des Missionsgebietes, die 
irische und ihre Ausläufer vor allem, unterworfen, indem sie sie 
zugleich legitimierte: sie nahm die Ordensgründungen der Mön- 


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| che in ihre straffe amtliche Disziplin. Nicht der persönliche 
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überweltliche Gott, den die Hindugläubigkeit gerade der Sekten 
ja auch kannte, sondern das Erbteil des antiken Rom: die bischöf- 
liche Amtskirche, hat die in Indien eingetretene Entwicklung des 
“ Mönchtums zur Menschenanbetung verhindert. Nicht, wohlge- 
merkt, die starke hierarchische Macht des Papsttums als solche 
— denn auch der Dalai Lama ist und die großen Klostersuperioren 
der Sekten Indiens waren höchst machtvolle Hierarchen. Sondern 
der rationale Amts-Charakter der Verwaltung war das 
Entscheidende und gegenüber dem persönlichen oder Erbcharisma 
der Gurus Unterscheidende. Davon wird später zu sprechen 
sein. — 
Zu der ritualistischen und traditionalistischen ‘inneren Ge- 
bundenheit durch die Kastenordnung und deren Verankerung 
an der Samsara- und Karman-Lehre, — an welcher keine irgend 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 795 


in Betracht kommende Sekte gerüttelt hat 191), — trat also noch die. 
religiöse ‚Anthropolatrie_der hinduistischen Laien gegenüber dem 
naturgemäß streng traditionalistischen ı charismatischen Klerus der 
Gurus hinzu, um jede Rationalisierung der. Lebensführung. von 
innen heraus zu ‚hindern. Es war ganz offensichtlich gar nicht daran 
zu denken, daß eine durch solche inneren Mächte beherrschte 
Gemeinschaft jemals aus ihrer Mitte das hätte gebären können, 
was wir hier unter »Geist des Kapitalismus« verstehen. Selbst 
die Uebernahme des ökonomisch und technisch fertigen Gebildes 
als Artefakt, so wie sie die Japaner vollzogen haben, stieß offen- 
bar und ganz begreiflicherweise hier, trotz der englischen Herr- 
schaft, auf ganz bedeutende und offenbar größere Schwierig- 
keiten als in Japan. Wenn heut die Durchdringung der indischen 
Gesellschaft mit kapitalistischen Interessen schon eine so tief- 
gehende ist, daß sie wohl nicht mehr auszurotten wäre, so konnten 
vor wenigen Jahrzehnten noch hervorragende englische Kenner 
des Landes mit guten Gründen die Ueberzeugung vertreten: daß 
beim Wegfall der dünnen europäischen Herrenschicht und der 
von ihr erzwungenen pax Britannica unter den auf Tod und 
Leben verfeindeten Kasten, Konfessionen und Stämmen die 
ganze alte feudale Räuber-Romantik des indischen Mittelalters 
wieder ungebrochen ins Leben treten würde. 

Machen wir uns noch einmal klar, welche »geistigen« Elemente, 
außer der Kastengebundenheit und der Guru-Herrschaft über 
die Massen, den ökonomisch und sozial traditionalistischen Zug 
im Hinduismus begründeten. Neben der autoritativen Gebunden- 
heit war es innerhalb der Intellektuellenschicht vor allem das 
Dogma _von der Unabänderlichkeit der Weltordnung, welchss 
allen orthodoxen und heterodoxen hinduistischen Denkrichtungen 
gemeinsam war. Die Weltentwertung, welche jede Erlösungs- 
religion mit sich führt, konnte hier nur absolute Weltflucht wer- 
den, ihr höchstes Mittel nicht aktive Askese des Handelns, 
sondern mystische Kontemplation. Das Prestige dieses Heils- 
weges als des höchsten von allen ist durch keine der massen- 
haften und untereinander so verschiedenen ethischen Lehren 


191) Densehrstarken Schicksals-Glauben bezeugt neben ausführlichen 
Legenden, welche die Unentrinnbarkeit des Verhängnisses zum Thema haben, 
auch die Spruchweisheit (bei Liebich, Sanskrit-Lehrbuch, Leipzig 1905 
z. B. S. 274/5, Nr. 87, 80, 93). Allein Karman: die vorgetanen Werke aus 
dem früheren Leben, bestimmen eindeutig das Verhängnis, welches dann 
über Menschen sowohl wie Göttern steht (ebenda Nr. 88, 93, 96, 101). 


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und Irrationalität der H Heilsmittel bestehen, ‚Entweder waren sie 
orgiastischer ] Natur und lenkten also ganz unmittelbar in anti- 
rationale, jeder Lebensmethodik feindliche Bahnen ein. Oder 
sie waren zwar rational in der Methodik, aber irrational im Ziel. 
Die »Berufs«-Erfüllung aber, welche z.B. in höchster Konse- 
quenz das Baghavadgita forderte, war sorganischen« 19) und das 
heißt: streng traditionalistischen, Charakters. und dabei mystisch 

ebrochen: ein Handeln in der Welt, aber doch nicht von der Welt. 

chlechthin keinem Hindu wäre es eingefallen, in dem Erfolg 
seiner ökonomischen Berufstreue das Zeichen seines Gnadenstan- 
des zu erblicken oder — was wichtiger ist — die rationale Umge- 
staltung der Welt nach sachlichen Prinzipien als eine Vollstreckung 





ı göttlichen Willens zu werten und zu unternehmen. 


u 


706 Max Weber, 
wirklich gebrochen worden. Immer blieb die Außeralltäglichkeit 


Dabei will nun immer berücksichtigt sein, wie dünn die 
Schicht der eigentlich inteklletualistischen und überhaupt der 
an »Erlösung« in irgendeinem rationalen Sinn interessierten Schich- 
ten in Indien war und ist. Von »Erlösung« (moksha, mukhti) weiß 
die Masse, zum mindesten der heutige Hindu, nichts. Sie kennt 
kaum den Ausdruck, jedenfalls nicht die Bedeutung. Aehnlich 
dürfte es, kurze Perioden ausgenommen, immer gewesen. sein. N 
Ganz massive rein diesseitige Heilsinteressen, grobe Magie, da- 


; neben aber die Verbesserung der Wiedergeburtschancen sind 
` und waren das, was sie erstrebte. Auch das Sektentum ergreift 


= 


u 


Bevölkerung, wahrscheinlich aber weniger, Vischnuiten, Civaiten, 


wenigstens heute nicht die wirklichen »Massene. Nimmt man als 
Maßstab die ausdrückliche Aufnahme in eine Sekte (durch Mantra- 
Erteilung und Bemalung oder Brandmarkung) nach vorhergehen- 
der Unterweisung, so werden wohl schwerlich mehr als 5 % der 


12) Dabei ist es in der Sektenreligiosität durchaus geblieben, wie namentlich 
die Spruchweisheit zeigt. Unter den bei Liebich.a.a.O. bequem in Ueber- 
setzung zugänglichen Worten seien hervorgehoben: S. 281, Nr. 14: entweder 
Liebe — oder der Wald (Askese). Ein verlorenes Leben hat geführt, wer weder i 
Gedanken für Çiva gehabt, noch der Liebe gelebt hat (S. 299, Nr. 11), wer | 
weder Wissenschaft, noch Reichtumserwerb, noch Pietät, noch Erotik 
gepflegt hat (S. 305, Nr. 47), wer weder Wissen, noch Kriegsruhm, noch 
schöne Mädchen besessen hat (S. 313, Nr. 87, dies in der Form besonders schön) 
und es werden dabei (S. 319 Schlußvers der Sammlung und in den anderenStellen) 
diese verschiedenen Werte im Ganzen meist koordiniert. Auch die Götter: Civa, 
Brahman und Vischnu als »Sklaven« des Liebesgottes: S. 278, Nr. 1; anderer- 
seits: Çiva als Feind der Weiber (S. 283, Nr. 83) und des Liebesgottes (S. 302, 
Nr. 28) oder als dessen »Züchtiger« (S. 313, Nr. 90). Das Alles entspricht der 
früher schon aus einigen Monumenten illustrierten organisch-relativistischen 
Grundlage aller indischen Ethik. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 797 


Jaina und Buddhisten sein. Zwar hat man 19) die Theorie auf- 
gestellt und geistreich verteidigt: jeder nicht heterodoxe Hindu 
sei, ohne es selbst zu wissen, entweder Caiva oder Vaishnava, 
d. h. er strebe entweder — im ersten Fall — nach Absorption 
im Alleinen oder — im letzteren — nach ewigem Leben, und dies 
zeige sich in seinem Verhalten in der Todesstunde, in der Art der 
Formel zur Anrufung des Nothelfers (Mantra), die er dann ge- 
brauche. Indessen abgesehen davon, daß es eine solche besondere 
Mantra für die Todesstunde wirklich allgemein überhaupt gar 
nicht gibt und daß es auch givaitisches Unsterblichkeitsstreben 
gab, so sind die üblichen und gebräuchlichen Formeln (vor allem 
Anrufungen Ramas 194) sonichtssagend, daß daraus irgendeine Be- 
ziehung zu einem Gott und dessen spezieller Gemeinschaft durch- 
aus nicht geschlossen werden kann. Die Masse der Hindu kennt 
Civa und Vischnu zuweilen nicht einmal dem Namen nach 1%) ; 
er versteht unter »Erlösung«e (mukhti) allenfalls eine günstige 
Wiedergeburt, und gerade diese ist, der alten hinduistischen 
Soteriologie entsprechend, nach seiner Ansicht lediglich sein 


eigenes Werk, nicht das des Gottes. Von seinem lokalen Dorf- | 


gott erwartet er die Spendung von Regen und Sonnenschein, 


vom Familiengott, dem Mailar Linga oder Kedar Linga (Fetisch), 


Hilfe in sonstigen Alltlegsnöten. Von irgendeiner »konfessionellen« 


Erziehung durch die Gurus, deren er sich als Berater bedient, ` 


kann gar keine Rede sein, da der Guru ja neben rituellen Formeln 
nur die für die Masse der Laien ganz unverständliche brahmani- 
sche Theologie gelernt hat: hier eben zeigt sich die Kluft der 
Intellektuellen-Religiosität gegenüber dem Alltagsbedarf der 


-- nn 


Massen. Die Zurechnung zu einer Sekte hängt vom brahmani- 





schen Guru ab, der allein davon etwas versteht. Die Masse bindet 


sich in keiner Art an eine Konfession. Sondern wie der antike 
Hellene Apollon und Dionysos je nach der Gelegenheit verehrte, 
der Chinese buddhistischen Messen, taoistischer Magie und kon- 


fuzianischen Tempelkulten andächtig beiwohnt, so behandelt 


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der nicht in Sekten besonders rezipierte einfache Hindu die Kulte 


und Gottheiten. Und zwar nicht nur die als orthodox geltenden. 


Nicht nur jainistische und buddhistische, sondern auch islamische ` 


19%) So der verdienstvolle Indologe Grierson. S. derüber und dagegen die 
Ausführungen von Blunt im Census Report (United Provinces) von ıgı1. 

19t) Etwa: Ram, Ram, satya Ram (vischnuitisch). 

126) Wird in diesem Fall überhaupt ein sisöchsters Gott verehrt, dann detr 
alte Paranıesvara. 


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798 Max Weber, 


und christliche Heilige (so der heilige Franz Xavier, der erste 


Jesuitenmissionar) erfreuen sich an ihren Festen seines Zu- 


spruchs. Die Sekten und ihre Heilandsreligiosität waren und sind 


; eine Angelegenheit der — meist — von Intellektuellen beratenen 


Mittelstände, die Erlösung durch die Kraft der Kontemplation 
eine solche der Intellektuellenschichten. Woraus freilich, wie 
die Darstellung wohl ergeben hat, nicht etwa folgt: daß 
die Eigenart der Intellektuellenreligion und ihrer Verheißun- 
gen nicht die allernachhaltigsten indirekten Wirkungen auf die 
Lebensführung der Massen geübt habe. Dies war vielmehr in 
hohem Maße der Fall. Aber dem Effekte nach wirkte dieser Ein- 
fluß niemals im Sinn innerweltlicher methodischer Rationali- 
sierung der Lebensführung der Massen, sondern meist gerade 
umgekehrt. Reichtum und insbesondere Geld genießen eine 


| fast überschwengliche Schätzung 29%) in der indischen Spruchweis- 


heit. Aber neben der Alternative: Selbstgenießen oder Verschen- 
ken steht als dritte nur: der Verlust 19°). Statt eines Antriebs 
zur rationalen ökonomischen Vermögensakkumulation und Kapi- 
talverwertung schuf der Hinduismus irrationale Akkumulations- 
chancen für Magier und Seelenhirten und Pfründen für Mysta- 
gogen und ritualistisch oder soteriologisch orientierte Intellek- 
tuellenschichten 198). 


- Wesentlich eine Angelegenheit der Intellektuellenschicht, 


und zwar in diesem Fall der modernen durch europäischen Ein- 
fluß gezüchteten oder doch von daher beeindruckten Intellek- 
tuellenschicht, sind auch die modernen »Reforms-Bewegungen 


196) Vgl. z. B. die Stellen bei Liebich, a.a.O.S. 265, Nr. 40, 41. 

197) Ebenda Nr. 43. 

19%) Die für Indien spezifische Form der Akkumulation großer Vermögen 
illustriert aın besten jener Glückspilz von Vaidika, der im ı3. Jahrhundert von 
einem Rajah, auf dessen Hausdach ein toter Geier gefallen war, nach Kotali- 
hapur berufen wurde, um die schlimmen Folgen dieser ominösen Verunreini- 
gung rituell zu beseitigen. Außer immensen Gebühren für die kostspieligen 
Zeremonien selbst wurde er zum Dank dergestalt mit Landlehen und Zamindari- 
Stellungen ausgestattet, daß die Familie bis in die neueste Zeit zu den reichsten 
in Bengalen zählte. 

Handel wird gelegentlich im Panchatantra (s. die Stelle bei Liebich 
a.a. O. S. 99) den anderen Arten des Gelderwerbes (nämlich: Betteln, Königs- 
dienst, Ackerbau, Wissen, Wucher) vorangestellt. Als Arten des Handelsbetriebs 
werden aber dabei neben Spezereihandel, Depositengeschäft, Geschäftsführung 


-> einer Gesellschaft, Handel mit Fremden, Gütertranspoft aufgeführt: Gewinn 


durch Angabe falscher Preise und durch Gebrauch falscher Maße und Gewichte 
und dabei alle diese Arten einander gleichgestellt: ein starker Gegensatz gegen 
sowohl die puritanische wie die jainistische Ethik. 


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n a N a o tn — — 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 799 


innerhalb des Hinduismus, die bei uns viel erörterte Gemein- 


schaft »Brahmo Somaj« und die vielleicht noch wichtigere 
andre »Arya Somaj«. Ihre Geschichte gehört in unsre Zusam- 
menhänge so wenig wie die Darstellung der durch die anglo-indi- 
sche Universitätsbildung gezüchteten politischen und journalisti- 
schen Träger des allmählich in diesem Lande der Zerklüftung in 
zahllose einander bitter feindliche Kasten-, Sekten-, Sprach- 
und Rassengruppen aufkommenden modernen indischen Na- 
tionalbewußtseins im occidentalen Sinn des Wortes: — einer 
Erscheinung, welche dem hier zu schildernden bodenständigen 
Indertum notwendig fremd war. Denn sie wächst nur auf dem 


. ee e i, . 


Boden einheitlicher bürgerlicher Klassen in Verbindung mit einer 


auf sie eingestellten nationalen Literatur und — vor allem — ` 


Presse und setzt im allgemeinen eine irgendwie einheitliche 


(äußere) Leßensführung voraus. * Von alle dem besaß das Indien 


des historischen Hinduismus das gerade Gegenteil. — 


Blicken wir nach diesem, gegenüber dem unerhörten Reich- 
tum der Gestaltungen, überaus oberflächlichen Rundgang durch 
. die asiatische Kulturwelt zurück, so wird sich etwa Folgendes 
sagen lassen: | 

Für Asien als Ganzes hat China etwa die Rolle Frankreichs 
im modernen Occident gespielt. Aller weltmännische »Schliffe 
stammt von dort, von Tibet bis Japan und Hinterindien. Da- 
gegen ist Indien etwa die Bedeutung des antiken Hellenentums 
zugefallen. Es gibt wenig über praktische Interessen hinausgehen- 
des Denken in Asien, dessen Quelle nicht letztlich dort zu suchen 
wäre. Vor allem haben für ganz Asien die indischen, ortho- 
doxen und heterodoxen, Erlösungsreligionen annähernd die Rolle 
des Christentums in Anspruch genommen. Mit dem einen großen 
Unterschied: daß abgesehen von lokalen und meist auch vorüber- 
gehenden Ausnahmen keine von ihnen dauernd zur alleinherr- 
schenden Konfession in dem Sinn erhoben worden ist, wie dies 
bei uns im Mittelalter und bis nach dem westfälischen Frieden der 
Fall war. Asien war und blieb, im Prinzip, das Land der freien 
Konkurrenz der Religionen, der »Toleranzs im Sinne etwa der 


Spätantike. Das heißt also: unter Vorbehalt der Schranken der | 
Staatsräson, — die schließlich ja, nicht zu vergessen, auch bei 


uns heute als Grenzen aller religiösen Duldung fortbestehen, 


nur mit anderer Wirkungsrichtung. Wo diese politischen Inter- 
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42, 3. 52 


800 Max Weber, 


essen irgendwie in Frage kamen, hat es auch in Asien an Reli- 
gionsverfolgungen größten Stiles nicht gefehlt. Am stärksten in 
China, aber auch in Japan und Teilen von Indien. Wie in Athen 
in der Zeit des Sokrates, so konnte ferner auch in Asien jederzeit 
die Deisidaimonie ein Opfer fordern. Und endlich haben Reli- 
gionskriege der Sekten und militarisierten Mönchsorden auch in 
Asien, bis in das ıg. Jahrhundert, ihre Rolle gespielt. Aber im 
ganzen bemerken wir sonst jenes Nebeneinander von Kulten, 
Schulen, Sekten, Orden aller Art, welches auch der occidentalen 
Antike eignete. Dabei waren freilich jene konkurrierenden Rich- 
tungen in den Augen der jeweiligen Mehrheit der herrschenden 
Schichten und oft auch der politischen Mächte keineswegs gleich- 
wertig. Esgab orthodoxe und heterodoxe und unter den orthodoxen 
mehr oder minder klassische Schulen, Orden und Sekten. Vor 
allem — und das ist für uns besortders wichtig — schfden sie sich 
auch sozial voneinander. Einerseits (und zum kleineren Teil) 
je nach den Schichten, in denen sie heimisch waren. Anderer- 
seits aber (und hauptsächlich) je nach Art des Heils, das sie den 
verschiedenen Schichten ihrer Anhänger spendeten. Die erste 
Erscheinung fand sich teils so, daß einer, jede Erlösungsreli- 
giosität schroff ablehnenden, sozialen Oberschicht volkstümliche 
Soteriologien in den Massen gegenüberstanden: den Typus dafür 
gabChinaab. Teils so, daß verschiedene soziale Schichten verschie- 
dene Formen der Soteriologie pflegten. Diese Erscheinung ist 
dann in den meisten Fällen, nämlich in allen denen, wo sie nicht 
zu sozial geschichteten Sekten führte, mit der zweiten identisch: 
Die gleiche Religion spendet verschiedene Arten von Heilsgütern 
und nach diesen ist die Nachfrage in den verschiedenen sozialen 
' Schichten verschieden stark. Mit ganz wenigen -Ausnahmen 
ı kannten die asiatischen Soteriologien Verheißungen, die nur den 
| exemplarisch, meist: mönchisch, Lebenden zugänglich waren, und 
andre, die für die Laien galten. Fast ausnahmslos alle Soteriologien 
‘indischen Ursprungs haben diesen Typus. Die Gründe beider 
Erscheinungen waren gleichartige. Vor allem zwei unterein- 
ander eng verknüpfte. Einmal die Kluft, welche_den. literarisch 
»Gebildeten« von der aliterarischen Masse der Banausen abhob. 
Dann die damit zusammenhängende, allen Philosophien und 
Soteriologien Asiens schließlich gemeinsame Voraussetzung: daB 
Wissen, sei es literarisches Wissen oder mystische Gnosis, letzt- 
lich der eine absolute Weg zum höchsten Heil im Diesseits und 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 801 


Jenseits sei. Ein Wissen, wohlgemerkt, nicht von den Dingen 
dieser Welt, vom Alltag der Natur und des sozialen Lebens und 
Wissen vom »Sinn« der W elt und. detebens "Ein solches Wissen 
kann mit den Mitteln empirischer occidentaler Wissenschaft selbst- 
verständlich nie ersetzt werden und soll auch von ihr, ihrem 
eigensten Zweck nach, gar nicht et werden. Es liegt jen- 
Land des inte intellektuellen _Ringens einzig und allein nach » Weltan- 
schauunge in in “diesem « eigentlichen Sinn des Worts: nach einem 
» Sinne des Lebens in der Welt.. Es kann hier versichert werden — 
und: angesichts ; der Unvollständigkeit der Darstellung muß es bei 
dieser nicht voll bewiesenen Versicherung freilich sein Bewenden 
haben: daß es auf dem Gebiet des Denkens über den »Sinn« 
der Welt und des Lebens durchaus nichts gibt, was nicht, in irgend- 
einer Form, in Asien schon gedacht worden wäre. Jenes, nach 
der Natur seines eigenen Sinnes unvermeidlich und inaller Regel 
auch tatsächlich den Charakter der Gnosisansich tragendeWissen, 
welches dasasiatische Denken erstrebte, galt, aller genuin asiati- 
schen und das heißt: indischen, Soteriologie als der einzige Weg zum 
höchsten Heil, zugleich aber als der einzigeWeg zum richtigen Han- ` 
deln. Nirgends ist daher der allem Intellektualismus nahelie- 
gende Satz sọ selbstverständlich gewesen: daß die Tugend »lehrbar«e 
sei und daß das richtige Erkennen richtiges Handeln zur ganz un- 
Tehlbaren Folge habe. Selbstinden volkstümlichen Legenden z. B. 
des Mahayanismus, welche für die bildende Kunst etwa die Rolle 
unserer biblischen Geschichten spielten, ist es überall die ganz 
selbstverständliche Voraussetzung 19). Nur Wissen gibt — je 
nachdem — ethische oder magische Macht über sich selbst oder 
über andere. Durchweg ist jenesLehre« und dies» Erkennen« des zu 
Wissenden nicht ein rationales Darbieten und Erlernen empirisch- 
wissenschaftlicher Kenntnisse, welche die rationale Beherrschung 
der Natur und der Menschen ermöglichen, wie im Occident. 
Sondern es ist das Mittel mystischer und magischer Herrschaft 
üder sich und die Welt: Gnosis. Sie will durch ein intensivstes 
Training des Körpers und Geistes: entweder durch die Askese, 
oder, und zwar regelmäßig, durch angestrengte methodisch ge- 
regelte Meditation errungen werden. Daß das Wissen, der Sache 


1-9) Siehe etwa die schon früher zitierten Mahasutasomajataka in der Ueber- 
setzung von Grünwedel, Buddhist. Studien, V. d. Kgl. M. f. Völkerk. Berlin V 
S. 371. 

52* 


802 Max Weber, 


nach, mystischen Charakters blieb, hatte zwei wichtige Folgen. 
Einmal den Heilsaristokratismus der Soteriologie. Denn die 
Fähigkeit mystischer Gnosis ist ein Charisma und bei weitem 
nicht jedem zugänglich. Dann aber und damit zusammenhängend 
den asozialen und apolitischen Charakter. Die mystische Er- 
kenntnis ist nicht, mindestens nicht adäquat und rational, kom- 
munikabel. Die asiatische Soteriologie führt den das höchste 
Heil Suchenden stets in ein hinterweltliches Reich rational unge- 
formten und eben wegen dieser Ungeformtheit göttlichen Schauens, 


:' Habens, Besitzens, Besessenseins von einer Seligkeit, die nicht 


| | von dieser Welt ist und doch in diesem Leben durch die Gnosis 


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errungen werden kann und soll. Sie wird bei allen höchsten 
Formen des asiatischen mystischen Schauens als »Leere: — 
von der Welt und dem was sie bewegt nämlich — erlebt. Dies 
‘entspricht ja dem normalen Sinncharakter der Mystik durchaus, 
ist nur in Asien in seine letzten Konsequenzen gesteigert. Die 
Entwertung der Welt und ihres Treibens ist schon rein_psycho- 
logisch die unvermeidliche Folge dieses, an sich rational nicht 


i 


weiter deutbaren, Sinngehalts des mystischen -Heilsbesitzes. 


Rational ausgedeutet wird dieser mystisch erlebte Heilszu- 
stand als: der Gegensatz der Ruhe zur Unrast. Die erste ist das 
Gortu he; die letzte das spezifisch Kreatürliche, daher letztlich 

ntweder geradezu Scheinhafte, oder doch soteriologisch Wertlose, 


i E Gebundene und Vergängliche. Ihre rationalste und 
 deshalbin Asien fast universell zur Herrschaft gelangte Ausdeu- 


tung erfuhr diese erlebnismäßig bedingte innere Stellungnahme zur 
Welt durch die indische Samsara- und Karman-Lehre. Dadurch 
gewann die soteriologisch entwertete Welt des realen Lebens 
einen relativen rationalen Sinn. In ihr herrscht — nach den ratio- 
nal höchstentwickelten Vorstellungen — das Gesetz des De- 
terminismus. In der äußeren Natur, nach der namentlich in Japan 
entwickelten mahayanistischen Lehre, die strenge Kausalität in 
unserem Sinn. In den Schicksalen der Seele der ethische Ver- 
geltungsdeterminismus des Karman. Aus ihnen gibt es kein 
Entrinnen außer in der Flucht, durch die Mittel der Gnosis, in 
jenes hinterweltliche Reich, mäg das Schicksal der Seele dabei 
nun einfach als ein » Verwehen« oder als ein Zustand ewiger indi- 
vidueller Ruhe nach Art des traumlosen Schlafes, oder als ein 


: Zustand ewiger ruhiger Gefühlsseligkeit im Anschauen des Gött- 


lichen, oder als ein Aufgehen im göttlichen Alleinen gefaßt werden. 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 803 


Die Vorstellung jedenfalls, daß vergängliche Taten eines ver- 


gänglichen Wesens auf dieser Erde »ewiges Strafen oder Beloh- 
nungen im » Jenseits« zur Folge haben könnten, und zwar kraft 
Verfügung eines zugleich allmächtigen und gütigen Gottes, ist 
allem genuin asiatischen Denken absurd und geistig subaltern 
erschienen und wird ihm immer so erscheinen. Damit fiel aber 
der gewaltige Akzent, welchen, wie schon einmal gesagt, die 


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occidentale Jenseitslehre soteriologisch auf die kurze Spanne die- ; 


ses Lebens setzte, hinweg. Die Weltindifferenz war die gegebene | 


Haltung, mochte sie nun die Form der äußerlichen Weltflucht an- 
nehmen oder die des zwar innerweltlichen, aber dabei weltindiffe- 
renten Handelns: einer Bewährung also gegen die Welt und das 
eigene Tun, nicht in und durch beides. Ob das höchste Gött- 
liche persönlich oder, wie naturgenäß in der Regel, unpersönlich 
vorgestellt war, machte — und dies ist für uns nicht ohne Wich- 
tigkeit — einen graduellen, nicht einen prinzipiellen Unterschied 
und selbst die selten, aber doch gelegentlich, vorkommende Ueber- 
weltlichkeit eines persönlichen Gottes war nicht durchschlagend. 
Entscheidend war. die Natur_des erstrebten Heilsguts. Diese aber 
wurde letztlich determiniert dadurch, daß eine dem. Denken über 


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den Sinn der Welt um seiner, ner selbst willen nachgehende Literaten- / 


schicht der Träger_der Soterielogie.-war. 

Dieser Intellektuellensoteriologie nun fanden sich die prak- 
tisch im Leben handelnden Schichten Asiens gegenübergestellt. 
Eine innere Verbindung der Leistung in der Welt mit der außer- 
weltlichen Soteriologie war nicht möglich. Die einzige innerlich 
ganz konsequente Form war die Kastensoteriologie des vedanti- 
stischen Brahmanentums in Indien. Seine Berufskonzeption mußte 
politisch, sozial und ökonomisch extrem traditionalistisch wirken. 
Aber sie ist die einzige logisch ganz geschlossene Form der sorga- 
nischen« Heils- und Gesellschaftslehre, welche je entstanden ist. 

Die vornehmen Laie Laienschichten haben die ihrer inneren a 
Soweit sie selbst ständisch vornehme Schichten ` waren, ‚gab. es 
mehrere Möglichkeiten. Entweder sie waren eine literarisch ge- 
bildete weltliche Ritterschaft, welche einer selbständigen lite- 
rarisch geschulten Priesterschaft gegenüberstand, wie die alten 
Kschatriya in Indien und die höfische Ritterschaft Japans. Dann 
haben sie teils sich an der Schaffung der priesterfreien Soteriologien 
beteiligt, wie namentlich in Indien, teils sich zu allem Religiösen 


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804 Max Weber, 


skeptisch gestellt, wie ein Teil der altindischen vornehmen Laien 
und erhebliche Teile der japanischen vornehmen Intelligenz. 
Soweit sie im letzteren Fall Anlaß hatten, trotz ihrer Skepsis 
sich mit den religiösen Gebräuchen abzufinden, haben sie sie 
regelmäßig rein rituell und formalistisch behandelt. So geschah 
es mit Teilen der altjapanischen und der altindischen vornehmen 
Bildungsschicht. Oder sie waren Beamte und Offiziere, wie in 
Indien. Dann trat lediglich diese letztgenannte Haltung ein. 
Ihre eigene Lebensführung wurde in all diesen bisher besprochenen 
Fällen von der Priesterschaft, wenn diese dazu die Macht hatte — 
was in Indien der Fall war —, rituell ihren Eigengesetzlichkeiten 
entsprechend geordnet. ‘In Japan war die Priesterschaft nach 
ihrer Niederwerfung durch die Shogune nicht mehr mächtig 
genug, um die Lebensführung der Ritterschicht mehr als rein 
äußerlich zu reglementieren. Oder, im Gegensatz zu dem bisher be- 
sprochenen Fall: es waren die vornehmen Laien nicht nur weltliche 
Beamte, Amtspfründner und -Anwärter 'in einer Patrimo- 
nialbürokratie, sondern zugleich Träger des Staatskultes ohne 
Konkurrenz einer machtvollen Priesterschaft. Dann haben 
sie eine eigene streng zeremoniöse, rein innerweltlich orientierte 
Lebensführung entwickelt und auch das Ritual als ständisches 
Zeremoniell behandelt, wie dies der Konfuzianismus in China für 
dessen (relativ) demokratisch rekrutierte Literatenschicht tat. In 
Japan fehlte der von der Macht der Priester relativ freien vor- 
nehmen weltlichen Bildungsschicht, trotz der auch dort den 
politischen Herren als solchen obliegenden rituellen Pflichten, 
der chinesische patrimonialistische Beamten- und Amtsan- 
wärter-Charakter: sie waren ritterliche Adlige und Höflinge. 
Infolgedessen fehlte ihnen das pennalistische und Scholaren- 
Element des Konfuzianismus. Sie waren eine zur Rezeption 
und zum Synkretismus von allerhand Bildungselementen von 
überall her besonders stark disponierten Schicht von »Gebild- 
deten« schlechthin, ım innersten Kern aber fest am feudalen 
Ehrbegriff verankert. | 

Die Lage des aliterarischen »Mittelstaudes in Asien, der 
Kaufleute und der zu den Mittelstandsschichten gehörigen Teile 
des Handwerks, war infolge der Eigenart der asiatischen Soterio- 
logie eine eigentümlich von occidentalen Verhältnissen abwei- 
chende. Ihre obersten Schichten haben die rationale Durchbil- 
dung der Intellektuellen-Soteriologien teilweise mitgetragen, 


Pr 


Die Wirtschaftsethik der Welıreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 805 


namentlich soweit diese negativ die Ablehnung des Ritualismus 
und Buchwissens, positiv die alleinige Bedeutung des persönlichen 
Erlösungsstrebens propagierten. Allein der doch schließlich 
gnostische und mystische Charakter dieser Soteriologien bot keine 
Grundlage für eine Entwicklung der ihnen adäquaten methodisch 
rationalen innerweltlichen Lebensführung dar. Sie sind daher, 
soweit ihre Religiosität unter dem Einfluß der Erlösungs- 
lehren sublimiert wurde, Träger der Heilandsreligiosität in ihren 
verschiedenen Formen geworden. Auch hier wirkte aber der pene- 
trant gnostische und mystische Charakter aller asiatischen Intel- 
lektuellensoteriologie und die innere Verwandtschaft von Gott- 
innigkeit, Gottesbesitz und Gottesbesessenheit, von Mystiker und 
Magier entscheidend ein. Ueberall in Asien, wo sie nicht, wie 
in China und Japan, gewaltsam niedergehalten wurde, nahm 
die Heilandsreligiosität die Form der Hagiolatrie an und zwar der 
Hagiolatrie lebender Heilande: der Gurus und der 
ihnen gleichartigen, sei es mehr mystagogischen, sei es mehr 
magischen Gnadenspender. Dies gab der Religiosität des alite- 


rarischen Mittelstandes das entscheidende Gepräge. Die oft abso: 


lut schrankenlose Gewalt dieser, meist erblichen, Charismaträger 
ist nur in China und Japan, aus politischen Gründen und 
mit Gewalt, ziemlich weitgehend gebrochen worden, in China 
zugunsten der Obödienz gegenüber der politischen Literaten- 


schicht, in Japan zugunsten einer Schwächung des Prestiges 
aller klerikalen und magischen Mächte überhaupt. Sonst ist es_. 


in Asien überall jene charismatische Schicht gewesen, welche 
die praktische Lebensführung der Massen bestimmte und ihnen 
magisches Heil spendete: die Hingabe an den »lebenden Hei- 
land« war der charakteristische Typus der asiatischen Frömmig- 


keit. Neben der Ungebrochenheit der Magie überhaupt und der ` 
Gewalt der Sippe war diese Ungebrochenheit des Charisma in seiner ; 
ältesten Auffassung: als einer rein magischen Gewalt, der typi- ; 
sche Zug der asiatischen sozialen Ordnung. Es ist den vornehmen ' 
politischen oder hierokratischen Literatenschichten zwar im 


allgemeinen gelungen, die massive Orgiastik zur Heilandsminne, 
Andacht oder zur hagiolatrischen Formalistik und Ritualistik 
zu sublimieren oder zu denaturieren, — übrigens mit verschieden 
vollständigem Erfolg, am meisten in China, Japan, Tibet, dem 
buddhistischen Hinterindien, am wenigsten in “Vorderindien. 
Aber die Herrschaft der Magie zu brechen hat sie nur gelegent- 


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806 Max Weber, 


lich und nur mit kurzfristigem Erfolg überhaupt beabsichtigt 
und versucht. Nicht das »Wunder«, sondern der »Zaubgys blieb 
daher die Kernsubstanz der Massenreligiosität, vor allem der 
Bauern und der Arbeiterschaft, aber auch des Mittelstands. Bei- 
des — Wunder und Zauber — ist dem Sinn nach zweierlei. Man 
kann sich davon leicht beim Vergleich etwa occidentaler und 
asiatischer Legenden überzeugen. Beide können einander sehr 
ähnlich sehen und namentlich die altbuddhistischen und die chi- 
nesisch überarbeiteten Legenden stehen den occidentalen zu- 
weilen auch innerlich nahe. Aber der beiderseitige Durchschnitt 
zeigt den Gegensatz. Das» Wunder wird seinem Sinn,nach stets 
als Akt einer irgendwie rationalen. Weltlenkung, einer göttlichen 
Gnadenspendung, angesehen werden und pflegt daher innerlich 
motivierter zu sein als der »Zauber«, der seinem Sinn nach da- 
durch entsteht, daß die ganze Welt von magischen _Potenzen 
irrationaler Wirkungsart erfüllt ist und daß diese in charismatisch 
qualifizierten, aber nach ihrer eigenen freien Willkür ‚handelnden 
Wesen, Menschen oder Uebermenschen, durch ‚asketische oder 
kontemplative Leistungen aufgespeichert sind. Das Rosenwunder 
der heiligen Elisabeth erscheint uns sinnvoll. Die Universalität 
des Zaubers dagegen durchbricht jeden Sinnzusammenhang 
der Geschehnisse. Man kann gerade in den typischen durchschnitt- 
lichen asiatischen Legenden etwa der Mahayanisten diesen inner- 
weltlichen Deus ex machina in der scheinbar unverständlichsten 
Art mit dem ganz entgegengesetzten, ebenso tief unkünstlerischen, 
weil rationalistischen Bedürfnis, irgendwelche ganz gleichgültigen 
Einzelheiten des legendenhaften Geschehnisses möglichst nüch- 
tern historisch zu motivieren, ineinandergreifen sehen. So ist 
denn der alte Schatz der indischen Märchen, Fabeln und Legenden, 
die geschichtliche Quelle der Fabelliteratur der ganzen Welt, 
durch diese Religiosität der zaubernden Heilande später in 
eine Art von Kunstliteratur absolut unkünstlerischen Charak- 
ters umgestaltet worden, deren Bedeutung für ihr Lesepublikum 
etwa der Emotion durch die populären Ritterromane, gegen welche 


. Cervantes zu Felde zog, entspricht. 


Dieser höchst antirationalen Welt des universellen Zaubers 
gehörte nun auch der ökonomische Alltag an, und aus ihr 


, führte daher kein Weg zu einer rationalen innerweltlichen Lebens- 
` führung. Zauber nicht nur als therapeutisches Mittel, als Mittel, 


Geburten und insbesondere männliche Geburten zu erzielen, 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 807 


das Bestehen von Examina oder die Erringung aller nur denk- 
baren innerirdischen Güter zu sichern, Zauber gegen den Feind, 
den erotischen oder ökonomischen Konkurrenten, Zauber für 
den Redner zum Gewinn des Prozesses, Geisterzauber des Gläu- 


bigers zur Zwangsvollstreckung gegen den Schuldner, Zauber - 


zur Einwirkung auf den Reichtumsgott für das Gelingen von 


- Unternehmungen, — all das entweder in der ganz groben Form 


der Zwangsmagie oder in der verfeinerten der Gewinnung eines 
Funktionsgottes oder Dämons durch Geschenke, — mit solchen 


Mitteln bewältigte die breite Masse der aliterarischen und selbst. 
der literarischen Asiaten ihren Alltag. Eine rationale praktische 


Ethik und Lebensmethodik, welche aus diesem Zaubergarten 
allen Lebens innerhalb der» Weltsherausgeführt hätte, gabesnicht. 
Gewiß gab es den Gegensatz des Göttlichen und .der.»Welte, 
welcher im Abendlande geschichtlich die Konstituierung der- 
jenigen einheitlichen Systematisierung der Lebensführung be- 
dingte, die üblicherweise als »ethische Persönlichkeite be- 
zeichnet wird. Allein in Asien war der Gegensatz nirgends 200) 
ein solcher des ethischen Gottes gegen eine Macht der » Sündes, des 
radikal Bösen, welche durch aktives Handeln im Leben zu über- 








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winden wäre. Sondern entweder die ekstatische Gottbesessenheit, ` 
durch orgiastische Mittel zu gewinnen, im Gegensatz zum Alltag, | 
in welchem das Göttliche nicht als lebendige Macht gefühlt wird. | 


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Also: eine Steigerung der Mächte der Irrationalität, welche die 


Rationalisierung der innerweltlichen Lebensführung geradezu 
hemmte. Oder der apathisch - ekstatische Gottbesitz der Gno- 
sis im Gegensatz zum Alltag als der Stätte vergänglichen und 
sinnlosen Treibens. Also: ebenfalls eine außeralltägliche und zwar. 
passive, dabei vom Standpunkt innerweltlicher Ethik aus ir- 
rationale, weil mystische, Zuständlichkeit, die vom rationalen 
Handeln in der Welt abführte. Wo die innerweltliche Ethik »fach- ' 
menschlich» systematisiert war, wie mit großer Konsequenz und 
mit praktisch hinlänglich wirksamen soteriologischen Prämien für 
das entsprechende Verhalten in der hinduistischen innerwelt- 


#0) Nur in diesem Sinn darf man Percival Lo wells (The soul of the Far 
East, Boston and NewYork 1888) geistreich durchgeführte These von der » Unper- 
sönlichkeit« als dem Grundzug des Ostasiaten verstehen wollen. — Was übrigens 
sein Dogma von der »Monotonie« des asiatischen Lebens anlangt, so muß sie, zu- 
mal von einem Amerikaner ausgesprochen, sicher das begründete Erstaunen 
aller Ostasiaten hervorrufen. Ueber das eigentliche Kernland der »Monotonie« 
wird ein Bürger der Vereinigten Staaten wohl James Bryce als klassischen Zeugen 
gelten lassen müssen. 


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808 Max Weber, 


lichen Kastenethik, — da war sie zugleich traditionalistisch 
und ritualistisch absolut stereotypiert. Wo dies nicht der 
Fall war, tauchten zwar Ansätze yorganischer Gesellschaftstheoriene 
auf, aber ohne psychologisch wirksame Prämien für das entspre- 
chende praktische Handeln; und eine konsequente und psycho- 
: logisch wirksame Systematisierung fehlte. Der Laie, dem die Gno- 
. sis und also das höchste Heil versagt ist oder der sie für sich ab- 
‘ lehnt, handelt ritualistisch und traditionalistisch und geht so 
seinen Alltagsinteressen nach. Die schrankenlose Erwerbsgier 
des Asiaten im Großen und im Kleinen ist in aller Welt als uner- 
reicht berüchtigt und im allgemeinen wohl mit Recht. Aber sie 
ist eben »Erwerbstriebs«, dem mit allen Mitteln der List und unter 
- Zuhilfenahme des Universalmittels: Magie nachgegangen wird. 
I Es fehlte gerade das für die Oekonomik des Occidents Entschei- 
: dende: die Brechung und rationale Versachlichung dieses Trieb- 
“ charakters des Erwerbsstrebens und seine Eingliederung in ein 
. System rationaler innerweltlicher Ethik des Handelns, wie es 
! die »innerweltliche Askese« des Protestantismus im Abendland, 
! wenige innerlich verwandte Vorläufer fortsetzend, vollbracht hat. 
| Dafür fehlten in der asiatischen religiösen Entwicklung die Vor- 
' aussetzungen. Wie sollte sie auf dem Boden einer Religiosität 
entstehen, die auch dem Laien das Leben als Bhagat, als heiliger 
. Asket, nicht nur als Altersziel, sondern sogar die zeitweise Exi- 
` stenz als Wanderbettler während arbeitloser Zeiten seines Lebens 
_ überhaupt — und nicht ohne Erfolg 2%) — als religiös verdienst- 
lich anempfahl? — 
Im Occident ist das Entstehen der rationalen innerweltlichen 
Ethik an das Auftreten von Denkern und Propheten geknüpft, 
die, wie wir sehen werden, auf dem Boden politischer 
Probleme eines sozialen Gebildes erwuchsen, welches der asiati- 
schen Kultur fremd war: des politischen Bürgerstandes_der_ 
Stadt, ohne die weder das Judentum noch das Christentum 
noch die Entwicklung des hellenischen Denkens vorstellbar sind. 
Die Entstehung der »Stadt« in diesem Sinn aber war in Asien 
teils durch die erhaltene Ungebrochenheit der Sippenmacht, 
teils durch die Kastenfremdheit gehemmt. 
Die Interessen des asiatischen Intellektuellentums, soweit 
sie über den Alltag hinausgingen, lagen meist in anderer als in 








201) In Indien kam namentlich im April das zeitweise Leben vom Wander- 
bettel bei Mitgliedern der unteren Kasten als rituelle Leistung vor. 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 809 


politischer Richtung. Selbst der politische Intellektuelle: der 
Konfuzianer, war mehr ästhetisch kultivierter Schriftgelehrter 
und allenfalls Konversations- (also in diesem Sinn: Salon-) Mensch 
als Politiker. Politik und Verwaltung war nur seine Pfründner- 
nahrung, die er im übrigen praktisch durch subalterne Helfer 


besorgen ließ. Der orthodoxe oder heterodoxe, hinduistische . 


und buddhistische Gebildete dagegen fand seine wahre Interessen- 
sphäre ganz außerhalb der Dinge dieser Welt: in der Suche nach 
dem mystischen, zeitlosen Heil der Seele und dem Entrinnen 
aus dem sinnlosen Mechanismus des » Rades« des Daseins. Um 
darin ungestört zu sein, mied der hinduistische, um die Feinheit 
der ästhetischen Geste sich nicht vergröbern zu lassen, mied 
der-konfuzianische Gentleman die nähere Gemeinschaft mit dem 


westländischen Barbaren. Es schied ihn von diesem die nach 


seinem Eindruck strotzende, aber ungebändigte und unsubli- 
mierte Ungehemmtheit der Leidenschaften und der Mangel an 
Scheu, mit welchem ihm gestattet wurde, sich in Lebensführung, 
Geste, Ausdruck zu entblößen: die in diesem Sinne fehlende Herr- 


schaft über sich selbst. Nur hatte die spezifisch asiatische „Be-_ 


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herrschung« seiner selbst wiederum ihr eigentümliche Züge, welche 
vom Occidentalen im ganzen als rein »negative gewertet werden 


mußten. Derm auf. welchen Mittelpunkt war jene stets wache 
Selbstbeherrschung, welche alle asiatischen Lebensmethodiken 


ohne alle Ausnahme dem Intellektuellen, Gebildeten, Heilssucher 
vorschrieben, letztlich gerichtet? Was war der letzte Inhalt jener 
konzentriert angespannten »Meditation« oder jenes lebenslangen 
literarischen Studiums, welche sie, wenigstens wo sie den Charak- 
‚ter des Vollendungs-Strebens annahmen, als höchstes Gut gegen 
jene Störungen von außen ‚gewahrt wissen wollten? Das taoisti- 
ungen und Weltsorgen, und die konfuzianische » Distanz 
von den Geistern und der Befassung mit fruchtlosen Problemen 
lagen darin auf der gleichen Linie. Das occidentale I: Ideal der ak- 
tiv handelnden, dabei aber auf ein sei es jenseitig religiöses, sei 
es innerweltliches Zentrum bezogenen »Persönlichkeit« würden 
alle asiatischen höchstentwickelten Intellektuellensoteriologien 
entweder als in sich letztlich widerspruchsvoll oder als banausisch 
fachmäßig vereinseitigt, oder als barbarische Lebensgier ablehnen. 
Wo es nicht die Schönheit der traditionellen und durch das Raf- 
finement des Salons sublimierten Geste rein als solche ist, wie 


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2e a e 


8ıo Max Weber, 


im Konfuzianismus, da ist es das hinterweltliche Reich der Er- 
lösung vom Vergänglichen, wohin alle höchsten Interessen weisen 
und von wo aus die » Persönlichkeit« ihre Würde empfängt. In den 
höchsten, nicht nur den orthodox buddhistischen, Konzeptionen 
heißt dies »Nirwanas. Zwar nicht sprachlich, wohl aber sach- 
lich, wäre es ganz unbedenklich, dies, wie es populär oft geschah, mit 
»Nichts« zu übersetzten. Denn unter dem Aspekt der »Welt« und 
von ihr aus gesehen, wollte es ja in der Tat nichts anderes sein. 
Freilich: vom Standpunkt der Heilslehre aus ist der Heilszustand 
meist anders und sehr positiv zu prädizieren. Aber es darf schließ- 
lich doch nicht vergessen werden: daß das Streben des typisch 
asiatischen Heiligen auf »Entleerunge ging und daß jener posi- 
tive Heilszustand der unaussagbaren todentronnenen diessei- 
tigen Seligkeit als positives Komplement des Gelingens zunächst 
nur erwartet wurde. Aber nicht immer auch erreicht. ImGegen- 
teil: ihn wirklich, als Besitz des Göttlichen, haben zu können, 
war das hohe Charisma der Begnadeten. Wie stand es aber mit 
dem großen Haufen, der ihn nicht erreichte ? Nun, bei ihnen war 
eben in einem eigentümlichen Sinn »das Ziel Nichts, die Bewegung 
Allese: — eine Bewegung in der Richtung der »Entleerung«. 
Der Asiate, gerade der ganz- oder halbintellektuelle Asiate 
macht dem Occidentalen leicht den Eindruck des rRätselhaften« 
und »Geheimnisvollene.. Man sucht dem vermuteten Geheimnis 
' durch »Psychologies beizukommen. Ohne nun natürlich irgendwie 
zu leugnen, daß psychische und physische Unterschiede der 
Disposition bestehen 2%): — übrigens sicher nicht größere, wie 
zwischen Hindus und Mongolen, die dennoch beide der glei- 
chen Soteriologie zugänglich gewesen sind, — muß doch betont 


werden, daß dies nicht der primäre Weg zum Verständnis ist. 


Durch Erziehung eingeprägte und durch die objektive Lage auf- 


gezwungene Interessenrichtungen, nicht »Gefühlsgehalte«, sind 


das zunächst Greifbare. Das für den Occidentalen vornehmlich 
Irrationale am Verhalten des Asiaten war und ist durch zeremo- 
nielle und rituelle Gepflogenheiten bedingt, deren »Sinn« er nicht 
versteht, — wie übrigens, bei uns ebenso wie in Asien, der ur- 


293) Namentlich würde für unsere Zusammenhänge rassenneurologisch die 
vermutlich sehr starke Hysterisierbarkeit und Authypnotisierbarkeit der Inder 
in Betracht kommen. Fraglich bliebe: wie weit ein etwa feststellbarer Unter- 
schied der Disposition durch die im Keim wohl bei fast allen »Naturvölkeri« 
zu findende, hier aber zur Kunst entwickelten Technik neuropathischer Ekstasen 
erst erworben ist. 


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Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus. 811 


sprüngliche Sinn solcher Sitten dem, der in ihnen aufgewachsen 
ist, selbst oft nicht mehr klar zu sein pflegt. Darüber hinaus pflegt 
die reservierte würdevolle Contenance und das höchst bedeutsam 
erscheinende Schweigen des asiatischen Intellektuellen die oc- 
cidentale Neugier zu foltern. Bezüglich dessen aber, was letztlich 
hinter diesem Schweigen an Inhalten steht, wird es vielleicht 
oft gut sein, sich eines naheliegenden Vorurteils zu entschlagen. 
Wir stehen vor dem Kosmos der Natur und meinen: sie müsse 
doch, sei es dem sie analysierenden Denker, sei es dem auf ihr 
Gesamtbild schauenden und von ihrer Schönheit ergriffenen 
Betrachter, irgend ein »letztes Wort« über ihren »Sinn« zu sagen 
haben. Das Fatale ist — wie schon W. Dilthey gelegentlich be- 
merkt hat —, daß eben die »Natur«ein solches »letztes Wort« ent- 
weder nicht zu verraten hat oder dazu sich nicht in der Lage sieht. 
Aehnlich steht esrecht oft mit demGlauben, daß, wer geschmackvoll 
schweigt, wohl viel zu verschweigen haben müsse. Das ist aber 
nicht der Fall, beim Asiaten so wenig wie sonst, so gewiß es wahr 
ist, daß die soteriologischen Produkte der asiatischen Literatur 
die meisten auf diesem eigenartigen Gebiet auftauchenden Pro- 
bleme weit rücksichtsloser durchgearbeitet haben, als dies der 
Occident getan hat. — 

Das Ausbleiben des ökonomischen Rationalismus und der 
rationalen Lebensmethodik überhaupt in Asien ist, soweit dabei 
andere als geistesgeschichtliche Ursachen mitspielen, vorwiegend 
bedingt durch den kontinentalen Charakter der sozialen 
Gebilde, wie ihn die geographische Struktur hervorbrachte. Die 
occidentalen_Kulturherde haben sich durchweg an Stätten des 
Außen- oder Durchgangshandels gebildet: Babylon, das Nil- 
delta, die äntike Polis und selbst die israelitische Eidgenossen- 
schaft an den Karawanenstraßen Syriens. Anders in Asien. 

Die asiatischen Völker haben sich überwiegend auf den Stand- 
punkt des Ausschlusses oder der äußersten Beschränkung des 
Fremdhandels gestellt. So, bis zur gewaltsamen Oeffnung, China, 
Japan, Korea, noch jetzt Tibet, in wesentlich minderem, aber 
doch fühlbarem Maße auch die meisten indischen Gebiete. Be- 
dingt war die Einschränkung des Fremdhandels in China und 
Korea durch den Prozeß der Verpfründung, welche automatisch 
zur traditionalistischen Stabilität der Wirtschaft führte. Jede 
Verschiebung konnte Einnahme-Interessen eines Mandarinen 
gefährden. In Japan wirkte das Interesse des Feudalismus an 


Va. 9. Zend ee 7 22 RS Et van sen tnn en tu Or BILD T A ee en As yes 


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812 Max Weber, 


Stabilisierung der Wirtschaft ähnlich. Ferner — und dies galt 
ebenso für Tibet — wirkten dahin rituelle Gründe: das Betreten 
heiliger Stätten durch Fremde beunruhigte die Geister und 
konnte magische Uebel zur Folge haben: die Reiseschilderungen 
lassen (namentlich für Korea) erkennen, wie die Bevölkerung 
beim Erscheinen von Europäern an den heiligen Stätten von 
wahnsinniger Angst vor dessen Folgen ergriffen zu werden pflegte. 
In Indien — dem Gebiet geringster Abgeschlossenheit— haben doch 
die zunehmend wirksame rituelle Verdächtigkeit des Reisens, 
zumal im rituell unreinen Barbarengebiete, gegen den Aktivhandel, 
politische Bedenken für möglichste Einschränkung der Fremden- 
zulassung gewirkt. Politische Bedenken waren in allen übrigen, 
besonders aber den ostasiatischen Gebieten, auch der letzte 
entscheidende Grund, weshalb die politischen Gewalten der 
rituellen Fremdenfurcht freie Bahn ließen. Hat nun diese strenge 
Klausur der einheimischen Kultur so etwas wie ein _»National- 
gefühl« entstehen lassen? Die Frage muß verneint werden. 
Die Eigenart der asiatischen Intellektuellenschichten hat im 
wesentlichen verhindert, daß »nationale« politische Gebilde 
auch nur von der Art entstanden, wie sie immerhin schon seit 
der Spätzeit des Mittelalters im Occident sich entwickelten, — wenn 
auch die volle Konzeption der Idee der Nation auch bei uns erst 
von den modernen occidentalen Intellektuellenschichten ent- 
faltet worden ist. Den asiatischen Kulturgebieten fehlte (im 
wesentlichen) die Sprachgemeinschaft. Die Kultursprache war 
eine Sakralspraäche oder eine Sprache der Literaten: Sanskrit 
im Gebiet des vornehmen Indertums, die chinesische Manda- 
rinensprache in China, Korea, Japan. Teils entsprechen diese 
Sprachen in ihrer Stellung dem Lateinischen des Mittelalters, 
teils dem Hellenischen der orientalischen Spätantike oder dem 
Arabischen der islamischen Welt, teils dem Kirchenslavischen 
und Hebräischen in den betreffenden Kulturgebieten. Im ma- 
hayanistischen Kulturgebiet ist es dabei geblieben. Im Gebiet 
des Hinayanismus (Birma, Ceylon, Siam), welcher grundsätz- 
lich das Volksidiom als Missionssprache kannte, war die Guru- 
Theokratie eine so absolute, daß von irgendwelchen weltlich- 
politischen Gemeinschaftsbildungen der Intellektuellenschicht, 


die hier aus Mönchen gebildet wurde, keine Rede war. Nur in 
Japan hatte die feudale Entwicklung Ansätze eines wirklich 


»nationalen« Gemeinschaftsbewußtseins mit sich gebracht, wenn 


TV oem. u SE ir. 


Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus, 813 


auch vornehmlich auf ständisch-ritterlicher Grundlage. In China 
aber war die Kluft, welche die konfuzianische ästhetische Schrift- 
kultur von allem Volkstümlichen trennte, so ungeheuer, daß hier 
lediglich eine bildungsständische Gemeinschaft der Literaten- 
schicht bestand und das Bewußtsein einer Gemeinsamkeit im übri- 
gen nur soweit reichte, wie ihr unmittelbarer, freilich nicht ge- 
ringer Einfluß: Das Imperium war, sahen wir, im Grunde ge- 
nommen ein Bundesstaat der Provinzen, zu einer Einheit ver- 
schmolzen nur durch den obrigkeitlichen periodischen Aus- 
tausch der ‚überall in ihren Amtsbezirken landfremden hohen 
Mandarinen. Immerhin war in China doch, wie in Japan, eine 
den rein politischen Interessen zugewendete und dabei literarische 
Schicht vorhanden. Eben diese fehlte aber in ganz Asien, wohin 
immer die spezifisch indische Soteriologie ihren Fuß setzte, 
— außer wo sie, wie in Tibet, als Klostergrundherrenschicht über 
der Masse schwebte, eben deshalb aber »nationale« Beziehungen 
zu ihr nicht hatte. Die asiatischen Bildungsschichten blieben mit 
ihren eigensten Interessen ganz »unter sich.«. 

Wo immer eine Intellektuellenschicht den »Sinne der Welt 
und des eigenen Lebens denkend zu ergründen und, — nach dem 
Mißerfolg dieser unmittelbar rationalistischen Bemühung —, 
erlebnismäßig zu erfassen und dies Erleben dann, indirekt ratio- 
nalistisch, ins Bewußtsein zu erheben trachtet, wird sie der 
Weg irgendwie in die stillen hinterweltlichen Gefilde indischer 
unformbarer Mystik führen. Und wo andererseits ein Stand von 
Intellektuellen, unter Verzicht auf jenes weltentfliehende Be- 
mühen, statt dessen bewußt und absichtsvoll in der Anmut und 
Würde der schönen Geste das höchste mögliche Ziel innerwelt- 
licher Vollendung findet, da gelangt sie irgendwie zum konfu- 


use 


zianischen _Vornehmheitsideal. Aus diesen beiden, 'sich kreu- 


zenden und ineinander schiebenden Komponenten ist aber ein | 
wesentlicher Teil aller asiatischen Intellektuellenkultur zusam- ' 


mengesetzt. Der Gedanke, durch schlichtes Handeln gemäß der 
»Forderung des Tages« jene Beziehung zur realen Welt zu ge- 
winnen, welche allem spezifisch occidentalen Sinn von »Persön- 
lichkeit« zugrunde liegt, bleibt ihr ebenso fern wie der rein sach- 
liche Rationalismus des Westens, der die Welt praktisch durch 
Aufdecken ihrer eigenen unpersönlichen Gesetzlichkeiten zu 


meistern trachtet 2%). Durch die strenge zeremoniöse und hiera- 


%2) Nicht daß gewisse (nicht alle) chinesischen Erfindungen im Dienst der 


A ae uk, Ban l a mine Br 2 1 Baal Du Al e nn DL Fee 2 22 gran Man en ae ae. S „a4 I Mn Da Ka a a a VE a a a n S’ o a 


814 Max Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen usw. 


tische Stilisierung ihrer Lebensführung ist sie zwar davor bewahrt, 
nach moderner occidentaler Art den Versuch zu machen, durch 
die Jagd nach dem, was gerade und nur diesem Einzelnen, im 
Gegensatz zu allen anderen, eigentümlich sei, sich selbst am 
Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen und zu einer »Persönlichkeite 
zu machen, — ein Bemühen, ebenso fruchtlos wie der Versuch 
der planvollen Erfindung einer eigenen künstlerischen Form, die 
»Stil« sein will. Aber jene teils rein mystischen teils rein inner- 
weltlich-ästhetischen Ziele ihrer Selbstdisziplin konnten aller- 
dings nicht anders als durch Entleerung von den realen Mächten 
des Lebens verfolgt werden und lagen den Interessen der praktisch 
handelnden »Massen« fern, welche sie daher in der Ungebrochen- 
heit magischer Gebundenheit beließen. Die soziale Welt klaffte 
auseinander in die Schicht der Wissenden und Gebildeten und 
in die der bildungslosen plebejischen Massen. Den Vornehmen 
blieben die sachlichen inneren Ordnungen der realen Welt, der 
Natur wie der Kunst, der Ethik wie der ODekonomik, verborgen, 
weil sie ihnen jeden Interesses bar schienen. Ihre Lebensführung 
orientierte sich, im Streben nach einem Außeralltäglichen, an 
dem Beispiel ihrer durchweg dem Schwerpunkt nach exem- 
plarischen Propheten oder Weisen. Den Plebejern aber 
erschien keine ethische, ihren Alltag rational formende, Sen- 
dungsprophetie. Das Auftreten dieser aber im Occident, 
vor allem in Vorderasien, mit den weittragenden Folgen, die sich 
daran knüpften, war durch höchst eigenartige geschichtliche 
Konstellationen bedingt, ohne welche, trotz allen Unterschieds 
der Naturbedingungen, die Entwicklung dort leicht in Bahnen 
hätte einmünden können, welche denen Asiens, vor allem Indiens, 
ähnlich verlaufen wären. 

Kunst und nicht der Oekonomik verwertet wurden, ist, wie wiederum Percival 
Lowell meint, das Charakteristische. Das Experiment wurde auch bei uns aus der 
Kunst geboren und ihr gehörte, nächst den auch in Asien wichtigen kriegstech- 
nischen und therapeutischen Zwecken, die Mehrzahl der » Erfindungen«e ursprüng- 
lichan. Aber d a B die Kunst »rationalisierte wurde und daß dann das Experiment 
von ihrem Boden aus auf den der Wissenschaft überging, war das für den Occi- 
dent Entscheidende. Nicht die » Unpersönlichkeit«, sondern die — rational ge- 


wertet — » Unsachlichkeite ist das, was im Osten den von uns sogenannten » Fort- 
schritte zum fachmenschlich Rationalen hemmte. 


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815 


Die Zukunft des Tarifvertragsrechts. 


Von 
OTTO von GIERKE. 


I. 


Ungefähr gleichzeitig sind im Verlage von Duncker und Humblot 
zwei neue Schriften über Tarifvertragsrecht erschienen*), die 
in hohem Maße die Aufmerksamkeit aller fordern, denen das Ver- 
ständnis dieser so überaus wichtigen Erscheinung des modernen 
Arbeitsrechtes und ihre Fortbildung zum Heile des sozialen Friedens am 
Herzen liegt. 

Beide Schriften sind von Juristen verfaßt und beschäftigen sich 
mit dem Rechtsgewande der Tarifverträge. Beide aber be- 
schränken sich, wie schon ihre Nebentitel andeuten, keineswegs auf 
die Betrachtung der äußeren Form, in der die Rechtsordnung die aus 
den Tarifgemeinschaften entspringenden Beziehungen ausprägt 
oder künftig ausprägen soll, sondern dringen tief in das innere Wesen 
der neuen Rechtsbildung ein und suchen ihr Verhältnis zum Gesamt 
leben des Rechtes überhaupt, ihre Bedeutung für die sich entfaltende 
Rechtsidee, ihren rechtsphilosophischen Ort zu ergründen. Ihre Aus- 
gangspımkte und ihre Ziele sind durchaus verschieden. Um so bemer- 
kenswerter ist es, daß die Grundauffassungen, von denen sie beherrscht 
werden, in ihrem eigentlichen juristischen Kern übereinstimmen. 

Das Buch von Sinzheimer bildet den Abschluß einer Reihe 
anerkannt vortrefflicher Arbeiten, die der Verfasser den tarifrechtlichen 
Fragen gewidmet hat. Gestützt auf genaue Kenntnis der umfangrei- 
chen Literatur und reiche Erfahrungen in der Praxis der deutschen 
Tarifgemeinschaften faßt er nunmehr seine Ergebnisse unter rechtspoli- 
tischen Gesichtspunkten zusammen und begründet durch sie den sorg- 


*) Hugo Sinzheimer, Ein Ärbeitstarifgesetz. Die Idee 
der sozialen Selbstbestimmung im Recht. München und Leip- 
zig. 1916. X und 270 S. 

Roman Boos, Dr. jur, Der Gesamtarbeitsvertrag nach 
Schweizerischem Recht. (Obl.R.Art. 322 und 323.) Deutsche Geistes- 
formen deutschen Arbeitslebens. München und Leipzig 1916. IX und 329 S. 


Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 3. 53 


816 Otto von Gierke, 


fältig ausgearbeiteten, nicht weniger als 109 Paragraphen umfassenden 
»Entwurf eines Arbeitstarifgesetzes«. Als »Anlagen« läßt er I0 bereits 
anderwärts publizierte teils amtliche teils private Gesetzesvorschläge 
abdrucken, um in dankenswerter Weise deren Vergleichung mit den 
eignen Vorschlägen zu erleichtern. Das ganze Werk ist die reife Frucht 
langjähriger rechtswissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Arbeits- 
recht. 

Dagegen ist das Buch von Boos die rechtswissenschaftliche Erst- 
lingsarbeit eines jungen Schweizers, der bisher nur durch eine aus einem 
Vortrage erwachsene politische Abhandlung über den durch den Welt- 
krieg entfachten inneren Krieg in der Schweiz bekannt geworden ist, 
hier aber bereits ebenso eigenartige wie tief durchdachte Anschauungen 
über das Verhältnis zwischen Staat und Volkstum, — er selbst legt 
ein warmes Bekenntnis zum schweizerischen Staat und zum Deutsch- 
tum zugleich ab, — dargelegt hat. Das Buch ist mit jugendlichem Feuer 
und mit hinreißendem Schwunge geschrieben. Der Verfasser ist ìn 
der Literatur des Tarifvertragsrechts bewandert, verwertet aber als 
Quelle des wirklich lebendigen Rechts vor allem die Tarifverträge 
selbst und sucht aus ihnen das in den beteiligten Volksschichten wal- 
tende Rechtsbewußtsein zu ermitteln. Dabei beschränkt er sich in der 
Hauptsache auf die in der Schweiz geschlossenen Tarifverträge, 
zieht aber diese in großer Vollständigkeit und übersichtlicher Grup- 
pierung heran. Grurdlegend für seine Betrachtungsweise sind eng mit- 
einander verbundene rechtshistorische und rechtsphilosophische Er- 
örterungen. In geschichtlicher Hinsicht knüpft er an das germanische 
Recht an, schildert dessen Gegensatz zum römischen Recht und wür- 
digt zwar die Umbildung des älteren deutschen Rechts durch die ro- 
manistische Theorie, erblickt jedoch die Triebkraft der heutigen Rechts- 
bewegung in der germanistischen Wiedergeburt der deutschen »Geistes- 
formene. Sein philosophischer Standpunkt ist der des deutschen 
transzendenten Idealismus; am engsten schließt er sich an Fichte 
an. Nachdrücklich bekämpft er die Vorstellung, daß der Zweck 
der Gestaltgeber des Rechtes sei. Die wahrhaft schöpferische Funk- 
tion weist er den ȆUrbilderne, den Ideen zu, deren Verwirklichung 
die Entwicklung zustrebt (vgl. bes. S. 8, 155 ff. 161, 313). Sehr eigen- 
artig ist der vom Verfasser schon im Vorwort betonte und das ganze 
Buch durchziehende Gedanke »der innigen Verwandtschaft von Recht 
und Kunste. Er will damit nicht nur auf den gemeinsamen Zug zur 
bildhaften Verkörperung hinweisen, sondern auch aus übereinstim- 
menden Merkmalen der Rechts- und Kunstgebilde einer Epoche 
Besonderheiten des schaffenden Volksgeistes erschließen (vgl. bes. 
S. IV, 140, 146 ff., 210 ff.). So behandelt er den Unterschied des 
romanischen Rundbogens mit seinen selbständig aufsteigenden und 
nur durch äußerliche Ueberwölbung verbundene Säulen und des gothi- 
schen Spitzbogens mit seinen der Vereinigung zustrebenden Pfeilern 
als ein Sinnbild des römischen Vereinzelungsrechts und des germani- 
schen Gemeinschaftsrechts und verwertet dieses Bild, auf das er mehr- 
fach zurückkommt, auch zu praktischen Folgerungen. Ueberall be- 


Die Zukunft des Tarifvertragsrechts. 817 


kundet Boos eine sprudelnde Fülle eigener Gedanken, eine seltene 
ge stige Originalität, ein Streben nach Erschürfung vertiefter Ein- 
sichten in das Wesen und Werden der Rechtswelt. Wer seiner Gesamt- 
auffassung sympathisch gegenübersteht, wird unter dem erfrischen- 
den Eindruck der Lektüre seines Buches helle Freude über die viel 
versprechende erste Leistung eines jungen Juristen empfinden, der 
in kühnem Wagemut neue Bahnen einschlägt. Das schließt nicht, aus, 
daß dem älteren Forscher manches als überkühn, anderes als nicht 
voll ausgereift, das ganze als ein noch klärungsbedürftiges Erzeugnis 
überschäumender Jugendkraft erscheinen wird. Sicherlich werden 
zahlreiche Leser sich den Grundgedanken des Verfassers gegenüber 
skeptischer verhalten. Hier spricht eben die Weltanschauung mit. 
Allein auch sie werden an dem Buche nicht vorübergehen dürfen. 
Denn mit Entschiedenheit muß hervorgehoben werden, daß die Grund- 
auffassung des Verfassers seinen Blick für die konkreten Einzelerschei- 
nungen des Rechtslebens nicht trübt. Vielmehr verbindet er mit 
seinem hochfliegenden Idealismus einen starken Wirklichkeitssinn. 
Er beobachtet nüchtern und scharf die wirklichen Vorgänge in der 
modernen Tarifbewegung, geht auf alle ihre Stufen und Nuancen in 
ausführlicher Darstellung ein und unterwirft die größten wie die klein- 
sten Fragen, die in dem verwickelten Getriebe Beantwortung heischen, 
besonnener Erwägung. 

Beide so ungleichartige Schriften nun aber stimmen in einem ne- 
gativen und in einem positiven Urteil überein. 

In negativer Hinsicht sind sie darüber einig, daß das gel- 
tende deiutsche Recht und gleich ihm das bis zum neuen Obligationen- 
recht geltende schweizerische Recht eine wahrhaft befriedigende 
juristische Konstruktion der Tarifverträge unmöglich macht. Wir 
sehen hier ab von den in beiden Schriften bekämpften äußeren Hinder- 
nissen, die manche Sätze des positiven Rechtes der freien Entfaltung 
von Tarifgemeinschaften bereiten. Dahin gehören die Einschränkun- 
gen der Koalitionsfreiheit, deren Beseitigung in meines Erachtens zu 
radikaler Weise verlangt wird; die Unverbindlichkeit und Klaglosig- 
keit der auf Erlangung günstiger Lohn- oder Arbeitsbedingungen ge- 
richteteten Vereinbarungen nach der deutsch. Gew.O. $ 152; die in 
Deutschland noch immer nicht überwundene Ablehnung der Aner- 
kennung der Gewerkschaften als rechtsfähiger Vereine. Was unabhängig 
hiervon an dieser Stelle in Frage steht, das ist die Unterwerfung der 
Tarifverträge unter die für Schuldverträge geltende Regeln. 
Die deutsche Rechtswissenschaft hat unendliche Mühe darauf verwandt, 
mit Hilfe der allgemeinen Grundsätze des Obligationenrechts diesem 
eigenartigen Vertragstypus ein passendes Gewand zuzuschneiden. 
Allein, welche verschlungenenWege mußte sie wandeln und mit welchen 
künstlichen Mitteln mußte sie arbeiten, um durch den Wirrwarr un- 
zähliger Streitfragen hindurch ein einigermaßen brauchbares Ergebnis 
zu erzielen! Man denke nur an die Schwierigkeiten, die aus der Unge- 
wiBheit entstehen, ob als Kontrahenten die Verbände oder die Ein- 
zelnen aufzufassen sind. Wenn gegenüber der »Vertretungstheorie«, 

OO 


818 Otto von Gierke, 


die in kontrahierenden Verbänden von Arbeitgebern oder Arbeitern 
immer nur Vertreter der einzelnen Mitglieder erblickt, die »Verbands- 
theorie« gesiegt hat, derzufolge jedenfalls die Verbände als solche Ver- 
tragsteile sind, so bleibt es doch stets möglich, daß mit den Verbänden 
gleichzeitig die Mitglieder als Einzelne sich der Gegenseite gegenüber 
verpflichten. Dazu aber bedarf es dann der Erteilung einer Voll- 
macht, die wieder, wenn sie nicht ausdrücklich geschehen ist, aus still- 
schweigenden Willenserklärungen herausdestilliert werden kann. Un- 
entbehrlich ist der Nachweis einer Vollmacht, wenn außerdem Nicht- 
mitglieder verpflichtet werden sollen. Sind Personen, die nicht mit- 
kontrahiert haben, niemals aus dem Tarifvertrage verpflichtet, so kön- 
nen ihnen doch nach den meines Erachtens mit Recht angewandten 
Vorschriften über Verträge zugunsten Dritter Rechte aus dem 
Tarifvertrage zuwachsen. Weitere Verwicklungen entspringen aus 
der Diskrepanz zwischen der etwaigen Vertragspflicht mitkontrahieren- 
der Verbandsmitglieder und der davon durchaus unabhängigen Ver- 
pflichtung zu tarifmäßigem Verhalten, die ihnen das Satzungsrecht 
ihres Verbandes dem Verbande gegenüber auferlegt. Insbesondere 
werden von der Mitgliedschaftspflicht neu eintretende Mitglieder ohne 
weiteres ergriffen, während sie eine Vertragspflicht gegenüber der 
Gegenpartei besonders übernehmen müssen, gehörig ausgeschiedene 
Mitglieder aber alsbald entbunden, während ihr Vertragsverhältnis 
unberührt bleibt. Schwierigkeiten bereitet endlich die inhaltliche 
Bestimmung der den Verbänden wie den Einzelnen obliegenden schuld- 
rechtlichen Pflichten. Mehr und mehr ist man einig geworden, daß 
die Verbände nicht nur zur Unterlassung jeder ein tarifwidriges 
Verhalten ihrer Mitglieder veranlassenden oder begünstigenden Hand- 
Jung, sondern auch positiv verpflichtet sind, mit ihren Machtmitteln 
auf Beobachtung der Tarifvorschriften bei dem Abschluß von Dienst- 
verträgen hinzuwirken; daß die Verpflichtung der Einzelnen 
aber immer nur darin bestehen kann, einen Dienstvertrag, falls sie 
ihn schließen oder erneuern, den tarifvertraglichen Bedingungen ge- 
mäß zu gestalten oder umzugestalten. Da ein unmittelbarer Zwang 
zur Erfüllung solcher Verpflichtungen selten durchführbar ist, sucht 
man ihre Erfüllung durch Ausbau der vom BGB. gewährten Scha- 
densersatzansprüche wegen Nichterfüllung zu sichern. Dagegen 
kann keine Konstruktion, die nicht die Prinzipien des Obligationen- 
rechts vergewaltigt, darüber hinweghelfen, daß das im Tarifvertrage 
Vereinbarte immer erst durch Aufnahme in den einzelnen Dienstver- 
trag, somit auf dem Umwege über individuelle Willenserklärungen 
des Arbeitgebers und des Arbeiters zum Inhalte des Dienstverhältnisses 
werden kann. Damit ist vereinbar, daß, wie die mehr und mehr 
durchgedrungene Meinung annimmt, im Zweifel bei jedem in den Be- 
reich des Tarifvertrages fallenden Vertragsschluß der für ihn durch den 
Tarifvertrag vorgeschriebene Inhalt als gewollt zu gelten hat. Dagegen 
ist es unmöglich, aus dem Obligationenrecht die Folgerung herzuleiten, 
daß abweichende Vereinbarungen in Dienstverträgen nichtig oder gar 
ohne weiteres durch die Bestimmungen des Tarifvertrages zu ersetzen 





b —— 


Die Zukunft des Tarifvertragsrechts. 819 


‘sind. Alle Versuche, die sogenannte »Unabdingbarkeit« der Tarif- 
verträge aus dem Recht der Schuldverhältnisse zu begründen, sind 
gescheitert, wie dies auch Sinzheimer, der früher anderer 
Ansicht war, längst erkannt hat (vgl. jetzt S. 105 ff.) und Boos über- 
zeugend nachweist (S. 98 ff.). Und doch drängt das innere Wesen der 
Tarifvertragsbewegung unwiderstehlich dem Ziele der Unabdingbar- 
keit zu. Im übrigen hat die Rechtswissenschaft es verstanden, mit 
den Mitteln des gemeinen Obligationenrechts ein Tarifvertragsrecht 
aufzubauen, mit dem sich allenfalls leben läßt. Es verhält sich ähn- 
lich, wie bei den nicht rechtsfähigen Vereinen, denen ein zwar unvoll- 
kommenes, aber immerhin erträgliches rechtliches Dasein zu schaffen 
der juristischen Kunst gleichfalls gelungen ist, obwohl sie durch das 
positive deutsche Recht an der ihrem wirklichen Wesen entsprechenden 
Behandlung gehindert und zu allerlei Hilfskonstruktionen gezwungen 
war. Die Juristen, die in angespannter Arbeit dieses Werk volli- 
bracht haben, verdienen hohe Anerkennung. Ein Vorwurf läßt sich 
gegen sie nicht erheben. Angesichts des geltenden Rechts, das ihnen 
den geraden Weg verschließt, schlagen sie die allein offen stehenden 
Umwege ein, um den Tendenzen der Tarifverträge, soweit dies eben 
möglich ist, gerecht zu werden. Wenn ich daher auch der von Boos 
in seinem »Abbruche überschriebenen zweiten Buch geübten scharfen 
Kritik im wesentlichen zustimme, so vermag ich doch die Gering- 
schätzung der bisherigen Literatur, die er oft drastisch zum Ausdruck 
bringt, nicht zu billigen. Er spricht mehrfach von »Begriffsgespen- 
stern«, denen die Theorie gefolgt sei, und sagt ihr gelegentlich (S. 128) 
nach, daß sie »von ausgedörrten Begriffsgespenstern im Zirkel herum- 
geführt wurde«. Es sind jedoch durchaus keine Gespenster, sondern 
lebendige Begriffe, mit denen man bisher operiert, — nur eben Begriffe 
des Obligationenrechts, die man notgedrungen in den Dienst einer 
Aufgabe stellt, für deren Lösung sie unzulänglich sind. Denn dafür 
hat Boos, nicht minder aber Sinzheimer den überzeugenden 
Nachweis erbracht, daß der schuldrechtliche Aufbau des Tarifver- 
tragsrechts ein den wirklichen Bedürfnissen des modernen sozialen 
Lebens Genüge leistendes und den in den beteiligten Schichten der 
Arbeitswelt die schöpferische Neubildung beherrschenden Rechts- 
anschauungen entsprechendes Recht weder geschaffen hat noch jemals 
schaffen kann, sondern immer nur als ein künstliches und unzurei- 
chendes Surrogat erscheint. 

In positiver Hinsichtstimmen Sinzheimer und Boos 
darin überein, daß der Aufbau eines wahren Gegenwarts- und Zu- 
kunftsrechtes der Tarifgemeinschaften nur gelingen kann, wenn der 
Tarifvertrag als Quelle von objektivem Recht, von Normen, 
die unmittelbar jedes in seinen Bereich fallende Arbeitsverhältnis 
ergreifen, anerkannt wird. Diesen Grundgedanken aber führen beide 
in ungleicher Weise durch. 


II. 


Sinzheimer will durch ein umfassendes, alle Einzelheiten 
regelndes Spezialgesetz helfen. Ein solches habe die Rechtswissen- 


820 Otto von Gierke, 


schaft zu finden, die das Recht nicht nur anzuwenden, sondern auch 
zu vollenden berufen sei, ihre legislative Aufgabe aber mit der Auf- 
suchung der rechtlichen Bedingungen, unter denen eine Erscheinung 
sich ihrem Wesengemäßentwickeln kann, erfülle, während sie die Ent- 
scheidung über den Wert des Gebildes der Sozialphilosophie zu überlas- 
sen habe (S. 6 ff.). In diesem Sinne müsse sie von der Form zur Idee 
vordringen und behufs Lösung des Tarifrechtsproblems den Wider- 
spruch zwischen den sozialen Zwecken des Tarifvertrages und seinen 
rechtlichen Formen darlegen (S. 13 ff.), als Ziel aber ein Arbeitstarif- 
gesetz ins Auge fassen, das nur den korporativen Tarifvertrag, diesen 
aber für alle Gewerbegruppen in fester Gestalt ausprägt (S. 15 ff.). 

Die »Grundanschauungene, von denen er dabei aus- 
geht, präzisiert der Verfasser im voraus (S. 21—36). Der Tarifver- 
trag sei ein Mischgebilde von Privatrecht und öffentlichem Recht, 
die ja zuletzt in der Einheit alles Rechtes sich zusammenfinden. Die 
rechtsgeschäftliche Selbstbestimmung diene der Freiheit und den Inter- 
essen des Einzelnen, bedürfe aber der Ergänzung durch eine soziale 
Zwangsordnung. Denn das Recht könne befreien und gleichwohl uner- 
träglich binden, es könne umgekehrt binden und doch zugleich befreien. 
Dies ergebe sich beispielsweise einerseits aus der Arbeiterschutzge- 
setzgebung, andererseits aus der Kartellbewegung. So bewirke insbe- 
sondere der Tarifvertrag durch seine Bindung Befreiung von sozialem 
Zwange und Sicherung wirtschaftlicher Einzelinteressen. Der Tarif- 
vertrag aber sei überdies Massenvertrag. Hier wolle die Masse selb- 
ständig auftreten und sich selbst regulieren. Die bewährte Kraft der 
Selbstorganisation sei auszunutzen, aber nicht durch Organisations- 
zwang zu unterbinden. Darum müsse das Tarifgesetz einen subsidiären 
Charakter tragen und die freien Zwischenbildungen, kraft deren selbst- 
geschaffene Organe als Bindeglieder zwischen der Masse und dem Recht 
fungieren, unangcetastet lassen. 

Diese Grundanschauungen enthalten sicherlich viel Richtiges, 
scheinen mir aber an dem Fehler zu leiden, daß sie den zum Ausgangs- 
punkt genommenenÜnterschied vonPrivatrecht und öffentlichemRecht 
mit dem Unterschiede von Individualrecht und Sozialrecht identifi- 
zieren. Nun haben wir aber als germanisches Erbteil innerhalb des 
Privatrechts ein reich entfaltetes Sozialrecht. Alles Familienrecht, 
Gemeinschaftsrecht und Gesellschaftsrecht, vor allem aber das private 
Genossenschaftsrecht, das Recht der mit Persönlichkeit ausgestatteten 
wirtschaftlichen oder idealen Vereine, auch das Stiftungsrecht sind 
von sozialrechtlichem Gehalt durchsetzt und werden zwar vom öffent- 
lichen Rechte in ihrer Wirkungskraft beschränkt, keineswegs aber in 
das öffentliche Recht hineingezogen. Nun könnte man ja hierin nur 
einen terminologischen Unterschied erblicken. Allein das träfe mit 
nichten zu. Denn der heutige Begriff des öffentlichen Rechts setzt 
eine unmittelbare Beziehung zur Daseinsordnung des Staates selbst 
oder doch eines vom Staate als Lebewesen höherer Stufe gewerteten 
Verbandes voraus. So kommt denn auch Sinzheimers Gesetz- 
entwurf auf eine gewisse Verstaatlichung der ihm unterstellten Tarif- 


tr 


Die Zukunft des Tarifvertragsrechts. 821 


gemeinschaften hinaus und neigt stark zu einem bedenklichen staats- 
sozialistischen System. Bedenklicher noch ist die gegenbildliche 
Konstruktion alles Privatrechtes als Individualrecht. Denn diese be- 
dingt eine romanistisch-individualistische, dem deutschen Rechtsge- 
danken widersprechende Auffassung aller privaten Gemeinschaften. 
Wenn daher Sinzheimer die Zwangsunterwerfung aller Tarif- 
gemeinschaften unter sein Tarifgesetz ablehnt, so kann er doch den 
außerhalb der Verstaatlichung verharrenden Tarifverträgen nur die 
individualistischen Wirkungen des reinen Schuldrechts zugestehen und 
muß sie bei dem jetzigen unvollkommenen Rechtszustande festhalten. 

Bei der Erörterung der »Grundformen« des geplanten 
Neubaues handelt der Verfasser zunächst von der v» Autonomie 
des Tarifvertragess (S. 39 ff.). Von dem Staatsgesetz sei 
in erster Linie zu fordern, daß es die normative Kraft dieses Vertrages, 
der eben nicht nur ein Rechtsverhältnis, sondern auch Rechtsquelle 
sein will, anerkennt und ausspricht. Dazu bedürfe es einer Erweite- 
rung des Vertragsbegriffs. Allein eine solche sei im älteren deutschen 
Recht, insbesondere im Hofrecht und bei den Sühneverträgen, vorge- 
bildet, komme in den Verfassungsverträgen zum Ausdruck und mache 
sich auch im Völkerrecht bei der Behandlung der völkerrechtlichen 
Verträge als Rechtsquelle geltend. Ueberall schaffe hier der Vertrag 
zugleich mit den Rechtsverhältnissen objektive Normen. Nur müsse 
heute die normative Kraft dem Tarifvertrage vom Staate ausdrück- 
lich und bewußt verliehen sein. Damit aber erhebe sich der Tarifver- 
trag vom Boden der freien Willenseinigung aus zur bindenden Rechts- 
ordnung für die durch ihn zusammengeschlossenen Gruppen. Diese 
dem Vertrage beigelegte erweiterte Wirkungskraft will der Verfasser 
als »Vertragsautonomiee bezeichnen. 

Der Begriff der »Vertragsautonomie« setzt Sinz- 
heimer in den Stand, die gewünschten praktischen Folgerungen 
zu ziehen. Es darf aber nicht verschwiegen werden, daß er theoretisch 
widerspruchsvoll ist und zur vollen Klärung der konstruktiven Grund- 
lagen des Tarifrechts nicht führt. Ich stimme mit Sinzheimer 
darin überein, daß der Tarifvertrag (was, wie wir sehen werden, Boos 
bestreitet) in der Tat echter Vertrag ist und zwischen den Kontrahenten 
ein Schuldverhältnis begründet. Allein aus seiner Vertragsnatur läßt 
sich seine autonomische Wirkunskraft nicht ableiten. Vielmehr ist er 
insoweit, als er Normen erzeugt, eben nicht mehr Vertrag, sondern 
Rechtsetzungsakt. Nun ist es richtig, daß sich vielfach Rechtsetzungs- 
akte in Vertragsform gekleidet haben und noch heute kleiden. Aber 
Ihrem inneren Wesen nach sind solche Verträge in ihrer rechts- 
schöpferischen Funktion keine Rechtsgeschäfte, sondern konstitutive 
Gesamtakte. Sinzheimer selbst operiert mit dem Begriffe des 
»Gesamtaktese. Ein Gesamtakt aber ist kein Vertrag, sondern ein- 
heitliche Willenserklärung einer als Einheit gesetzten Gesamtheit. 
Das Erzeugnis der Autonomie ist Satzung, und Satzungsrecht kann 
nur eine dazu befugte Gemeinschaft hervorbringen. Ich bin mit 
Sinzheimer durchaus darin einverstanden, daß dem Inhalte des 





$ 
i 


Fremen 





822 Otto von Gierke, 


Tarifvertrages, da ein dahin lautendes Gewohnheitsrecht jedenfalls 
zurzeit nicht besteht, nur durch Staatsgesetz Satzungscharakter 
verliehen werden kann. Aber auch der Staat kann nicht einfach den 
Vertrag als solchen mit Satzungskraft ausrüsten, sondern muß zunächst 
irgend eine Gemeinschaft als Trägerin einer Autonomie anerkennen, 
kraft deren sie in der Form des Tarifvertrages für die Beteiligten 
Satzungsrecht zu schaffen vermag. Bleibt man bei dem Zwitterbegriff 
der »Vertragsautonomie« stehen, so droht die Gefahr einer steten 
Vermengung der rechtsgeschäftlichen und der rechtsnormativen Wir- 
kungen des Tarifvertrages. Und doch ist die reinliche Scheidung von 
beiderlei Wirkungen unbedingt erforderlich. Bei Sinzheimer 
ist sie nicht selten zu vermissen. 

Im Einklange mit seinen Grundanschauungen verlangt der Ver- 
fasser eine genaue gesetzliche Abgrenzung des Kreises der Tarif- 
beteiligten (S. 5rff.). Unter diesen will er zwei Klassen unter- 
scheiden: die »Vertragsparteiene, die als Schöpfer und Verwalter des 
Tarifsrechts fungieren, und die »Vertragsmitglieder«, die am Tarif- 
vertrage Teil nehmen, ohne über ihn verfügungsberechtigt zu sein. 
Diese Unterscheidung ist für den ganzen Aufbau des vorgeschlagenen 
Gesetzentwurfes grundlegend. 

Als Vertragsparteien sollen auf der Arbeiterseite nur 
Berufsvereine anerkannt werden. Alle individuellen Beziehungen sollen 
zugunsten der Berufsvereine, die lediglich in eigenem Namen und für 
eigene Rechnung kontrahieren, ausgelöscht sein. Auch neben den 
Vereinen dürfen Einzelne nicht den Vertrag mit abschließen und auch 
als Verträge zugunsten Dritter dürfen die Tarifverträge nicht wirken. 
Auf der Arbeitgeberseite darf ein einzelner Unternehmer, dessen Rechte 
und Pflichten dann notwendig auf den Rechtsnachfolger übergehen, 
auch er aber nicht neben einem Verbande den Tarifvertrag schließen. 
Die Arbeiterverbände müssen jedoch stariffähig« sein. Die Vor- 
aussetzungen der Tariffähigkeit werden in sachlicher wie in formeller 
Hinsicht genau fixiert (S. 55 ff.). Tariffähig sind nur sunabhängige 
Berufsvereine«, nicht Verbände von Arbeitern desselben Werkes 
(»Harmonieverbändee) und nicht »wirtschaftsfriedlichese Verbände, die 
nicht streiken dürfen. Ob Tariffähigkeit vorliegt, wird durch ein be- 
sonderes Feststellungsverfahren entschieden. Nach der erstrebten 
Umbildung des Koalitionsrechtes sind auch Gewerkschaften von 
Landarbeitern, Schiffsmannschaften und Gesinde im Besitze der 
Streikfreiheit und also tariffähig. Für tariffähige Berufsvereine ist 
$ 153 Gew.-O. zu beseitigen, dafür aber ein Verbot aller privaten Bei- 
trittsbeschränkungen zu erlassen. Das Tarifgesetz hat den Berufs- 
vereinen Rechtsfähigkeit für Tarifzwecke zu verleihen, während im 
übrigen Rechtsfähigkeit zur Tariffähigkeit nicht erforderlich ist. 
Die Berufsvereine müssen ihr Leben nach dem Tarifzweck einrichten. 
Sie dürfen sich nicht auflösen oder (z. B. in Ansehung des zur Kündi- 
gung befugten Organs) wesentlich ändern. Auch haben sie eine Mit- 
gliederliste zu führen. Besondere Bestimmungen gelten für Tarif- 
verträge mit mehr als zwei Kontrahenten, also mit verschiedenartigen 





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Die Zukunft des Tarifvertragsrechts. 823 


tariffähigen Gewerkschaften (vgl. die Formel auf S. 85). Das alles 
ist konsequent gedacht. Aber neben manchen einzelnen Bedenken 
ist doch die Frage aufzuwerfen, ob nicht in der Schaffung solcher 
privilegierten, demgemäß aber auch starker staatlicher Einschnürung 
und Einwirkung unterworfenen Gewerkschaften ein die freie Fort- 
entwicklung des Arbeitsrechtes beeinträchtigender Zwang liegen würde. 

Als Vertragsmitglieder sollen alle im sozialen Banne 

des Tarifvertrages stehenden Personen gelten (S. 86 ff.). Sie zerfallen 
in zwei Klassen. »Organisierte Vertragsmitglieder« sind alle Mitglie- 
der kontrahierenden Verbände. Auch neu eintretende Mitglieder 
werden kraft Gesetzes vom Tarifvertrage ergriffen; nur geht eine ältere 
Bindung der neu entstehenden Gebundenheit vor. Minderheiten werden 
trotz ihres Widerspruchs dem Tarifrecht unterworfen und können sich 
der Herrschaft desselben auch nicht durch Austritt entziehen. Als 
»nicht organisierte Mitgliedere nehmen am Tarifvertrage die ausge- 
schiedenen Verbandsangehörigen und außerdem die sich freiwillig 
dem Tarifvertrage eingliedernden Personen Teil. Die ausgeschiedenen 
Mitglieder gelten für die Dauer des Tarifvertrages nach wie vor als 
Mitglieder, können aber, wenn der Tarifvertrag kündbar ist, sich für 
den ersten Termin, an dem die Kündigung möglich wäre, befreien. Alle 
Einzelansprüche, die aus dem Tarifverhältnis entspringen, z.B. in 
Fällen der Aussperrung oder des Streiks, sind einheitlich zu erledigen. 
Es bedarf daher einer »Repräsentation« der Einzelnen in Recht und 
Pflicht. Die organisierten Vertragsmitglieder werden kraft Verbands- 
rechtes von ihrem Verbande repräsentiert, der unabhängig von ihrer 
Zustimmung vorgeht und ein selbständiges Klagerecht empfängt. Nicht 
organisierte Vertragsmitglieder werden, während sie auf der Arbeitge- 
berseite keiner Repräsentation bedürfen, auf der Arbeiterseite durch 
einen »Tarifanwalt« repräsentiert, der in ähnlicher Weise wie ein 
Testamentsvollstrecker ein privates Amt zu erfüllen und als Ver- 
trauensmann frei und selbständig, wennschon tunlichst nach Ver- 
ständigung mit den repräsentierten Arbeitern oder einer einzuberu- 
fenden Arbeiterversammlung, für die Einzelnen zu handeln hat. 
Die Einzelnen scheiden aus den Prozessen aus; die §§ 64—77 ZPO. 
sind unanwendbar, doch kann die Tarifbehörde sie beiladen. Ver- 
tragsfremde sind an den Tarifvertrag und insbesondere die von ihm 
auferlegte Friedenspflicht nicht gebunden. Ihnen gegenüber äußert 
der Vertrag nur Reflexwirkungen. Durch diese wohlüberlegten Be- 
stimmungen über die »Vertragsmitgliedere würde das Tarifvertrags- 
gesetz für seinen Bereich eine straffe Vereinsherrschaft über den Kreis 
der Normuntertanen schaffen. Dafür aber müßte man freilich eine 
nicht unbedenkliche Verkümmerung der Individualrechte in den Kauf 
nehmen. 

In einem besonderen Abschnitt handelt Sinzheimer von 
der Kraft der Tarifnormen (S. ıorff.). Sie sollen als auf 
Vertrag beruhendes objektives Recht für alle Arbeitsverträge in Tarif- 
betrieben gelten. Abweichende Verträge mit anderen Arbeitern sind 
ausgeschlossen. Bei einem Vertrage mit mehreren Gewerkschaften 


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824 Otto von Gierke, 


hat der erste Vertrag für alle zu gelten. Hinsichtlich der einzelnen 
Dienstverträge ist ihnen nicht bloß ergänzende, sondern zwingende 
Kraft beizulegen. Der Verfasser erörtert eingehend die Streitfrage über 
die »Unabdingbarkeite und verteidigt das Postulat derselben gegen 
alle erhobenen Einwände. Das Gesetz habe nicht bloß die Nichtigkeit 
tarifwidriger Bestimmungen eines Dienstvertrages auszusprechen, — 
dies würde für die Arbeiter schädlich wirken, — sondern unmittel- 
baren Ersatz solcher Abreden durch die vorgesehenen Tarifbestim- 
mungen vorzuschreiben. Doch sollen unbillige Härten durch eine Frist- 
bestimmung für die Nachforderung von zu wenig gezahltem Lohn ver- 
mieden werden. Andererseits sollen alle Tarifbestimmungen nur als 
Minimalbedingungen gelten, somit, obschon mit bestimmten Ausnah- 
men, dem Arbeiter günstigere Abreden zuläßig sein. Die zwingende 
Kraft der Tarifnormen soll auch gegenüber jeder Arbeitsordnung und 
ebenso gegenüber Untertarifverträgen durchgreifen. Man wird diesen 
Vorschlägen im Wesentlichen zustimmen müssen. 

Ebenso den weiteren Vorschlägen betreffend Form, Inhalt 
und Auflösung des Tarifvertrages (S. 120 ff.). Es soll Schrift- 
form gefordert und Niederlegung und Aushängung vorgeschrieben, 
dagegen kein Registerzwang eingeführt werden. Die Festsetzung des 
Inhalts soll möglichst frei von Einschnürung und Bevormundung den 
Parteien überlassen bleiben. Nur der sachliche und räumliche Gel- 
tungsbereich des Vertrages muß stets ausdrücklich festgestellt sein. 
Im übrigen kann der Vertrag einerseits nach Belieben entscheiden, 
was er hinsichtlich der Arbeitsbedingungen normieren will, ander- 
seits seine Normen auch auf Gegenstände erstrecken, die sich nicht 
unmittelbar auf Dienstverträge beziehen, sondern den Arbeitsverkehr 
im Allgemeinen oder den Absatz (z. B. behufs Abwehr von Schmutz- 
konkurrenz) betreffen. Hinsichtlich der Auflösung fordert der Ver- 
fasser für jede Vertragspartei das Recht fristloser Kündigung aus 
wichtigen Gründen, das aber (wie bei der offenen Handelsgesellschaft) 
als Anspruch auf Auflösung durch gerichtliches Urteil ausgestaltet 
sein soll. 

Im zweiten Hauptteil seiner Darstellung der Grundformen des 
neuen Rechts behandelt Sinzheimer die von ihm angestrebte 
und in seinem Gesetzentwurf verwirklichte Selbstexekution 
des Tarifvertrages (S. 127 ff.). Er versteht darunter die 
Rechtsverwirklichung durch die Vertragsparteien selbst,. also die 
organisierten, der Masse gegenüber inkorporierten Verbände, die 
Vertragsparteien und Verwaltungskörper in einem sein sollen. Diese 
Neubildung rechtfertigt er prinzipiell aus dem Grundgedanken be- 
wußt organisierter sozialer Exekution, beruft sich aber auch auf die 
geschichtlichen Vorbilder der mittelalterlichen Herrschaftsverbände 
(mit Vertretung und Haftung) und genossenschaftlichen Verbände 
(Sippen, Einungen, Zünite). 

Die rechtliche Ordnung der Selbstexekv- 
tion wird von Sinzheimer eingehend besprochen (S. 135 ff.). 
Voraussetzung sind Tarifverletzungen organisierter Vertragsmitglie- 


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Die Zukunlt des Tarifvertragsrechts. 825 


der. Einerseits Ungehorsam. Tariftreue schulden sie auch bei Er- 
füllung der Dienstverträge. Andererseits Friedensbruch. Doch ist 
die Friedenspflicht nur, wenn es bedungen ist, absolut, sonst nur 
relativ. Nicht jede Kampfhandlung ist Friedensbruch. Insbe- 
sondere nicht Generalstreik, Sympathiestreik, Streik wegen nicht 
geregelter Fragen. Das Recht der Selbstexekution üben die Verbände 
nach Maßgabe ihres Vereinsrechts aus. Sie können Geldstrafen (unbe- 
schadet der Anwendbarkeit des $ 343 BGB.), Ausstoßung und andere 
Nachteile (in den Grenzen des $ 826 BGB.) androhen, nicht aber den 
Ausschluß des Rechtsweges ausbedingen. Die Verbände sind aber zur 
Selbstexekution auch verpflichtet. In Ungehorsamsfällen sollen sie, 
da das Privatrecht und der Zivilprozeß nicht zureichen, in einem Ver- 
waltungsverfahren vorgehen und mit dem Recht des Verwaltungs- 
zwanges ausgerüstet werden; versagt hier die Selbstexekution, so tritt 
der Staat mit seinen Zwangsvollstreckungsmitteln an die Stelle. 
Für den Friedensbruch von Mitgliedern sind sie verantwortlich, wenn 
sie ihn nicht verhindert haben. Als Mittel zur Durchsetzung der An- 
sprüche aus Friedensbruch soll aber nicht der Verwaltungszwang, 
sondern die gerichtliche »Friedensklage« dienen. Sie richtet sich ledig- 
lich gegen den Verband. Für nicht organisierte Vertragsmitglieder 
tritt auch hier der Tarifanwalt ein. Arbeitgeber können auch als Ein- 
zelne klagen oder verklagt werden. Die Klage geht auf Wiederher- 
stellung des Friedens und auf Ersatzleistung. Die Ersatzleistung aber 
wil Sinzheimer durch eine Haftgrenze, die zugleich Schuld- 
grenze sein soll, einschränken. Am besten erscheint ihm die ausschließ- 
liche Zulassung eines den Schadensersatzanspruch ersetzenden An- 
spruches auf Buße, für die ein Höchstmaß (nach dem Gesetzentwurf 
$ 49 20 000 Mark) zu bestimmen ist. Daneben sollen die rein zivilisti- 
schen Ansprüche aus Vertragsverletzung, auch die Einrede des nicht 
erfüllten Vertrages und das Rücktrittsrecht, wegfallen. Die Grenzen 
der Selbstexekution liegen in ihrer Unanwendbarkeit bei Vertrags- 
verletzungen durch die Vertragsparteien selbst und durch nicht or- 
ganisierte Vertragsmitglieder. Doch sollen die Bestimmungen über den 
Verwaltungszwang im Falle des Ungehorsams hier für die berufenen 
staatlichen Behörden analog gelten und im Falle des Friedensbruches 
die Vorschriften über die Friedensklage und die Buße anwendbar sein. 

Zur Ergänzung der Selbstexekution will Sinzheimer be- 
sondere staatliche Tarifbehörden bilden, die da, wo die Selbst- 
exekution nicht zum Ziel führt oder von vornherein ausgeschlossen 
ist, tätig werden (S. 189 ff.). Sie sollen einheitlich organisiert werden. 
— Rechtsprechungs- und Verwaltungsfunktionen in sich vereinigen —, 
jedoch bei der Entscheidung von Tarifstreitsachen einerseits und der 
Handhabung des Tarifzwanges und der Tarıfverwaltung andererseits 
ein verschiedenes Verfahren befolgen. Ihre Zuständigkeit aber gegen- 
über dem Vertragswillen soll sich nur auf rechtliche Angelegenheiten, 
nicht auf soziale Fragen erstrecken. Insbesondere sollen sie nicht in 
das Gebiet der Schlichtungskommissionen übergreifen. Näheres über 
die vom Verfasser geplante Einrichtung erfahren wir aus den sehr um 





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826 Otto von Gierke, 


fangreichen Bestimmungen des zweiten Abschnittes seines Gesetzent- 
wurfes, der nach einigen allgemeinen Vorschriften ($ 57—59) zunächst 
die Verfassung der Tarifbehörden ($ 60—80), dann das Verfahren in 
Tarifstreitigkeiten ($ 81 —97) und endlich das Verfahren bei Tarifzwang 
und Tarifverwaltung ($ 98—105) eingehend regelt. Als Tarifbehörden 
sollen in erster Instanz Gewerbe- oder Kaufmannsgerichte, in Erman- 
gelung solcher die Amtsgerichte, in zweiter Instanz die Landgerichte 
in »Kammern für Tarifsachene, in höchster Instanz das Reichsgericht 
in »Senaten für Tarifsachene fungieren. Durchgängig aber soll die Ta- 
rifbehörde als ein Kollegium organisiert sein, dessen Vorsitzender der 
Berufsrichter ist, während als Beisitzer Laienrichter aus den Kreisen 
der paritätisch berücksichtigten Arbeitgeber und Arbeiter, zugleich 
aber aus unparteiischen Sachkundigen nach einem ziemlich verwickel- 
ten System teils gewählt, teils ernannt werden. Das Verfahren in 
Tarifstreitsachen ist in Anlehnung an die ZivilprozeBordnung mit 
wichtigen Abänderungen (unter andern durchgängiger Beseitigung 
des Anwaltszwanges), das Verfahren bei Tarifzwang und Tarifverwal- 
tung nach dem Muster des Verfahrens in Angelegenheiten der frei- 
willigen Gerichtsbarkeit geordnet. 

Der Verfasser beschließt seine Ausführungen mit allgemeinen 
Erwägungen über »die Idee der sozialen Selbstbestimmung im Rechte, 
deren Verwirklichung sein Werk dienen soll. Auf die hier ausgespro- 
chenen Gedanken kommen wir später zurück. Im übrigen stellt sich 
seine vorstehend skizzierte Gedankenentwicklung als Begründung 
des von ihm ausgearbeiteten Gesetzentwurfes dar, zu dessen Text 
(S. 211—238) sie die vorangestellten »Motive« liefert. 

Ueberblickt man den Text des Gesetzentwurfes, so 
wird man unter allen Umständen die überaus sorgfältige und bis ins 
Kleinste durchdachte Fassung, den reichen Gedankengehalt und den 
das Ganze durchdringenden sozialen Geist rühmen müssen. Trotzdem 
kann ich gewisse Bedenken nicht unterdrücken. Ich habe schon darauf 
hingewiesen, daß ich bezweifle, ob nicht der Gegensatz zwischen den 
regulierten und den vom Gesetz nicht betroffenen Tarifverträgen die 
bisher als fruchtbar erprobte freie Entwicklung des modernen Arbeits- 
rechtes störend beeinflussen werde. Die Tarifgemeinschaften, die 
entweder dem Gesetz nicht unterstellt werden können oder sich frei- 
willig von ihm fern halten, würden nach wie vor nach dem unvoll- 
kommenen geltenden Recht zu beurteilen sein. Sicherlich aber würden 
verschiedenartige Gründe bald die Arbeitgeber bald die Arbeiter- 
verbände veranlassen, lieber bei dem bisherigen Rechtszustande zu 
verbarren, als sich dem vom Gesetz für die Tarifvertragsfähigkeit 
geforderten Voraussetzungen anzupassen. Würde ihre fortdauernde 
rechtliche Behandlung nach rein schuldrechtlichen Grundsätzen, die 
mit ihrem Wesen unvereinbar sind, nicht dem Rechtsbewußtsein 
widersprechen? Nehmen wir aber an, daß die Mehrzahl der Tarif- 
gemeinschaften sich dem Gesetze fügt, so ist es weiter fraglich, ob nicht 
von der einen oder anderen Seite das starre Schema des Gesetzes 
als eine Zwangsregulierung empfunden werden würde, die in so manchen 





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“Die Zukunft des Tarifvertragsrechts. 827 


Punkten ihrem Rechtsbewußtsein nicht entspricht. Daran könnte 
der angestrebte Friedenserfolg des Gesetzes scheitern. Nun bemüht 
sich freilich Sinzheimer, einer allzustarken Zwangswirkung 
des Gesetzes dadurch vorzubeugen, daß er in erheblichem Umfange 
abweichende Vereinbarungen in den Tarifverträgen zuläßt. Die Ver- 
tragsparteien können hinsichtlich des Umfanges der Tarifgemein- 
schaft und ihrer Kündigung und hinsichtlich des Beitrittes und des Aus- 
trittes von Vertragsmitgliedern in gewissen Grenzen besondere Bestim- 
mungen treffen. Der Inhalt der Tarifnormen ist im wesentlichen 
der freien Vereinbarung überlassen. Der Vertrag kann die Folgen der 
Vertragsverletzung abweichend regeln, die Friedenspflicht einschrän- 
ken oder erweitern, die Ungehorsamsfolgen selbständig festsetzen. 
Die Zuständigkeit der staatlichen Tarifbehörden kann durch die Ein- 
richtung zuvörderst anzurufender Vermittlungsstellen und die Ueber- 
weisung von Entscheidungen in Tarifstreitigkeiten, sowie die Vornahme 
des Tarifzwanges und der Tarifverwaltung an »besondern Vertrags- 
stellene zurückgeschoben werden, wobei dann die Vorschriften der 
Zivilprozeßordnung über das schiedsgerichtliche Verfahren mit der 
Maßgabe, daß das zuständige Gericht die Tarifbehörde ist, entsprechen- 
de Anwendung finden (vgl. § 107—108 des Entw.). Allein überwiegend 
werden die Bestimmungen des Tarifvertrages ausdrücklich für zwin- 
gendes Recht erklärt. Ist nun aber das Tarifvertragsrecht bei dem 
Fluß, in dem die ganze Bewegung mit ihren stets neuen Erscheinun- 
gen sich befindet, wirklich für eine solche erschöpfende und durchgrei- 
fende Kodifikation reif? Auf eine Kritik der Einzelbestimmungen 
muß ich hier verzichten. Aber leidet nicht der Gesetzentwurf über- 
haupt an einer Ueberfülle von Paragraphen, an zu weit getriebener 
Reglementierung, an einem Uebermaß von Kautelen? Niemand ver- 
mag vorherzusagen, in welcher Richtung sich das wirtschaftliche 
und soziale Volksleben in nächster Zukunft entwickeln wird. Ist nicht 
zu besorgen, daß sehr bald diese oder jene Bestimmung als verfehlt 
oder unzureichend empfunden werden würde und dann mit der heute 
gebräuchlichen Eile der Ruf nach Revision erschallt ? Diese Bedenken 
wiegen um so schwerer, je größer die Aufgabe ist, ‚die der Entwurf 
dem Staate zumutet. Denn die nähere Prüfung des Entwurfes bestä- 
tigt den schon oben wiedergegebenen Eindruck, daß das Gesetz auf 
eine mehr oder minder verhüllte Verstaatlichung des Tarifwesens 
hinauslaufen und ein Stück Staatssozialismus einführen würde. Der 
Verfasser sucht der damit verbundenen Gefahr eines bürokratischen 
Systems der Verwaltung der Tarifverträge tunlichst vorzubeugen. 
Er erstrebt eine energische Durchführung der Gedanken des »Rechts- 
staatse und der Beteiligung der »Selbstverwaltung« Insbesondere 
ist seine Ausgestaltung der »Tarifbehörden« auf dieses Ziel gerichtet. 
Aber nehmen wir auch an, daß damit eine rein sachliche und von echt 
sozialem Geist durchtränkte Betätigung des Staates verbürgt wäre, 
so ist doch kaum zu erwarten, daß das Mißtrauen aller Beteiligten 
in die staatliche Einmischung überwunden, der Interessengegensatz 
der einander bekämpfenden Klassen beschwichtigt, die Unparteilich- 





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828 Otto ven Gierke, 


keit der Entscheidungen und Maßnahmen der Tarifbehörden allge- 
mein anerkannt werden würde. Zeigt sich aber, daß der Staat trotz 
ehrlichsten Bemühens die ihm zugedachte Aufgabe, durch die von ihm 
übernommene Verwaltung des Tarifvertragswesens uns dem ersehn- 
ten Ziel des sozialen Friedens näher zu bringen, nicht zu lösen vermag, 
so würde der Mißerfolg des Gesetzes dem Staat selbst zu Schaden ge- 
reichen. 


III. 


Boos nimmt in vollem Gegensatz zu Sinzheimer keiner- 
lei besonderes Tarifgesetz in Aussicht. Für ihn hat der schweizerische 
Gesetzgeber durch die Einfügung der beiden Artikel über den »Gesamt- 
arbeitsvertrag« in das neue Obligationenrecht seine Aufgabe vollstän- 
dig erfüllt. Jede weitere Gesetzesbestimmung hält er für überflüssig 
(S. 306 ff.). 

Schon hieraus ergibt sich, daß er das Tarifvertragsrecht durchaus 
in das Privatrecht verweist. Das öffentliche Recht will er 
nicht bemühen. Ihm ist das Privatrecht eben nicht reines Individual- 
recht, sondern zugleich Sozialrecht. Der Gegensatz, den er aufdecken 
und in höherer Einheit lösen will, ıst für ihn der innerhalb des Privat- 
rechts sich abspielende Widerstreit zwischen der s»romanistisch- 
liberalistischen« atomistischen Auffassung und der deutschen Vor- 
stellung der »organschaftlichen Eingliederung«. Das Individualrecht 
fällt für ihn mit dem Obligationenrecht zusammen, während im Per- 
sonen- und Sachenrecht das sozialrechtliche Gemeinschaftsprinzip 
herrscht. Seinem Grundgedanken stimme ich zu, meine aber doch, 
daß er sich bei der Ausmalung des Gegensatzes nicht frei von Ueber- 
treibung hält und insbesondere die auf deutschrechtlicher Grundlage 
geschlagenen Brücken zwischen dem Obligationenrecht und dem Per- 
sonen- und Sachenrecht in ihrer Bedeutung für das heutige Recht 
unterschätzt. Unser geltendes Recht der Schuldverhältnisse mit seiner 
Vergegenständlichung von Forderung und Schuld enthält Rechts- 
sätze, die das objektive Element der dinglichen Rechtsverhältnisse 
übernehmen, kennt Forderungs- und Schuldgemeinschaften und stattet 
überdies manche dauernde Schuldverträge zugleich mit personen- und 
sachenrechtlichen Wirkungen aus. 

In seinem ersten Buch vollzieht Boos die »?Abgrenzungs 
seines Themas und untersucht, nachdem er die Ziele seiner Arbeit 
klargestellt und die wirtschaftlichen Triebkräfte, die Stufenreihe und 
den Inhalt der Tarifverträge in der Schweiz (S. 17—60) dargelegt hat, 
den Rechtsbegriff des »Gesamtarbeitsvertrages« im neuen schweize- 
rischen Obligationenrecht (S. 60—74). Er meint, daß diesem Begriff 
eine aus dem Leben geschöpfte bildhafte Vorstellung zugrunde liege, 
die auch für jeden Teilbegriff in den beiden Artikeln maßgebend sei. 
Demgemäß seien die Begriffe »Arbeitgeber« und »Arbeiter« abzu- 
grenzen, so daß unter Umständen auch kaufmännische Angestellte 
(z. B. von Konsumvereinen) darunter fallen. Da das Gesetz von »Ar- 
beitgebern oder Arbeitgebervereinigungen« und von »Arbeitern oder 


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Die Zukunft des Tarifvertragsiechts. 829 


Arbeitervereinigungen« spreche, könne auf der Arbeitgeberseite auch 
eine Einzelperson stehen, während dies auf der Arbeiterseite ausge- 
schlossen sei. Somit sind die »Firmentarife« in ihren verschiedenen 
Formen einbezogen. Ebenso seien Verträge mit einer Mehrheit von 
Einzelpersonen eingeschlossen. Daher Tarifverträge, mit einer Mehr- 
heit von Betriebsinhabern, die dann unter sich eine einfache Gesell- 
schaft bilden. Aber auch mit einer unorganisierten Mehrheit von Ar- 
beitern, so daß die »unbegrenzten« Tarifverträge unter das Gesetz 
fallen. Als »Vereinigungen« im Sinne des Art. 322 seien Berufsvereine 
anzusehen, die als Vereine für ideale Zwecke nach schweizerischem 
Recht ohne Weiteres rechtsfähig sind. Das Gesetz umfaßt daher alle 
»Verbandstarife« mehr oder minder vollkommener Bildung; auch solche, 
bei denen auf einer Seite mehrere Verbände, die dann unter sich in der 
Regel eine Gesellschaft bilden, oder Gliedverbände von größeren Ver- 
einigungen beteiligt sind. Den Inhalt des Gesamtarbeitsvertrages 
bilden »Vorschriften für die Dienstverhältnisse« der Beteiligten. Eine 
Friedenspflicht braucht nicht gesetzt zu sein. Der Ausdruck »Ver- 
trag« ist im allgemeinsten Sinne zu verstehen, in dem er Verpflich- 
tungsinhalt nicht fordert. 

Sein zweites Buch »Abbruch«, widmet Boos dem Nach- 
weise der Unzulänglichkeit des bisherigen Rechts (S. 77—129). Wir 
haben seine Ausführungen schon oben gewürdigt. Sie schließen im 
Hinblick auf die Neuerung des Art.-323 O.R. mit den Worten: »Wir 
stehen in der Bresche des limes, durch die der Strom der ins Leben 
dringenden germanischen Rechtsformen hineinfluten soll in die vom 
römischen Recht ausgebrannte Provinz der menschlichen Arbeits- 
verhältnisse«. l 

Im dritten Buch folgt der »A u f bau« des neuen Rechts (S. 13r 
bis 226). Den Grund dafür legt der Verfasser in den vier ersten Kapi- 
teln, in denen er die Entwicklung des Arbeitsrechtes über- 
haupt in geschichtlicher oder eigentlich geschichtsphilosophischer 
Beleuchtung vorführt. Im ı. Kapital (S. 133—135) schildert er das 
römische Arbeitsrecht, das nur an einmalige Dienstverhältnisse 
denkt und am reinsten im Cod. civ. wiederkehrt. Ihm stellt er im 2. Ka- 
pitel (S. 138—151) das deutsche Arbeitsrecht mit seinen reichen, 
aber in Halbdunkel gehüllten Formen, von denen jede über sich selbst 
hinausweist, seinen ständigen, durch Personen- und Sachenrecht 
bedingten und bestimmten Dienstverhältnissen, seinem Ineinander- 
verwachsensein auch von Personen und Sachen, seiner Verflechtung 
von Recht unf Pflicht gegenüber. Im 3. Kapitel (S. 151—162) betraclı- 
tet er das Arbeitsrecht der Neuzeit, die Auflösung der mittel- 
alterlichen Gebundenheit und die Ueberwindung der den Einzelnen 
beherrschenden Mächte, zugleich aber die Anfänge einer Neuordnung, 
kraft deren die Einzelnen den bloßen Schein der Privatautonomie 
wegwerfen und sich der Heerschaar derer eingliedern, die eine wirk- 
liche Privatautonomie erst schaffen wollen. Die Gegenwartsformen 
hält er freilich nur für Ansätze zur Verwirklichung der dem »Urbilde« 
entsprechenden Zukunftsformen. Aber auch die »Gesamtpersonen,« 


830 Otto von Gierke, 


deren reale Wesenheit er anerkennt, werden von der wirkenden Idee 
vorwärts getrieben. Trotz des Widerstandes, den einerseits noch ver- 
altete Vorstellungen vom Arbeitsrecht, andererseits moderne Deu- 
tungen der Freiheit leisten, werden die »Urbilder« als ethische Impera- 
tive sich durchsetzen und eine völkische Arbeitsgemeinschaft schaffen, 
in der sich der germanische ethische Impuls mit der römischen Rund- 
form versöhnt. Einer besonderen Würdigung unterzieht Boos im 
4. Kapitel (S. 162 —168) vdie moderne Arbeitsverbands- 
person« Er gibt hier eine »Morphologie« der verschiedenen Arten 
von Tarifgemeinschaften. Den Firmentarif charakterisiert er als »kon- 
stitutionelle Monarchie«, den beiderseitigen Verbandstarif aber als 
eine »doppelständische Ständerepublik in bundesstaatlicher Form«. 
In letzterer Hinsicht faßt er die Tarifgemeinschaft als eine Personen- 
gemeinschaft von zwei genossenschaftlich-republikanisch geformten 
Verbänden zu gemeinsamer Arbeitsverfassung auf, die selbst wieder 
einem republikanischen Bundesstaat ähnele. Nur decke sich ihr Ge- 
biet nicht mit ihrem Volke. Denn die Berufsorganisationen sind von 
Ausdehnungstendenzen erfüllt; sie fühlen sich als Repräsentanten 
des ganzen Gewerbes, ihrer ganzen Berufsklasse, und streben in dem 
als Amtspflicht empfundenen Kampfe gegen Lohn- wie Preisdrücken 
einem trotz ihres Spannungsverhältnisses gemeinsamen Zukunfts- 
ideale zu. Als das vollkommenste Lebewesen dieser Art in der Schweiz 
betrachtet Boos den Buchdruckerverein, dessen Einrichtungen 
er am Schluß (S. 183—188) eingehend analysiert. 

Auf dieser Basis nun konstruiert Boos im 5. Kapitel seines 
sAufbaues« die »Dokmatik der Art. 322 und 323 des schweize- 
rischen Obligationenrechts« (S. 188—226). Das Gesetz selbst drücke 
absichtlich den »Vermittlerbegriff« nicht aus, sondern gebe nur Rechts- 
vorschriften. Aus ihnen das Dogma herauszuholen, sei Aufgabe der 
Gesetzeswissenschaft. Dabei sei von der Wirkung der Unabdingbar- 
keit, die Art. 323 ausspricht, auszugehen. Diese aber sei nur aus ihrer 
Verwandtschaft mit den objektiven Wirkungen des Sachenrechtes 
und des die Persönlichkeitssphäre ergreifenden Verbandsrechtes 
zu verstehen. Erst durch die Einführung des Verbandsrechtes in das 
Arbeitsrecht und die damit verknüpfte Uebernahme der objektiven 
Wirkungen des Sachenrechts schaffe das neue Recht die Lebensfähig- 
keit des obligationenrechtlichen Arbeitsvertrages. Der »Gesamt- 
arbeitsvertrag« als Verbandsrechtsinstitut habe gleiche Funktion, 
wie beim Kaufvertrage das dingliche Uebereignungsrecht; der Einlie- 
vertrag bewirke (gleich der Traditicn) nur die faktische Eingliede- 
rung und löse die heteronome Wirkung des Gesamtarbeitsvertrages aus. 
Hierdurch eben bewähre sich der Gesamtarbeitsvertrag als autonomi- 
sche Quelle von objektivem Recht und sein Begründungsakt als Recht- 
setzungsakt. Darum seien die Vertragschließenden keine »Parteien« 
im Sinne des Art. rı des O.R., sondern Normgeber und möglicher Weise 
auch Normunterworfene. Beim Firmenvertrag sei der Arbeitgeber 
beides zugleich. Beim Tarifvertrag mehrerer Arbeitgeber seien die 
Arbeitgeber zu gesamter Hand Normgeber und als Einzelne Norm- 





Die Zukunft des Tarifvertragsrechts. 831 


unterworfene. Beim Tarifvertrage mit einer ungegliederten Mehrheit 
könne die wilde Personenmehrheit unmöglich Partei sein, wohl aber 
nomothetisch tätig werden. Ein ideelles, noch unentwickeltes, aber 
darum nicht lebloses, sondern lediglich noch verschleiertes Lebens- 
zentrum sei vorhanden und könne, ähnlich wie bei einer Verfassungs- 
vereinbarung zwischen Fürst und Land, rechtsetzend wirken. Alle 
»Vertragsorgane« seien im Wachstumsprozeß der Gemeinschaft sich 
differenzierende Spezialorgane, die sich zu einem aus Arbeitgebern 
und Gewerkschaften gebildeten Gesamtorgane zusammenschließen. 
Aber der moderne Staat als Rechtsgemeinschaft begnüge sich nicht 
mit den nach Vereinigung strebenden gotischen Pfeilern, sondern 
fordere eine #»Rundbogengemeinschafte, wie sie in der Hebung der be- 
sonderen Persönlichkeit der Verbände und der Sonderung der Einzel- 
sphären von den Verbandssphären sich einfüge. Hiernach erklärt 
Boos den »Gesamtarbeitsvertrag« seiner rechtlichen Natur nach für 
eine » Vereinbarung, die trotz des Namens kein Vertrag sei, sondern 
eine Gemeinschaft setze und für sie bestimme: »sita jus esto singulis 
subjectis.e Sie sei verwandt mit dem Gesamtakt, der einen Verein 
begründet, und mit Völkerrechtsverträgen, die eine Völkergemein- 
schaft schaffen. Die angeblichen »Parteiene wollen, daß eine Einheit 
entstehe und sich ihnen überordne, und verbinden sich trotz Krieges 
und Klassenkampfes zu einer Arbeitsgemeinschaft. Boos meint 
daher, daß die im Gesamtarbeitsvertrage enthaltenen bestimmten 
Vorschriften für Dienstverhältnisse« unmittelbar und nicht erst durch 
die Vermittlung von Dienstverträgen für die Beteiligten gelten. Die 
Fassung des Art. 323 sei verunglückt, besonders in Abs. 2, wo der 
Vertrag erst entleert und dann wieder aufgefüllt werde. Aber diese 
romanistisch-individualistische Einschaltung der »Dienstverträge« bilde 
kein Hindernis, sie auszuschalten und den wahren Gedanken des Ge- 
setzes durchzuführen, demzufolge die Fassung hätte lauten müssen: 
»Für die Dienstverhältnisse der beteiligten Arbeitgeber und Arbeiter 
gilt der Gesamtarbeitsvertrag.« Der Verfasser sucht 
endlich festzustellen, was das Gesetz unter den sbeteiligten« Arbeit- 
gebern und Arbeitern versteht, die auf den Gesamtarbeitsvertrag 
sverpflichtet« sind. Verträge zwischen einem außenstehenden Unter- 
nehmer und einem nicht gebundenen Arbeiter seien im Zweifel kein 
Tarifbruch, doch helfe das Leben dagegen durch Festsetzung von aus- 
schließlichem Verbandsverkehr oder Tarifgemeinschaftsverkehr. Das 
verbandsrechtliche »Imperiume beruhe nicht auf obligationenrecht- 
lichem Vertragsschluß, sondern auf eingeräumter »Gebietshoheite, 
so daß die beiden Artikel auch in das Sachenrecht mit seinem snumerus 
claususe Bresche schlagen. Die an den Gesamtarbeitsvertrag ge- 
bundenen Beteiligten seien in Wahrheit »diejenigen, die durch ihr 
Adhäsionsverhältnis zu einem beteiligten, d.h. im Dienstherrnparla- 
ment vertretenen Betrieb den Teil ihrer Individualsphäre, den man 
mit Arbeitskraft bezeichnet, in die mit Dinghaftigkeit befrachtete 
Arbeitsgemeinschaft, Tarifgemeinschaft, eingeflochten habens. (S. 226.) 

Der von Boos vollzogene »Aufbau« des neuen Rechts beruht 


Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 3. 54 


832 Otto von Gierke, - 


sicherlich auf tiefen und trotz ihrer zum Teil etwas mystischen Ein- 
kleidung im Kern gesunden Grundgedanken. Allein in seiner radi- 
kalen Abkehr vom bisherigen Recht errichtet er einen Bau, dessen 
Konstruktion vielfach Begriffswandlungen, die er von der Zukunft 
erwartet, vorwegnimmt und jedenfalls aus den beiden Artikeln des 
schweizerischen Obligationenrechts nicht hergeleitet werden kann, 
ohne das geltende Recht im Sinne eines angestrebten Zukunftsideales 
zu interpretieren. Ein derartiges Verfahren wird von Boos offen 
zugestanden und ausdrücklich gerechtfertigt, bleibt jedoch nicht unbe- 
denklich, zumal keineswegs feststeht, daß gerade die von ihm verkün- 
dete Umformung der Begriffe für die Erreichung des Zieles erforderlich 
ist. Ich halte mit Boos die Regelung des »Gesamtarbeitsvertrages« für 
eine epochemachende Tat des schweizerischen Gesetzgebers und finde 
mit Boos den Kern der beiden Artikel in der Erhebung der ver- 
einbarten Bestimmungen über Dienstverhältnisse zu objektivem Recht. 
Auch stimme ich mit ihm darin überein, daß ein solcher Normen 
schaffender Vertrag kein bloßer schuldrechtlicher Vertrag sein kann, 
sondern ein automischer Akt ist, den eine durch das Gesetz dazu er- 
mächtigte Gemeinschaft vornimmt. Allein ich glaube, daß der Ab- 
schluß des Gesamtarbeitsvertrages nicht in seiner Satzungsfunktion 
aufgeht, sondern gleichzeitig ein Vertragsverhältnis begründet, das 
die Vertragsschließenden als Parteien in schuldrechtliche Beziehungen 
zueinander setzt. Die mit Autonomie ausgestattete Tarifgemeinschaft 
ist eben kein mit eigener Persönlichkeit ausgestatteter Verband, 
sondern eine bloße auf Zeit eingegangene und der Kündigung unter- 
worfene Gemeinschaft, der sich ihre Träger für die Dauer ihres Bestan- 
des einordnen, aber nicht unterordnen. Sie ist keine shöhere Einheite 
über Verbandsgliedern, sondern eine kollektive Einheit der Verbun- 
denen, die ein gemeinschaftliches einheitliches Handeln ermöglicht. 
Wenn der Verfasser sie bei der Tarifgemeinschaft organisierter beider- 
seitiger Verbände mit einem darüberstehenden » Bundesstaat« ver- 
gleicht, so fehlt ihr doch jedes für einen Staat charakteristische Merk- 
mal. Wenn er sich andererseits auf die Verwandtschaft mit einer 
»völkerrechtlichen Gemeinschafte beruft, so verkennt er, indem er 
dieser eine sübergeordnete Einheit« zuschreibt, das Wesen der bloß 
völkerrechtlichen Verbindung, mit dem eine Unterordnung der sou- 
verän bleibenden Staaten unter eine höhere Gewalt unvereinbar ist. 
In einer derartigen Gemeinschaft aber ist für Vertragsrechte und Ver- 
tragspflichten der Gemeiner gegeneinander Raum. Dies lehrt die 
Struktur jeder Gesamthandsgemeinschaft und jeder vertragsmäßig 
begründeten Gesellschaft, aber auch des von Boos durchaus pas- 
send herangezogenen »doppelständischene Gemeinwesens in seiner 
mittelalterlichen Gestalt, in der es eben einer wahren staatlichen Einheit 
entbehrte, und erst recht noch heute jeder völkerrechtlichen Gemein- 
schaft. So steht denn auch die Eliminierung der vertragsmäßigen 
Elemente aus dem »Gesamtarbeitsvertrage« nicht nur in Widerspruch 
mit dem Gesetz, sondern zwingt auch, wie wir noch sehen werden, 
den Verfasser zu unhaltbaren Konsequenzen in Ansehung des Verhält- 


— 


Die Zukunft des Tarifvertragsrechts. 833 


nisses der Gemeinschaftsträger zu einander, die er dann wieder durch 
analoge Anwendung des Vertragsrechtes abschwächen muß. Be- 
denklicher noch ist die völlige Ausschaltung der konstitutiven Kraft 
der einzelnen Dienstverträge. Auch wenn sie ihren Inhalt unmittelbar 
aus dem Gesamtarbeitsvertrage empfangen, so bleiben sie doch für den 
tariffreien Bereich die konstitutive Quelle des Rechtsverhältnisses 
zwischen dem Dienstherrn und dem Dienstverpflichteten. Dies ver- 
hält sich nicht anders, als bei manchen anderen selbständigen und na- 
mentlich den einem Verbandsrecht (z. B. bei eingetragenen Genossen- 
schaften oder Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit) einge- 
gliederten Schuldverträgen gegenüber zwingendem Gesetzes -oder 
Satzungsrecht. Neu ist bier nur die auch sonst an Stelle der nackten 
Nichtigkeit abweichender Bestimmungen vielfach empfehlenswerte, 
den Zwang im Ergebnis mehr mildernde als steigernde unmittelbare 
Ersetzung unverbindlicher Abreden durch den von der zwingenden 
Norm gebotenen Vertragsinhalt. In noch höherem Maße gilt das gleiche 
für nicht schuldrechtliche, insbesondere für dingliche und familien- 
rechtliche Verträge. Und vor allem bleibt ja das Ob der Eingehung 
des Dienstverhältnisses zwischen tarifgebundenen Personen durchaus 
der freien Willenseinigung überlassen. Diese Willenseinigung aber ist 
Vertrag, ist ein Dienstvertrag, der die notwendige Grundlage für die 
Anwendbarkeit der Satzungsnormen des (Gesamtarbeitsvertrages 
bildet. Unser geltendes Recht behandelt ja doch auch die Eingehung 
einer Ehe alsVertragsschluß.Und doch hängt hier von derWillenseinigung 
der Vertragschließenden nur das Zustandekommen eines Rechtsver- 
hältnisses ab, dessen Wirkungen das Gesetz ein für allemal dreh 
zwingende Normen unabdingbar festsetzt. 
va lm vierten Buch, das er »Ausbaue überschreibt, Bespticht 
Boos die Einzelfragen des schweizerischen Gesamtarbeitsvertrags- 
rechtes. (S. 227—294). Er führt hier überall mit Scharfsinn und Gründ- 
lichkeit seine Gesamtkonstruktion durch. Ich will nur einzelne wichtige 
Punkte hervorheben und daran einige kritische Bemerkungen knüpfen. 
Im I. Kapitel (S. 229—250) behandelt er de Entstehung 
der Rechtswirkungen. Er scheidet hier scharf die »Begrün- 
dung der Normgeberstelunge und die »Begründung der Stellung als 
Normunterworfene. Normgeber wird man durch eine Wilens- 
erklärung, auf die gemäß Art. 7 des ZGB. die allgemeinen Bestim- 
mungen des Obligationenrechts entsprechende Anwendung finden, 
die aber keinerlei Vertragspflichten erzeugt. Irrtum, Zwang und Täu- 
schung seien erheblich, aber nur mit verkürzter Frist als Anfechtsgründe 
anzuerkennen. Der Zeitpunkt des Inkraftfretens sei die Erfüllung 
der Schriftform, wobei es aber nur auf die Herstellung einer sinnlich 
wahrnehmbaren Beurkundung ankomme und darum das Vorhanden- 
sein von Unterschriften unwesentlich und auch der Schiedsspruch eines 
Einigungsamtes formgenügend sei. Eine Suspensivbedingung sei 
möglich. Die Stellung eines Normunterworfenen läßt 
der Verfasser unabhängig von jeder Willenserklärung eintreten. Die 
beteiligten Mitglieder seien, somit sie zur Zeit des Abschlusses schon 
| 54 *® 


834 Otto von Gierke, 


Mitglieder waren, von vornherein, soweit sie später eingetreten seien, 
mit der Begründung der Mitgliedschaft unterworfen, mochten sie vom 
Gesamtarbeitsvertrag wissen oder nicht. Nur bei den Einzelunterwer- 
fungen von Nichtmitgliedern sei eine individualistische Betrachtung 
erforderlich ; auch ihre Unterwerfung aber erfolge nicht durch Vertrag, 
sondern durch einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung, für die 
aber (trotz des Schweigens des Gesetzes) Schriftform zu fordern sei. 
Der Zeitpunkt des Wirkungsbeginnes sei der des Zustandekommens 
der Unterwerfung. Damit werden auch bestehende Dienstverträge so- 
fort den Tarifnormen gegenüber hinfällig. Eine Annahme, die ich für 
höchst bedenklich halte, da sie für das Satzungsrecht eine Rückwir- 
kung in Anspruch nimmt, die nicht einmal das Gesetzesrecht sich 
beilegt! ’Allerdings gestattet Boos dem Normgeber die Festsetzung 
eines späteren Zeitpunktes. Allein es ist wiederum ein Eingriff in er- 
worbene Rechte, wenn er auch eine Zurückdatierung der Tarifnormen 
zwar für die Regel verwirft, ausnahmsweise aber zulassen will, falls 
ein alter Tarif abgelaufen und ein neuer noch nicht in Kraft ist oder 
eine Tarifänderung verspätet eintritt. 

In ähnlicherWeise unterscheidet B o o s im 2. Kapitel (S. 250 —262) 
hinsichtlich der Beendigung der Rechtswirkungen 
das Ende der Normgeberqualität und das der Normuntertanenschaft. 
Die Normgeberqualität ende mit Ablauf der festgesetzten 
oder durch Kündigung bestimmten Geltungsdauer des Gesamtarbeits- 
vertrages; bei »wilden« Verträgen mit Ablauf der faktischen Geltungs- 
garantie. Eine einseitige Aufhebung vor der Zeit will der Verfasser 
in solchen Fällen zulassen, in denen bei zweiseitigen obligationenrecht- 
lichen Verträgen ein Rücktritt wegen Vertragsbruchs zulässig wäre. 
So bei Verletzung der Friedenspflicht oder dauernder Mißachtung 
der Tarifnormen, auch bei erheblichen Verstößen von Mitgliedern, 
falls ihnen gegenüber das Vereinsrecht versagt. Nicht dagegen aus 
einem sonstigen wichtigen Grunde«, namentlich nicht wegen Aende- 
rung der wirtschaftlichen Verhältnisse. Beim Tode eines Normgebers 
gehe dessen Stellung auf den neuen Geschäftsinhaber über, beim Weg- 
fall eines Verbandes gelte der Tarif als wilder »Tarif« für die Mit- 

- glieder fort. Was das Ende der Normuntertanenschaft 
betrifft, so will Boos zunächst den aus individualistischem Titel 
Unterworfenen eine vorzeitige Befreiung ausnahmsweise gestatten, 
falls ein Rücktrittsgrund vorliegt. Die kraft Verbandsrechtes unter- 
worfenen Beteiligten dagegen hält er unbedingt bei der Normunter- 
tanenschaft fest, mag auch ihre Verbandsangehörigkeit durch Auf- 
lösung des Verbandes oder durch Ausscheiden aus dem Verbande 
erlöschen. Ihre Bindung sei eben dauernd, unlöslich, vom Willen unab- 
hängig. Die im ZGB. Art. 70 gewährleistete Austrittsfreiheit aus 
Vereinen dürfe dagegen nicht angerufen werden. Hier scheint mir 
wieder der Verfasser sich über das positive Recht hinwegzusetzen, 
gleichzeitig aber mit seiner schroffen, durch keine Kautelen gemilderten 
Zwangsbindung das Individuum unbillig zu entrechten. 

Im 3. Kapitel (S. 263—272), »# Umgrenzung der Tatbe- 


Die Zukunft des Tarifvertragsrechts. 835 


stände«, stellt er als Voraussetzung für die Anwendung der Tarif- 
normen zunächst die Begründung eines Dienstverhältnisses fest, 
das aber nicht nur von Tarifgebundenen, sondern auch von Tariffreien, 
die sich einem gebundenen Betriebe eingliedern, eingegangen sein 
könne. Die Frage, ob der Arbeitgeber den freien Arbeiter, der sich für 
eine längere als die tarifmäßige Arbeitszeit einen geringeren Stunden- 
lohn (z, B. für 10 Stunden je go Rappen) ausbedungen hat, als den 
tarifmäßigen Stundenlohn (z. B. je ein Frc. für höchstens 8 Stunden), 
im Falle einer freiwillig fortgeleisteten längeren Arbeit den geringeren 
Lohn fortzahlen darf, entscheidet er dahin, daß der Arbeitgeber nur al- 
ternativ gebunden sei, der Arbeiter aber die Wahl habe. Der Verfasser 
begrenzt sodann den persönlichen, örtlichen und sachlichen Gel- 
tungsbereich der Tarifnormen, wobei er in letzterer Hinsicht den Grund- 
satz durchführt, daß alle Tarifbestimmungen immer nur Minimal- 
sätze zugunsten der Arbeiter bedeuten, und konstatiert schließlich 
die Ungültigkeit von Satzungsrecht, das gegen die guten Sitten oder 
das Recht der Persönlichkeit oder das Gesetz verstößt. 

Im 4. Kapitel (S. 273—281) beschäftigt sich Boos mit den 
s$Rechtswirkungen des Art. 323 im Einzelnen« 
Die Geltung des Gesamtarbeitsvertrages führt er wiederholt auf die 
Zugehörigkeit zu der »dinglich befrachteten Gemeinschaft« mit ihren 
personenrechtlich-sachenrechtlichen Folgen zurück. Für das germani- 
sche Geistesauge« stelle sich der Anspruch auf Arbeitsleistung als 
Anspruch der durch den Dienstherrn repräsentierten Betriebskörper- 
schaft gegen die Glieder und der Lohnanspruch des Arbeiters als An- 
spruch des Gliedes gegen die Betriebskörperschaft dar. Weil diese 
Ansprüche auf »Leistungen« gehen, seien auf sie die Bestimmungen 
des Tit. 2 des Obl.-R. über die Wirkungen der Obligation (Erfüllung, 
Nichterfüllung, Erlöschen) anwendbar, unanwendbar dagegen alle 
Vorschriften des Tit. 4 über die Entstehung der Obligation. Denn 
Rechtsgrund der Leistungspflichten sei nicht der Gesamtarbeitsver- 
trag, der sie objektiv umgrenze und forme, sondern nur das Faktum 
der Betriebszugehörigkeit. Die Nichtigkeit der abweichenden Ver- 
einbarungen greife gegenüber allen Verträgen, Firmen- oder Lokal- 
tarifen, Arbeitsordnungen durch; tatsächliche Abweichungen seien 
illegitime Verhältnisse. Doch äußere sich nach richtiger Meinung 
die Wirkung des Art. 323 nur gegenüber Abmachungen über zukünftig 
fällige Ansprüche, nicht gegenüberVerzichten auf erworbene Ansprüche. 
Wer lange mit einem geringeren Wochenlohn zufrieden war, könne nicht 
den höheren Tariflohn für jeden Tag nachfordern. 

Der Verfasser beschließt seinen Ausbau im 5. Kapitel (S. 281 —294) 
mit einer Darlegüing der über die Unabdingbarkeit 
hinausgehenden Rechtswirkungen des Gesamt- 
arbeitsvertrages« Der Art. 323 reiche nicht aus, wenn der 
Arbeiter unter Mitwirkung des Arbeiters die Tarifnormen bricht. Hier 
seien als »Schutzinstanzen« die Oberorgane der Gemeinschaft, immer 
das nächst höhere Tariforgan, möglicherweise aber auch in Mitleiden- 
schaft gezogene Organe der Gegenseite oder der andere Stand zur Wah- 


836 Otto von Gierke, 


rung der Gesamtnorm berufen. Eine Verletzung der Norm liege auch 
in der Nichterfüllung des gehörig geschlossenen Dieristvertrages. Die 
hiergegen erhobenen romanistischen Bedenken fallen mit dem Einzel- 
vertrage! Auch die faktische Mißachtung der Norm sei Normverletzung. 
Somit sei der faktisch nicht gezahlte Lohn tarifgemäß zu zahlen, 
aber nicht an den verzichtenden Arbeiter, sondern an die Tarifgemein- 
schaft. Der Anspruch der Tarifgemeinschaft wurzele im Strafrecht, 
-er richte sich auf eine »Bußee, die z. B. nach den Satzungen des Buch- 
druckerverbandes an Ferienkolonien falle. Die Durchsetzung dieser 
Ansprüche verweist der Verfasser auf den Prozeßweg (mittels Neben- 
intervention, selbständiger Klage, Einrede) und außerdem auf die 
Geltendmachung vorgesehener Bußen oder Konventionalstrafen und 
die Ausschließung aus der Gemeinschaft. Den Normgebern gegenein- 
ander legt er eine Verpflichtung zur Erfüllung ihrer Organfunktionen 
auf, zu deren Realisierung freilich der Erfüllungsanspruch wenig nütze, 
aber das Rücktrittsrecht und der eventuelle Schadensersatzanspruch 
verhelfen können. 

Ich brauche nicht hervorzuheben, daß alle Einzelheiten des »Aus- 
baus«, insoweit sie der vom Verfasser dem »Aufbau« zugrunde gelegten 
Konstruktion entsprechen, von den Bedenken mitbetroffen werden, 
die ich oben gegen die Behandlung der Tarifgemeinschaft als einer 
vollendeten Körperschaft, gegen die Eliminierung der Vertragsele- 
mente des Gesamtarbeitsvertrages und gegen die Ausschaltung der 
Einzelverträge erhoben habe. Allein wenn auch meines Erachtens 
kaum anzunehmen ist, daß sie trotz mancher Zugeständnisse an das 
geltende Recht die Anerkennung als positiver Gesetzesinhalt finden 
werden, so sind sie doch überaus wertvoll. Denn sie liefern einerseits 
einen streng wissenschaftlichen Beweis für die Möglichkeit eines 
Systems des Arbeitsrechts, das im Rahmen einer freigeschaffenen, 
aber straff korporativ organisierten Gemeinschaft von Arbeitgebern 
und Arbeitern auf privatrechtlichem Boden erstehen kann. Und sie 
können anderseits auch auf die praktische Handhabung der Gesetzes- 
bestimmungen über den Gesamtarbeitsvertrag befruchtend einwirken, 
wenn sie als Zielpunkte für die Rechtsfortbildung gewertet werden. 

Aus dem als +A b s c h 1 u Be bezeichneten fünften Buch (S. 205 ff.), 
das ziemlich heterogene Dinge vereinigt, will ich an dieser Stelle nur 
das I. Kap. (S. 297—305) besprechen, weil die in ihm enthaltene 
Darlegung der Ergebnisse für die Behandlung der 
Friedenspflichte eine wesentliche Ergänzung des vom Ver- 
fasser vollzogenen Auf- und Ausbaues bildet. Freilich entwirft Boos, 
weil er sich die sphysiologische« Struktur des gesunden Körpers zur 
Aufgabe gesetzt habe, nur eine kurze Skizze der stherapeutischen« 
Behandlung von Gesundheitsstörungen dieses Körpers. Allein es ist 
für seine Gesamtauffassung charakteristisch, daß er in den Klassen- 
kämpfen der Gegenwart »Kinderkrankheiten« des werdenden Organis- 
mus der berufsständischen Arbeitsgemeinschaft erblickt und dem 
Gesamtarbeitsvertrage die Kraft der Wiederherstellung der Gesund- 
heit zuschreibt. Für ihn entspringt daher aus der Tarifgemeinschaft 





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Die Zukunit des Tarifvertragsrechts. 837 


eine auf Friedenswahrung gerichtete »sozialrechtliche Pflicht mit 
obligationenrechtlichem Gehalt“. Die Verpflichtung treffe alle der 
Gemeinschaft eingegliederten Einzelnen und Verbandspersonen und 
bestehe gegenüber jeder eingegliederten Einzel- oder Verbandsperson. 
Ihrem Umfange nach schließe sie den Schutz der Gemeinschaft gegen 
Tarifbrecher mit wirtschaftlichen Kampfmitteln und gegen Außen- 
stehende mit geeigneten Kampfmaßregeln ein. Kein Tarifbruch seien 
Demonstrationsveranstaltungen gegen allgemeine gesellschaftliche 
Zustände, somit auch nicht die Teilnahme an einem Generalstreik 
oder der Maifeier, wohl aber (wie meines Erachtens mit Recht abwei- 
chend von Sinzheimer angenommen wird), die Teilnahme an 
einem Sympathiestreik. Kampfmaßregeln wegen nicht geregelterPunkte 
und die Weigerung, Streikarbeit zu verrichten, seien kein Tarifbruch. 
Empfehlenswert sei die Ueberweisung der Entscheidung, ob im 
einzelnen Falle (z. B. bei Streik, Aussperrung, Boykott, Verwendung 
schwarzer Listen, passivem Widerstand, Einrichtung eines Zwangs- 
arbeitsnachweises, Maßregelung von Arbeitern) eine Verletzung der 
Friedenspflicht vorliege oder nicht, an ein paritätisches Tariforgan. 
Zu den sonstigen Rechtsfolgen der Pflichtverletzung trete bei der Ver- 
letzung der Friedenspflicht der praktisch wertvolle Schadensersatz- 
anspruch hinzu. Diesen Schadensersatzanspruch gewährt der Verfasser 
(abweichend von Sinzheimer) jeder geschädigten, der Tarifge- 
meinschaft eingegliederten Einzel- oder Verbandsperson. Die durch 
die formelle Gleichbehandlung bewirkte stärkere tatsächliche Belas- 
tung der Arbeiterseite stelle, da im Uebrigen die Arbeitgeberseite in 
erster Linie beschwert sei, das Gleichgewicht des ganzen Tarifver- 
hältnisses wieder her. 

Die im 2. Kapitel (S. 306—308) festgestellten Ergebnisse für die 
Gesetzgebung, die Boos nicht weiter bemühen will, habe ich 
schon oben mitgeteilt. Auf die im 3. Kap. (S. 308—313) behandelten 
Ergebnisse zur Behandlung der sozialen Frage komme ich noch 
zurück. Hinsichtlich der im 4. Kapitel (S. 313—319 (zusammengefaßten 
Ergebnise zur juristischen Methodologie bemerke 
ich, daß Boos, indem er durch Augenschein bewiesen zu haben glaubt, 
daß das Recht nicht durch den Zweck, sondern durch die Urbilder 
gestaltet werde, sowohl die reine Begriffsjurisprudenz wie die teleolo- 
gische Jurisprudenz als einseitig verwirft. Wahres Ziel des Rechtes 
sei die Gerechtigkeit. In Verbindung mit dem ganzen Volksleben 
habe das Gesetz ein auf dieses Ziel gerichtetes reines Recht zu schaffen, 
der Richter aber es zu ergänzen. Dabei habe die Rechtsprechung 
schöpferisch mitzuwirken, nicht aber im Sinne der gesetzentbundenen 
sfreien« Rechtsprechung zu verfahren, sondern einen goldenen Mittel- 
weg einzuschlagen. Voraussetzung hierfür aber sei seine Wissenschaft 
von den lebendigen Geistesformen«. Hiervon handelt der Verfasser 
näher im 5. Kapitel (S. 320—325), daser s1Endergebnis« über- 
schreibt. Wir haben davon noch weiter zu reden. 


838 Otto von Gierke, 


IV. 


Denn es erübrigt noch, einen Blick auf die allgemeinen 
Ideen zu werfen, die beide Schriftsteller über das Tarifvertrags- 
recht hinausgreifend entwickeln. 

Sinzheimer handelt in einem besonderen Schlußabschnitt 
(S. 179—209) vonder sIdee der sozialen Selbstbestim- 
mung im Rechte Er geht davon aus, daß das staatliche Recht 
auch ssoziale Technike sei, aber vermöge seiner Starrheit in Widerspruch 
mit der »Gesellschaft« gerate. Dagegen helfe weder die immer neue 
Gesetzgebung, deren Ueberproduktion schon heute kaum zu ertragen 
sei, noch die sfreie Rechtsprechung«, noch auch die von Heck 
empfohlene, mit den Rechten des Parlaments unvereinbare Erweite- 
rung der Verordnungsgewalt auf privatrechtlichem Gebiet. Hilfe könne 
vielmehr nur die unmittelbare Rechtsbildung durch die Gesellschaft 
bringen. Sie sei ja heute mannigfach vorhanden (z. B. bei Kartellen, 
allgemeinen Vertragsbedingungen, Benutzung von Formularen). Aber 
objektives Recht zu schaffen sei die Volksinitiative heute nicht aus- 
reichend. Die Bildung von Gewohnheitsrecht scheitere an der heutigen 
stürmischen und gespaltenen Bewegung. Autonomie fordere einen 
organisierten Verband. Aber warum solle der Staat nicht einem Ver- 
trage autonomische Kraft verleihen ? Er wahre seine Autorität 
zur Genüge, wenn er die Vertragsfreiheit durch zwingende Gesetze 
einschränke, die soziale Selbstbestimmung an eine durch Staatsgesetz 
zur Verfügung gestellte Organisation binde, Normativbestimmungen 
treffe und die Selbstexekution seiner Aufsicht unterwerfe. So gehe 
das staatliche Privatrecht in soziales Verfassungsrecht über, das aus 
der Freiheit heraus neue Kräfte erweckte. Die Bedeutung einer der- 
artigen Umbildung liege darin, daß sie eine größere soziale Innigkeit 
des Rechts, Dezentralisation und höhere Objektivität herbeiführe, die 
gesellschaftliche Abhängigkeit aller Lebensverhältnisse gegenüber der 
nur scheinbaren Freiheit individueller Lebensäußerungen zur Geltung 
bringe, einen »sozialen Parlamentarismus« anbahne. Dies berühre 
sich mit den allgemeinen Ideen über eine soziale Willensbildung außer- 
halb der politischen Parlamente, wie denn in der Tat eine Spaltung der 
gesetzgeberischen Tätigkeit in einen sozialen und einen politischen 
Teil zur Erneuerung des öffentlichen Lebens beitragen könne. In dem 
gleichen Geiste aber, wie der Tarifvertrag, sei das ganze Arbeitsrecht 
auszubauen. In die Schlichtung der Arbeitskämpfe durch Einigungs- 
ämter seien Zwangsverhandlung und Verhandlungszwang einzuführen, 
dabei aber die Verhandlungsfähigkeit an Tariffähigkeit zu knüpfen. 
Eine Erweiterung der Tarifwirkungen sei anzustreben, aber nur durch 
Arbeitskammern möglich. Neben dem Staatswillen und dem Einzel- 
willen werde so auch der »soziale Wille«e wirksam. Dies alles führe zu 
der erforderlichen »Neuorientierung des Arbeitsrechtes«. 

Wer wollte verkennen, daß diesem Gedankengange Sin zh eji- 
mers beachtenswerte und vielfach gesunde Ideen zugrunde liegen? 
Allein sie beruhen auf Voraussetzungen, die ich infolge meiner ab- 
weichenden Auffassung des Wesens des Rechts, des Verhältnisses 


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rn 


Die Zukunft des Tarifvertragsrechts. 839 


zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht und der Stellung des 
Staates zu der sogenannten »Gesellschaft« ablehnen muß. Darum aber 
stehe ich auch dem Plane einer Umbildung des Arbeitsrechts im Sinne 
eines besonderen sozialen Zwischenreichs, das zwischen ein indivi- 
dualistisches Privatrecht und ein rein staatliches öffentliches Recht 
als Mischgebilde eingeschoben werden soll, skeptisch gegenüber. 
Der auf diesem Gebiete zur Herrschaft berufene »soziale Wille« erscheint 
mir als ein verschwimmender Begriff. Der doppelte Parlamentarismus 
mit seiner praktisch kaum durchführbaren Teilung »politischere und 
ssozialer« Gesetzesarbeit würde nach meiner Ueberzeugung das öffent- 
liche Leben keineswegs fördern, sondern in gefährlicher Weise zer- 
rütten, da er das Volksleben, das doch ein einheitliches sein muß, 
zerreißen und zugleich die Einheit der Staatspersönlichkeit, die doch 
das Volk als Ganzes verkörpern soll, in Frage stellen würde. Ich glaube, 
daß Sinzheimer zu wesentlich anderen Ergebnissen gelangt sein 
würde, wenn er weniger im Banne der romanistischen Gedankenwelt 
befangen geblieben wäre und sich tiefer in die germanischen Rechtsge- 
danken versenkt hätte. Im Zusammenhang damit scheint mir auch 
die Kritik, die er an der deutschen Rechtswissenschaft übt, zwar man- 
chen berechtigtenVorwurf zu enthalten, aber ein einseitiges und unge- 
rechtes Gesamturteil zu fällen. In der scharfen Scheidung der Fragen 
nach der lex lata und der lex ferenda erblicke ich einen Vorzug der 
Jurisprudenz vor der Nationalökonomie, die das Seiende und das 
Seinsollende selten gehörig auseinanderhält. Diesen Vorzug darf sie 
niemals aufgeben. Die Behauptung aber, daß die Rechtswissenschaft 
die Mitarbeit an der Fortbildung des Rechts ungebührlich vernach- 
lässigt habe, trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu. Ebensowenig aber 
ist, wenn die tiefer eindringenden und bleibenden Wert beanspruchen- 
den rechtswissenschaftlichen Arbeiten herangezogen werden, der Vor- 
wurf begründet, daß unsere Rechtswissenschaft an den gewaltigen 
neuen Lebenserscheinungen auf sozialem Gebiet achtlos vorübergehe. 
Als durchaus verfehlt muß ich endlich Sinzheimers Urteil 
über unsere juristischen Fakultäten zurückweisen (vgl. Vorwort S. VI), 
Sie sind nicht zu »Beamtenschulen« herabgesunken, und es bedarf 
nicht der Stellung neuer Aufgaben, um sie wieder »zu wissenschaft- 
lichen Lehrstätten« zu machen und tden Geist des heranwachsenden 
Juristengeschlechts mit neuer Freude an dem wirklichen Reichtum des 
rechtlichen Schaffenss zu erfüllen. Mögen sie vielfach hinter den 
selbstgesteckten Zielen zurückbleiben, so sind sie doch im ganzen stets 
dem Streben nach der Heranbildung der Jugend zu echt wissenschaft- 
lichem Denken treu geblieben und haben nach Kräften auch die neuen 
Aufgaben, die in überwältigender Fülle sich ihnen aufdrängten, in 
ihre Unterrichtspläne eingefügt und mit den bewährten Methoden 
gelöst. — 

Die allgemeinen Ideen, die Boos bei Gelegenheit seiner Er- 
örterung der schweizerischen Gesetzesvorschriften über den Gesamt- 
arbeitsvertrag entwickelt, durchziehen sein ganzes Buch. Wir haben 
sie daher in der Hauptsache schon kennen gelernt. Im Gegensatz zu 


840 Otto von Gierke, 


Sinzheimer denkt er durchaus germanistisch und erstrebt die 
Wiederbelebung deutscher Rechtsgedanken und ihre Versöhnung mit 
den romanistischen Rechtsformen (vgl. bes. S. 109 ff., 148 ff., 152 ff., 
161 ff., 273 ff., 285). Das Wesen des Rechtes faßt er in scharfem Gegen- 
satz zu Sinzheimers »sozialer Technik« tief und echt deutsch 
auf, indem er an Stelle des »Zwecks« die »Urbildere als rechtsschöpfe- 
rische Kraft betrachtet und somit die Selbständigkeit und spezifische 
Eigenart der Rechtsidee würdigt. Die Rechtsbegriffe sind ihm sle- 
bendige Geistesformen« Das »Sozialrecht« pflanzt er im Gegensatz 
zu Sinzheimer mitten in das Privatrecht hinein und verflicht 
es mit dem privatrechtlichen Individualrecht, baut daher auch das neue 
Arbeitsrecht als Teil des Privatrechts ohne staatssozialistische 
Zutaten auf. Ich habe diese Grundgedanken schon gewürdigt und im 
Wesentlichen meine Zustimmung ausgesprochen. Nur auf zwei 
Punkte will ich noch hinweisen, in denen Boos seinen Ideen eine 
über das Gebiet des Gesamtarbeitsvertrages weit hinausgehende Be- 
deutung für die Erreichung von Zukunftszielen beimißt. 

Erstens auf seine Zielsetzung für die Gestaltung des staat- 
lichen Lebens. Er sieht in dem Gesamtarbeitsvertrage einen Bau- 
stein für den Ausbau des Staates zu einem »Vernunftsstaat«, einem 
»Arbeitsstaat freier Ständee. Was er darüber zu sagen hat, faßt er 
im 3. Kap. des letzten Buches (S. 308—313), das von den »Ergebnissen 
zur Behandlung der sozialen Frage« redet, zusammen. Er erwartet 
deren Lösung durch gewerkschaftliche Kleinarbeit. In den Klassen- 
kämpfen (vgl. über diese auch S. 77 ff.) sei in gleicher Weise den Schwär- 
mern wie den Scharfmachern und Hetzern auf beiden Seiten entgegen- 
zutreten. Nicht Privateigentum oder Kollektiveigentum oder sonst 
dergleichen seien die Zielpunkte, sondern der Uebergang von der 
` Monarchie zur Demokratie. Es sei eine große Tat des schweizerischen 
Staats, daß er der neuen ständischen Gemeinschaft Normsetzungs- 
gewalt verliehen und damit die schrittweise zu vollziehende Verwirk- 
lichung des freien Arbeitsstaats ermöglicht habe. Da eine nähere Aus- 
führung fehlt, ist nicht recht zu erkennen, wie der »Arbeitsstaat freier 
Stände« aussehen soll. Der Staat besteht doch nicht bloß aus gewerb- 
lichen Arbeitgebern und Arbeitern. Vielleicht zeichnet uns Boos 
später ein Gesamtbild seines Zukunftstaats. Daß ihm dabei ein rein 
demokratisches Ideal vorschwebt, ist dem Schweizer nicht zu verübeln. 
Der deutsche Leser wird die Wertung des monarchischen Gedankens 
vermissen. Zum mindesten aber hätte der Verfasser es vermeiden sollen, 
über die deutsche Monarchie, für deren tiefe Einwurzelung im deutschen 
Volksgeist und für deren gerade heute bewährte lebendige Kraft ihm 
anscheinend das Verständnis fehlt, geringschätzig abzuurteilen. Das 
tut er aber, wenn er mehrfach eine Stufenfolge von den sunfreien« 
Staaten Norddeutschlands durch die »freieren« süddeutschen Staaten 
bis zur höchststehenden »freien Schweizs etabliert; wenn er von sver- 
alteten, unsinnigen Arbeitsrechtsordnungen« in Deutschland spricht 
und als Musterbeispiel den »unwirtschaftlichen Großgrundbesitze, 
von dessen wirtschaftlichen Funktionen er offenbar keine Ahn- 


b 


Die Zukunft des Tarifvertragsrechts. 841 


nung hat, anführt (S. 159 ff.); wenn er gar den führenden deutschen 
Staat, dessen geschichtlich erwachsene sprudeinde Lebenskraft das 
feste Rückgrat unserer Reiches bildet, als das »verknöcherte Preußen« 
bezeichnet (S. 164). Ich bedaure diese Entgleisungen des sonst so 
weitblickenden und besonnenen Verfassers. Zum Glück sind sie nur 
gelegentliche Schönheitsfehler und für den Gesamtaufbau bedeutungs- 
los. 

Der zweite Punkt, auf den ich noch hindeuten will, ist die Ziel- 
setzung fürdie Rechtswissenschaft, dieBoos im Schluß- 
kapitel (S. 320—325) vornimmt. Die Rechtswissenschaft sei ein 
Zweig der s»Wissenschaft von den lebendigen Gei- 
stesformene« Diese habe das Amt eines sozialen Lebenszentrums 
im sozialen Körper zu erfüllen, dessen Gehirn die »Gelehrtengemeinde« 
sei. Von ihr fordere der soziale Körper zunächst nutzbringende Dienste, 
aber auch er sei »Diener«, Diener des »Wahren und Gutene. Die Wis- 
senschaft solle das Volk heranbilden, aber aus dem im ganzen Volke 
lebendigen Geiste und seiner Zukunftssehnsucht schöpfen. Alle 
Geisteswissenschaft sei Kulturwissenschaft, tatbegründende Ziel- 
wissenschaft. So auch die Rechtswissenschaft. Ihr. unmittelbarer 
Gegenstand sei die Gemeinschaft, ihr Ertrag das Recht. Die Rechts- 
sätze seien Vernunftaussagen, die nicht bloß das äußere Zusammen- 
leben ordnen. Vielmehr sei ihre Quelle das geistige Innere der recht- 
schaffenden Gemeinschaft, ihr Ziel die Gesinnung. Aber gegenüber 
der mittelalterlichen Theo- und Moralokratie habe die heutige Rechts- 
wissenschaft nach den Befreiungstaten der Neuzeit an dem Gedanken 
des Rechtsstaats festzuhalten. Nur müsse die vom römischen Recht 
übernommene Auffassung des Rechts als einer durch Willenstat und 
Befehl vermittelten äußeren Ordnung gestürzt und das Aeußerliche 
verinnerlicht werden. »Die äußere Lebensform des Rechts soll dem 
einzelnen Gemeinschaftsgliede sein höheres Ich spiegeln«. In diesem 
Sinne habe die Rechtswissenschaft auch auf die Verinnerlichung der 

"aus dem Chaos von außen her erwachsenen, aber das im Innersten des 
e Einzelnen und der Gemeinschaft vorhandene verhüllte Urbild mehr und 
mehr entschleiernden Arbeitsgemeinschaft hinzuwirken. Das Endideal 
sei die völlige Ueberwindung des täuschenden'‘Scheins und die rest- 
lose Herrschaft des Wirklich-Vernünftigen, des fleischgewordenen 
Logos. So nähere man sich, christlich gesprochen, Schritt für Schritt 
dem Gottesreiche auf Erden, in dem nach den Aussprüchen von Paulus 
in jedem Individuum Christus lebt und die Gemeinschaft einen alle 
Glieder einschließenden Leib in Christus bildet. Das sind schöne Ge- 
danken in schöner Form! Mit ihrer Wiedergabe nehmen wir, ohne die 
kritische Sonde anzulegen, von dem geistvollen Buche Abschied. 


la 
h 


842 


Auswanderung und Schiffahrt mit besonderer Berück- 
sichtigung der österreichischen Verhältnisse. 


I. Teil), 
Von 


ARTHUR SALZ. 
II. Organisationsformen der Seeschiffahrt. 


Daß in dieser vor dem Kriege geschriebenen Abhandlung von einer 
Vergangenheit die Rede ist, daß Geschichte erzählt und nicht Gegenwart 
dargestellt ist, wird der Leser auf Schritt und Tritt merken. Jedes 
Präsens wird durch ein Imperfektum zu ersetzen sein. Was geschrieben 
und gemeint war als Fingerzeig auf Schwierigkeiten, die gesetzlicher 
Regelung und vertraglicher Abmachungen zwischen Staat und Wirt- 
schaftsgebilden, zwischen Staat und Staat bedürfen, wenn große Ge- 
fahren verwieden werden sollen, das kann heute oder wenigstens in 
dem Momente, wo wir noch mitten in der Krisis stehen, höchstens das 
Interesse beanspruchen, daß es deutlicher zeigt, welche Verwickelungen 
und Interessenverflechtungen wirtschaftlicher Art zu politischen Span- 
nungen sich verdichtend uns in diese Katastrophe gestürzt haben 
und weiter zum evidenten Bewußtsein bringt, welche Gefahren, die . 
wir nicht vermieden haben und vielleicht nicht vermeiden konnten, 
eın vollreif gewordenes Wirtschaftssystem oder gewisse wirtschaftliche 
Verfahrungsweisen, die sich schlicht wie Kinderspiele - anlassen und 
die Nation plötzlich vor die Existenzfrage stellen, in sich bergen. 

Ich bin geneigt zu glauben, daß unter dem Widerstreit der mannig- 
faltigen Interessen um die heute gekämpft wird — soweit es wirtschaft- 
liche Interessen sind — das der Schiffahrt das schwerwiegendste ist 
und ihm demgemäß als Kriegsursache — wenigstens in dem Kampfe 
zwischen England und Deutschland, auch in dem Konflikt zwischen 
Deutschland und Nordamerika — eine überwiegende Bedeutung zu- 
kommt. Auf der einen Seite bedeutet der Ruf nach Freiheit der Meere, 
auf der anderen der Wunsch, den deutschen »Handel« zu treffen, den 
Kampf der organisierten Schiffahrtsverbände, hinter denen die Staaten 
mit ihren Machtmitteln stehen, um das Meer und den We:tmarkt. Um 


1) Vgl. in dieser Zeitschrift Band 39, Seite go. 





Auswanderung u. Schiffahrt mit bes. Berücksichtigung der öst. Verhältnisse. 843 


die Hegemonie zur See wird in Wahrheit gestritten, und man muß es 
England zugestehen, daß es den richtigen,den letztenAugenblick erspäht 
hat, um den lästigen Wettbewerb Deutschlands zu brechen. Denn in 
der Tat: auf dem Weltmarkt herrscht heute, wer die Verkehrsmittel 
und damit die Verkehrsstraßen in der Hand hat und von allen Mono- 
polen die es gibt oder die sich denken lassen, wäre ein generelles Ver- 
kehrsmittelmonopol, die wirksame Herrschaft über Straßen und Meere 
das gefährlichste und unerträglichste. Der Spätling unter den Welt- 
völkern, dem es nicht verstattet ist, auf glücklichem Eiland lebend 
die Welt draußen zum Tummelplatz seiner Interessen zu wählen, der 
vielmehr mit beiden Füßen fest in der kargen Erde des Vaterlandes 
ruhen muß, er bedarf zu freierer Bewegung in der Welt künstlicher 
Mittel, gleichsam Krücken, mit denen er sich vom heimischen Boden 
hinweghebt um sich einen Anteil an den Schätzen der enggewordenen 
Welt zu sichern: seine Verkehrsmittel ersetzen in gewissem Grade die 
leibliche Gegenwart auf den Weltmärkten und die stets sichtbare 
Herrschaft über fremde Völker und Länder, deren Naturgaben er 
doch für die heimische Wirtschaftsführung nicht entraten kann. 

Im ersten Teil dieser Abhandlung, die vor dem Kriege erschienen 
ist, wurde geschildert, wie das kapitalistische Erwerbsinteresse der 
Verkehrsanstalten zur See das moderne Rechtsprinzip der Frei- 
zügigkeit, die Freiheit der Bewegung im Raume, zu benutzen versteht 
und dabei gemäß einem allgemeinen Lebensprinzip des Kapitalismus 
nicht erst vorhandene Massenbedürfnisse zu befriedigen, sondern 
solche zu erzeugen Massenwanderungen nicht nur organisiert, sondern 
auch inszeniert. Nunmehr soll dargestellt werden, wie diese Verkehrs- 
anstalten selbst organisiert sind und welche Machtmittel sie zu dieser 
souveränen Beherrschung der Wanderbewegungen in unserem Zeit- 
alter befähigen. Von jeher waren ja, wie man weiß, mit der Massen- 
beförderung der Ware Mensch starke Erwerbsinteressen verknüpft, 
in der römischen Antike — um nur ein Beispiel zu nennen —, in der 
man die Freizügigkeit nicht kannte, war es vornehmlich der Krieg, 
der zu großen Transporten Anlaß gab; die Kriegstransporte aber be- 
sorgte die engverbündete römische Finanzaristokratie*), die ja an diesen 
Geschäften mit dem Staate groß Wurde, bis sie schließlich den Staat 
selbst bedrohte. 

Nun wird sich aber sogleich zeigen, wie der wirtschaftlichen Ver- 
wertung der Freizügigkeit durch unser Schitfahrtskapital auf der 
anderen Seite die Eliminierung eines anderen »Grundrechts« der mo- 
dernen Wirtschaft: der freien Konkurrenz entspricht. Die Rechts- 
form, das Schema, muß bestehen, damit die reale wirtschaftliche 
Macht, das Monopol, sich darein einnistet. 

Es klingt heute wie ein Märchen, wenn Marx bei Besprechung der 
ausgezeichneten Bedingungen für die Erneuerung einer adriatischen 
Seemacht durch Oesterreich dieses selbst als das einzige Hindernis 

8) Lehrreiche Parallelen bieten die Karthagischen Verhältnisse, was aber 
hier zu weit führen würde. 


844 Arthur Salz, 


erklärt, weil nach allen Traditionen der Geschichte Macht zur See 
an Freiheit geknüpit sei. Wo ist die Freiheit geblieben ? 

Man kann füglich behaupten, daß bis zum Ausbruch des Krieges 
das transatlantische Passagiergeschäft von einem internationalen Ver- 
bande einiger weniger Schiffahrtsgesellschaften beherrscht wurde, 
in welchem die deutschen Gesellschaften die Führung innehatten. 

Die moderne Verbandsbildung in der Seeschiffahrt mit dem ım Ver- 
gleich zu früheren Verbandszwecken ganz nüchternen Plane die 
Konkurrenz zu eliminieren ist in letzter Zeit öfter Gegenstand sowohl 
behördlicher Untersuchung ®) als auch monographischer Darstellung $) 
gewesen. Diese umfangreiche Literatur befriedigt aber, soviel Wert- 
volles sie enthält, weder den theoretisch interessierten National- 
ökonomen noch den Historiker ganz. Den ersteren nicht, weil die 
Fragestellung überhaupt nicht oder nicht genügend an allgemeinen 

Problemen orientiert ist, was zum Teil freilich darin begründet liegt, 
daß es sich um eine noch im Werden liegende Gestaltung, um eine 
nicht abgeschlossene und noch nicht übersehbare Entwicklung handelt, 
den Historiker nicht, weil die Neuorganisation der Schiffahrt die wir 
als Konzentrationsbewegung kennen einen viel zu großen Umfang 
angenommen hat, als daß sie nicht auch über das bloß wirtschaftliche 
und private Interessengebiet hinausreichende Wirkungen äußern 
sollte, weil sie so bedeutsam geworden ist oder werden kann, daß sie 
Anknüpfung an die großen Probleme der Sozialgeschichte fordert. 
Wenn wir ganz im Bereich der ökonomischen Theorie verbleiben, so 
ist z.B. die Frage der »natürlichen«e Tendenz der öffent ichen Ver- 
kehrsmittel zur Monopolbildung (das allgemeine statische Gesetz 
der Verkehrsanstalten) eine viel zu interessante, um eine so dürftige 
Fundierung zu vertragen als ihr in den neueren Darstellungen, sofern sie 
überhaupt berührt wird, zu vertragen. Ad. Smith z. B. spricht ja schon 
von einem solchen »natürlichen« Monopol (das allerdings auf pyscho- 
logischen Tatsachen beruht) des Arbeitgebers gegenüber den mit ibm 
kontrahierenden Lohnarbeitern. Von diesem Monopol ist ersichtlich 
die Monopoltendenz der Verkehrsmittel, weil auf anderen Grundlagen 
zuhend, grundverschieden 5). Solcher theoretisch zu klärender Fragen 
gibt es aber viele. Stellen wır uns aber historisch ein, so sind wir be- 
müßigt zu fragen, wodurch sich die neueren Schiffahrtsverbände von 
den verschiedenen in anderen Zeiten bekannten Genossenschaften der 
Schiffahrtsinteressenten chätakteristisch unterscheiden u.a.m. - 

Wie die Dinge liegen, haben die neueren Darstellungen zumeist 

etwas Improvisiertes, Unsicheres sowohl in der Fragestellung als insbe- 


3) Report of the Royal commission on Shipping Rings. London 1909. Pro- 
ceedings of the Committee on the Merchant Marine and Fisheries in the Investi- 
gation of Shipping Combinations under House Resolution 587. Washington 1913. 
Special Diplomatic and Consular Reporte 1913. 

€) Wiedenfeld, Thieß, Overzier zuletzt Lenz; Die Konzentration im 
Schiffahrtsgewerbe 1913 und Eucken; die Verbandsbildungen der Seeschif- 
fahrt 1913. 

s) Vgl. J. Cohn. Zur Geschichte des Verkehrswesens. Sax- Weichs-Glohn u.a. 


Auswanderung u. Schiffahrt mit bes. Berücksichtigung der öst. Verhältnisse. 845 


sondere auch in der Beurteilung der Tatsachen und der bisherigen 
Ergebnisse der Entwicklung. Ueberschaut man gar von einem ge- 
wissen einmal erreichten Standpunkt die ganze Entwicklung nach rück- 
wärts, so verfällt man nur allzuleicht dem Eindruck, daß hier eine 
ganz naturnotwendige, und durchaus volkswirtschaftlich vorteil- 
hafte Entwicklung sich vollzogen habe, die so wie sie ist ver- 
nunftgemäß gar nicht anders hätte sein können, und alsbald gewinnt es 
den Anschein, als ob die gegenwärtige Organisation der Seeschiffahrt 
unter gewissen gegebnen technischen und wirtschaftlichen Umständen 
nicht nur die einzig mögliche, sondern auch die best ausdenkbare sei ®). 
Das heißt sich die Sache etwas zu leicht machen. Man vergißt dabei, 
daß unter gleichen sachlichen Bedingungen große Verkehrssysteme 
(ja das größte das es auf der Welt gibt: dieamerikanischen Eisenbahnen) 
auf ganz anderer Grundlage aufgebaut sind und erst spät, als sie im 
wesentlichen ihre großen Leistungen hinsichtlich Siedelung und Ent- 
wicklung der nationalen Produktivkräfte geleistet hatten, die Form 


“und Organisation annahmen, in der sie heute Gegenstand der Debat- 


ten sind. 

Wer sich solche Kritik erlaubt, übernimmt eigentlich die Ver- 
pflichtung zu zeigen, daß er etwas besseres zu bieten hat. Indes möchte 
ich diese Verpflichtung ausdrücklich ablehnen, wenigstens für diesmal, 
wo es sich nur um ein Teilproblem handelt, nämlich um das Verhältnis 
der Schiffahrtsverbände zur Auswanderung und des Staates zu eben 
diesen beiden ; ja es wird nicht zu umgehen sein, daßdesZusammenhangs 
wegen allbekannte Tatsachen eben nur als Tatsachen und nicht in 
ihrer signifikativen Bedeutung wiederholt werden, 

:: Daß dabei gerade die neueren Verhältnisse in Oesterreich zum 
Ausgangs- und Mittelpunkt genommen werden hat besondere Gründe. 
Gewiß! Deutschland hat keine Veranlassung sich über seine nationale 
Schifffahrt zu beklagen; im Gegenteil, es kann höchst zufrieden sein, 
mag auch das Urteilder Autoren über Schiffahrtsprobleme noch so un- 
kritisch anmuten. Oesterreich aber ist gewissermaßen der Leidtragende 
der neueren Entwicklung der deutschen Schiffahrt gewesen. Es zeigt 


was geschieht, wenn der Staat aus Grundsatz oder aus Lässigkeit 


keinen positiven Standpunkt weder gegenüber der Auswanderung 
noch gegenüber den Kartellen bezieht und alles gehen läßt wie es gerade 
kommt. Der Staat ist desorientiert gegenüber.dem verhältnismäßig 
alten Problem der Auswanderung noch imı.ıer, gegenüber den Kartel en 
schon wieder einmal. Zugleich aber sieht man, was dieser selbe Staat, 


t 9 Es ist eine allgemeine Schwäche unserer Kartelliteratur, den sie mit einer 
gewissen voreiligen Geschichtsphilosophie teilt, daß sie in dem beseeligenden Wun- 
sche, in allem Gewordenen das Vernünftige und nur dieses sehen zu wollen, statt 
einfach zu erzählen, wie die Dinge gekommen sind, ohne daß man noch genau 
weiß, wohin sie schließlich führen würden, glaubhaft zu machen sucht, daß es 
gerade so und nur so hätte kommen müssen, weil es die Vernunft der Dinge, das 
immanente Gesetz so verlangt. Darnach wäre nicht nur das Gewordene vernüftig, 
sondern immer auch das Vernünftigste geworden. Diese Betrachtungsweise der 
Dinge vereinfacht, aber verkleinert auch die Probleme. 


846 Arthur Salz, 


wenn auch noch so widerstandsunfähig und anfällig noch ausrichten 
kann gegenüber dem stärksten monopolistischen Kapitalverband, der 
ihn zu seinem Ausbeutungsobjekt degradiert, wenn er sich endlich 
einmal — spät genug — in Positur setzt. 

Man ist sich klar darüber, daß erst das ıg. Jahrhundert, eigent- 
lich erst das letzte Drittel, wie den Großbetrieb in der Seeschiffahrt 
so auch die Grundlagen für die Kartellierbarkeit der Seeschiffahrt 
-geschaffen hat. Gewisse bekannte technische Umwälzungen haben 
eine solche Neuorganisation der Schiffahrtsunternehmungen zufolge, 
die sich zur Verbandsbildung eignet, d.h. deren Geschäftsprinzip 
nicht die freie Konkurrenz, sondern gerade die Ausschaltung dieser 
ist. Insbesondere ist erst mit der Entwicklung der Linienschiff- 
fahrt 7) ein kartellierbares Objekt gegeben; denn die Linienfahrt 
ist schon an sich eine Beschränkung der subjektiven Willkür, sie be- 
deutet ja eine gleichmäßige, quantifizierbare, berechenbare Leistung, 
eine freie Bindung an Ort und Zeit im Gegensatz zu der spontanen, 
regellosen, wilden Fahrt. Die Linienfahrt bedeutet Ordnung (und Auf- 
teilbarkeit) auf der freien Verkehrsstraße des Meeres, bedeutet die 
Organisation des Meeres. Was den Landstreicher von einem Post- 
boten, den Abenteurer von einem Polizeimann, das unterscheidet die 
Linienfahrt von der wilden. Die Linienfahrt aber ist nun die für die 
moderne Seeschiffahrtsunternehmung charakteristische Betriebs- 
führung. Die moderne Seeschiffahrtsunternehmung aber ist gegen- 
über früheren Organisationsformen bisher charakterisiert durch eine 
zweifache Verselbständigung: durch ihre Trennung vom Schiffsbau und 
sodann durch ihre Loslösung vom Warenhandel. Die moderne Reederei 
ist (von kleinen Ausnahmen abgesehen) ein durchaus reines Verkehrs- 
gewerbe. Der Reeder und derjenige der das Schiff gebaut hat, sind in 
aller Regel — die neusten Rückbildungen werden wir kennen lernen — 
verschiedene Personen und der Reeder hat als bloßer Frachtführer 
auch nichts mit dem Absatz der ihm anvertrauten Güter zu tun. 
Früher waren die Schiffahrtsbünde Händlergesellschaften und durch 
die seit alten Zeiten so beliebte Vermögensanlage in Schiffsteilen war 
das Interesse und die Gefahr der Schiffahrt ungemein persönlich und 
weithin verteilt, heute sind die Schiffahrtsverbände Gesellschaften 
von Verkehrsmittelinteressenten, die an den Waren die sie führen nur 
ein sekundäres Interesse haben ®). Heute sind die Schiffe fixes Anlage- 
kapitalder in Aktiengesellschaften organisierten Reedereigroßbetriebe, 
ehedem waren sie fixes Betriebskapital der genossenschaftlich (oder 
sozietätsmäßig) organisierten Warenhändler (Kaufleute). Das Schiff, 
früher Betriebsmittel zum Zwecke des Warenabsatzes, wird Betriebs- 
zweck, während die Ladung (Waren oder Menschen) überhaupt nicht 
in das Interessengebiet des reinen Reeders fällt. Während in früheren 
Zeiten der Frachtführer gern zum Warenhändler (der »Spediteur« 


7) Vgl. Artikel »Linienschiffahrte und »Seeschiffahrte von Wiedenfeld im 
Wörterbuch der Volksw. | 

" +) Daß sich heute Händler und Produzenten Schiffahrtsunternehmungen 

angliedern, ist kein Gegenbeweis. 


t 
| 
| 


| 


Auswanderung u. Schiffahrt mit bes. Berücksichtigung der öst. Verhältnisse. 847 


zum »Kaufmann« wurde °), so sehen wir umgekehrt bei der Emanzi- 
pation der Reederei den früheren Kaufmann (Warenhändler) als 
Schiffsmakler und Spediteur seine Laufbahn endigen 1°). 

Innerhalb des modernen Reedereibetriebes hat nun die Personen- 
beförderung ihre besondere Bedeutung. 

In der Literatur herrscht eine Meinungsverschiedenheit darüber, 
ob der Warentransport oder der Personentransport das wirtschaftliche 
Rückgrat der Schiffahrtsunternehmungen bilde. Der Ansicht, daß 
nur der Warentransport eine genügend stabile Grundlage für große 
Reedereibetrjebe bilden könne, weil der Wanderverkehr allzusehr nach 
den Konjunkturen schwanke (z. B. Wiedenfeld im Wörterbuch d. V.), 
steht außer den Betriebsergebnissen und ihrer Verteilung die 
kategorische Behauptung der Schiffahrtsgesellschaften selbst (aller- 
dings bezeichnenderweise des Norddeutschen Lloyd in seinem Jahr- 
buch 1913 /14) gegenüber, daß die straffere Organisation der deutschen 
Handelsflotte in der Linienschiffahrt in der Hauptsache auf den über 
deutsche Häfen gehenden starken Personenverkehr zurückzuführen 
sei (a. a. O. S. 7). Der Personenverkehr aber hat seinen wirtschaftlichen 
Rückhalt im Zwischendeckverkehr, d. h. in der Massensauswanderung. 
Gegenüber dieser Meinungsverschiedenheit wird man zunächst darauf 
aufmerksam machen dürfen, daß zwischen dem Warentransport und 
dem Menschenmassentransport der Linienschiffahrt kein erheblicher 
Unterschied besteht. Die Menschen (Auswanderermassen) werden als 
Ware, als Warengüter von fungiblem Charakter, nicht als Personen 
behandelt; wegen ihres generellen Charakters sind ja gerade die Zwi- 
schendecker ein ideales Kartellierungsobjekt. Haben die Menschen 
Warencharaktergestalt, so haben die von der Linienschiffahrt haupt- 
sächlich beförderten Waren Persönlichkeitscharakter, sind Stück- 
güter !!) von spezifischem Werte, die individuell behandelt und nach 
ihrem Werte tarifiert werden. So also besteht hinsichtlich der Leistun- 
gen zwischen den vorwiegend den Personenverkehr und den vorwie- 
gend den Warentransport bearbeitenden Schiffahrtsgeseilschaften 
eine gewisse generelle abstrakte Aehnlichkeit. Was die Linienschiff- 
fahrt braucht, ist eine gewisse Regulierbarkeit der Transporte, ein regel- 
mäßiges, kontinuierliches und stabiles Geschäft. Dies kann sie aber 
sowohl beim Waren- wie beim Menschentransport erreichen. In Wirk- 
lichkeit, so werden wir sehen, sind die Motive, die zur Verbandbildung 
führen, bei den verschiedenen Gesellschaften verschieden; das eine- 
mal geht der Anstoß aus von dem Warentransport, das anderemal 
von dem Personentransport, das drittemal von dem Eisenbahninter- 
esse. Gerade dadurch, daß eine gewisse Divergenz der be- 
sonderen Interessen vorhanden ist wird es möglich, eine mittlere 
Linie zu finden, auf der sich alle unter immerhin verschiedenen recht- 
lichen, wirtschaftlichen, natürlichen Bedingungen arbeitenden Gesell- 
schaften finden können, eine Gleichgewichtslage, in der sich die verschie- 


®) Salz, Geschichte der Böhmischen Industrie. 
10) Wiedenfeld a. a. O., auch Eucken a. a. O. 
11) Näheres bei Eucken. 
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 3. 55 


848 Arthur Salz, 


denen Interessen ausbalancieren und als Interessengemeinschaft erschei- 
nen. Das was man ott im Politischen als Leitidee eines erträglichen 
Weltzustandes erstrebt, was aber nur unterWillkür des einen und Unter- 
drückung des anderen möglich zu sein scheint, die »Idee des Gleichge- 
wichts« wird hier auf wirtschaftlichem Gebiet Ereignis. Wenn also 
die deutschen, englischen, amerikanischen Gesellschaften ganz iden- 
tische oder ganz und gar divergente Interessen hätten, so wäre nicht 
einzusehen im ersteren Falle: wie ein Vertrag über Ausschluß der Kon- 
kurrenz möglich sein sollte, im letzteren, wozu es der Konkurtenz 
bedürfte. Wenn die Dinge aber so liegen, daß jeder Gesellschaft gewisse 
Interessen mit allen anderen gemeinsam sind, gewisse aber jeder 
eigentümlich zugehören, so läßt sich eine Vereinbarung denken, die 
bestimmt, welche Interessen als gemeinsame gemeinsam wahrge- 
nommen und welche als besondere jeder einzelnen Gesellschaft allein 
überlassen bleiben sollen. Jede Gesellschaft verpflichtet sich durch 
Vertrag, die Sonderinteressen aller anderen nicht nur nicht zu stören, 
sondern, soviel an ihr liegt, zu fördern und so wechselseitig. Nur 
wenn so jeder Kontrahent sich in seinen speziellen, ureigensten Inter- 
essen gesichert weiß, verzichtet er darauf, da wo gemeinsame Interessen 
vorliegen, diese auf dem Wege der Konkurrenz geltend zu machen und 
läßt sich anteilsweise abfinden. Daraus erklärt sich, daß trotz, ja gerade 
weil die Schiffahrtsinteressen der verschiedenen Länder verschieden 
sind, ein internationaler Schiffahrtsveıband räsonabel und erfolgreich 
sein kann. 

„ Die heutige Linienschiffahrt ist vergleichbar einem Unterneh- 
men, das vielerlei Artikel herstellt und auf den Markt bringt; jeder 
einzelne trägt zu dem Erfolg des Ganzen mehr oder weniger bei, 
keinen kann man, auch wenn er weniger rentabel ist, ganz aufgeben, 
weil dadurch der Gesamterfolg geschwächt würde. Die Linienschill- 
fahrt ist ein »gemischter« Betrieb, in dem das Gesetz der Substitution 
an gewisse enge, natürliche Schranken stößt. Sie ist ihrem Wesen 
nach Hinfahrt und Rückfahrt, die Schiffe führen Menschen und Wa- 
ren, feine Kajütenpassagiere und Zwischendecker, Stückgüter und 
Warengüter usf. — Die Schiffahrt ist nun einmal von Natur aus ein 
gefährdetes Gewerbe, bedroht nicht nur von den Elementen, sondern 
auch von wirtschaftlichen Elementarkatastrophen und wie sie sich 
gegen die natürlichen Gefahren möglichst sichert, so sucht sie auch 
die Schwankungen der Konjunktur durch Ausgleich der verschiedenen 
Risiken abzuschwächen. Von unserem europäischen und speziell 
kontinentalen Standpunkt aus läßt sich sagen, daß die moderne See- 
schiffahrt wie kaum ein anderes Gewerbe von den Schwankungen der 
Weltkonjunktur abhängig ist und zwar reagiert sie schärfer auf dieKon- 
junktur im Auslande als im Inlande. Sie ist vom Inland gesehen 
gleichsam der Totengräber der Hochkonjunktur, d.h. sie folgt der 
Industriekonjunktur in gemessenem Abstand und £loriert am stärk- 
sten, wenn infolge einer Absatzstockung die überflüssigen und un- 
verkäuflichen Industrieprodukte auf den Auslandsmarkt geworfen 
werden müssen. Der Betriebserfolg auf der Heimfahrt aber ist bedingt 


Auswanderung u. Schiffahrt mit bes. Berücksichtigung der öst. Verhältnisse. 849 


durch den Ausfall der Ernten in den großen überseeischen Agrarge- 
bieten. Die für die kontinentale Schiffahrt günstigste Situation 
wurde neuerdings 1?) folgendermaßen beschrieben. »Gute Ernten in 
den überseeischen Agrarländern haben einen verstärkten Export der 
Ernteprodukte zur Folge, heben damit auch die Kaufkraft der länd- 
lichen Bevölkerung in Uebersee und die Nachfrage nach Industrie- 
erzeugnissen. Der heimkehrenden Schiffahrt fällt nun die Beförde- 
rung der reichen Ernten zu, der ausgehenden die der Industriepro- 
dukte. Im Zusammenhang damit tritt zugleich eine verstärkte 
(snatürlichee) Personenbeförderung auf, da in den agrarischen Ge- 
bieten wie auch in den überseeischen Industriebezirken die Nachfrage 
nach Arbeitskräften steigt. Treten die guten Ernten sowohl in den 
Vereinigten Staaten von Amerika als auch in den La-Plata-Ländern 
und in Australien auf, so kann man, falls nicht ein Ueberangebot an 
Tonnage besteht, von einer guten Weltkonjunktur sprechen, zumal 
wenn die Personenschiffahrt durch besondere Ereignisse, wie bei- 
spielweise den Balkankrieg im Jahre 1912 /13, angeregt wird.« — 

Nunmehr wird die Bedeutung der Massenbeförderung von Zwi- 
schendeckpassagieren für die neuere Linienschiffahrt vollends klar. 
Auf der Heimfahrt von Uebersee werden erfahrungsgemäß wegen 
des Transports der Massengüter mehr und größere Schiffsräume ge- 
braucht als auf der ausgehenden Fahrt. Diese Räume müssen aber 
schon bei der Ausfahrt vorhanden sein. Die Massenauswanderung 
verhütet, daß die großen Schiffe leer hinüberfahren, bzw. sie erst 
ermöglicht, daß überhaupt die modernen Riesenschiffe in dem be- 
kannten Umfang und mit all dem Komfort nutzbringend angewendet 
werden können. Ohne Zwischendecker gäbe es auch keine Luxus- 
kabinen, bzw. sie wären unerschwinglich teuer. , Die Massenaus- 
wanderung garantiert den Schiffahrtgesellschaften die Rentabilität 
der Ausfahrt. Schon daraus erhellt, wie schief die häufig wieder- 
kehrende Behauptung der neueren Darstellungen ist, daß durch die 
Schiffahrtsverbände und ihre auf Konstanz der Raten zielende Tarif- 
politik die Auswanderung abgeschwächt worden wären. Nichts ist 
psychologisch falscher 12). Haben nicht vielmehr die Gesellschaften 
das größte Interesse daran, die Auswanderung auf konstanter Höhe 
zu erhalten ? Wäre die Massenauswanderung nicht so überaus wichtig 
zur Verminderung der Generalkosten, wie sollte man sich sonst die 
zahlreichen Veranstaltungen erklären, die ergriffen werden, um die 
Auswanderung künstlich zu forcieren, Einrichtungen, von denen 
freilich jene Darstellungen nichts zu wissen scheinen. Sie gehören 
aber genau so zum Wesen der Schiffahrtsverbände wie Rabatte und 
andere »konstitutionellee Einrichtungen. Nur freilich redet man 
von diesen Schattenseiten nicht gerne. 

Noch ein anderer Gesichtspunkt macht die Behauptung von der 
auswanderunghemmenden Wirkung der Schiffahrtsverbände zu 


28) Tahrbuchdes Norddeutschen Lloyd 1913/14 (S. 6). 
18) Ganz abgesehen davon stehen, wie sich zeigen wird, Auswandererverkehr 
und Ueberfahrtspreise in keinem erkennbaren funktionellen Zusammenhang. 
55* 


850 Arthur Salz, 


einer höchst fragwürdigen: der schon erwähnte Zusammenhang 
zwischen Massenwanderung und tixem Kapital der Schiffahrts- 
gesellschaften. Die Ueberfahrtsgebühren der Zwischendecker ") 
haben die Funktion, die bei »privilegierten« Verbänden den Schutz- 
zöllen oder anderen Prämien zukommen. Sie sichern zunächst ein- 
mal eine durchschnittliche Verzinsung des in den modernen Riesen- 
schiffen investierten fixen Kapitals und einen ersten Unternehmer- 
gewinn 15). Daraus entspringt die Notwendigkeit, bei Fixierung dieser 
Raten jeglichen Wettbewerb, der sie zu drücken bedroht, auszuschlies- 
sen. Die Regulierung der Zwischendeckraten ist daher das eigentliche 
Kartellierungsobjekt, ist der wichtigste offene oder geheime Verbands- 
zweck der Schiffahrtsgesellschaften, die Beförderung der Massen- 
wanderer als generelle, qualitätlose Leistung ein idealer Kartellierungs- 


zweck. Würde den Gesellschaften diese Freiheit der Preisfestsetzungen . 


genommen (z. B. durch staatliche Preisregulierung), so wären diese 
Verbände in dem Lebensnerv getroffen. Darum sträuben sie sich auch, 
den Auswandererstaaten Einfluß auf die Tarifbildung einzuräumen. 

Die Regulierung des Verbandverkehrs bezieht sich demgemäß auf 
den einzelnen Produktions- (d. h. Transport-)akt der Beförderung von 
Zwischendeck- und dritter Klasse-Passagieren. Ist erst einmal das 
Zwischendeck mit Passagieren vo!lgepropft und so das Nötigste für 
den regulären Geschäftsgewinn getan, so hängt die »Rente«, die darüber- 
hinaus erarbeitet wird, von der Geschick’ichkeit der Leitung, von good 
will usf. ab. Dann können die einzelnen Gesellschaften durch Ent- 
gegenkommen in den Frachtsätzen für Industriewaren (Rabattsystem, 
Dauerfrachtverträge usw.), Muster, kurz für massige Sachgüter sich 
auch um die nationalen Exportinteressen verdient machen. 

So zahlt der Auswandererstaat (Oesterreich) doppelt: er liefert 
dem Immigrationsland billige Arbeitskraft, sein Auswanderverkehr 
wirkt weiter wie eine Exportprämie für die Industrie des frachtführen- 
den Staates, er verliert Menschen (d.h. Soldaten und Arbeitskraft), 
es entgeht ihm der Frachtgewinn und er erhält dafür nur von den in der 
Fremde lebenden Landeskindern einen Jahreszuschuß zur Aufbesse- 
rung des staatlichen Haushalts und der nationalen Wirtschaftsführung, 
der — man mag den Kapitalwert eines Auswanderers hoch oder 
niedrig einschätzen 1%) — jedenfalls eine schlechte Verzinsung des 
in Menschen bestehenden Kapitalexports bedeutet. Für die deutsche 
Nationalwirtschaft aber ist dieser Zustand sehr erträglich. Einmal 


14) Die Verbandbildung hat den Schiffahrtgesellschaften die Kapitalbeschaf- 
fung ungemein erleichtert. Alle Gesellschaften weisen in ihren Prospekten darauf 
hin, daß es ihnen gelungen sei, Verbandverträge mit der Konkurrenz abzuschlies- 
sen und damit das Kapital sicherzustellen. Daher kommt denn auch die Größe 
der in Schiffahrtsunternehmungen investierten Kapitalien nahezu den in Groß- 
banken und Bergwerksunternehmungen angelegten gleich. 

15) Die österreichischen Auswanderer allein zahlen jährlich ausländischen 
Gesellschaften für den Transport 52—60 Millionen Kronen, wahrscheinlich 
noch mehr. 

16) Vgl. Marshall, Handbuch der Volkswirtschaftslehre S. 555 ff. 


Auswanderung u. Schiffahrt mit bes. Berücksichtigung des öst. Verhältnisse. 851 


bilanziert der Frachtverdienst aus den etwa 800 Millionen Mark 17), die 
in der deutschen Seehandelsschiffahrt investiert sind, zu fast ?/3 den 
Passivsaldo der deutschen Handelsbilanz. Dazu kommt der mili- 
tärisch-politische Gewinn, den Deutschland aus seiner Handelsflotte 
hat. Die großen Schnelldampfer, die an Schnelligkeit den modernen 
Kriegsriesenschiffen gleichkommen, können in Kriegszeiten als Auxi- 
liarschiffe der Kriegsmaschine nützlich werden. Daraus wird sich z. 
T. das große Interesse erklären, welches die deutsche Regierung den 
deutschen Schiffahrtsgesellschaften entgegenbringt 18), ein Interesse, 
das wie man sehen wird, nicht platonisch bleibt, sondern sich durch 
Bereitstellung staatlicher Machtmittel zu nicht ganz einwandfreien 
Manipulationen in werktätige Hilfsbereitschaft umsetzt. — 

Nunmehr soll an der Hand der schon genannten Literatur 19) darge- 
stellt werden, wie die mächtige Koalition des den Weltverkehr be- 
herrschenden internationalen Schiffahrtskapitals zustande gekom- 
men ist. 

Anfänglich zeigten die Organisationsbestrebungen auf dem Gebiete 
der Schiffahrt wie gewöhnlich keine ausgesprochen monopolistische 
Tendenz, d.h. sie waren anfänglich mehr detensiv als offensiv und 
bezweckten lediglich Vermeidung schädigender Konkurrenzkämpfe, 
eine gewöhnliche Teilung der Verkehrsgebiete und eine gegenseitige 
Regelung der Fahrpreise. Diese Epoche wird gekennzeichnet durch 
die auf Anregung der Hamburg-Amerika-Linie gegründete »Konti- 
nentale Konferenz« vom Jahre 1885 2°), in der das Kapital noch die 
Sanftmut der Taube hervorkehrt und statt nach der Polizei zu rufen 
oder vom Staate etwas zu erwarten zur Selbsthilfe greift. 

Diese kontinentale Konferenz ist ein bescheidener Anfang. Wer 


17) Das gesamte in der österreichischen Handelsmarine investierte Aktien- 
kapital einschließlich des Obligationenkapitals wurde für Ende 1910 auf 130 
Millionen geschätzt (!). 

18) Die englische Regierung ist durch ein besonderes Interesse mit der Cunard- 
line verknüpft, die vertragsmäßig verpflichtet ist, ihren Schiffpark in Kriegszeiten 
der Regierung zur Verfügung zu stellen und dafür große Subventionen empfängt 
(vgl. British Steamship Contracts. Copies of agreements between the British 
admiralty and the International Mercantile Marine Company of the U. St. Also 
between the British admiralty and the Cunard Steamship Company). Das 
Verhältnis zwischen Staat und nationaler Handelsschiffahrt ist in den verschie- 
denen Ländern je nachdem ob Subventionspolitik oder freie Schiffahrt vorwiegt 
verschieden. Welche Abkommen zwischen den deutschen Reichsbehörden und 
den heimischen Schiffahrtgesellschaften für den Kriegsfall bestehen ist mir nicht 
bekannt. In Oesterreich ist die Verpflichtung zur Beistellung der Schiffe im Mo- 
bilisierungs- und Kriegsfalle im Gesetz vom 23.Februar 1907 betreffend die Unter- 
stützung der Handelsmarine und die Förderung des Schiffbaues (RGBl. Nr. 44) 
ausgesprochen. Darüber hinaus bestehen nicht veröffentlichte »Uebereinkommen« 
und »besondere Bestimmungen«s zwischen der Militärverwaltung und den größeren 
österreichischen und ungarischen Schiffahrtsgesellschaften. 

19) Vgl. insbesondere die Denkschrift des österreichischen Handelsmini- 
steriums,. 

16) Frühere Organisationen bei Lenz a. a. O. und Wiedenfeld im Wörterbuch 
der Volkswirtschaft. 


852 Arthur Salz, 


selbst einmal Kartellverhandlungen beigewohnt hat, der weiß ja, daß 
die leitenden Köpfe zwar einen großzügigen Organisationsplan als 
geheimen Leitfaden benutzen, sich aber wohl hüten müssen, diesen 
allzufrüh zu verraten. Sie begnügen sich das je nach den realen Ver- 
hältnissen Mögliche zu erreichen und vertrauen im übrigen aüf die 
Logik der Entwicklung und das wachsende Verständnis der Beteiligten. 
An Stelle dieser mehr weniger einem zufälligen Anlaß ihre Ent- 
stehung verdankenden kontinentalen Konferenz trat 1891 der »Nord- 
atlantische Dampfer-Linien-Verband«e (NDLV.) bestehend aus dem 
Norddeutschen Lloyd in Bremen, der Hamburg-Amerika-Linie (die 
inzwischen ihre Gegnerin, die Sloman-Union-Linie in Hamburg ver- 
schluckt hatte), der Holland-Amerika-Linie in Rotterdam und der 
Red-Star-Linie in Antwerpen. Durch .die letzterwähnte Gesellschaft 
stand der NDLV. schon damals zu amerikanischen Schiffahrtsunter- 
nehmungen in Beziehung. Mit der Schaffung dieses NDLV. war ein 
tragfähiger und dauernder Kristallisationspunkt für alle künftigen 
viel weiter ausgreifenden Organisationsbestrebungen geschaffen. 
Wodurch ist dieser Verband charakterisiert? Der Verband ist 
ein »Pool« 2!) für das Zwischendeckgeschäft, er bezweckt die Regu- 
Jierung dieses Geschäftszweiges.. Um die Konkurrenz zu vermeiden, 
wird der Gesamtverkehr nach Poolanteilen an die einzelnen im Pool 
zusammengefaßten Gesellschaften aufgeteilt. Den Maßstab für die 
Festsetzung der Quote ergibt der Durchschnitt des Verkehrs der von 
jeder Verbandsreederei in den der Berechnung zugrunde gelegten 
Jahren tatsächlich bewältigt worden ist. Ein Ausgleich zwischen dem 
Ueberschuß der mehr und dem Defizit der weniger beschäftigten Ge- 
sellschaften findet statt durch Erhöhung, bzw. Verringerung der 
Raten. Diese Maßregel hat den Zweck, das Zuströmen der Passagiere 
von der zu stark besetzten Linie auf die schwächer beschäftigten 
Linien hinzuleiten (automatische Regulierung des Verkehrs durch die 
Preisfestsetzung). Ein Saldo der sich am Jahresschluß gegenüber dem 
Poolanteil ergibt, wird durch Geld ausgeglichen, daher besteht eine 
(ideelle) Verbandskasse (d. i. Pool) der (wie einst in der Athenischen 
Hegemonie) vereinigten Bundesgenossen, in welche die im Vorsprung 
befindlichen Linien für jeden zuviel beförderten Passagier einen be- 
stimmten Betrag einzahlen und die hinter ihrem Anteil zurückge- 
bliebenen für jeden zu wenig beförderten den gleichen Betrag als eine 
Vergütung empfangen. Die Höhe dieser Kompensationen wird derart 
bemessen, daß den zahlenden Linien bei normalem Stand der Raten 
die Selbstkosten bleiben. In den verschiedenen Poolverträgen ist dieser 
Vergütungsbetrag in der Regel mit 4—5 L (80—100 M.) bemessen, 
so daß der einzahlenden Linie, wenn man eine Ueberfahrtsrate von 
160 M. als normal annimmt, 60—80 M., die also ihre Selbstkosten 
darstellen, verbleiben.. Man sieht, daß diese ganze Organisation, wenn 
sie auch viel straffer als die frühere Form ist (eine gemeinsame Ver- 
bandskassa schafft immer eine Art Bundesheiligtum) doch nicht eine 
ausgesprochen monopolistische Tendenz ;hat. Sie vermeidet Konkur- 


#1) Ueber diesen Begriff vgl. Eucken a. a. O. 





-a aea R SEE 


Auswanderung u. Schiffahrt mit bes. Berücksichtigung der öst. Verhältnisse. 853 


renzkämpfe der Verbandsmitglieder, erhält aber dennoch einen gewissen 
Wettbewerb unter den einzelnen Mitgliedern rege, die auch am tech- 
nischen Fortschritt interessiert bleiben; denn wenn auch die von den 
Passagieren bevorzugten Linien Kompensationen zu zahlen haben, 
so liegt es doch in ihrem Interesse, durch Anbietung von Sondervor- 
teilen (gute und bequeme Ausstattung der Schiffe, Raschheit und nicht 
zum wenigsten lebhafte Agitation in den Auswanderungsländern) den 
Strom der Auswanderer an sich zu ziehen. Auch im Fall der Anteils- 
überschreitung bleiben ihnen ja noch immer die Selbstkosten (in denen 
wohl auch schon ein Profit eingschlossen ist), sie verringern ihre Gene- 
ralspesen und haben außerdem noch die Möglichkeit bei Erneuerung 
des Vertrags eine erhöhte Quote zu beanspruchen. Anderseits blieb 
eine unmäßige Erhöhung der Raten ausgeschlossen, da sich in einem 
solchen Falle sofort die Konkurrenz der englischen und französischen 
Linien, die der Verband nicht umfaßte eingestelit hätte, abgesehen 
von der Entstehung neuer Linien in den eigenen Häfen. Der Verband 
stellte sich somit auch in dieser strengeren Zusammenfassung in Form 
eines Pools noch immer als eine Organisation des Schiffahrtsbetriebs 
zur Vermeidung unnützer Konkurrenz ohne monopolistische Tendenzen 
dar. Durch sie war also ungefähr das was man einen Kompromißpreis 
nennt gewährleistet und eine immerhin höhere Organisationsform ge- 
schaffen 22), 

Einige Schwierigkeiten machte die Tonnageklausel, die der wei- 
teren Entwicklung der Gesellschaften einen gewissen Spielraum lassen 
und eine Festlegung auf ein starres Mittelmaß, den stationären 
Zustand, verhindern sollte. Die Poolanteile (Kartellquöte) wurden 
nämlich ursprünglich nicht ein für allemal festgelegt, sondern waren 
einer Revision unterworfen. Diese Bestimmung führte, wie es scheint, 
zu einer überstürzten und in den Verhältnissen nicht begründeten 
Vermehrung der Tonnage, wodurch einzelne Linien, z. B. der Nord- 
deutsche Lloyd, allzusehr ins Hintertreffen zu geraten drohten. Das 
Kartell, gegründet als Rentabilitätsversicherung für ein gewisses fixes 
Kapital das verzinst werden muß, gibt selbst wieder, wie auch ander- 
wärts vielfach den Anreiz eben dieses fixe Kapital weiter zu vermehren 
und erhöht dadurch eben die Schwierigkeiten, denen es selbst seine 
Entstehung verdankt. Auf Antrag des Norddeutschen Lloyd, der sich 
von der Hapag bedrängt fühlte, wurde 1898 bei Erneuerung der Ver- 
träge die Tonnageklausel aufgehoben. Seither gilt das starre System 
demzufolge von der Veränderung der Tonnage unabhängige, ein für 
allemal fixe Beteiligungsziffern bestehen. Die Anteile der einzelnen 
im NDLV. vereinigten Gesellschaften wurden wie folgt festgesetzt: 
E 233) Man hat eine Systematik der modernen kapitalistischen Organisationen 
nach sehr verschiedenen Gesichtspunkten versucht, ohne daß bisher ein befriedi- 
gendes Resultat erreicht wäre. Nach meinem Ermessen liegt der entscheidende 
Gesichtspunkt darin, nicht wie ein Betriebsergebnis erzielt, sondern wie 
der Betriebsüberschuß verteilt wird. Das moderne Organisationsproblem 
ist ein Verteilungsproblem in jeder Hinsicht: Verteilung d. h. Zuweisung spezi- 
fischer Betriebsaufgaben und Verteilung des Gewinns bzw. Verlustes. Darnach 
gibt es eine Stufenfolge sehr verschiedener loser und enger Bindungen. 


854 - Arthur Salz, 
Norddeutscher Lloyd . . . . . . . . . 4246% 
Hapag . . a ee a 3138A 
Holland-Amerika- Linie pa ce k a a re 1001 
Red-Star-Line . . . . . I5,55 % 


Nach einem heftigen Preiskampf mit den englischen Schiffahrts- 
linien wurde 1895 ein Preis- und Gebietskartell zwischen dem NDLV. 
und den englischen Linien geschlossen, das den Namen »North Atlantic 
Conference« führt. Man einigte sich über die Aufteilung des euro- 
päischen Auswanderungsgeschäfts und über eine einverständliche 
Festsetzung der Ueberfahrtspreise. Die Engländer, deren Schiffahrt 
eine ganz andere, mehr individualistische Entwicklung genommen hatte 
als die deutsche ?3), wollten ihre Selbständigkeit und ihre Selbstbe- 
stimmung behaupten und sich nicht unter das fremde Joch der deut- 
schen Schiffahrt beugen. Aber sie hatten die Rechnung ohne den Wirt: 
den amerikanischen Schiffahrtstrust gemacht, der alle bestehenden 
Besitzverhältnisse in der englischen Schiffahrt über den Haufen warf. 
Morgan tritt auf den Plan und die idyllischen Verhältnisse sind zu 
Ende. Morgan strebte nach der Alleinherrschaft zur See, um seiner 
Herrschaft zu Lande, d. h. über die amerikanischen Eisenbahnen 
eine feste Stütze zu geben. Wäre es nach seinem Willen allein gegangen, 
so wäre zum mindesten der Atlantische Ozean ein mare clausum ge- 
worden und hätte fortan den Namen Morgan-Meer tragen dürfen. In- 
des, er fand seinen Meister und zwar — in Deutschland. Es gelang den 
deutschen Reedereigesellschaften einige kleine Schwächen und Schön- 
heitsfehler der Morganschen Organisationskunst klug zu benutzen 
und den Amerikaner mit seinen eigenen Watfen, wenn auch nicht aus 
dem Felde zu schlagen, so doch gefügig zu machen und in die zweite 
Linie zu drängen. An den deutschen Schiftahrtsgesellschaften zer- 
schellten die Morganschen Weltmeerwünsche. Das Ergebnis war, daß 
gleichsam zum Ausgleich dafür, daß Amerika sich mehr und mehr 
europäisiert, nunmehr die amerikanischen Geschäftsmethoden nach 
Deutschland importiert wurden. 

Die treibende Kraft in der Schiffahrts politik des Ameri- 
kaners war das Interesse der amerikanischen Eisenbahnen. 
Um diesen eine angemessene Rentabilität zu sichern war es nötig, 
die Handelsschitfahrt in die Gewalt zu bekommen, und während sie 
drinnen in den Vertretungskörpern der Nation noch darüber stritten, 
ob man der nationalen Schiffahrt durch Subventionen helfen könne 
oder nicht, handelte Morgan. 

Um die Wende des Jahrhunderts war der Konzentrations- und 
Konsolidierungsprozeß des amerikanischen Eisenbahnwesens so weit 
gediehen, daß die großen Eisenbahnlinien, die Stapelprodukte nach den 
atlantischen Häfen führten, sich unter der Kontrolle einiger Finanz- 
gruppen befanden, unter denen das Bankhaus Pierpont Morgan u. Co. 
eine führende Stellung einnahm 2). Hingegen befand sich die ameri- 

33) In England bestand der Gegensatz zwischen London, dem Zentrum der 
Trampschiffahrt und Liverpool, dem Sitze der regulären Linien. Hier fand die 
Idee der Konzentration einen günstigen Boden, dort nicht. 

24) Vgl. Liefmann. 


Auswanderung u. Schiffahrt mit bes. Berücksichtigung der öst. Verhältnisse. 855 


kanische Handelsschiffahrt noch in einer völligen Desorganisation, 
in die sie seit dem Bürgerkrieg geraten war, sehr zum Schaden und 
Verdruß nicht bloß der nationalen Schiffahrt selbst — der Anteil 
der VSt. am Seeverkehr war von 82 % im Jahre 1840 auf 8,2 % im 
Jahre 1900 gesunken 25) — sondern auch und zwar ganz wesentlich 
zum Schaden der Eisenbahnen, welche die großen Stapelprodukte 
aus dem Innern bis zur Küste transportierten. Aus dieser völligen 
Desorganisation des amerikanischen Transportwesens erklären sich 
die Veranstaltungen Morgans zur Bildung des Schitfahrttrusts im 
Jahre 1901, die mit dem Vertrage zwischen diesem inzwischen ge- 
schaffenen englisch-amerikanischen Konzern mit den deutschen Ge- 
sellschaften vom 4. Februar Igo2 endigten, einem Vertrage der den 
mächtigsten auf dem Gebiete der Schiffahrt jemals existierenden 
Konzern schuf. Damit aber haben wir schon vorgegriffen. 

Der erste Schritt Morgans um sich in der Schiffahrt festzusetzen 
war, daß er in einer Zeit schlechten Geschäftsgangs (Igo1)als die Fracht- 
raten ihren tiefsten Stand erreichten und die großen Schiffswerften 
keine Beschäftigung hatten, die englische Leyland-Line kaufte. Mit 
Hilfe der Drohung, die ihm unterstehenden Eisenbahnen im Weige- 
rungsfalle gegen diese alte Schiffahrtslinie auszuspielen, brachte er 
— übrigens unter Anbot eines sehr anständigen Preises — die Stamm- 
aktien der Linie fast restlos und 41 % der Vorzugsaktien in seinen 
Besitz. Darauf bildete er ein Syndikat, welches die Mittel zum Ankauf 
der wichtigsten, im nordatlantischen Verkehr tätigen Reedereien be- 
schaffen sollte. Mitglieder dieses Syndikats waren hauptsächlich ame- 
rikanische Eisenbahninteressenten sowie ferner die bereits unter ame- 
rikanischem Einfluß stehenden Schiffahrtsgesellschaften mit ihren 
Linien (nämlich die International Navigation Company in New- Jersey 
mit der American-Line und ihren beiden europäischen Zweigunter- 
nehmungen, der Red Star Line in Antwerpen und der International 
Navigation Company in Liverpool, ferner die Atlantic-Transport- 
Company of West-Virginia). Diesem Syndikat, in welches Morgan 
seinen Besitz an Leyland-Aktien mit einem Gewinn von 500 000 Dollar 
bar einbrachte, glückte der Ankauf der White Star Line, der damals 
berühmtesten Reederei Englands und ferner der Ankauf der englischen 
Dominion Line, welche über Boston und Portland den kanadischen 
Verkehr pflegte 2%). Die tormelle Durchführung der Gründung erfolgte 
durch Umgestaltung der International Navigation Company in New- 
Jersey. Die Statuten dieser Gesellschaft wurden entsprechend ge- 
ändert, ihr Aktienkapital von 15 auf 120 Millionen Dollars erhöht und 
ihr Name in International Mercantil Marine Com- 
pany umgewandelt. So stellt sie eine der zahlreichen amerikanischen 
Holding Companies vor, eine Kontrollgesellschaft zu dem Zwecke, 
mehrere formell selbständig bleibende Gesellschaften durch Erwerb 





25) Im Jahre 1824 fuhren 91,2 % vom Gesamtverkehr der Vereinigten Staaten 
zur See unter amerikanischer Flagge, 1864 waren es unter der Einwirkung des 
Bürgerkrieges nur mehr 27,5 %. 

0) Vgl. Overzier a. a. O. 


at 


856 Arthur Salz, 


ihres Aktienbesitzes finanziell zu einer Interessengemeinschaft zu- 
sammenzufassen, ihre Verwaltung nach einheitlichen Gesichtspunkten 
zu regeln und ein planmäßiges Zusammenarbeiten herbeizuführen. 
Bei seiner Gründung verfügte der Morgansche Trust über 136 Dampfer 
mit I 034 884 Br.-Reg.-Tons, war also eine sehr respektable interterri- 
toriale Handels- und Seemacht. Hanz England war in Empörung, aber 
Morgan ließ sich nicht irre machen. Nun hätte er wohl noch gern die 
deutschen Gesellschaften depossediert, aber diese hatten sich seinemAp- 
petit gegenüber als zu groß und merkwürdig zäh und widerstandsfähig 
erwiesen; er mußte froh sein, daß diese deutschen Linien, nachdem sie 
sich sowohl geweigert hatten in den Trust einzutreten, als auch bei 
einer neuen Aktienemission einen Teil Morgan zu überlassen, in den 
Abschluß eines engen Bündnisses mit dem Trust einwilligten. Dieses 
Bündnis, im Hinblick auf welches erst Morgan die englisch-amerikani- 
sche Transaktion durchgeführt hatte und überhaupt die Herstellung 
eines Freundschaftsverhältnisses zu den deutschen Linien war aller- 
dings eine Lebensfrage für den Trust. Die hohen Kaufpreise für die 
englischen Linien, der reichliche Gründergewinn (man kennt Morgan- 
sche Gründergewinne! er betrug in diesem Falle 237 500 Dollar) hatten 
die amerikanische Krankheit Ueberkapitalisation zufolge, welche äußer- 
ste Vorsicht in der Geschäftsgebarung, rationellste Ausnützung des 
erworbenen Schiffsmaterials zur gebieterischen Pflicht machte und 
einen Tarifkampf mit den konsolidierten, einheitlich geleiteten, an 
Kapitalskraft wie an Tonnage überlegenen deutschen Linien zu einem 
sehr bedenklichen Unternehmen gestaltet hätte. Auf deutscher Seite 
hingegen stand im Kampffalle eine Invasion des Trusts in den kon- 
tinentalen Häfen zu befürchten, während ein Uebereinkommen die 
Erfüllung des alten Wunsches nach Regelung des englisch-ameri- 
kanischen Verkehrs versprach. So kam es zu dem erwähnten Vertrage 
vom 4. Februar 1902. Der Inhalt des Vertrages entspricht der Größe der 
von den kontrahierenden Parteien vertretenen Interessen: es ist Kapi- 
talaktion im größtenStil.DieKlarheitund Einfachheitder zu schützenden 
Interessen unterscheidet einen solchen privaten Handelsvertrag vor- 
teilhaft von gewissen modernen staatlichen Verträgen, die die Klein- 
lichkeit und Zersplitterung mit sich schleppen. Die großen Kaufleute, 
nachdem Sie in der Vorzeit als Pensionäre fremder Staaten gelebt 
und als Gäste zugelassen, dann vom Nationalstaat in ihren expansiven 
Bestrebungen geschützt worden waren, nehmen, mündig geworden, 
den Schutz ihrer Interessen selbst in die Hand und schließen unter 
Verzicht auf die staatliche Subvention auf eigene Hand Verträge mit 
ihren fremdländischen Konkurrenten. 

Zunächst garantieren sich die beiden vertragsschließenden Par- 
teien wechselseitig ihren Besitzstand und schützen sich vor einander 
gegen unliebsame Ueberraschungen. Der Vertrag stipuliert den aus- 
drücklichen Verzicht des Syndikats auf den Erwerb von Aktien der 
deutschen Gesellschaften. Die Uebernahme der gleichen Verpflichtung 
seitens der Deutschen ist eine inhaltlose Formalität. Um die Gemein- 
schaft der Interessen recht eindringlich sicher zu stellen, leistet man sich 


Auswanderung u. Schiffahrt mit bes. Berücksichtigung der öst. Verhältnisse. 857 


wechselseitig eine Zins- bzw. Gewinngarantie, die darauf hinausläuft, 
daß die deutschen Gesellschaften dem Trust jägrlich % der Summe zu 
vergüten hatten, die sie über 6 % an Dividenden auszahlten, während 
der Trust von dem Betrag der den deutschen Linien auf eine 6 %ige 
Dividende fehlte % zu leisten hatte. Das ist nicht viel anderes als 
die Garantie einer Dividende von 6 % für % des Aktienkapitals der 
deutschen Gesellschaften durch den Trust. Diese Bestimmung sicherte 
den Deutschen die Unterstützung der amerikanischen Bahnen, die 
als Mitglieder des Syndikats ein unmittelbares Interesse an den gün- 
stigen Geschäftsergebnissen der deutschen Linien hatten während 
diesen umgekehrt das Gedeihen des Trusts vollkommen gleichgültig 
sein konnte. Ein aus je zwei Vertretern beider Teile bestehendes 
Komitee hatte über die sinngetreue Ausführung des Vertrages zu 
wachen, die ständige Fühlung zwischen den Parteien aufrecht zu er- 
halten und über Angelegenheiten gemeinsamen Interesses eine Ver- 
ständigung herbeizuführen. Nach außen hin sollte die Vereinigung ein 
Schutz- und Trutzbündnis mit der Verpflichtung gegenseitigen Bei- 
standes gegen Eingriffe fremder Konkurrenz darstellen. Damit ist 
deutlich der monopolistische, d.h. im wesentlichen aggressive Charakter 
dieses Bündnisses das zur Verteidigung aber auch zum Angriff bereit 
ist, erwiesen. Der englisch-amerikanische Schiffahrtstrust und das 
Kartell der deutschen Schiffahrtsgesellschaften wollen sich in die 
Herrschaft über das überseeische Transportsgechäft teilen und den 
Einbruch fremder »nationaler« Konkurrenz um jeden Preis vermeiden. 
Wie wir später sehen werden hat sich in der Tat dieser Bund als eine 
Watfe von erschreckender Leistungsfähigkeit erwiesen. Es werden 
Zonen, Rayons abgesteckt in denen sich die Vertragsteile mit ihren 
Subunternehmungen frei bewegen dürfen. Man schließt ein Gebiets- 
kartell, das die Amerikaner aus den deutschen Häfen ausschließt, 
während die deutschen hinsichtlich des Verkehrs in britischen Häfen 
auf die Beteiligung im englisch-amerikanischen Frachtgeschäft ver- 
zichten und sich im Personenverkehr zwischen England und Nord- 
amerika Beschränkungen auferlegen lassen, die aber ihre künftige Ver- 
kehrsentwicklung schon exkomptieren. Ueberhaupt aber verewigt der 
Vertrag nicht etwa einen Gegenwartszustand, sondern nimmt auf die 
künftige Fortentwicklung Rücksicht, nur soll jeder Fortschritt der 
einen Partei automatisch der anderen zugute kommen. So ist die künt- 
tige Entwicklung doch auf ein gleiches Tempo festgelegt. Der Ver- 
trag wurde auf die Dauer von 20 Jahren geschlossen mit dem Vorbe- 
halt eines Revisionsrechtes für jede Partei nach Io Jahren. Allgemein 
lautet das Urteil der Sachverständigen dahin, daß bei dieser Kombi- 
nation der Vorteil auf Seiten der deutschen Gesellschaft lag. Sie 
hatten geschickt die ökonomische Zwangslage der Amerikaner ausge- 
nutzt, ihre eigenen Monopolisierungsbestrebungen durchgesetzt, dann 
aber die Amerikaner an die zweite Stelle geschoben. 

Halten wir einen Augenblick inne und erwägen kurz die allge- 
meinere Bedeutung solcher Verträge, um derentwillen sie uns ja über- 
haupt interessieren. Denn heute ist es wohl jedem klar, daß in solchen 


858 Arthur Salz, 


Bildungen ein Neues sich gestaltet, wodurch unsere Wirtschaftsperiode 
über sich selbst hinauswächst und neue Form gewinnt. Da gilt es 
immer zu erwägen, wie die alten Potenzen, von denen unsere Ent- 
wicklung getragen ist, sich zu diesen neuen Kräften in Beziehung setzen 
und die prelitischen (im weitesten Sinne!) Machtverhältnisse sich ver- 
schieben. Da dürfte es sich denn herausstellen, daß in einer Wirtschafts- 
= epoche, welche gekennzeichnet ist durch den Trieb und die Kraft, 

neue überstaatliche Organisationsformen zu bilden, eine groß- 
zügige Handelspolitik — und das soll wohl heißen: staatliche 
Weltwirtschaftspolitik — ohne eine ebensolche Verkehrspolitik 
nicht mehr möglich ist. Nicht von dem ungefügen Werkzeug der 
Zölle und nicht von einer schematischen Handelsbilanz hängt die Stel- 
lung eines Staates auf dem Weltmarkt ab, sondern von der Höhe der 
Organisationsform der Industrie und der Verkehrsmittel mit ihrem 
wechselseitigen Ineinanderarbeiten. Der Staat, der in seiner Entwick- 
lung ein wenig hinter den realen Wirtschaftskräften der Zeit zurück- 
geblieben ist, hat hier im wesentlichen keine andere Möglichkeit als zu 
den Abmachungen der großen Interessenverbände untereinander, 
die sie über seinen Kopf hinweg abschließen, ja zu sagen und wird 
erst in den Momenten der äußersten Spannung, dann aber mit seinen 
ganzen Machtmitteln, sozusagen als absolute Kraft, angerufen werden. 
Ohne eine einheitliche nach den gleichen großen Zielen gerichtete 
Verkehrspolitik — und dies ist ein Fingerzeig für Oesterreich und 
Ungarn — ist eine einheitliche Handelspolitik heute nicht mehr 
möglich. 

Ein weiteres charakteristisches Kennzeichen der gegenwärtigen 
Entwicklungsphase ist die Agglomeration, das Zusammenschießen 
gleichsam der gewichtigen Wirtschaftsinteressen, die oft genug in 
einer Person verlebendigt sich darstellen. So wie Morgan das ameri- 
kanische Eisenbahninteresse, so verkörpert er auch die amerikanische 
Handelsschiffahrt, einen großen Teil der amerikanischen Schwer- 
industrie und des amerikanischen Finanzkapitals. In kleinerem Maß- 
stabe ist dies überall, sogar beim Staate als Kaufmann selbst der Fall. 
Die Bergwerkinteressen des preußischen Fiskus führen ihn zu Aktionen 


in der Rheinschiffahrt. Er erwirbt Schiffahrtsaktien, um seine Stellung 


im Kohlensyndikat zu stärken und den Transport seiner eigenen Kohle 
zu übernehmen. So hören wir auch aus England vom Zusammenschluß 
englischer Schiffahrts- und Kohlengesellschaften und so könnte es 
auch einmal in Oesterreich werden, wo heute die führenden Wirt- 
schaftsinteressen sich in je einer oder zweier Großbanken konzentrieren 
und (trotz des Staatsbahnsystems) Eisenbahn-, Schiffahrts- und Schiff- 
bau- und Industrieinteressen nach einheitlichem Plane verwaltet und 
dirigiert werden könnten ?°). 

Welches Resultat hatte nun dieses Bündnis für die Entwicklung 
der deutschen Gesellschaften ? Zunächst einmal eine Festigung und 
Ausbreitung ihrer Hegemonie in den atlantischen Häfen des europä- 


17) Vgl. z. B. Wiener Bankverein, welcher die orientalischen Eisenbahnen, 
die Austro-Americana und eine Anzahl Industrien kontrolliert. 


=- — -1 m | ||| _ EN Aaa DENSESUSSOSESSSSESESESESNENSE 


Auswanderung u. Schiffahrt mit bes. Berücksichtigung der öst. Verhältnisse. 859 


ischen Kontinents. Um den nordatlantischen Dampferlinienverband 
gegen jede Invasionsgefahr sicherzustellen, erwarb der Trust die 
Mehrheit der Aktien der Holland-Amerika-Linie, wobei in der Durch- 
führung und Finanzierung des Geschäfts zum erstenmal die be- 
kannten amerikanischen Methoden auf die Organisation der konti- 
nentalen Schiffahrt Anwendung fanden. Von da an sollte dies ein 
bevorzugter Weg werden. Schließlich erweiterte der NDLV. seine 
Einflußsphäre durch Angliederung der französischen Linie nach 
den VSt., der Compagnie Generale Transatlantique: diese Erwerbung 
bedeutete nicht nur eine Regelung und Kontingentierung des italie- 
nischen und orientalischen Auswanderungsgeschäfts, sondern darüber 
hinausgehend zugleich die Bindung und Ausschaltung eines mög- 
lichen Gegners, denn schon rüstete man sich zu neuem Kampfe. 
Von England her, das sich in seinem nationalen Stolze verletzt fühlte, 
drohte dem Trust schwere Gefahr. Wie werden die deutschen Gesell- 
schaften diesem Kampfe begegnen? Wird die Bundesgenossenschaft 
mit den Amerikanern sich leistungsfähig erweisen ? Jedenfalls rüsten 
sich die Deutschen. Eine solche Rüstungsmaßregel, aber zugleich auch 
dem Ausbau der monopolistischen Organisation dienend ist in der Be- 
gründung der Registrier- und Kontrollstationen zu sehen. Das Kapital 
kauft gleichsam (so wie man Alteisen oder Fabriken auf Abbruch 
kauft) alte überflüssig gewordene staatliche Verwaltungseinrichtungen 
und etabliert sich in ihnen zu eigenem Nutz und Frommen. 

Ueber diese merkwürdigen Stationen wird folgendes erzählt. Die 
ersten derartigen Stationen wurden im Jahre 1893 nach der großen 
Hamburger Choleraepidemie, die von russischen Auswanderern einge- 
schleppt worden war, durch die preußische Regierung an der russischen 
Grenze errichtet und zwar ausschließlich zum Zwecke sanitärer 
Ueberwachung des Verkehrs. Den deutschen Schiffahrtsgesellschaften 
erschienen diese Stationen als ein vorzüglich geeignetes Mittel, den 
osteuropäischen Wanderstrom zu kontrollieren, ihn nach Möglichkeit 
in die deutschen Häfen zu lenken und allen Unternehmungen, die ent- 
weder außerhalb des Kartells standen oder nach den bestehenden 
Kartellvereinbarungen keine osteuropäischen Auswanderer beför- 
dern sollten (wie z. B. die englischen Gesellschaften), den Zufluß 
von dorther gänzlich abzuschneiden. Sie verlangten daher von der 
preußischen Regierung, die Kontrollstationen an der russischen Grenze 
zu diesem Zwecke benutzen und an der österreichischen Grenze ähn- 
liche Anstalten auf ihre Kosten errichten zu dürfen, um in diesen unter 
dem Vorwande der Fernhaltung solcher Personen, die der öffentlichen 
Armenptlege zur Last fallen könnten, gleichfalls eine Kontrolle vom 
Gesichtspunkt ihrer geschäftlichen Interessen ausüben zu können. 

Nach längeren Verhandlungen ging die preußische Regierung 
darauf ein und erließ im Jahre 1904 die nötigen Vorschriften. Die 
ganze Kontrolle, wie sie in den Registrier- und Kontrollstationen seit- 
her geübt wird, hat den Zweck, den Durchzug nur solchen Auswande- 
rern zu gestatten, die gewissen sehr hoch gespannten und von der 
überwiegenden Mehrzahl überhaupt nicht zu erfüllenden Bedingungen 


860 Arthur Salz, 


genügen oder unter Garantie der deutschen Linien reisen. In diesem 
Falle wird von der Erfüllung der erwähnten Bedingungen abgesehen, 
weil die deutschen Gesellschaften die Haftung dafür übernehmen, 
daß der Durchwanderer während der Hin- oder Rückreise der Armen- 
pflege nicht zur Last fällt. Natürlich übernehmen sie diese Haftung 
nur für die Leute, die ihre Passagiere oder die eng befreundeter Unter- 
nehmungen sind, so daß unter dem Vorwande einer allgemeinen poli- 
zeilichen Maßregel die Leitung und Verteilung des ganzen durch die 
Kontrollstationen gehenden Auswandererstromes den deutschen Ge- 
sellschaften und ihren mit der Leitung der Stationen betrauten Agen- 
ten überantwortet wird. 

Diese Stationen sind also wie die entsprechenden Einrichtungen 
auf dem Gebiete der Fleisch- und Vieheinfuhr als Maßregeln gedacht, 
welche je nach Bedarf durch straffere oder laxere Handhabung der Will- 
kür einen breiten Spielraum lassen und durch Umgehung des für alle 
in gleicher Weise gültigen Gesetzes Ausnahmestellungen für einzelne 
ermöglichen. Insofern also fügen sie sich ganz gut in den Rahmen, 
von Institutionen, die sich der neo-merkantilistische Wirtschaftsstaat 
geschaffen. Aber darüber hinausgehend möchte man darin überhaupt 
eine für das Kapital und seine Beziehungen zum Recht typische Haltung 
sehen dürfen. Immer geht ja das Kapital darauf aus, Recht zu 
schaffen und das bedeutet in aller Regel: bestehende oder entstandene 
Machtverhältnisse abschließend zu stabilisieren und ihnen eine höhere, 
nämlich die staatliche Sanktion zu verleihen. Aber sofort der nächste 
Schritt besteht darin, sich selbst von diesem allgemeinen Recht aus- 
zunehmen und sich jenseits desselben zu stellen. Recht soll sein — 
für die anderen, das Kapital selbst profitiert am meisten daraus, 
daß es sich von dem allgemeinen Recht emanzipiert und ge- 
deiht am besten in Exemtionen, die von der gerade herrschenden Ge- 
walt, sei es die Kirche, sei es der Seigneur, sei es der Staatsbeamte, 
wohl behütet werden. Wir sehen also in diesen Kontrollstationen 
und ihrem Mißbrauch nur einen Spezialfall, allerdings einen bedenk- 
lichen. Denn die staatliche Polizei gibt sich dazu her, den Privat- 
affären monopolistischer Gesellschaften zu dienen und dem verbün- 
deten Schiffahrtskapital Zutreiberdienste zu leisten. Darum liegt hier 
der Punkt, wo die Schiffahrtspolitik der heimischen Gesellschaften 
den Staat in bedenkliche Konflikte bringen könnte, wo also die ganze 
Angelegenheit aufhört, eine'privatwirtschaftliche zu sein und weltpoli- 
tische Bedeutung erlangt. — 

Es folgt in der Geschichte des Trusts eine Episode, die ihm Ge- 
legenheit gibt, seine Stärke im Angriff zu erweisen: der Kampf des 
Trusts mit England, wobei Oesterreich-Ungarn ein Kampfobjekt 
bildet. Die mit der Gründung der Trusts verknüpften Vorgänge 
hatten die öffentliche Meinung in England aufs äußerste erregt. Die Cu- 
nard-Line, das verwöhnte Schoßkind der englischen Regierung, nützte 
die Situation aus, verschaffte sich von der Regierung eine riesige Sub- 
vention und setzte sich nach Austritt aus der Northatlantic Conference 
in Fiume fest. Sie erhielt von der ungarischen Regierung auf Grund 


Auswanderung u. Schiffahrt mit bes. Berücksichtigung der öst. Verhältnisse, 861 


eines neuen Auswanderungsgesetzes, dessen Tendenz dahin ging, die 
Auswanderung im allgemeinen zu regeln, aber sie durch polizeiliche 
Maßregeln hauptsächlich nach dem nationalen Hafen zu lenken, für 
I0 Jahre das ausschließliche Recht zugestanden, Auswanderer über 
Fiume zu befördern. Der Staat assoziiert sich also weder mit der 
Kapitalorganisatfion zu einer Betriebsgemeinschaft nach privatwirt- 
schaftlichen Gesichtspunkten, noch bekämpft er sie geradewegs, son- 
dern er begünstigt die Konkurrenz, den stärksten Outsider und sucht 
hiebei möglichst viele Vorteile für die heimische Volkswirtschaft 
herauszuschlagen. Die Frage, ob er darin bisweilen nicht zu weit geht, 
läßt sich angesichts des Vertrages der ungarischen Regierung mit der 
Cunard-Line mit vollem Ernst aufwerfen, denn die ungarische Regie- 
rung garantierte dieser privilegierten Linie die Beförderung von jähr- 
lich mindestens 30 000 ungarischen Auswanderern und verpflichtete 
sich für den Fall, daß diese Zahl nicht erreicht werden sollte, für die 
daran etwa fehlenden r00 Kr. für den Kopf zu bezahlen. Mit Recht 
empörte sich die öffentliche Meinung des Landes über diesen Vertrag, 
der nicht viel weniger als den Verkauf von 30000 Landeskindern 
an eine vom Staat monopolisierte Schiffahrtsgesellschaft bedeutet. 
Die Gesellschaft verzichtete um so eher auf diese Bestimmung, als 
sman« (gemeint ist wohl der Schiffahrtstrust!) so weit ging, ihn den 
amerikanischen Behördern als eine Verletzung des Einwanderungsge- 
setzes zu denunzieren, da die von der Regierung gewährte Garantie 
für 30 000 Auswanderer der Stellung einer solchen Zahl von Kontrakt- 
arbeitern gleichkomme, die bekanntlich von der Einwanderung aus- 
geschlossen sind. Die Cunard-Line begnügte sich fortan mit der Zusiche- 
rung der ungarischen Regierung, die Auswanderung über Fiume mit 
den ihr nach den Gesetzen zur Verfügung stehenden Mitteln zu fördern, 
keiner anderen Gesellschaft günstigere Bedingungen für die Beförde- 
rung von ungarischen Auswanderern zuzugestehen und ohne Zustim- 
mung der Cunard-Linie die Konzession zur Beförderung von ungarischen 
Auswanderern über adriatische und Mittelmeerhäfen keiner anderen 
Schiffahrtsgesellschaft zu erteilen. Kurz die Schiffahrtspolitik der 
ungarischen Regierung bestand in der Verleihung eines Monopols 
für den Auswandererverkehr an die englische Cunard-Linie und er- 
innert darin an jene Privilegien, die Vorläufer der modernen Handels- 
verträge, welche von finanziell bedrängten Königen an fremde Kaufleute 
verliehen wurden. Wie groß der finanzielle Gewinn der ungarischen 
Regierung an diesem Geschäft gewesen ist, hat man nicht erfahren. 
Uebrigens nahm der ungarische Staat diese eine grundsätzliche Po- 
sition nur vom Jahre I904—IQII ein und akzeptierte nachher, wie 
wir sehen werden, ein anderes Prinzip: er tritt in den allein seligmachen- 
den Schoß des Kapitals ein und macht seinen Frieden mit dem inter- 
nationalen Trust. 

Es folgte ein kurzer aber intensiver Kampf, der acht Monate 
währte. Die deutschen Gesellschaften griffen die Cunard-Line in 
Skandinavien an und riefen die Bundesgenossenschaft der JMMC. 
an, die auch im vollsten Maße gewährt wurde. Die Passagierpreise 


862 Artbur Salz, 


für Zwischendeck sanken bis auf 2:3 £ (50 M.). Indes Hapag schlägt 
sich — Hapag verträgt sich. Oktober—November 1904 wurde der 
Berliner Friede geschlossen. Die Cunard-Linie sicherte sich das Recht, 
ihre Fiumaner Linie außerhalb des Pools zu betreiben und übernahm 
ihrerseits die Verpflichtung, durch die ihr von der ungarischen Re- 
gierung bewilligten Agenturen auch Auswanderer für die kontinentale 
Linie buchen zu lassen. Im übrigen wurden die alten Verträge 
wieder hergestellt. Dieser Kampf aber hatte die Schiffahrtsgesell- 
schaften gelehrt, daß ihre Existenz wesentlich davon abhängt, zu- 
künftige Entwicklungsmöglichkeiten möglichst frühzeitig zu eskomp- 
tieren: Befürchtungen, halb geahnt, werden ehe man sich dessen 
versieht zu Tatsachen, man muB ihnen vorbeugen. Aus diesem Ge- 
sichtspunkt ist die Festsetzung der deutschen Schiffahrtsgesellschaften 
in Triest seit 1904 zu beurteilen. 

Im Jahre 1903 hatten sich die zwei österreichischen Schiffahrts- 
unternehmungen Austro-Americana und Fratelli Cosulich, die bis dahin 
von Triest aus einen übrigens geringfügigen Warendienst 
betrieben, zur »Vereinigten österreichischen Schiffahrts-Aktiengesell- 
schaft vormals Austro-Americana und Fratelli Cosulich« (die »Austro- 
Americana«) zusammengeschlossen. Das Anfangskapital der Gesell- 
schaft betrug 2 Millionen Kronen, ihre Flotte bestand aus 2 Dampfern 
mit 8144 Br.-Reg.-Tonnen, wozu noch 13 von der Firma Fratelli Cosu- 
lich verwaltete Karatistendampfer mit einem Tonnengehalt von 
41 657 Br.-Reg.-Tonnen kamen. Die Austro-Americana wünschte mit 
der in Fiume tätigen Cunard-Linie eine Betriebsgemeinschaft abzu- 
schließen, wurde aber abgewiesen. Da es der Gesellschaft nicht gelang, 
österreichisches Kapital für die heimische Schiffahrt zu interessieren 
und auch die Regierung sich lau verhielt, so wäre der jungen Unter- 
nehmung bald der Lebensodem ausgelöscht. Diesen Glücksfall be- 
nutzte sofort die Hapag und trat durch Vermittlung des Wiener Bank- 
vereins mit der Austro-Americana in Verhandlungen und offerierte 
ihr ein Uebereinkommen, das u.a. eine weitgehende finanzielle Be- 
teiligung der deutschen Gesellschaften und die Zuweisung eines für 
das junge Unternehmen recht beträchtlichen Anteils (4% von der 
gesamten Zwischendeckpassagieranzahl) am kontinentalen Auswander- 
verkehr in sich schloß. Die vorläufigen Vereinbarungen — der formelle 
Anschluß an den NDLV. erfolgte erst durch Vertrag de dato Berlin 
13. November 1904, der bis 31. Dezember 1914 läuft — enthalten Be- 
stimmungen über die Teilung des Verkehrs, Einrichtung einer neuen 
von Triest nach New York führenden Passagierdampferlinie, Tarii- 
vereinbarungen u.a.m. Am wichtigsten aber war die finanzielle 
Beteiligung der deutschen Gesellschaften, die es durch Ausübung des 
ihnen eingeräumten Optionsrechts immer in der Hand hatten, die 
Mehrzahl der Aktien der Austro-Americana zu erwerben und dadurch 
diese nationale Schiffahrtsgesellschaft zu entnationalisieren. Diese 
Option wurde allerdings klugerweise nicht wirklich ausgeübt. Vor- 
läufig machte man mit der nationalen Idee in der Schiffahrt bessere 
Geschäfte und schöpfte erst einmal diesen Rahm ganz ab. Ueber die 


er ER, Se OR EEE EEE EEE 


Auswanderung u. Schiffahrt mit bes. Berücksichtigung der öst. Verhältnisse. 863 


finanzielle Beteiligung wurde folgendes vereinbart: die Austro-Ameri- 
cana erhöhte (1904) ihr Aktienkapital von 4 auf 16 Millionen Kronen. 
Von den neu ausgegebenen Aktien übernahmen die deutschen Gesell- 
schaften 5 Millionen zum Parikurse und erhielten bis 31. Dezember 
1914 die Option auf den Bezug weiterer Aktien im Nominalbetrage 
von 3 150 000 Kronen aus dem Besitz der Firma Fratelli Cosulich. 
Bei späteren Kapitalsvermehrungen der Austro-Americana erhöhten 
sich im gleichen Verhältnis Aktienbesitz und Optionsrecht der deut- 
schen Gesellschaften. Zuletzt besaßen sie Aktien im Nominalbetrage 
von 7,5 Millionen Kronen und eine Option auf ein Nominale von 
4 650 000 Kronen bei 24 Millionen Kronen Gesamtkapital. Als Gegen- 
leistung garantierten die deutschen Gesellschaften sämtlichen Aktien 
der A.-A. im Nominalbetrage von 16 Millionen Kronen für ıo Jahre 
eine vierprozentige Verzinsung. Diese Vereinbarungen sind, näher 
betrachtet, ein Meisterwerk der Vertragskunst und allen Staatsmännern 
zum Studium zu empfehlen. Das Schiffahrtskartell erreicht alles was 
es will und für sich braucht und zwar nicht nur ohne Beeinträchtigung, 
sondern mit einer gleichzeitigen Förderung der Entwicklung der 
jungen österreichischen Gesellschaft. Der Notleidende ist der öster- 
reichische Staat und insbesondere die österreichischen Eisenbahnen. 
Dem NDLV. kommt es vor allem darauf an, das osteuropäische Aus- 
wanderungsgeschäft für sich zu monopolisieren. Dieser Hauptstrom 
der Auswanderer soll, wohin er auch gravitiere, jedenfalls über die Ver- 
bandshäfen geleitet werden. Zu diesem Zwecke wird Triest, der eigent- 
liche Heimatshafen der galizischen und ruthenischen Emigranten, mit 
einem geringen Bruchteil abgefunden und der österreichischen Gesell- 
schaft freigelassen, sich ihre Passagiere anderswo, hauptsächlich in 
den Mittelmeerländern, zu suchen. Denn wenn auch die Quote von 
4 % sämtlicher Zwischendeckpassagiere, die der Austro-Americana 
zugewiesen wurde, bei dem damaligen Stande des Schiffsparkes der 
Austro-Anmericana an sich reichlich bemessen ist, so bedeutet sie doch 
in concreto nur den Anspruch auf jährlich 12—16 000 Auswanderer 
ab Triest. Das ist bei einer Ziffer von 80—130 000 Auswanderern, 
die jährlich allein aus Oesterreich nach den Vereinigten Staaten und 
Kanada reisen und bei einer doppelt so großen Anzahl, wenn man die 
beiden Staaten der Monarchie in Betracht zieht, ein sehr geringer Anteil 
Damit hätte die Austro-Americana bei 26 jährlichen Ausfahrten ihr 
Auslangen nicht finden können und wäre dem Untergang preisgegeben 
gewesen. Allein der Vertrag bestimmt weiter, daB diejenigen Passa- 
giere, die die österreichische Gesellschaft aus Italien, Griechenland, 
der Türkei, Spanien, Portugal, Asien Afrika, die sogen. »orientalische 
Auswanderung« auf den Fahrten von Triest nach New York in nicht 
adriatischen Häfen (französische Häfen ausgenommen) aufnimmt, in 
ihr Kontingent nicht eingerechnet werden. Damit wird die Austro- 
Americana deutlich auf die Forcierung der »exotischen«- Geschäfts 
hingewiesen, ja darin noch besonders vom Verband unterstützt. Denn 
während die Austro-Americana bei Ueberschreitung ihres Kontingents 
für jeden Ueberpassagier an die Verbandskasse des NDLV. 100 Mark 


Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 3. 56 


864 Arthur Salz, 


pro Kopf herauszuzahlen hat, erhält sie bei Nichterreichung ihres Be- 
förderungsanteils für jeden fehlenden Passagier vom Verband 100 Mark 
Entschädigung. Durch diese Bestimmung findet die Austro-Americana 
ihre Rechnung besser, wenn sie das orientalische als wenn sie das öster- 
reichische Geschäft pflegt. Denn da sie für jeden Passagier weniger 
als ihre Quote beträgt ıoo Mark erhält und dennoch die Möglichkeit 
hat, ihre Schiffe in griechischen, italienischen, spanischen Häfen zu 
füllen, so fehlt ihr der Anreiz zu einer intensiven Pflege des heimischen 
(österreichischen) Geschäfts, was der Pool ja wünscht, trotzdem er 
sich formell damit einverstanden erklärt hatte, daß die Austro-Amen- 
cana ihre Passagiere tunlichst aus Oesterreich heranzuziehen suchen 
werde. 

Indes ist dieser Zweig des Passagiergeschäfts, auf den so die Austro- 
Americana verwiesen wurde, ein höchst unsicherer und von der Kon- 
kurrenz, insbesondere der Griechen, bedroht. Schon besteht eine 
griechische Amerika-Linie und man darf jetzt mehr als je erwarten, daß 
dieses see- und geschäftstüchtige Volk in neuerwachtem Elan alles 
daran setzen wird, die fremde österreichische Konkurrenz zu ver- 
drängen und die griechische Auswanderung der griechischen Schiff- 
fahrt zuzuwenden. Weiter entgeht der österreichischen Volks- und 
besonders der Staatswirtschaft durch die Ablenkung der osteuropäi- 
schen Auswanderung nach den norddeutschen Häfen der größte Teil 
all der Gelder, die die Auswanderer auf dem Wege von ihrer Heimat bis 
zum Auswanderungshafen für Bahnfahrt, Verpflegung und Reiseaus- 
rüstung ausgeben. Rechnet man nur 50 Kronen für jeden galizischen 
Auswanderer und erwägt, daß dieser Betrag bei der Wahl des Weges 
über Triest ganz im Inlande bleibt, während auf dem Wege nach den 
Nordseehäfen nur etwa IO—ı5 Kronen dem Inlande verbleiben, so 
kann man bei der großen Zahl österreichischer Auswanderer die über 
die Nordseehäfen gehen, den Verlust für die österreichische Zahlungs- 
bilanz leicht ausrechnen. | 

Inzwischen (1914) wurde die Austro-Americana in ein snationa’'est 
Unternehmen rückverwandelt. Die Aktienmehrheit über die die deut- 
schen Gesellschaften verfügten, wurde an ein Bankkonsortium ver- 
kauft unter der Bedingung, daß dadurch der österreichische Charakter 
der Austro-Americana gesichert wird. Das Aktienkapital wurde wieder 
(auf 36—40 Mlilionen Kronen) erhöht und entsprechend der Anteil 
der Gesellschaft am kontinentalen Auswandererverkehr (von 4auf 7%). 

Der Norddeutsche Lloyd überreichte (vgl. dessen Jahrbuch 1914) 
in Gemeinschaft mit der Austro-Americana der österreichischen Re- 
gierung eine Offerte zu einem Vertrage über die Beförderung von Aus- 
wanderern, worin den diesbezüglichen Wünschen des österreichischen 
Handelsministeriums Rechnung getragen wird und welche bei den 
späteren Verhandlungen mit anderen Reedereien als Richtschnur ge- 
dient hat. 

Ende 1907 brach ein neuer Ratenkrieg, diesmal zwischen der 
Cunard-Line und der International Mercantil Marine Company aus, 
und auch zwischen den kontinentalen Linien und den Trust- 





Auswanderung u. Schiffahrt mit bes. Berücksichtigung der öst. Verhältnisse. 865 


gesellschaften waren Differenzen entstanden. Nach kurzer Dauer 
wurden diese Zerwürfnisse durch den Vertrag von London 1908 
(mit Gültigkeit bis Ende Februar ıgıı und unkündbar bis I. Ok- 
tober 1910) beigelegt und ein neuer AtlanticConference 
genannter Verband geschaffen, der den Höhepunkt auf dem Wege 
zum Monopol, zum mare clausum, bedeutet. Die Gesel:schaften 
gewährleisten sich gegenseitig bestimmte prozentuelle Anteile an dem 
ganzen Zwischendeckgeschäft, das die Vertragsteile von allen euro- 
päischen Häfen nach den Vereinigten Staaten und Kanada oder über 
diese Länder, sowie in umgekehrter Richtung mit eigenen, gemieteten, 
gecharterten oder von ihnen kontrollierten Schiffen ohne Unterschied 
der Flagge machen. Die Machtverteilung war derart, daß die Linien 
des NDLV. und hier wieder die zwei deutschen Gesellschaften die Hege- 
monie sowohl im Westverkehr (Auswandererverkehr) ajs auch im Ost- 
verkehr (Rückwandererverkehr) erhielten und auch bei der Erneuerung 
des General Pool im Jahre ıgıır behaupteten. (NDLV.: 62,48 % 
Auswanderer, 45,80 % Rückwanderer im Jahre 1908, 57,60 % und 
47,20 % im Jahre ıgıı, Linien der JMMC.: 19,75 % und 25,71 % 
im Jahre 1908, 18,22 % und 26,50 % im Jahre ıgıı). Aus allen sehr 
detaillierten Spezialbestimmungen, insbesondere aus den Strafsank- 
tionen geht hervor, ein wie festgefügtesBündnis da abgeschlossen wurde. 
. Jede der beteiligten Linien hatte bei dem gemeinsamen Sekretariat 
in Jena, dem die Durchführung und Ueberwachung des Ueberein- 
kommens obliegt, eine Kaution von 1000 Pfund für jedes Anteil- 
prozent in Wechseln zu hinterlegen. Die Bedeutung dieses neuen Ver- 
trags, dessen Haupttendenz dahin geht, jede Vermehrung der natio- 
nalen Schiffahrt zu verhindern und den status quo zu verewigen, 
charakterisiert der Bericht des österreichischen Handelsministeriums 
folgendermaßen: »Der neue Vertrag bedeutete einen großen Fortschritt 
der Organisation. Während früher Poolvereinbarungen nur zwischen 
einer Gruppe kontinentaler Linien bestanden hatten, waren jetzt alle 
großen Linien, das kontinentale und das englische Geschäft, einheitlich 
in der Form eines Pools zusammengefaßt. Immer unverhü Iter tritt 
nunmehr das Bestreben zutage, die neu gewonnene Einigkeit zur 
förm ichen Monopolisierung des Auswanderergeschäfts in den Händen 
der großen Verbandsreedereien zu benutzen. Hatte die Verbandsbil- 
dung früher in erster Linie zur Vermeidung von Konkurrenzkämpfen 
unter den kartellierten Unternehmungen und zur Abwehr von außen 
kommender Angriffe gedient, so wird jetzt ein angriffsweises 
Vorgehen die Regel. Wo eine unabhängige Linie besteht oder sich 
neu bildet, werden ihr Kampfschiffe entgegengestellt. Sie 
erscheinen ebensogut an den baltischen Küsten wie im dänischen Sund 
oder im Mittelmeer. Das Ziel des Kampfes ist die Vernichtung und 
wo dies nicht gelingt, die Einschnürung in die Fessel einer Poolverein- 
barung, welche die weitere Entwicklung unterbindet. In den Häfen 
der Auswanderungsländer sollen sich keine großen Auswanderungs- 
linien entwickeln.«e Der Ratenkampf alten Stils, der alle Linien schä- 
digt, wird aufgegeben und die wirksamere Methode der Kampfschiffe 
s6* 


866 Arthur Salz, 


eingeführt, die den Konkurrenten in seinem Hafen aufsuchen und unter- 
bieten und für eventuelle Verluste von der Gesamtheit der Verbands- 
mitglieder entschädigt werden. Die dänische und die russische Schiff- 
fahrt bekamen die eherne Faust dieses Machtgebildes alsbald zu spüren. 
Die augenblickliche krisenhafte Verwicklung in dem Schiffahrts- 
verband rührt nun davon her, daß I. eine Situation entstand, in der 
staatliche Machtfaktoren im Interesse der nationalen Schiffahrt und 
der auswärtigen Politik daran gingen, Bresche in diesen Interessenver- 
band zu legen, 2. daß Outsider die Wege des Trusts zu durchkreuzen 
versuchten und 3. einzelne Mitglieder des Verbands selbst in ihrer tech- 
nischen und kommerziellen Entwicklung rascher voranschritten als 
andere und nun den Anspruch erhoben, daß diesem Fortschritt durch 
eine Neuregelung der Machtverteilung Rechnung getragen werde. 
Zunächst erwachsen den im Pool vereinigten Gesellschaften Schwie- 
rigkeiten aus der Verschiedenheit der Interessen zwischen den ameri- 
kanischen und kontinentalen (insbesondere deutschen) Schiffahrtge- 
sellschaften. Diese den betreffenden Gesellschaften inhärenten Diver- 
genzen bestehen bekanntlich in folgendem: die im Pool führenden 
deutschen Gesellschaften haben reine Schiffahrtinteressen. Sie 
haben ihren Geschäftsbetrieb aufgebaut auf der Tatsache, daß es eine 
konstante europäische Massenauswanderung gibt, die sie zu organi- 
sieren, d. h. für sich zu monopolisieren streben. Das ist der konstante. 
Faktor, die rationelle Grundlage ihres Betriebs. Sie sind Endkoloni- 
sationsgesellschaften, die Menschen attrahieren und verpflanzen. 
Sie müssen naturgemäß das in ihrem Schiffspark investierte Kapital 
durch einen monopolistischen Großbetrieb möglichst rasch zu amorti- 
sieren trachten. Würde die nachhaltige europäische Auswanderung 
plötzlich stocken oder die Einwanderung in den überseeischen Ländern 
generell verboten, so müßte sich die ganze Struktur der Schiffahrts- 
gesellschaften ändern: sie wären auf die Gelegenheitsreisenden und 
auf Forcierung des Warenexports angewiesen (in weiterer Folge würden 
solche Einwanderungsbeschränkungen Rückwirkungen empfindlichster 
Art auf die Wirtschaitsverhältnisse des Auswanderungslandes aus- 
tiben). Im Gegensatz dazu sind die amerikanischen Schiffahrtverband- 
interessen eigentlich Interessen der amerikanischen E isen bahn- 
gesellschaften, die hauptsächlich dem Warenexport dienen. Das 
amerikanische (private) Transportwesen ist ein aus Eisenbahn und 
Schiffahrt kombinierter Betrieb. Würde die Einwanderung von Eur- 
päern nach Amerika aufhören, so würden das in erster Linie die ameri- 
kanischen Eisenbahnen, die Industrie und Landwirtschaft spüren *). 
Info'ge dieser Divergenz der Interessen liegt, wie wir schon sahen, 
das Organisationsproblem dort und hier verschieden. Die deutschen 
(europäischen) Schiffahrtgesellschaften haben das zentrale Interesse, 
die osteuropäische Auswanderung zu monopolisieren. Die Amerikaner 


3$) Die entfernteren Folgen dieses weltwirtschaftlichen Menschen- und 
Warenexports und Imports, dessen Verursachung, bzw. Einfluß auf die Zah- 
lungs- und Handelsbilanz der verschiedenen dabei interessierten Staaten stehen 
hier nicht zur Erörterung. 





m m e l uA MET DA g BE \ B . 


Auswanderung u. Schiffahrt mit bes. Berücksichtigung der öst. Verhältnisse, 867 


dagegen haben das zentrale Interesse, den Bahnen, die sie kontrollieren, 
lohnende Beschäftigung zu geben. Diese Verquickung der Eisenbahn- 
und Schiffahrtinteressen, der gegenseitige Wettbewerb zwischen Häfen 
und Eisenbahnen in den U. S. und Kanada, macht eine alle Teile be- 
friedigende Interessengemeinschaft zu einem so überaus schwierigen, 
ja, wie es scheint, auf die Dauer unlösbaren Prolem. Denn die großen 
amerikanischen Eisenbahngesellschaften werden durch die natürliche 
Entwicklung immer wieder dazu gedrängt, in der europäischen Schiff- 
fahrt festen Fuß zu fassen und das Monopol des Pools zu durchbrechen. 
Der Schiffahrttrust von 1902 hatte zum erstenmale den amerikanischen 
Eisenbahninteressenten die Herrschaft über eine Gruppe großer Schiff- 
fahrtslinien gegeben. Die gleichen Gründe wie damals waren maß- 
gebend, als die großen kanadischen Eisenbahngesellschaften 
ihren Betrieb auf die Schiffahrt ausdehnten. Voran ging die Canadian 
Pacific Railway (CPR.), eine der größten Aktiengesellschaften der 
Welt. Diese erwarb 1903 von einer englischen Reedereifirma die euro- 
päische Flotte der Beaverline, und richtete einen Dienst von Ant- 
werpen nach Kanada ein. Durch ihre von Quebeck und Halifax aus- 
gehenden Eisenbahnlinien, die u. a. auch nach Chicago und den Nord- 
staaten der Union eine Verbindung herstellten, kam die CPR. dem 
Rayon des Morgantrusts, der nicht bloß Schiffahrt- sondern auch 
Eisenbahninteressen verkörperte, zu nahe. Damit war der Grundge- 
danke des Pools getroffen, »der darin bestand, daß das atlantische 
Schiffahrtgeschäft unter die Kontrolle der großen kontinentalen 
Schiffahrtsgesellschaften, die das europäische Auswanderergeschäft 
beherrschen und des Morgantrusts gestellt wurde, in dem die amerikani- 
schen Eisenbahninteressen sich verkörpern«. Einen Kampf mit dieser 
mächtigen Gesellschaft vermeidend, traf der NDLV. gieich nach Er- 
öffnung der neuen Kanadalinie im Jahre 1904 ein Uebereinkommen 
mit der CPR. u.s.w. erboten sich die Linien des NDLV. für die CPR., 
gleichsam die kontinentalen Agenten abzugeben. Die CPR. ließ sich 
eine Kontingentierung des kontinentalen Geschäfts (auf 5,429 % des 
gesamten Auswandererverkehrs der kontinentalen Linien) gefallen, 
die Linien des NDLV. verzichteten ihrerseits auf die direkteBeförderung 
finnischer, skandinavischer und britischer Passagiere. Die englisch- 
kanadischen Linien verpflichteten sich weiter, keinerlei Agentenorgani- 
sation in England, Amerika oder auf dem Kontinent zu errichten, sich 
ihrer zu bedienen oder sie zu dulden, noch auch irgendeinen Schritt 
für die Buchung von kontinentalen Passagieren zu unterstützen oder 
zu unternehmen, ausgenommen durch ihre gehörig autorisierten Agen- 
turen. Um die CPR. keinesfal!s im europäisch-amerikanisch-kanadi- 
schen Schiffahrtgeschäft festen Fuß fassen zu !assen, errichtete der 
NDLV. den »gemeinsamen Kanadadienst der Linien des NDLV«. von 
Hamburg über Bremen und Rotterdam nach Montreal und erzielte ein 
Eisenbahnübereinkommen, das die gleichmäßige Verteilung der mit 
der neuen Kanadalinie beförderten Frachten auf die Linien der CPR. 
und der Grand-Trunk-Line vorschrieb. »Außerdem wurde in diesem 
Abkommen auch die Konkurrenz mit den Eisenbahnen der Union auf 


868 Arthur Salz, 


der Basis geregelt, daß Durchfrachten von Punkten des In- 
lands bei der Beförderung über kanadische und Unionshäfen gleich- 
gestellt wurden.« Es folgten ein Abkommen (1910) mit der Cana- 
dian Northern Railway, die ebenfalls eine Dampferverbindung von 
Liverpool nach Kanada, die Royal-Line, eingerichtet hatte und sodann 
im Oktober dieses Jahres ein neues Uebereinkommen der CPR. mit 
dem NDLV. Die beiden Kontrahenten verbürgten sich gegenseitig 
ihren Anteil an dem ganzen Zwischendeckgeschäft; überdies ermäch- 
tigte die CPR. die Linien des NDLV., für sie auf dem Kontinent Passa- 
giere direkt oder durch ihre Agenten zu buchen und bewilligte hiefür 
den Linien außer der gewöhnlichen, den Agenten zufallenden Kom- 
missionsgebühr von 15 Mark noch eine Extragebühr von 5 Mark für 
jeden erwachsenen Passagier, die jedoch den Schiffahrtsgese schaften 
verbleiben und nicht an den Agenten weiter gegeben werden sollte. 
Die gleiche Ermächtigung galt auch vice versa unter gleichen Ver- 
hältnissen und Bedingungen. Ueber dieses für alle Vereinbarungen über 
den Kanadadienst charakteristische System, wonach die koalierten 
Schiffahrtsgesellschaften und die kanadischen Eisenbahnen einander 
wechselseitig Agentendienste leisten, sagt der Bericht (S. 20), daß es 
dem Verfahren des Pools gegenüber den Schiffahrtsgese Ischaften 
der Auswanderungsländer diametral entgegengesetzt sei. 
»Haben diese mit ihren Agenturen als Buchungsstellen und Lieferanten 
der lebenden Ware für die Poollinien zu fungieren, so nehmen die letz- 
teren gegenüber denSchiffahrtsgesellschaften des Einwanderungs 
landes Kanada umgekehrt selbst die Funktion des Lieferanten auf 
sich. Sie sind Großkaufleute im Transportgeschäft ; sie beziehen die Aus: 
wanderer im kleinen von den zahllosen Agenten Osteuropas und nehmen 
auch den Schiffahrtsgesellschaften der östlichen Länder den Ueberschuß 
ab, den diese von Poolswegen nicht selbst befördern dürfen. In ihren 
Sammelstationen strömt die Menge des Wandervolks zusammen, 
um dann nach Bedarf auf die eigenen Linien dirigiert oder weiterver- 
kauft zu werden, 5 Mark den Kopf, an solche Unternehmungen, die 
in dem Geschäft noch nicht weit genug gekommen sind, um selbst bis 
an den Ursprung der Ware zu gehen.« Dieses Uebereinkommen wurde 
mit Rücksicht auf den nahe bevorstehenden Ablauf der anderen Ver- 
träge nur für kurze Frist, bis 31. Dezember 1912, geschlossen. 

Im Jahre ıgrı wurde der General-Pool auf fünf Jahre erneuert. 
Nach deren Ablauf sollte der Vertrag mit halbjähriger Kündigungsfrist 
automatisch von Jahr zu Jahr weitergelten. Die wichtigste Aende- 
rung bezieht sich, von einigen Modifikationen der Anteile abgesehen, 
auf die Eingliederung des Fiumaner Dienstes der Cunard-Line in den 
Poolvertrag. Es wurde oben bemerkt, daß diese Linie auf Grund eines 
Spezialabkommens mit der ungarischen Staatsregierung gleichsam 
halbamtlichen oder staatlichen Charakter hatte und daß der ungari- 
schen Regierung eine gewisse Ingerenz auf den Betrieb zustand. In- 
zwischen hatte aber die ungarische Regierung ihre Haltung geändert. 
Bei Erneuerung des General Pool akkordiert sie mit diesem und nimmt 
damit eine auch anderweitig bekannte prinzipielle Stellung des Staates 





Auswanderung u. Schiffahrt mit bes. Berücksichtigung der öst. Verhältnisse. 869 


gegenüber den großen Kapitalassoziationen ein: der Staat wurde 
Partner der privaten Kapitalsgesellschaften. Im Jahre igIo war zwi- 
schen der ungarischen Regierung und den Linien des NDLV. ein Ver- 
trag abgeschlossen worden, der diesen Gesellschaften nicht nur die 
offizielle Zulassung zum Geschäftsbetrieb in Ungarn brachte, sondern 
gleichzeitig auch die ungarische Regierung förmlich zum Garanten des 
Pools machte. Im $ ıı dieses Vertrags gibt die ungarische Regierung 
ihre ausdrückliche Zustimmung zu einem Kontingentierungsüberein- 
kommen für den Fiumaner Verkehr und verpflichtet sich, den Zug der 
Auswanderer von keinem der Häfen der konzessionierten Gesellschaf- 
ten wegzuleiten, sondern diesen in der Frage der Aufteilung vollkom- 
men freie Hand zu lassen«. Dies bedeutet, besonders angesichts der 
weiteren Bestimmungen, die den Staat auch für die Zeit nach Erlöschen 
seines Vertrags mit der Cunard-Linie binden, nichts anderes, als daB 
das Monopol des Pools für den Auswanderungsverkehr vom Staate 
offiziell anerkannt wird. 

Eine andere wichtige Veränderung im inneren Aufbau der Schiff- 
fahrtverbände war die um die gleiche Zeit erfolgte Kündigung des 
Vertrags, der 1902 zwischen dem englisch-amerikanischen Schiffahrt- 
trust und den deutschen Gesellschaften geschlossen worden war. Die 
wechselseitige Dividendengarantie zwischen den deutschen Linien und 
dem Morgantrust hatte sich nämlich mit der Zeit als eine drückende 
Belastung der Hapag (die am Schlusse des letzten Geschäftsjahres 
dem Morgantrust ı % Millionen Mark zu vergüten hatte) und als eine 
krasse Bevorzugung des Norddeutschen Loyd (der bis zum Schlusse 
des letzten Geschäftsjahres 4% Millionen Mark empfangen hatte) 
herausgestellt. Infolgedessen machte die Hapag von ihrem Rechte der 
Revisionsforderung Gebrauch und löste den Vertrag auf. Mit der 
CPR. aber konnte man nicht ins Reine kommen. Es bestanden Diffe- 
renzen wegen Erhöhung der Beförderungsquote, wegen angeblich will- 
kürlicher Behandlung ihrer Passagiere an den Kontrollstationen u. a. m. 
Und doch hing von der Regelung des Verhältnisses zu ihr der Fortbe- 
stand des Pools ab. Die Situation war kritisch und pressant. Für den 
Pool stand sein Monopol, die Beherrschung des gesamteuropäischen 
Auswanderverkehrs, für die CPR. standen ihre durch den Pool ge- 
schützten Eisenbahninteressen auf dem Spiele. Der Bericht des öster- 
reichischen Handelsministeriums schildert die Lage der CPR. folgender- 
maßen: Bis dahin war sie die einzige unter den großen kanadischen 
Bahnen, die über ein zusammenhängendes Netz von der atlantischen 
bis zur pazifischen Küste verfügte. Diese Vorzugsstellung war durch den 
bevorstehenden Ausbau von Konkurrenzbahnen (der Grand-Trunk- 
Railway und der Canadian Northern) bedroht. Bei einem 
Kampf stand zu befürchten, daß ihre Gegner, mit den Konkurrenz- 
bahnen liiert, den Frachtentransport auf die neuen Bahnen ablenken, 
sofern er nicht von den eigenen Schiffen der CPR. vermittelt wird. 
Da aber hier wiederum der Auswanderverkehr von ausschlaggebender 
Bedeutung für die Rentabilität der Linienschiffahrt und für die Mög- 
lichkeit der Einstellung schnellerer und besserer Schiffe ist, war die 


870 Arthur Salz, 


CPR. gezwungen, rechtzeitig ihre Position als Schiffahrtmacht zu 
verbessern. Sie mußte trachten, sich mindestens einen vom Pool und 
seinen Kontrollstationen unabhängigen eigenen Zugang zu den Aus- 
wanderungsländern im Osten Europas zu sichern und sich der Bevor- 
mundung durch den Pool zu entziehen. In Frage kamen nur entweder 
ein russischer Ostseehafen oder Triest. Rücksichten auf die Schwierig- 
keiten der Winterschiffahrt und auf die englischen Linien entschieden 
die Wahl zugunsten Triests. »Dies sind die Gründe, aus denen die 
CPR. mit der österreichischen Regierung wegen der Eröffnung einer 
Linie von Triest in Verhandlung trat, nicht großartige Besiedlungs- 
pläne, für die sie in der englischen und amerikanischen Einwanderung 
erwünschteres Material zur Verfügung hat, und noch weniger poli- 
tische Phantastereien.« In tot discrimine rerum griff die österreichische 
Regierung bzw. das Handelsministerium zu und stellte sich anders 
als die mit der stärkeren Macht praktierende ungarische ®) 
resolut auf die Seite des Teils, der um seine Existenz und Selb- 
ständigkeit kämpfend, den mächtigen Konzern, den Schiffahrtspool 
in seinem Gefüge bedrohte. Sie sah sich vor eine nicht allzu oft wieder- 
kehrende Situation gestellt, die es ihr in die Hand gab, den Pool zu 
sprengen und dadurch eine Haltung von paradigmatischem Werte zu 
bekunden. Es gehört mit zu den Grotesken unserer in weltpolitischen 
und weltwirtschaftlichenFragen so verwirrten und instinkt!osen Zeit, daß 
diese prinzipiell richtige und wertvolle Handlungsweise des Ministeriums 
zunächst einmal den Spott und Tadel der öffentlichen Meinung, d. h. 
der mit der Dummheit der Straße verbündeten Ignoranz der großen 
Parteipresse erntete. 

Die CPR. brauchte als Voraussetzung für die Einrichtung einer 
Triester Linie zunächst die Eröffnung eigener Agenturen in Oesterreich. 
Bisher hatte sie ja nach den Vereinbarungen von 1904 und 1910 dem 
NDLV. die Lieferung der Passagiere für ihre Antwerpener Linie ent- 
geltlich überlassen. Nicht ohne Bitterkeit bemerkt der Bericht, daß 
die Agitation »für die verderbliche Auswanderung nach Kanadas 
damals (d. h. bis Ende 1912) noch von denselben Leuten betrieben wurde, 
die sie »heute aus denselben geschäftiichen Motiven verurteilen, 
aus denen sie damals sich damit befaßten«. Die österreichische Schiff- 
fahrtbehörde, das Handelsministerium, verteidigt seine Stellungnahme 
zugunsten der CPR. mit fo'gender Motivation: vor die Wahl gestellt, 
wem sie die einmal bestehende Auswanderung nach Kanada (die 
Schiffe gehen, wohin die Fracht geht«) zur Ausbeutung überlassen 
sollte, entschied sie sich dafür, als Preis für die Errichtung selbständi- 
ger Agenturen in Oesterreich von der CPR. Bürgschaften gegen eine 
ungesetzliche Propaganda zu erlangen. Die Erwägung der verkehrs- 
politischen Seite der Frage führte des weiteren zu dem Ergebnis, daß 
bei Ablehnung des Anbots zu erwarten stand, daß der Pool beisammen- 
blieb. An der Quotenfrage wäre er sicher nicht gescheitert. In diesem 

22) Dies ist überhaupt ein charakteristischer Unterschied zwischen der èvor- 
nehmens österreichischen und der »klugen« ungarischen Handelspolitik; die 
österreichische ist gestählt im Kampfe mit den Trusts (z. B. standard-oil), die 
ungarische aber versteht das Paktieren besser (z. B. Eisen-Kartell!). 


Auswanderung u. Schiffalirt mit bes. Berücksichtigung der öst. Verhältnisse. 871 


Falle aber wäre Triest wieder Stiefkind geblieben, denn keine Vermeh- 
rung der nationalen Schiffahrt war und blieb Grundsatz des Pools. 
Ueberdies versprach sich die Regierung eine Reihe weiterer Vorteile, 
die hauptächlich die Förderung des österreichischen Warenexports 
und des Verkehrs des Triester Hafens bezweckten mit der letzten Ab- 
sicht, den Pool überhaupt zu sprengen und dadurch wieder freie Hand 
gegenüber den ausländischen Gesellschaften zu gewinnen. Mit Be- 
friedigung konstatiert der Bericht, daß die erwarteten Wirkungen mit 
überraschender Pünktlichkeit eingetreten seien. 

Was geschah, nachdem die österreichische Regierung das Anbot 
der CPR. angenommen hatte ? Zunächst errichtete die Austro-Americana 
im Auftrage der AC.-Linien gleichfalls eine Triest-Kanada-Linie 
mit monatlichen Abfahrten, womit jedenfalls ein für diese österreichi- 
sche Gesellschaft günstiges Präjudiz geschaffen war. Sodann meldeten 
sich nacheinander die anderen großen Geseilschaften mit neuen Pro- 
jekten: die Hapag proponierte eine Linie Triest-Boston, der Nord- 
deutsche Lloyd einen Argentiniendienst und die Cunard-Line wünschte 
eine Vermehrung ihrer Abfahrten von Triest. Allen diesen Propo- 
sitionen gegenüber verhielt sich das Handelsministerium nicht direkt 
ablehnend, sondern machte die Zulassung von gewissen Bedingungen 
abhängig, die der Regierung einen gewissen Einfluß auf den Geschäfts- 
betrieb der ausländischen Unternehmungen und die Kontrolle der 
Auswanderung auf ihre Gesetzlichkeit ermöglichen konnten. Die Re- 
gierung ver.angte insbesondere, daß die Gesellschaften sich einem be- 
hördlichen Auswanderungsregulativ und den darin 
vorgesehenen Kontrollen für alle österreichischen Auswanderer 
unterwerfen. Weiter wurden als Bedingungen für die Zulassung von 
Gesellschaften, die dem Pool oder einem ähnlichen Verband angehören 
zum inländischen Geschäftsbetrieb festgestellt, daß Triest und die 
österreichischen Schiffahrtsunternehmungen am Gesamtverkehr in 
ausreichendem Maße beteiligt werden und schließlich, daß die deutschen 
Kontroll- und Registrierstationen an der Grenze einerseits jede schi- 
kanöse Behandlung österreichischer Durchwanderer und Rückwanderer 
vermeiden und anderseits der Militärflucht keinen Vorschub leisten. 
In einer ganz leisen Polemik mit dem Kriegsministerium, auf dessen Ruf 
von den verlorenen Armeekorps die ganze Auswanderungsfrage in 
Oesterreich ins Rollen kam, bemerkt der Bericht des Handelsmini- 
steriums, daß das Festhalten an diesen Forderungen der einzige erfolg- 
verheißende Weg sei, den berechtigten Wünschen der Militärverwal- 
tung nach Kontrollierung und Verhinderung der Auswanderung Stel- 
lungspflichtiger Rechnung zu tragen. Die Erfahrungen inUUngarn hätten 
gezeigt, daß die Polizei machtlos ist, wenn die Schiffahrtsgesellschaften 
und ihre Agenten die ungesetzliche Auswanderung betreiben. Nur die 
Hafenstätte seien allein die Punkte, wo die behördliche Kontrolle 
mit der größten Sicherheit und Vol'ständigkeit durchgeführt werden 
könne. Infolgedessen seien vertragsmäßige Verpflichtungen der Schiff- 
fahrtsgesellschaften zur Uebung oder Duldung solcher Kontrolle der 
beste Weg zu“deren wirksamen Durchführung.‘ Vertragsmäßige Ab- 


872 Arthur Salz, 


machungen mit den betreffenden Regierungen über die Behandlung 
der Zurückgewiesenen hätten die Ergänzung eines derartigen Ueber- 
einkommens zu bilden. 

Diesen Forderungen einer behörd!ichen Kontrolle durch Organe 
des Auswanderungslandes gegenüber haben sich die Poolgese Ischaften 
bisher ablehnend verhalten. Auch die ungarische Regierung war ob- 
wohl durch ein schon bestehendes Auswanderungsgesetz gestützt, 
gegenüber der Auswanderung paßloser Militärpfl chtiger machtlos 
und hat(siehe Neue Freie Presse vom 4. März IQI4) ganz neuerdings eben 
deshalb ıhren Vertrag mit dem Schiffahrtspool gekündigt. Motiviert 
wird diese Weigerung, wie man aus einem in dem Berichte abgedruckten 
Briefe Ballins, worin er auch für die deutsche Regierung 
das Wort führt, ersieht, mit dem Hinweis, daß solche Verein- 
barungen bertreffend die Nichtbeförderung paßloser Auswanderer, 
wenn sie nicht zum Schaden einer einzelnen Geseilschaft ausschlagen 
solien, international sein, d.h. in gleicher Weise die englischen, bel- 
gischen, holländischen und französischen Gesellschaften umfassen 
müßten. Jedenfalls geht aus diesem Briefe das eine hervor, daß die Be- 
förderung gerade solcher ungesetzlicher Auswanderer ein lebhafter 
und gewinnbringender Geschäftszweig sein muß, da die Gesellschaften 
den Verzicht darauf nicht zum Kompensationsobjekte anderer Zuge- 
ständnisse machen wollen. Unser Bericht bezweifelt übrigens die 
Durchschlagskraft des angeführten Arguments mit dem Hinweis darauf, 
daß ebensogut wie die deutschen Schifffahrtsgesellschaften Auswan- 
derer mit englischen Schiffahrtkarten nicht durch Deutschland las- 
sen, sie auch österreichische Wehrpflichtige von der Beförderung aus- 
schließen könnten. Auch sei die Verbindung mit den holländischen, 
belgischen u. a. Gesel'schaften im NDLV.so enge, daß die Wirksam- 
keit der Kontrollmaßregeln einzig von dem guten Willen der beiden 
deutschen Gesellschaften abhänge. 

Nach dem Austritt der CPR. aus dem Pool, der die von dieser 
finanziell abhängige Al:ian-Line fo'gte, gelang zwar noch eine provi- 
sorische Verlängerung, aber der mächtige Verband war doch von Zer- 
fall bedroht, weil unterdessen auch zwischen den noch verbleibenden 
Mitgliedern schwerwiegende Differenzen entstanden, die sich letztlich 
wieder aus dem verschiedenen Entwicklungstempo der Verbands- 
glieder und der mangelnden Anpassung der Verträge an die konkreten 
Tatsachen erklären. Die ersten Wochen des Jahres 1914 waren durch 
vö.lige Ungeklärtheit aller Verhältnisse gekennzeichnet. Erst all 
mählich werden die Grundzüge der künftigen Neuorganisation sichtbar. 
Man kann heute (Sommer 1914) ahnen, daß die deutschen Schiffahrts- 
gesellschaften auf dem\Vege vom Karte 1] zum Trust sind. Diesen großen 
Fragen gegenüber tritt die österreichische Episode in den Hintergrund, 
weil auch ohne sie die Krisis eingetreten wäre. Diese Krisis war aber für 
die österreichische Regierung insofern günstig, als ihr eine, wie es 
scheint, bedeutsame Vermittlungsrolle von selbst zufiel und ihr die 
Durchsetzung ihrer Forderungen erleichtert wurde. Zunächst versuchte 
die Austro-Americana im Wege eines Spezialübereinkommens mit der 


_— Et cn md y NEE Dee un. EEE. EE S SE EEE EEE HER EEGEEBg EEE ua 


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Auswanderung u. Schiffahrt mit bes. Berücksichtigung der öst. Verhältnisse. 873 


CPR. die Führung der Triest-Kanada-Linie ganz in die Hand zu be- 
kommen. Das österreichische Handelsministerium stand einer solchen 
Eventualität, wofern nur Triests Stellung als Auswanderungshafen 
gewährleistet und nicht etwa zugunsten der Antwerpener Linie der 
CPR. beeinträchtigt wurde, nicht unfreundlich gegenüber. Nach mehr- 
fachen Unterbrechungen der Verhandlungen einigte man sich schließ- 
lich auf folgender Grundlage (siehe Bericht S. 26): 

I. Wiederherstellung der früher bestandenen Verträge mit der 
CPR. und der Allan-Linie unter gleichzeitiger Erhöhung des Anteils 
der CPR. für ihren Antwerpener Dienst auf 6,65% vom Westverkehr; 

2. Beseitigung der Beschwerden der CPR. rücksichtlich Behand- 
lung ihrer Passagiere in den Kontrollstationen und der Handhabung 
der Disqalifizierung ; 

3. Gemeinsame Führung des Triest-Kanadadienstes durch die 
Austro-Amerikana und CPR. außerhalb ihrer Quoten für gemeinsame 
Rechnung aller Poollinien unter dem Titel »Austro-Americana ge- 
meinsamer Dienst mit der CPR. Triest-Kanada«. 

Indes es gelang nicht, aller Schwierigkeiten innerhalb des Pools _ 
Herr zu werden. Diese rühren davon her, daß sich, wie angedeutet, 
im General-Pool bedeutsame Umwandlungen zu vollziehen scheinen. 
Die Hamburg-Amerika-Linie erhob plötzlich die Forderung auf Re- 
vision des »vollkommen antiquierten Poolkontrakts«e.. Dieses Revi- 
sionsbegehren hatte eine deutliche Spitze gegen den Norddeutschen 
Lloyd, den die Hapag durch ihre neuen Schiffsbauten und die außer- 
ordentliche Vermehrung ihrer Tonnage längst überholt zu haben be- 
hauptete und das nicht nur den Bestand des General-Pool, sondern 
auch des NDLV. in Frage stellte. Es wurde im Zusammenhang damit 
die Frage aufgeworfen, ob überhaupt solche Poolverträge die richtige 
Form der Betriebsvereinbarung darstellen und es schien (nach den 
Pariser Verhandlungen) soweit zu kommen, daß der Norddeutsche 
Lloyd mit den englischen Gesellschaften sich gegen die Hapag ver- 
bünden würde. Da aber griff wohl eine sehr hohe Stelle ein und — 
der Krieg kam dazwischen. 

Die österreichische Regierung stand zunächst zuwartend zwischen 


| den streitenden Parteien und behielt sich besonders mit Rücksicht 


darauf, daß die Austro-Americana durch Ausübung des vertrags- 
mäßigen Optionsrechts jeden Augenblick in eine Filiale der deutschen 
Unternehmungen verwandelt werden konnte, freie Hand vor, mit 
welcher Partei sie paktieren werde. Diese abwartende Haltung er- 
schien ihr um so mehr geboten, wenn man sich vor Augen hält, daß die 
Entwicklung des Verbandswesens aus dem Gebiete der Seeschiffahrt 
nicht nur zu immer stärkerer Konzentration und strafferer Zusammen- 
fassung, sondern auch zu immer schärferem Hervortreten des Strebens 
führt, den Verkehr ganzer Staatengruppen zugunsten einzelner Häfen 
und Schiffahrtsunternehmungen zu monopolisieren, ihn durch eine 
kunstvoll aufgebaute Organisation vollständig zu beherrschen und die 
Entwicklung der nationalen Schiffahrt in den auf diese Weise kontrol- 


874 Arthur Salz, 


lierten Ländern nur innerhalb bestimmter Grenzen und unter be- 
stimmten Voraussetzungen zuzulassen. 

Ende 1913 wurden die bestehenden Schiffahrtsverbände bis 
Ende Januar 1914 verlängert. Bis dahin hoffte man aller Schwierig- 
keiten Herr geworden zu sein. Die österreichische und die ungarische 
Regierung treten um diese Zeit (Dezember 1913) wegen einvernehm- 
licher Regelung der Auswanderfrage in Verhandlungen. Dabei scheint 
die ungarische Regierung den Standpunkt vertreten zu haben, daß 
in Ungarn diesbezüglich alles aufs beste bestellt und zu irgendwelchen 
Vorkehrungen kein Anlaß sei; sie stellte es der österreichischen Re- 
gierung anheim, die ungarischen Bestimmungen über den Auswander- 
verkehr zu übernehmen und in Oesterreich einzuführen. Zugleich ver- 
sicherte die ungarische Regierung (vgl. Neue Freie Presse vom 5. De- 
zember 1913), daß von einer Abänderung des Poolvertrages derzeit 
keine Rede sein könne. Der Poolvertrag, in erster Linie dazu bestimmt, 
die Möglichkeit einer strengen Ueberwachung der Auswanderer zu 
schaffen, habe seinen Zweck vollkommen erreicht, es liege vom Stand- 
punkt der ungarischen Regierung kein Anlaß zu einer : Abänderung 
` des Poolvertrages vor. Aber schon anfangs März 1914 wurde dieser 
angeblich so vollkommene Vertrag vom ungarischen Minister des 
Innern gekündigt (vgl. Neue Freie Presse vom 4. März 1914). Ueber 
die Motive der Kündigung wurde mitgeteilt, daß die Frage der Be- 
förderung paßloser Auswanderer einer Neuregelung bedürfe. Während 
nämlich die Cunard-Line in Fiume nur mit Pässen versehene »legitime« 
Auswanderer befördern durfte,machtendie übrigen Gesellschaften diesen 
Unterschied nicht und beförderten alles was zu haben war. Erleichtert 
wurde die paßlose Auswanderung durch den Mangel eines Abkommens 
hinsichtlich der gegenseitigen Paßkontrolle zwischen Oesterreich und 
Ungarn; die ungarischen Auswanderer konnten mit Leichtigkeit über 
Oesterreich nach den deutschen Häfen gelangen und von dort mit ir- 
gendeiner Gesellschaft ohne Paß auswandern. Nachdem nun aber jetzt 
ein solches Abkommen zwischen Oesterreich und Ungarn zustande 
gekommen war, wünschte die ungarische Regierung mit den Pool- 
gesellschaften einen neuen. Vertrag abzuschließen, worin der Pool 
sich verpflichten sollte, künftig keine paß!osen Auswanderer mehr 
zu befördern. Mit dieser Kündigung bzw. Erneuerung des Poolver- 
trages verbanden sich aber seitens der ungarischen Regierung weiter- 
gehende Ambitionen: die Errichtung einer national ungarischen Schiff- 
fahrtslinie zwischen Fiume und New York, welche den Namen Ungar- 
Amerika-Linie führen sollte. Die Cunard-Line hatte sich verpflichtet, 
unter bestimmten Bedingungen eine solche Linie zwischen Fiume und 
New York für die ungarische Regierung einzurichten. Nun wurde sie 
vor diese Aufgabe gestellt. Die Cunard-Line sollte in die neu zu grün- 
dendeGesellschaft ihre Schiffe, die schon bisher den Verkehr vermittelten 
als Apports einbringen und dafür die Majorität der zu emittierenden 
Aktien übernehmen. In die Direktion der neuen Gesellschaft sollten 
die Vertreter der Regierung, der Adria-Seeschiffahrtsgesellschaft und 


Auswanderung u. Schiffahrt mit bes. Berücksichtigung der öst. Verhältnisse. 875 


der Cunard Line, eventuell einige andere ungarische Direktionsmitglie- 
der eintreten (Neue Freie Presse ıı. März 1914). 

Diese Verhandlungen scheinen aber zu keinem befriedigenden 
Resultat geführt zu haben. Inzwischen hören wir (Januar I1gI6), 
daß an Stelle der Cunard-Line die deutschen Schiffahrtsgesellschaften 
sich in Ungarn festgesetzt und das Patronat über die neue national un- 
garische Seeschiffahrtsgesellschaft, deren Mittelpunkt die »Adria« 
bilden soll, übernommen haben. Die Adria wird wenigstens die Hälfte 
des 6—10 Millionen Kronen betragenden Aktienkapitals übernehmen, 
die Verwaltung, die Flagge alles wird streng ungarisch sein; die deut- 
schen Gesellschaften sollen bis zu dem Zeitpunkt, wo die Schiffe der 
‚Gesellschaft in Ungarn erbaut werden können, der neuen Gesellschaft 
von ihrem Schiffspark einige größere Ozeandampfer entweder ganz 
oder teilweise als Apports überlassen. Die neue Gesellschaft soll die 
Auswandererorganisation, welche früher der Pool besaß, erhalten. 

Die Austro-Americana aber wurde wie schon erwähnt, renationali- 
siert. Nach längeren Verhandlungen, welche im März 1914 ihren Ab- 
schluß fanden, bildete sich ein Bankkonsortium bestehend aus dem 
Wiener Bankverein, der österreichischen Kreditanstalt, der Boden- 
kreditanstalt und Länderbank, welches sich verpflichtete, durch 15 
Jahre hindurch mindestens Y, des sukkessive von 24 auf 36—40 Mil- 
lionen Kronen zu erhöhenden Aktienkapitals zu übernehmen, im 
Portefeuille zu behalten und dafür zu sorgen, daß die im Markt befind- 
lichen freien Stücke nicht unter ausländische Kontrolle geraten. 

Da die Canadian Pacific Railway dem neuen von der österreichi- 
schen Regierung mit den deutschenSchiffahrtgesellschaften und der Au- 
stro-Americana abgeschlossenen Auswanderungsreglement sich zu 
unterwerfen und insbesondere dem gemeinsamen Buchungsdienst 
der Austro-Americana beizutreten sich bereit erklärte, so wurde sie 
im Juli 1914 zum Betrieb der ihr s. Z. konzessionierten Schiffahrts- 
linien von Triest nach Kanada wieder zugelassen. 

Inzwischen hatte sich (anfangs Juni 1914) in der englischen See- 
schiffahrt eine aufsehenerregende Fusion vollzogen: die Peninsular 
und Oriental Company (P. und O.) koalierte sich mit der britisch- 
indischen Gesellschaft (B. J.). Dadurch wurde ein Schiffsraum von 
Ir Millionen Tonnen in einer Hand vereinigt und die Suprematie 
der Eng änder in den östlichen Linien stark befestigt. 

Durch den Krieg wurden alle diese Verhältnisse über den Haufen 
geworfen. 


III. Die Praxis der Schiffahrtgeselischaften. 


Es wurde gezeigt, in welchem immanenten Zusammenhange die 
Entwicklung der modernen Linienschiffahrt und ihrer Organisation 
mit dem Auswandererverkehr steht, wie eng das Wachstum und die 
Organisationshöhe der einen mit der Regelmäßigkeit und Nachhaltig- 
keit des anderen verknüpft ist. Hätten wir noch andere Nationen in 
den Kreis der Betrachtung gezogen, so würde sich gezeigt haben, wie 


876 Arthur Salz, 


z.B. die Entwicklung der modernen italienischen Handelsschiffahrt 
und des italienischen Schiffbaues im stärksten Maße von der Ent- 
wicklung des italienischen planvoll geleiteten Auswandererverkehrs 
bedingt ist. 

Mit alldem wurde aber noch nichts darüber gesagt, was die Schiff- 
fahrtsgesellschaften selbst dazu getan haben, um diese eine Quelle 
ihres Reichtums, den Auswandererverkehr zu beleben und zu stärken; 
denn daß sie kein Interesse daran haben (wie behauptet wurde) ihn 
einzudämmen, darf jetzt wohl als ausgemacht gelten. Wir müssen uns 
also noch einen Einblick in die Praxis der Schiffahrtsgesellschaften 
verschaffen, das dunkelste Kapitel ihres sonst so glanzvollen Wir- 
kens und die sozialen Schattenseiten dieser machtvollen Organisationen 
kennen lernen. 

Dieses Riesentier, Schiffahrttrust genannt, dessen Tentakeln sich 
über zwei Erdteile erstrecken und dessen Lebenszentrum überall und 
nirgends ist, braucht ein System von seinen Zwecken angepaßten, von 
ihm abhängigen Organen, die er sich, wenigstens was das europäische 
Auswanderungsgeschäft betrifft, in erschreckend genialer Weise ge- 
schaffen hat. Ueber die Manipulationen, deren sich das Kartell be- 
dient bei der Werbung von Auswanderern und über .die Vermittler, 
die ihm die Menschenherden zutreiben um die Schiffe zu füllen, er- 
halten wir in dem österreichischen Bericht durch authentische Doku- 
mente (Briefschaften, Reklamezettel usw., die von der Polizei beschlag- 
nahmt wurden) und in dem amerikanischen Rapport genaue Auskunft. 
Es ist ein kunstvoller lückenloser Aufbau von Veranstaltungen, 
dazu geschaffen, den Auswanderer in seinem Heimatsort aufzusuchen 
und ihn auf dem ganzen Wege von seinem ärmlichen Dorfe bis zu dem 
Augenblick, da das Riesenschiff aus dem deutschen oder holländischen 
Hafen fährt, nicht aus den Augen zu verlieren. Mit schmerzlichem 
Interesse verfolgen wir das Schicksal des slavischen Bauern von der 
verhängnisvollen Stunde an, da der Versucher in seiner Hütte an ihn 
herantritt bis zu dem Zeitpunkt da er als ungelernter Arbeiter in einem 
Hochofenwerk oder Kohlengrube Pennsylvaniens verschwindet, ja 
wir werden noch von seinen Kindern und Kindeskindern hören. Sein 
Schicksal ist eben typisch, ist sorganisiert«. 

In der neueren Literatur ist sehr viel davon die Rede, wie durch 
die Entwicklung der modernen Organisationsformen der Handel 
immer mehr aus seiner angestammten Position verdrängt und zur 
Bedeutungslosigkeit oder wenigstens zur Abhängigkeit von der In- 
dustrie verurteilt wird. Dieser behaupteten Verdrängung und Ver- 
knechtung des Handels steht einein der Statistik zu konstatierende 
zahlenmäßige Vermehrung der Handels- und Verkehrsgewerbe gegen- 
über. Sicherlich liegt da ein aufzuklärender Widerspruch vor. Ohne 
in diesem Zusammenhang die Lösung zu versuchen, möchte nur darauf 
hingedeutet werden, daß zahlenmäßige Vermehrung und Abnahme 
der Selbständigkeit sich nicht ausschließen. Es scheint, als 
ob dasZeitalter der Organisationen nicht nur einer Menge von bureau- 
kratischen Existenzen Raum schaffe, sondern auch eine Unzahl von 


Auswanderung u. Schiffabrt mit bes. Berücksichtigung der öst. Verhältnisse. 877 


Schmarotzerexistenzen mit zur Entwicklung bringe, wirtschaftliche 
Pseudoberufe, die sich wie Milben auf einem großen Käse ansiedeln, 
im gewöhnlichen Alltag gar nicht bemerkt an dem Körper eines 
solchen Riesengebildes mitzehren und höchst unerwünschte soziale 
Krankheiten erregen. So ist es in der Seeschiffahrt. 

Zunächst haben die verbündeten Schiffahrtsgesellschaften in 
allen größeren Städten des ganzen osteuropäischen Auswanderungs- 
rayons staat.ich genehmigte Niederlassungen. Diese offiziellen der 
Aufsicht der Behörden erreichbaren Bureaus aber sind für die Massen- 
auswanderung von verhältnismäßig geringer Bedeutung und eigent- 
lich nur dazu da, um die Aufsichtsbehörden über die wirklichen Vor- 
gänge zu täuschen. Neben repräsentativen Zwecken dienen sie haupt- 
sächlich der Information. Sie müssen sich notgedrungen bei ihrer 
Tätigkeit einer gewissen Zurückhaltung um so mehr befleißigen, als 
ihnen jeder Geschäftsbetrieb außerhalb der festen Betriebsstätten 
gesetzlich verboten ist und die Schiffahrtsgesellschaften Gefahr laufen, 
bei Uebertretung der polizeilichen Vorschriften ihre Konzession zu 
verlieren. Infolgedessen machen diese Filialen der Schiffahrtsgesell- 
schaften schlechte Geschäfte und nur ein sehr geringer Teil des Passa- 
giergeschäfts wird in den Filialen der Gesel:schaften selbst abgewickelt. 
Z. B. hatten von den in Hamburg verschifften österreichischen Aus- 
wanderern nur etwa 20%, von den in Bremen nur 5—12% ihre Schiffs- 
karten bei den österreichischen Bureaus der Schiffahrtsgese‘Ischaften 
gelöst. Immerhin ergab eine Revision in der Lemberger Filiale der 
Canadian Pacific Railway, daß von hier aus ein ganzes Netz von (über 
40) Winkelagenturen unterhalten wurde, daB sie eine schwungvolle 
Anwerbung von Auswanderern trieb und sich über die Vorschriften 
betreffend die Auswanderung Wehrpflichtiger gänzlich hinwegsetzte. 
Indes der große Auswanderungsverkehr volizieht sich abseiten dieser 
Bureaus und bedient sich anderer Vermittler. 

Da gibt es in jedem großen Auswandererhafen einige renommierte 
und selbst dem galizischen oder ruthenischen Bauern als geheimnis- 
vol:e, ihn sicher ans Ziel geleitende Mächte, vertraute Auswanderungs- 
agenturen (Reisebureau, Passagebureau, Passagierexpedient, Expe- 
ditions- und Passagegeschäft, Bevollmächtigter der Schiffahrtsgesell- 
schaft usw.), scheinbar selbständige Firmen, die sich mit dem Ver- 
kauf von Fahrkarten der großen Reedereigesellschaften, hauptsäch- 
lich aber mit der in den Auswanderungsländern gesetzlich streng unter- 
sagten Anwerbung von Auswanderern, insbesondere solcher im wehr- 
pfiichtigen A ter, und deren Transport von der Heimat bis zum Schiff 
gewerbsmäßig befassen. Ihre Zahl ist nicht festzuste.len, wir erfahren 
aber (Rapportofthe Immigration Commission II, S. 190), daß zwei der 
führenden Linien in Galizien allein 5—6000 Agenten unterhalten und da 
seine große Jagd auf Auswanderer« stattfindet. In Wirklichkeit sind sie 
willenlose Kreaturen in derGewalt der vereinigten Schiffahrtgesellschaf- 
ten und diesen auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Sie beziehen von 
den Gesellschaften die Agentenprovision, deren Höhe aber, umjede Kon- 
kurrenz zwischen den Kartellmitgliedern auszuschließen, nach oben be- 


878 Arthur Salz, 


grenzt ist. Nach den geltenden Poolverträgen soll dieseProvision 15 Mark 
für einen vollzahlenden ?°) Zwischendeckpassagier nicht überschreiten. 
Aber ihrer freien Handlungsfähigkeit sind noch weit engere Grenzen 
gesetzt. Die Erlassung von Rundschreiben oder Veröffentlichungen, in 
denen eine der Vertrag schließenden Linien herabgesetzt oder für sie 
ungünstige Vergleiche gezogen werden, ist untersagt. Das Kartell 
schützt sich aber auch gegen die öffentliche Meinung durch die Ver- 
pflichtung der Mitglieder, keine Zeitung zu unterstützen, die syste- 
matisch irgend eine der vertragschließenden Linien angreift. Auf 
solches Verbrechen ist die Entziehung aller Annoncen seitens sämt- 
licher Poollinien gesetzt. Offenbar müssen die Gesellschaften dies 
für ein wirksames Mittel halten, die »öffentliche Meinung« maßgeblich 
zu bestimmen. 

« Diese Sklaven der Kapitalmagnaten, die der verstorbene General- 
direktorWigand den Abschaum der Menschheit nannte, brauchen sicher- 
lich eine strenge Hand und das Kartell hat sie: durch die Furcht vor 
der Vernichtung ihrer Existenzgrundlage, durch die Gefahr der öko- 
nomischen Proscription, die ständig über ihnen schwebt, werden sie in 
dauernder Botmäßigkeit erhalten. Sie werden murren, aber nicht 
revoltieren. Disqualifikation der Agenten, darin bestehend, daß ein 
Agent, der von irgend einer der verbündeten Gesellschaften aus irgend 
einem Grunde entlassen worden ist, von keiner anderen je wieder an- 
gestellt noch beschäftigt werden darf, tritt dann ein, wenn eine dieser 
Kreaturen gegen irgend eine der Bestimmungen des Pools sich vergeht 
oder gar für eine außerhalb des Pools stehende Linie zu arbeiten sich 
unterfängt. Die Wirkung dieser Disqualifikation ist um so schärfer, 
als sie dem davon Betroffenen nicht nur die weitere Tätigkeit für die 
Pool in!en, sondern auch die Möglichkeit verschließt, seine Passagiere 
durch die Kontroll- und Registrierstationen an der deutschen Grenze 
zu bringen. Unter dem eisernen Zwang dieser Bestimmungen, so sagt der 
Bericht, bilden die Auswanderungsagenturen, die für den Pool arbeiten, 
ein fest geschlossenes Ganzes. Untereinander betrachten sie sich als 
Konkurrenten, suchen sich gegenseitig Auswanderer abzujagen, um 
ihren Umsatz und damit ihre Provision zu vergrößern, für außenste- 
hende Linien sind sie jedoch unzugänglich, sie arbeiten nur für den 
Pool, meistenteils sogar ausschließlich für eine bestimmte Linie. Alles: 
die Limitierung des Gewinns, die Verpflichtung zum ausschließlichen 
Verkehr mit dem Pool, die Strafsanktionen u.a. m. deuten darauf 
hin, daß wir es hier mit einer Zwangsorganisation des Zwischenhandels 
durch den Pool zu tun haben. Der Pool hat seine guten Gründe, den 
Zwischenhändler in Menschenware nicht auszuschalten, sondern sich 
seiner zu bedienen. Man könnte meinen, daß sich die Leiter der großen 
Schiffahrtsgesellschaften um dieses Parasitenvolk, das sie vor aller 
Welt diskreditiert, nicht kümmern und es nur ungern dulden. In 
Wirklichkeit aber gehören diese Schmarotzer zum unvermeidlichen 
Bestand des Geschäftsapparats und die Verantwortung für ihr Treiben 


30) Die Agenten verkaufen übrigens Schiffkarten auch gegen Wechsel und 
hypothekarische Pfänder. 


Auswanderung u. Schiffahrt mit bes. Berücksichtigung der öst. Verhältnisse. 879 


fällt auf die Schiffahrtsgeselischaften zurück. Vernichtend lautet denn 
auch das Urteil über die Gesellschaften, ihre Agenten, Methoden und 
den Umfang ihrer Operationen in dem Bericht des Generalkommissärs 
für die Einwanderung aus dem Jahre 1909 (zit. Rapport II. S. 385): 
»Die Feststellung, daß die Schiffahrtsgese!lschaften direkt oder in- 
direkt für diese unnatürliche Einwanderung verantwortlich sind, 
ist nicht die Behauptung einer Theorie, sondern eine Tatsache und zwar 
eine solche, welche bisweilen, wenn nicht gar immer ein schreiender 
Skandal ist«®1). Die »künstlich erregte« Auswanderung beweise klar, 
daß alle Schiffahrtsgesellschaften, welche sich mit dem Auswanderungs- 
geschäft befassen, nachhaltig und systematisch das Gesetz sowohl 
seinem Geiste als dem Buchstaben nach verletzt haben, indem sie vor 
keinem Mittel zurückschreckten um den europäischen Landleuten 
Billets für ihre Linien zu verkaufen ®). Der Pool braucht den Agenten, 
um die illegitimen Geschäfte, die al'ein rentabel sind, zu machen und 
die Spuren zu verwischen, überhaupt möglichst wenig Anhaltspunkte 
für die Feststellung einer Verantwortlichkeit bestimmter Personen oder 
Unternehmungen gegenüber dem Gesetze und den Behörden zu bieten. 
Der Zwischenhandel besorgt also die schmutzige Wäsche des großen 
Kapitals, er geht auf den Hintertreppen in den Palais der großen 
Schiffahrtsgesellschaften aus und ein, auf deren Vordertreppe die 
höchsten Herrschaften der Welt verkehren. Die Auswanderungsagen- 
turen treten als Spediteure der lebenden Ware zwischen Schiffahrts- 
unternehmung und Auswanderer. Sie besorgen die Propaganda, die 
Agitation, die Bekämpfung der Konkurrenz, die Anwerbung der Passa- 
giere, ihre Sammlung und ihren Transport auf dem Landwege bis zum 
Hafen, ihre Unterbringung daselbst bis zur Einschiffung, die Be- 
seitigung aller Schwierigkeiten, die sich auf diesem Wege bieten, ein- 
schließlich der gesetzlichen Hindernisse der Auswanderung; endlich 
liegen auch die verschiedenen mit der Auswanderung zusammen- 
hängenden Nebengeschäfte, wie Geldwechsel, Verkauf von Fahrkarten, 
Gepäckbeförderung u. dgl. in ihren Händen. Kurz sie leben von dem 
Detailgeschäft, das für die großen Reedereien zu kleinlich, zu mühsam 
und zu schmutzig ist. 

Unser Bericht vergleicht ihre Stellung gegenüber den Schiffahrts- 
unternehmungen mit der des Kautschuk sammelnden menschlichen 
Ungeheuers in Peru gegenüber einem europäischen Gummiwaren- 
fabrikanten. Der Vergleich stimmt nicht nur hinsichtlich der Unbe- 
kümmertheit des Fabrikanten um die Greuel, die im Urwald geschehen, 
sondern auch hinsichtlich der anderen Seite. Dem Auswanderer näm- 
lich tritt der Agent ähnlich gegenüber wie der Aufkäufer einer Ware 
der Masse ihrer kleinen Erzeuger oder Sammler. An welche Schiff- 
fahrtsgesellschaft sie schließlich abgeliefert werden, bleibt den Aus- 
wanderern zum Teil ebenso verborgen, wie den indianischen Kaut- 


31) To say that the steamship liner are responsible directly or indirectly for 
this unnatural immigration is not the statement of a theory, but of a fact, and 
of a fact that sometimes becomes indeed, if it is not always, a cryingshame. 


#) Finzelnesa.a.O. S. 386 f. 
Archiv für Sozialwıssenschaft und Sozialpolitik. 42. 3. 57 


880 Arthur Salz, 


schucksuchern die Bestimmung des von ihnen gesammelten Erzeug- 
nisses. Sie kennen nur den Namen des Agenten, der ihnen erzählt 
oder erzäh en läßt, daß seine Linie die beste, seine Schiffe die schne} 
sten und bequemsten, seine Bedingungen die günstigsten seien. An 
ihn und seine Zusicherungen hält sich der Auswanderer. sEr geht 
nicht zum Norddeutschen Lloyd, zur Hamburg-Amerika- oder Red- 
Star-Linie, er geht »do Misslera«, zu Missler, zu Falck oder zu Canon, 
diese Namen bedeuten für ihn das nächste Reiseziel, eine unbekannte 
Macht, unter deren Schutz er steht, deren Vertreter auf allen schwie- 
rigen Punkten der Reise rechtzeitig auftauchen, um ihm die Richtung 
zu weisen, ihn in Schutz zu nehmen und Hindernisse zu beseitigen. 
Sie sind das Losungswort, das genügt, ihn heil über die Grenze durch 
die Registrierstationen und schließ ich auf seinen richtigen Platz an 
Bord des Schiffes zu bringen. Aus dieser Stellung ergibt sich auch die 
Bedeutung der großen Auswanderungsagenturen für die Reedereien, 
die unter Umständen sogar in eine gewisse Abhängigkeit von ihnen 
geraten können.« Man möchte zum Vergleich auch an jene antiken 
Tugendbolde senatorischen Ranges denken, denen Standesanschau- 
ungen es verwehrten, sich mit dem Handel zu beschmutzen, die aber, 
da sie den Gewinn nicht missen wollten, allzeit tüchtige Sklaven für 
die Befruchtung ihrer Kapitalien fanden. 

Noch aber sind wir nicht am Ende. Es fehlt ersichtlich an einer 
Vermittlungsstelle, die den persön:ichen Verkehr zwischen den Aus- 
wanderern und den in den fernen Hafenstädten residierenden Aus- 
wanderungsfirmen besorgt. Es muß also noch eine Zwischeninstanz, 
mehr weniger ehrliche Makler des Auswanderungsverkehrs, geben. 
Und die gibt es in der Tat. Jede der genannten Auswanderungsfirmen 
unterhält im Auswanderungsgebiete selbst ein Heer von provisions- 
berechtigten geheimen, d.h. den Behörden zunächst unbekannten 
Agenten, deren Aufgabe es ist, mit den Auswanderern in direkten Ver- 
kehr zu treten, sie zur Auswanderung aufzumunterm und ihnen die 
nötigen Instruktionen zur Vermeidung aller Fährlichkeiten zu geben. 
Zahlreiche in dem Bericht abgedruckte Dokumente erweisen zur Evi 
denz den Bestand eines Netzes geheimer Agenten, die durch Rund- 
schreiben, ohne daß eine vorherige Anfrage abgewartet würde, von allen 
Veränderungen in den Fahrpreisen verständigt werden. Sie beweisen 
ferner, daß diese Agenten im Dienste des Auswanderungsbureaus 
nachdrücklich denjenigen Geschäftszweig betreiben, der für die Schiff- 
fahrtsgesellschaften selbst zu riskant wäre, nämlich die Beförderung 
ausweisloser, d. h. in erster Linie militärpflichtiger Personen. Immer 
wieder wird den Auswanderungslustigen versichert, daß ein behörd- 
licher Reisepaß nicht notwendig sei; man belehrt sie darüber, wie def 
paBlos Reisende allen etwa auftretenden Reisehindernissen bequem 
ausweichen, we!che Stationen er zu berühren, welche er zu meiden 
habe, wie er sich während des ganzen Weges verhalte, mit wem er 
sprechen dürfe, welche Antworten er auf die an ihn gestellten Fragen 
zu erteilen habe. Tatsächlich sind denn auch die sonderbarsten Mittel 
in Uebung, um die Paßschwierigkeiten an der Grenze zu umgehen. 








Auswanderung u. Schiffahrt mit bes. Berücksichtigung der öst. Verbältnisse. 881 


Ein beliebtes Mittel ist es, daß man die Leute als Saisonwanderer aus- 
gibt, als solche mit einem bloßen Arbeitsbuch über die Grenze schafft 
und sie erst jenseits der Grenze mit ihren Schiffskarten-Anweisungen 
für Hamburg, Bremen oder Antwerpen versieht. Ein anderes Mittel 
ist die massenhafte Verwendung gefälschter und falscher Pässe. Häufig 
wird die Grenze von einer nahegelegenen Station aus zu Fuß über- 
schritten. Wird einmal die Grenzpolizei an einem Orte strenger ge- 
handhabt, so hat dies sofort eine Ablenkung der Transporte zufolge. 
In Ungarn hat man die Auswanderer um sie der polizeilichen Ueber- 
wachung und der zwangsweisen Führung über Fiume zu entziehen 
in Form von Wallfahrtsprozessionen, in Viehwaggons als Tierladungen, 
in Luxusautomobilen als Vergnügungsteisende, in Weiberkleidern und 
selbst unter einer Ladung Stroh oder Heu versteckt über die öster- 
reichische Grenze geschaftt. $ 

Diese überall verstreuten Geheimagenten sind teils Tehts ohne 
anderen Beruf, teils s»lokale«e Honoratioren, »ehrenwerte« Männer von 
einigem Ansehen und Einfluß, die ihr naher Verkehr und Bekannt- 
schaft mit der Bevölkerung zu dieser Vorzugsstellung prädestiniert. 
Es ist klar, daß diese Agenten, die für ihre Dienste je nach An- 
ciennität und Rang — denn es besteht unter ihnen eine völlige Hierar- 
chie — verschieden hohe Provisionssätze (r0o—ı8 Kronen pro Kopf) 
beziehen, ihr Geschäft durchaus auf illegaler Grundlage betreiben. 
Besteht ja doch eine ihrer Hauptaufgaben, in der sie es bis zur Vir- 
tuosität bringen, in der Bekämpfung behördlicher Maßnahmen, die 
das Geschäft bedrohen. Von den Auswanderungsagenturen angestellte 
Vertrauensmänner überwachen und kontrollieren diese Agentenorgani- 
sationen, bereisen ständig ihre Gebiete und halten förmliche Agenten- 
versammlungen ab, bei denen die Agenten wertvolle Informationen 
erhalten und neue geschäftliche Unternehmungen besprochen werden. 

Aber auch damit, mit diesem Aufbau einer ständigen Organisation, 
begnügt sich das erfinderische Kapital nicht. Gemäß dem Satze von 
Marx, daß der Ausgebeutete selbst die Bedingungen seiner Ausbeutung 
immer aufs Neue erzeugen muß, schaffen sich die Auswanderungs- 
unternehmungen in jedem Auswanderer selbst einen Werbeagenten, 
indem sie ihm für jeden Kopf den er zur Auswanderung verleitet und 
anwirbt und für den er eine Anzahlung leistet, eine in ihrer Höhe wech- 
selnde Provision zahlen, die der Betreffende von dem Preise für sein 
Schiffahrtsbillet in Abzug bringen kann. Solche Anbote von Provi- 
sionen an Auswanderungslustige, die andere ihres Bekanntenkreises 
zur Auswanderung bewegen und den Schiffahrtsgesellschaften Zu- 
treiberdienste leisten, machen, wenn auch gewissermaßen verschämt 
und den wahren Tatbestand verwischend auch die Zweigniederlas- 
sungen der Schiffahrtsgesellschaften in den verschiedenen Städten. 
Solche Anbote sind um so verlockender, als es der Auswanderer in 
der Hand hat, durch Anwerbung möglichst vieler Auswanderungs- 
lustiger in der Provision (r0—ı2 Kronen »Prozente« pro Person) die 
Kosten der eigenen Ueberfahrt herabzusetzen. Hiermit sind aber die 
produktiven Dienste, die ein Auswanderer der Auswanderungsunter- 

57* 


882 Arthur Salz, 


nehmung leisten kann, noch nicht erschöpft. Im Abfahrtshafen, in 
den Herbergen und Auswandererhallen wird er dazu gepreßt, einen 
Brief nach Hause zu schreiben, in dem er gute Nachricht über sein 
Befinden gibt und die freundliche Fürsorge des Agenten, die Güte der 
Unterkunft und Verpflegung, die Größe, Schönheit und Schnellig- 
keit des Schiffes rühmt. Das gleiche wiederholt sich dann drüben nach 
der Ankunft und schließlich hat der Auswanderungsagent in den In- 
dustriezentren und Minendistrikten Amerikas seine Vertrauensmänner, 
die Auswandererbriefe fabrizieren. Diese Auswandererbriefe, die IdyHe 
die das Kapital immer und überall vorspiegelt, wissen von Wohlergehen, 
hohen Löhnen, guter Ueberfahrt zu erzählen und sind eines der kräf- 
tigsten Agitationsmittel. Dies zeigt schon die große Zahl der Prepaids, 
d.i. der von Amerika aus vorausbezahlten Ueberfahrten für Ange- 
hörige und Freunde, die beispielsweise im ersten Halbjahr 1913 für die 
Linien des NDLV. go 721 betrug bei einer Gesamtzahl von 286 841 im 
Zwischendeck nach Amerika beförderter Personen: In jedem Industrie- 
zentrum der Vereinigten Staaten gibt es eine groBe Anzahl solcher 
nationaler Arbeitsagenten«. Sie sind ehemalige Einwanderer, stam- 
men sämtlich aus den süd- und osteuropäischen Ländern und aus 
Kleinasien und haben sich als Einwandererbankiers, Schiffahrtsagenten, 
Gastwirte usw. etabliert. Da ihr Geschäftserfolg von dem ständigen 
Zuströmen neuer Einwanderer abhängt, arbeiten sie in engem Kon- 
takt mit den Schiffahrtsagenten in Europa. Sie geben allgemein ge- 
haltene, vage Versprechungen über die Erwerbschancen, die nicht 
unter die vom Gesetz zu packenden Handlungen fallen, arbeiten viel 
mit imaginären Briefen, mit Zirkularen, Lohnlisten, Arbeitsnachweis 
usf. Diese Drucksachen bilden dann das Material, mit dem die Schiff- 
fahrtsagenten im Auswanderungsland operieren. Als Entgelt weisen 
sie den Lieferanten dieser Nachrichten, den amerikanischen Arbeits- 
agenten, Trupps von Auswanderern zu. Um Schwierigkeiten mit der 
Einwanderungsbehörde zu vermeiden, werden die Auswanderer mit 
verschiedenen, meist fingierten Adressen versehen und nur dem Grup- 
penführer die Adresse des Arbeitsagenten, des eigentlichen Empfängers 
bekanntgegeben. (Vgl. Rapport II, S. 387.) 

Vergessen wir nicht des Letzten in dem Bunde: der preußischen 
Polizei! Sie ist die Krönung des Ganzen, die im Dienste des Schiff- 


fahrtskapitals stehende staatliche Allmacht. Sie wacht an den Kon-: 


troll- und Registrierstationen an der Grenze und weist jeden Auswande- 
rer zurück, der sich nicht mit einer Schiffahrtskarte einer dem Pool 
angehörigen Gesellschaft oder auch nur mit einem Postaufgabeschein 
über die Einsendung der Angabe an ein der Agentenorganisation des 
NDLV. angehörendes Auswanderungsbureau legitimieren kann. Ob 
der PaB in Ordnung ist oder nicht, ist dabei völlig gleichgültig. 

Da eröffnet sich ein neuer hoffnungsvoller Ausblick in die Zukunft 
des Verhältnisses zwischen Staat und Wirtschaft. Man redet so oft 
von Verstaatlichung der Kartelle, hier aber ist das Entgegengesetzte 
Ereignis geworden. Nicht nur, daß die Kartelle dem Staat diejenigen 
seiner Beamten ausspannen die zuviele Kartellgeheimnisse wissen, 


Auswanderung u. Schiffahrt mit bes. Berücksichtigung der öst. Verhältnisse. 883 


sondern das Kartell nimmt einfach den Staat samt seinen Organen 
in Entreprise, ohne freilich diese Organe selbst zu bezahlen, dies bleibt 
wie bisher den Steuerzahlern vorbehalten. Die Polizei scheint sich in 
dieser Rolle als Angestellte des Kapitals ganz wohl zu fühlen: sie kann 
da wenigstens rege Tätigkeit entfalten und an der Grenzwacht stehend 
ihr Selbstvewußtsein stäh:en. 

Den Schlußstein in der Geheimorganisation der Auswanderungs- 
agenten bilden die Auswanderer-Schutzvereine. Unter dem Deck- 
mantel einer Wohlfahrtsorganisation betreiben sie die Auswanderungs- 
propaganda und dasWerben für Schiffahrtsunternehmungen inschwung- 
vollster Weise. Im Besitze des Rechts, Schutzbureaus einzurichten, 
permanente Wächter und fliegende Aufseher zum Schutze der Aus- 
wanderungslustigen zu bestellen, sind diese Vereine ein wertvolles 
Instrument zur Deckung von Winkelagenturen. Kaum haben die 
Behörden nach längerem Sträuben einen solchen Verein genehmigt, 
so offeriert sich dieser sofort an den meistbietenden Schiffahrtsagenten, 
in dessen Dienst er dann seine segenreiche Tätigkeit entfaltet. 

Schließlich gibt es noch die Reisebureaus, die sich mit dem Aus- 
wanderergeschäft befassen und teils direkt für Schiffahrtsgesellschaften, 
teils mit den großen Auswanderungsbureaus in den atlantischen See- 
häfen arbeiten. Ihre Beliebtheit beruht vor allem in der formellen 
Legalität des Betriebs. Sie operieren, wie der Bericht ausführt, auf 
Grund einer Konzession, die sie zum Verkaufen von Schiffskarten 
III. Klasse und Zwischendeckskarten berechtigt, so daß dem, der sie 
benutzt, nicht der Vorwurf der Verwendung geheimer Agenten gemacht 
werden kann. Außerdem ist ihre Zwischenschaltung wieder ein ausge- 
zeichnetes Mittel die Verantwortlichkeit zu teilen und zu verwischen. 
Entsteht dann irgend ein Konflikt, so ist es bei solchem präzisen Zusam - 
menwirken ein Leichtes, die Schuld von dem einen auf den anderen 
zu schieben und den Tatbestand so zu verwirren, daß ein Einschreiten 
der Behörden erfolglos bleibt. 

Es bleiben noch die sog. Traveling labor agents zu erwähnen, An- 
gestellte der Schiffahrtsagenten die im Auftrage der Agenten zwischen 
den Vereinigten Staaten und ihren Heimatsdörfern reisen und die 
Vorteile der Auswanderung in blendenden Farben ausmalend, zur Aus- 
wanderung aufmuntern. Dieser Werber wird dann Führer einer ganzen 
Gruppe und läßt sich von jedem Auswanderer bezahlen. Ueberdies 
aber wird er von dem Schiffahrtsagenten entschädigt dafür, daß er 
eine Auswanderungsgesellschaft zusammengebracht hat und schließ- 
lich empfängt er noch eine Kommissionsgebühr von den Arbeitsver- 
mittlern oder den Unternehmern in Amerika, denen er die Anteils- 
gruppe abliefert. 

Jedenfalls besorgen die Schiffahrtsagenten mit ihrem Apparat, 
indem sie bloß ihrem Interesse nachgehen, das Gechäft billige Ar- 
beitsware zu liefern, so gut, daß sie zugleich für die amerikanische In- 
dustrie unschätzbare Dienste leisten 2). 


33) All operations to import or to induce the immigration of alien labor 
carried on in the United States, excepting only direct importations of skilled 


884 Arthur Salz, Auswanderung und Schiffahrt usw. 


Blickem wir von hier aus zurück, so nehmen wir wie auch ander- 
wärts bei Betrachtung der großen Organisationsprobleme der Gegen- 
wart wahr, daß die privatwirtschaftlichen Koalitionen und Organisa- 
tionen an Potenz und Umfang über das eigentliche wirtschaftliche 
Gebiet hinausgewachsen, allenthalben weltpolitische, das Leben des 
Staates und seiner Beziehungen zur übrigen Welt berührende Bedeu- 
tung annehmen, daß die weltwirtschaftliche Organisation 
umschlägt und sich enthüllt als eine Frage der Welt (d. h.der Staaten-) 
politik und das will sagen als eine Machtfrage. Damit abe 
sind wir ohne es zu ahnen vor ganz große Elementartatsachen, Gefahren 
und Unsicherheiten gestellt. Denn Machtfragen sind letzte Fragen im 
politischen Leben und pflegen nicht eben mit bequemen Mitteln gelöst 
zu werden. Nun aber besteht die große Schwierigkeit, daß der Staat - 
man kann dies wohl ganz allgemein sagen — hinter der wirtschaftlichen 
Entwicklung zurückgeblieben ist und weder in der Auswandertrage 
noch in der Frage der Kapitalsassoziationen noch sonst in solchen 
Angelegenheiten eine feste Position bezogen hat, eine Position wie sie 
noch der Polizeistaat des 18. Jahrhunderts den Tatsachen seiner Zeit 
gegenüber innehatte. Wieder stehen wir vor einer säkulären sozialen 
Revolution. Die elementar hervorbrechenden gesellschaftlichen An- 
triebe und der allgemeine Gestaltungswille hat die Dämme der alten 
Gesetze und Konventionen überflutet und ist noch nicht wieder in nene 
Bindungen geleitet. So lebt er sich eben vorderhand abseiten der Ge- 
setze aus. Dem neuen Staate aber, der nur die Wahl hat, entweder 
sich selbst aufzugeben oder aber diese neuen Gebilde sich einzubeziehen 
und verständnisvoll einzugliedern, ist die ungeheure Aufgabe gestellt, 





eine neue Weltwirtschaftsordnung zu finden. Dies ist sein, ist unser 
Beruf. 

Wie aber hat sich denn der alte Staat zu den hier behandelten 
Problemen gestellt und sie zu lösen versucht ? 


labor by employers, are in sense only auxiliary to the more extensive operations 
that are carried on abroad by steamship agents and employers. These operations 
habe become so extensive and systematic an so well organized, and the number 
of laborers they furnish is so large, that most of the American immigration pro- 
moters find it quite unnecessary to operate directly or indirectly, except i0 
special cases. (Rapport I, S. 38.) 


= 
— d 


885 


Die Gartenkunst moderner Gemeinden und ihre 
soziale Bedeutung. 


Von 


MARIE LUISE GOTHEIN. 


Die folgenden Ausführungen dienten als Unterlage für zwei 
Vorträge, die ich anläßlich der Werkbundausstellung in Köln 
zwei Tage vor Ausbruch des Krieges hielt. Noch wollte und 
konnte man nicht die Hoffnung auf eine friedliche Lösung auf- 
geben, man bekämpfte gewaltsam die tiefe Erregung, die sich 
aller Herzen zu bemächtigen begann; noch am Nachmittage 
desselben Tages führte uns anläßlich meiner Vorträge Garten- 
direktor Encke zu einem interessanten Rundgang durch seine 
neuen Gartenschöpfungen, die er um die gewaltig ihre Bau- 
fühler ausstreckende Großstadt angelegt hat. Ein großer Teil 
war schon fertig, ein anderer harrte der Ausführung, und manch 
neues Projekt stieg in dem fruchtbaren Hirn dieses Künstlers 
auf. — Das waren letzte Friedenstunden, der friedlichsten aller 
Künste geweiht. Jäh hat der Krieg diese wie jede andere Kultur- 
arbeit unterbrochen. Den Gemeinden liegt jetzt wachsend schwere 
Verantwortung auf, es ist schon bewundrungswert wenn sie 
angefangene Arbeit fortführen läßt, ganz erstaunlich, wenn wir 
hier und dort sogar wieder von Plänen für Neuschöpfungen auf 
unserem Gebiete hören. Ich habe Köln seitdem nicht wieder 
gesehen, ich vermute aber, daß auch dort, wie in andern Städten 
die großen fertigen und geplanten Spielwiesen zu Kartoffeläcker 
oder Getreidefelder umgebrochen worden sind. 

Aber dieser Krieg, so über alles Erwarten lang und furcht- 
bar er auch geworden ist, soll, so hoffen wir bestimmt, vor allem 
die schlechten und bösen Gifte aus der europäischen Athmosphäre 


886 Marie Luise Gothein, 


hinwegnehmen und Platz machen für fruchtbare Keime neuen 
Wachstums. Mag er noch so viele Güter und Werte zerstört 
haben, den Kulturwillen des deutschen Volkes — denn heute 
können wir nur für dieses stehen —, hat er, kann er nicht zerstören. 
Wir sind bereit und fest gewillt, dort neu zu schaffen und s 
wirken, wo der Krieg altes, morsches zerstört hat, dort aber 
an altes anzuknüpfen, wo er lebendiges Leben unterbrochen hat. 
Zu diesen letzten gehört zweifellos unsere öffentliche Garten- 


kunst, sie war auf gutem fruchtbaren Wege und der Tapferkeit‘ 


unserer Truppen danken wir es, daß die westlichen Grenzmarken 
von keiner feindlichen Zerstörung erreicht worden sind, die 
Städte Ostpreußens äber können bei einem geplanten Neuauf- 
bau aus einer reichen Erfahrung auf diesem Gebiete nur Nut- 
zen ziehen. 

So kann ich denn wagen, diese im Frieden gemachten Be- 
obachtungen auch jetzt noch zu veröffentlichen, als eine Selbst- 
besinnung für die kommende Friedensarbeit, als ein Bild einer 
erreichten Stufe, auf der weiter gebaut werden soll, als Richt- 
linien für einen werdenden sich kristallisierenden Stil. 

Hierbei steht nun die wichtige Frage obenan: kann man 
in unsern Öffentlichen Gartenanlagen von einer neuen Kunst 
sprechen, hat die Gesellschaft von heute schon die Kraft gezeigt, 
hier einen neuen Stiel zu schaffen? Nehmen wir Stil in seiner 
weitesten Bedeutung, so ist er ein soziales Gebilde. Eine Gesell- 
schaft muß sein Träger sein, ihr Wollen und ihr innerstes Wesen 
muß sich darin ausdrücken, je einheitlicher und geschlossener 
sie auftritt, um so straffer und sicherer wird sich der Stil ge- 
stalten. Es kommt nun hierbei gar nicht darauf an, ob dieser 
soziale Träger eine kleine führende Oberschicht ist, wie in der 
Gesellschaft des Königshofes Ludwig XIV. oder die große Masse 
des Volkes ist wie langsam wachsend in unseren Zeiten. | 

Bedeutende einzelne Kunstwerke werden auch in Zeiten 


geschaffen, denen ein Stil mangelt, wir brauchen nur an 


Künstler und Kunstwerke in der zweiten Hälfte des XIX. Jahr- 
hunderts zu denken, wo das individualistische Jdeal die Kraft 
der Stilbildung mehr und mehr schwächte. 

Dieser Wesenszusammenhang zwischen Stil und Gesellschaft 
muß sich an allen Künsten aufweisen lassen, aber die Fäden, 
die zu den freien Künsten führen, liegen tiefer und verborgener, 
als bei den angewandten und hier zeigt sich die Gartenkunst 





Die Gartenkunst moderner Gemeinden und ihre soziale Bedeutung. 887 


auch der Architektur noch überlegen als ein eindeutig klares 
Spiegelbild der Gesellschaft. Der Garten ist immer der bevor- 
zugte Schauplatz tür Spiel und Geselligkeit gewesen und diese 
den Künsten besonders förderlichen menschlichen Neigurigen 
sind in unserer Kunst als die eigentlichen Stilbildner zu betrachten, 
es ist klar, daß von einem so sicheren Ausgangspunkte die Be- 
antwortung unserer Frage einfacher und betriedigender als bei 
allen anderen Künsten sein kann. 

An einem einzelnen, wenn auch heute wichtigsten Sproß 
unserer Kunst der öffentlichen Gartenpflege soll der Versuch 
unternommen werden. 

Wir verstehen unter öffentlicher Gartenpflege aller Art 
gärtnerische Anlage innerhalb der Städte und ihrer Weichbilde, 
die Eigentum der Stadt, völlig öffentlich, einem jeden zugänglich 
sind. Zwei Beweggründe haben von je solche Anlagen geschatten: 
einmal der Wunsch der Verschönerung der Städte, andererseits 
die Not, den dicht in Steinhäusern zusammenwohnenden Städtern 
einen Ort gemeinsamer Erholung in gesunder frischer Luft zu 
schaffen. | | 

In der jahrtausendalten Geschichte der Gartenkunst hat 
es solcher Anlagen immer da gegeben, wo eine städtische Ver- 
fassung die Bedingungen dafür schuf. In der griechischen Polis 
ebenso wie in den mittelalterlichen Städten Italiens war be- 
sonders das Moment der Verschönerung wirksam; es galt als ein 
Ruhmestitel der Stadt schöne Anlagen zu besitzen, es war der 
Stolz der Bürger und sicherte ihr die Bewunderung der durch- 
reisenden Fremden. In den hellenistischen Städten andererseits, 
die eine Großstadtbildung nicht unähnlich unserer modernen 
zeigen, sind große Parkanlagen innerhalb der Städte selbst, oder 
dicht vor ihren Toren zu den gleichen Zwecken entstanden wie 
heute: Luft, Licht und Erholung der Großstadtbevölkerung zu 
schaffen, die nur zum kleinen Teil noch in der Lage war dies 
in freier Natur zu finden. Leider versagen alle die wortreichen 
lobspendenden Schilderungen solcher Anlagen ganz für die eigent- 
liche Stilgestaltung. Hier bietet erst die neuste Zeit uns ge- 
nügendes Material. 

Aber so jung diese öffentliche Gartenpflege auch ist — erst 
seit der Mitte des XIX. Jahrhunderts können wir von einer, 
solchen sprechen — so ist doch ihre erste dem vorigen Jahr- 
hundert angehörige Entwicklung für uns schon Geschichte ge- 


888 MarieLuise Gothein, 


worden, d. h. ihr Stil und die sozialen Bedingungen, denen er 
entsprang, liegen als ein im großen und ganzen überwundene 
Epoche hinter uns. Für unsere Betrachtungsweise ist diese Tat- 
sache besonders günstig, da erst dadurch ein Vergleich mit dem, 
was wir heute werden sehen, möglich ist. 

Die öffentliche Gartenpflege jener ersten Zeit ist eine rein 
bürgerliche, sie nimmt den damals unbestrittenen Stil des eng- 
lischen Landschaftsgartens auf, wobei sie das besondere Unglück 
hat, mit ihren ersten Anfängen in eine Zeit zu fallen, in der dieser 
Stil anfängt epigonenhaft zu werden und seine eigentliche Kraft 
nur noch auf wissenschaftlich botanische Interessen gründen 
kann. Dies aber zugegeben, darf man im Eifer des heutigen 
Kampfes gegen ihn nicht vergessen, daß dieser Stil, für seine 
Zeit geschaffen, der reinste Ausdruck des Bürgertums war, als 
dieses Bürgertum im XVIII. Jahrhundert zuerst in England sein 
gesellschaftliches Wollen in dieser Kunst auszuleben suchte. 
Das innerste Wesen des emanzipierten Bürgertums ist indivi- 
dualistisch, alle strenge Form und Bindung strebt es zu lockern, 
in seinem stürmischen Drange nach Freiheit mußte ihm mehr 
und mehr jede Form als Zwang erscheinen. Es ist sehr charak- 
teristisch, daB sich dies Streben zu allererst im Garten zeigt, 
während die andern Künste erst sehr viel später nachfolgen, 
so daß die selben Männer die zuerst das neue Gartenempfinden 
in England erwecken, zugleich in der Dichtung die strengsten 
Vertreter des Klassizismus sind. 

Die ganze Freiheitsbewegung im Garten beginnt mit dem | 
Baum, der eine Art Symbol für das erwachende Bürgertum  ; 
werden sollte. An sein natürlich freies Wachstum, das man, | 
von der verabscheuten, lächerlich gemachten Schere befreite, 
knüpfte zuerst der Gedanke einer malerischen Gartengestaltung 
an. Mit ihm entwickelte sich der starke Stimmungscharakter 
dieses Gartens, „ger wiederum der Geneigtheit des Bürgertums 
zu innerer Gelöstheit und Einzelsonderung entgegenkam; un- 
vergleichlich aber ließ sich die bürgerliche Sentimentalität, 
diese Verbindung von Rationalismus und Gefühlsüberschwang 
von den Szenen und Gemälden des malerischen Gartens an- 
regen. | 
So ist es verständlich daß dieser Gartenstil die längste Zeit | 

| 


- —- —r 


des XVIII. Jahrhunderts über England nicht hinauskam und 
auf dem Kontinent erst mit dem Vordringen der bürgerlichen 


M re a A o O a ŘĂĂ— — ni _ E 


Die Gartenkunst moderner Gemeinden und ihre soziale Bedeutung. 889 


Ideen festen Fuß faßte. Man darf sich nicht dadurch irre machen 
lassen, daß es meist Fürsten waren, die sich die ersten englischen 
Gärten auf dem Kontinent anlegten, daß Klein-Trianon der Lieb- 
lingsaufenthalt des ausgehenden ancien régime war; es waren 
doch bürgerliche Ideen, wenn auch in mannigfacher Verkleidung, 
die jene Gesellschaft dorthin zogen. Ja die Lust an Täuschung und 
Verkleidung half in dieser Zeit den eigentlichen Kunststil des 
Gartens bilden. 

Im XIX. Jahrhundert tritt nun freilich an Stelle dieser 
Lust am Scheine und Spiele, der wissenschaftliche Charakter. 
Der Baum ist auch jetzt wie zu Anbeginn der Herrscher im 
Garten, aber er hat seinen Stimmungscharakter verloren. Wenn 
er früher mit einem zu ihm passenden Gebäude, das ott rein als 
Symbol behandelt wurde, der Kern eines » Gartengemäldes« war, 
so wird er nun fast zum Alleinherrscher. Durch die ungeheure 
Fülle der Arten, die im XIX. Jahrhundert aus allen Weltteilen 
in unsre Zone eingeführt wurden, war er einzeln oder in Gruppen 
eine Wiese beherrschend oder den Charakter des malerischen 
Wassers bestimmend, der Gartenbildner, der ihm Farbe und 
Gestalt verlieh. 

Es leuchtet ein, wie die Gefahr dieses Gartens in seiner Ein- 
förmigkeit lag, die alles Kunstempfinden mehr und mehr ein- 
schläferte, bis man sich endlich damit begnügte, dort bequem eine 
gepflegte Natur zu genießen. In dieses Stadium des malerischen 
Stiles fallen nun die ersten Anfänge einer öffentlichen Gartenpflege. 

Spärlich genug waren besonders auf dem Kontinent diese 
Anfänge. Auf geschleiften Festungswällen und niedergelegten 
Stadtmauern legte man Spaziergänge sogenannte Promenaden 
an. Nach größeren Gärten hatte man um so weniger Bedürfnis 
als schon seit dem XVIII. Jahrhundert die meisten Fürsten- 
gärten dem Publikum geöffnet waren, und man störte sich nicht 
daran, daß diese Öffentlichkeit eine häufig beschränkte war. 

In England, besonders in London, war die Entwicklung 
eine etwas andere, ja man muß zugeben, daß hier schon um die 
Mitte des vorigen Jahrhunderts eine hohe Blüte öffentlicher 
Gartenkunst ereicht war. Auch hier waren die großen Parks 
ursprünglich Fürstengärten, aber doch mit einem ganz andern 
Eigentumbewußtsein des Publikums. Durch ihre zusammenhängen- 
de Lage waren sie für die Stadt ein Besitztum, mit dem sich keine 
andere der Welt messen konnte. Sie waren der eigentliche Schau- 


890 Marie Luise Gothein, 


platz der Volksversammlungen, wo das englische Bürgertum zu 
immer größerer Selbständigkeit erstarkte. Nächst den Volks- 
versammlungen fand auch die englische Liebe zum Sport hier 
die Möglichkeit sich auszubreiten. Schon im regelmäßigen Stil 
des XVII. Jahrhunderts hatte der englische Garten ganz 
anders wie auf dem Kontinent auf Spaziergänge und Spielplätze 
aller Art Rücksicht genommen. Als man nun in den 20er Jahren 
des XIX. Jahrhunderts die Königsparks zu Volksparks umschuf, 
nahm man in erster Linie aut die Versammlungen und den Sport 
einer Bevölkerung einer Millionenstadt Rücksicht. 

Man schuf die großen freien Wiesen, die um ihrer Größe 
willen von jedermann betreten werden durften, die man in 
menschenleeren Zeiten mit Weidevieh belebte, das zugleich prak- 
tisch das Gras kurz hielt und als wirksame Staffage für das Gar- 
tenbild diente. Auch das Wasser erfüllte seinen doppelten Zweck: 
es durchzog als breites, geschlängeltes Band als Serpentine den 
Garten, dem es mit seinen buchtenreichen, leuchtenden Ufern 
zugleich malerischer Gestalter war, wie für den leidenschaftlich 
geliebten Rudersport diente. Von den umgebenden Straßen 
wurden diese Parkbilder möglichst durch hohe Baumpflanzungen 
abgeschlossen. 

Durch Größe, Lage und Gestaltung seiner Parks hatte Lon- 
don damals einen gewaltigen Vorsprung vor den andern Groß- 
städten der Welt, es wurde dadurch vor allem vor der Not be- 
wahrt, in die andere minder begünstigte Städte durch ein plötz- 
liches großes Wachstum gerieten. Diese Not aber hat den eigent- 
lichen modernen Parkgedanken gezeugt. 

New York ging hier allen voran, als es um die Mitte des 
XIX. Jahrhunderts durch die Fluten der Einwanderer bedrängt, 
schnell zu einer gewaltigen Großstadt emporwuchs. Das Neue 
und Vorbildliche, was man mit der Schöpfung des 340 ha großen 
Zentralparkes im Herzen der belebten Stadt schuf, lag nicht 
auf dem Gebiete der Stilbildung, hier lehnten sich seine Schöpfer 
eng an die englischen Vorbilder an, auch auf das Sport- und Ver- 
sammlungsbedürfnis der angelsächsischen Bevölkerung Rück- 
sicht nehmend. Das Bedeutsame lag hier in der Tat selber: 
man erkannte, welch eine schwere Schädigung an Geist und Kör- 
per die eng zusammengepfercht wohnenden Menschen erleiden 
müßten, wenn man das Häusermeer nicht durch eine Freifläche 
unterbrechen würde, so wagte man diesen großen Park dem Ver- 


Die Gartenkunst moderner Gemeinden und ihre soziale Bedeutung. 8QI 


kehr zu entziehen, der ihn nur auf vier versenkten Straßen 
durchschneiden durfte. | 

Das erregte mit Recht in Europa Bewunderung, Aufmerk- 
samkeit und Nacheiferung. Die großen Städte in Europa be- 
sannen sich, daB ihnen ein gleiches Schicksal drohen könne, 
das sie zu Opfern wie in New York zwingen möchte. Damals 
ging das Bois de Boulogne in Paris in städtischen Besitz über 
und wurde zu dem heutigen Park umgestaltet. Fast zu gleicher 
Zeit wurde in Berlin der erste Bürgerpark, der Friedrichshain 
im Osten der Stadt gegründet zur Jahrhundertfeier der Thron- 
besteigung Friedrich des Großen und als ein Gegengeschenk der 
Krone wurde der Tiergarten als öffentlicher Park frei gegeben. 
Die kleineren Städte folgten nach und ein städischer Park ent- 
stand nach dem andern. 

Noch war auf dem Kontinent von jenen beiden sozialen Fakto- 
ren, der Versammlungsfreiheit und dem Sport, die den angelsächi- 
schen Parkcharakter soenergisch bestimmt hatten, wenig zuspüren. 
Man schiebt es heute allein auf das dogmatische Vorurteil desKonti- 
nents, daß ein Betreten der Grasflächen nicht wie in England mög- 
lich sei. Es war ein Vorurteil, wie neueste Erfahrungen zeigen, aber 
es konnte so lange eines bleiben, als das Bedürfnis fehlte, es zu 
überwinden. Die Rasenflächen in den kontinentalen Parks waren 
aus rein malerischen Gesichtspunkten angelegt so klein, daß sie 
in der Tat das Betreten größerer Menschenmengen nicht ver- 
trugen, sie sollten janur dem Rhythmus zwischen offenen Flächen 
und Waldranzd, wischen Schattenmassen und hell beleuchtetem 
Grün dienen, für einen Blick, den man von dem Wege aus in 
stiller Betrachtung genießen konnte. Die Führung der Wege 
war die Hauptaufgabe, ihr gewundener Lauf mußte den Spazier- 
gänger möglichst weit herumführen und zugleich den Stand- 
punkt für die Betrachtung immer neuer Bilder bieten. Diese 
Bilder wurden durch den geschlängelten See, dessen Ufer man 
nicht absehen durfte, belebt, sein Spiegelbild erhöhte den Reiz 
der Baumgestalt. Dies Wasser bot zudem Gelegenheit für den 
einzigen Sport, der bei uns beliebt war, den Rudersport, doch 
ist dieser Ausdruck auch wenig bezeichnend, denn das, was man 
damals in den stillen Buchten trieb, war mehr ein Spazieren- 
fahren auf dem Wasser, was ebenso dem Isolierungsbedürfnis 
des bürgerlichen Publikums entsprach, wie die weit herumfüh- 
renden Spazierwege. So entstand ein städtischer Landschafts- 


892 Marie Luise Gothein, 


park nach dem andern, ohne große neue Gedanken allmählich 
einförmiger und geistloser werdend, wenn auch die Natur die 
gepflegte reich wechselnde Baumgestalt heute zu einer Schön- 
heit hat erwachsen lassen, wie sie nur das Alter verleiht. 

So bedauerlich es auch ist, daß die erste lebhaft einsetzende 
städtische Gartengestaltung gerade mit der Zeit eines abster- 
benden Stiles zusammenfällt, so muß doch immer betont werden, 
daß dieser Stil die Forderung der damaligen städtischen Be- 
völkerung befriedigte und ihren Instinkten voll entsprach; und 
noch heute bei ganz neuen Zielen wurzeln diese Instinkte so stark 
in den Massen des Kleinbürgertums, daß auch der heutige Gar- 
tengestalter immer noch mit ihnen rechnen muß. 

So offenbarte sich denn auch die Verkümmerung des male- 
rischen Stiles zuerst durchaus nicht im Park. Seine schweren 
Fehler lagen in der Uebertragung auf alle Gartenanlagen, so- 
wohl auf den kleinen Wohngarten, wie auf die monomentale 
Umgebung repräsentativer Gebäude, wie auf alles das, was man 
gärtnerische Verschönerung der Städte nannte. Der malerische 
Stil war, wie wir sahen auf Stimmung, auf isolierenden Indivi- 
dualismus aufgebaut, der seinen Ausdruck in wechselnden ge- 
schlossenen Ansichten fand. Wie widersinnig und geistlos mußte 
das bei einer Uebertragung auf kleinen Raum wirken, wo die 
Nähe der Gebäude Stimmung oder gar Einsamkeit nicht auf- 
kommen läßt. Nur ein ganz kunstentwöhnter Sinn konnte es 
als etwas Gegebenes hinnehmen, daß man auf öffentlichen Stadt- 
plätzen kleine Landschaftsgärten anlegte, wo man sich unter 
staubigen Baumwipfeln, womöglich an einem kleinen See mit 
geschlängelten Pfaden in eine verschönte Natur hineinträumen 
sollte. So waren nicht etwa nur die halböffentlichen Plätze, 
in London und Paris Squares genannt, angelegt, sondern auch 
da, wo der Verkehr auf breiten Wegen durchführte, waren die 
einzelnen Stücke »heimlich« gestaltet. War der Verkehr zu groß, 
so wurden diese Drei- oder Vierecke durch niedere Zäune ab- 
gesperrt, der Vorübergehende durfte nur hineinschauen in das male- 
risch mit Gebüsch und Baumgruppen umgebene Rasenstück, das 
zu besonderem Schmuck mit einem Teppichbeet verziert war. 

Die Gärtner allein hätten aus dieser Verirrung schwer heraus- 
gefunden. Die Hilfe kam vom Wohnhause und seinem Garten 
her. Der neu erwachte architektonische Sinn, der sich ermüdet 
von dem unsinnigen Historismus des XIX. Jahrhunderts ab- 


- m 


Die Gartenkunst moderner Gemeinden und ihre soziale Bedeutung. 893 


wandte, suchte sich weder auf sich selbst zu besinnen, ein Ge- 
bäude als ein Ganzes von innen heraus zu empfinden. Von dort 
aus sahen zuerst die Architekten wie töricht die Feindschaft 
zwischen Architektur und Gartenkunst sei. Sie zuerst verlangten 
ein Zusammengehen von Haus und Garten, von Stadtplatz und 
Gebäudeumgebung, von Straßen und Grünanlagen. Mit den 
Hausgartenanlagen kam man schneller zurecht, besonders weil 
sich alte Vorbilder des regelmäßigen Stiles, wo diese Forderung 
erfüllt war, noch manche fanden. Weit schwieriger waren die 
städtischen Anlagen; denn sehr mit Recht beklagten und be- 
klagen sich die Gartenkünstler, daß man ihnen allein die Schuld 
für die unorganisch häßlichen Grünanlagen in den Städten zu- 
schiebe, während nur zu oft ihnen ein solcher Platz fertig bebaut 
mit den vom Ingenieur vorgeschriebenen Wegzügen »zur Ver- 
schönerung« übergeben werde, woraus dann freilich niemand 
etwas machen könne. Eine wirkliche Lösung der heute so oft 
ausgesprochenen Forderung eines organischen Zusammengehens 
und gegenseitiger Unterstützung von Architektur und Garten- 
kunst kann nur da zu ersprießlichem Ziele führen, wo bei der 
ersten Anlage selbst ein solches Zusammengehn der Künste vor- 
gesehen war. 

Eines der lehrreichsten Beispiele für das Erwachen des Stilge- 
fühls in städtischen Platzanlagen, ist die Geschichte des Friedrichs- 
platzes in Mannheim: Im Jahre 1897 lagen dem Magistrate der 
Stadt zwei Projekte tür die gärtnerische Anlage des Platzes vor, 
das eine war ganz im englischen Landschaftsstil gehalten, das 
andere verstand sich zu einer Art von Kompromiß, da hier die 
malerischen Gartenanlagen hinter dem schon bestehenden Wasser- 
turm durch eine breite Kaskade unterbrochen war. Man kam sich 
schon sehr fortgeschritten vor, als man das zweite Projekt wählte. 
Es wurde auch sofort mit der Arbeit begonnen. Da übertrug 
man im Jahre 1899 dem Architekten Bruno Schmitz die Erbau- 
ung des Rosengartens,derStadthalle und mit demBau dieses monu- 
mentalen Gebäudes zugleich die architektonische Ausgestaltung 
des ganzen Platzes. Die Gartenanlagen fand der Baumeister 
aber schon fertig vor; hier lag also der Fall umgekehrt wie ge- 
wöhnlich: der Architekt sollte um einen mit Gartenanlagen er- 
füllten Platz seine Gebäude herumführen. Bruno Schmitz aber 
war nicht der Mann, mit solchen Gegebenheiten zu rechnen, er 
überzeugte denn auch die Stadtväter ədiese Merkwürdigkeiten 


894 Marie Luise Gothein, 


zu beseitigen« wie er sich selbst in seinem Berichte ausdrückte 
und die eben fertiggestellten Anlagen nach seinem Plane völlig 
umzuändern. Bruno Schmitz nahm in seinen Gebäuden, die 
einheitlich den ganzen Platz umgeben sollten, das Laubenmotiv 
auf, das der Altstadt mit dem SchloB als zentralem Ausgang 
den bestimmenden, würdigen Charakter verleiht. Dies Lauben- 
motiv der Häuser wiederholte er in dem tieferliegenden Platze 
als Pergola, die er kräftig in ihrer Urform als gemauerten Pfeiler 
mit darüber gelegten hölzernen Querbalken schuf. Er sicherte 
sich dadurch einen engen Zusammenschluß des Platzes mit den 
umgebenden Gebäuden, der noch einheitlicher geworden wäre, 
wenn sein Plan ganz ausgeführt, das Laubenmotiv auch am 
Wasserturme vorbeigeführt und die Straße gegenüber überbrückt 
worden wäre. Der rhythmische Uebergang zur Bepflanzung 
wird durch die streng unter der Schere gehaltenen Taxushecken, 
die die Böschung begleiten und regelmäßige, in kräftigen Farben 
gehaltene, leuchtende Beete, die von niederen Buchsbeeten um- 
säummt sind, erreicht. Die Treppenkaskade vom Wasserturm 
baute er stattlicher aus und schuf in Verbindung mit ihr durch 
das große Becken, das die ganze Mitte des Platzes einnimmt, 
ein imposantes Wasserparterre. Es beherrscht durch die Leben- 
digkeit des beweglichen Elementes den wahrhaft monumentalen 
Eindruck dieses Platzes. 

Nahezu ein Jahrzehnt ist seit der Erbauung dieses ersten 
modernen monumentalen Stadtplatzes in Deutschland vergangen. 
Das ist eine ziemlich lange Zeit, wo aus ersten Forderungen und 
Versuchen schon eine ganze Reihe bedeutsamer Leistungen ge- 
rade auf dem Gebiete der Stadtverschönerung aufzuweisen sind. 

` Dieser neuen Entwicklung kommt in überaus glücklicher 
Weise eine Umwandlung unserer Gesellschalt entgegen, in der 
wir mitten inne stehen, so daß die letzten Konsequenzen natür- 
lich noch lange nicht überschaubar sind. Jedes aufmerksame 
Auge wird an sich selber und seiner Umgebung ein allmählich 
wachsendes Zurückdrängen des Individualismus in allen Lebens- 
formen beobachten. Auf die wirtschaftliche Entwicklung kann 
hier nur hingewiesen werden: auf die vielfachen Gebilde von Ver- 
bänden, Vereinen und Organisationen mannigfacher Art — 
die gewaltige Wirkung des Krieges in dieser Richtung für den 
Frieden noch ganz unübersehbar. Aber auch außerhalb solch 
einer sozialen Einordnung im engeren Sinne, wie sie dem XIX. 


Yun 


Die Gartenkunst moderner Gemeinden und ihre soziale Bedeutung. 895 


Jahrhundert ganz unerhört erschienen wäre, läßt sich auf 
dem uns näher liegenden Gebiete ähnliches beobachten. In 


den Künsten, deren eine Seite eng mit dem sozialen Leben 


zusammenhängen, der Architektur und der Gartenkunst, ist 
wieder ein Gefühl für Proportion und Unterordnung unter ein 
Ganzes erwacht und zwar ebenso im formalen wie im sozialen 
Sinne: Wir alle beginnen mit Grauen durch Straßen zu gehen, 
wie sie die zweite Hälfte des XIX. Jahrhunderts als Regel ge- 
schaffen hat, wo jedes Haus für sich etwas bedeuten wollte, 
ohne sich im geringsten um den Nachbarn zu kümmern, wo der 
eine ein Motiv aus einer Ritterburg an die Facade eines kleinen 
Straßenhauses anbrachte, es neben ein Renaissancehaus stellte, 
einen Vorgarten nach seinem Geschmack mit einem individuellen 
Gitter davor anlegte ; nichts war ihm vorgeschrieben als die strenge 
Bauflucht. Der bürgerliche Individualismus hat hier im Vereine 
mit dem Historismus wahre Orgien gefeiert und doch nahm man 
damals als traurige Notwendigkeit hin. 

Man vergaß dabei, daß es nicht immer so gewesen, wie es 
vor allem der Anblick kleiner Residenzstädte des XVIII. Jahr- 
hunderts lehrt. Freilich war es hier der dem XIX. Jahrhundert 
so verhaßte Geist der aufgeklärten Despotie, der eine oft rigorose 
aber doch von tiefem Verantwortungsgefühl getragene künst- 
lerische Autsicht ausübte. So gab der Bischof Damian Hugo 
Philip einen formlichen Protest an die Nachwelt zu Protokoll, 
als er, von längerer Reise zurückgekehrt, bemerkte, daß sein hüb- 
sches Residenzstädtchen Bruchsal durch den Eigenwillen ein- 
zelner Bürger, die in Stockwerk und Fensterhöhe von seiner 
Bauordnung abgewichen waren, verunstaltet war: So prote- 
stieren wir hiemit, heißt es, gegen alle Fehler und wird kein ver- 
nünftiger Mensch uns aufbürden — der wir sowohl außer als 
in unserem Lande soviele schöne Gebäude unter unserer Direk- 
tion zu jedermännlicher Approbation aufgebaut und hergestellt 
haben — daß wir in unsern alten Tagen so schlecht und töricht 
seien, solches lächerliches und verächtliches Wesen angeordnet 
zu haben. Wir protestieren dahero hiermit nochmals feierlichst 
und disapprobieren alles, was desfalls gegen unsern Willen und 
Anordnung geschehen ist. 

Der freie Bürger lächelt ein wenig oder bekreuzigt sich ob 
solcher Tyrannei. Wer aber heute z. B. durch die neuen Stadt- 
teile von Essen geht, wird sich des einheitlich künstlerischen 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 3. 58 


896 Marie Luise Gothein, 


Eindrucks der neuen Bebauung erfreuen und auf Befragen hören, 
daß hier eine Baukommission eine gleiche scharfe Aufsicht führt, 
wie einst die kleinen Fürsten über ihre Städte und wir empfinden 
das heute nur als eine vollkommen berechtigte Unterordnung des 
Einzelgeschmackes unter das künstlerische Gesamtbild. Von 
ganz ähnlichem künstlerischen Geiste wird auch die Bewegung 
der Gartenstädte getragen — die wirtschaftliche Seite, der sie 
ihre Entstehung verdanken, braucht hier nicht erwähnt zu weıden, 
sie ist altbekannt. Gerade aber mit den sozialen Zielen erwächst 
den Gründern auch Recht und Pflicht einer künstlerischen Ueber- 
wachung, nicht nur der Gesamtanlage von Straßen, Plätzen, öffent- 
lichen Gebäuden, Parks usw., sondern auch des Stiles jedes ein- 
zelnen Privathauses. Aber auch dort, wo eine gemeinnützige 
soziale Grundlage völlig fehlt, bei den Terraingesellschaften, die 
kein Hehl daraus machen, daß sie verdienen wollen, beginnt 
solch ein künstlerischer Gemeinsinn schon gute Früchte zu tragen. 
Ich erinnere an die Terraingesellschaft Berlin-Südwest, die ein 
großes Gebiet zwischen Wiıllmersdorf, Friedenau und Steglits 
erschlossen hatte und im Jahre Igıı einen Wettbewerb für die 
Gartenanlagen des Rüdesheimer Platzes ausschrieb. Dieser Plats 
sollte zum Mittelpunkt des sogenannten Rheingaus werden — 
der Name erschöpft seine Romantik glücklicherweise in der Be- 
nennung der Straßen und Plätze. Dieser Wettbewerb verlangte auch 
für alle gärtnerischen Anlagen ein absolutes Zusammenarbeiten 
mit der Architektur. Die umgebenden Gebäude sind Miets- 
häuser aber in ganz einheitlichem Stile erbaut; und hier hat 
man auch zuerst die wichtige ‚Vorgartenfrage zu lösen versucht. 
Die Vorgärten waren einst wiederum aus dem Wunsche, das 
Wohnhaus möglichst von der Straße zu isolieren, besonders in 
den vornehmen Wohnstraßen sehr beliebt — hatten aber mit 
der ganz individualistischen Behandlung der Anlage und des 
Abschlusses wieder noch besonders beigetragen, das unruhige 
Bild einer solchen Straße zu erhöhen. Auf dem Rüdesheimerplats 
und allen angrenzenden Straßen nahm man die Sorge für ihre 
Gestaltung und Pflege den Hausbewohnern ganz ab und be- 
handelte sie Öffentlich, einheitlich. Die Häuser liegen erhöht 
über der Straße, die Gartenstreifen vor diesen sind vorne nicht 
abgeschlossen, steigen aber in steilen Böschungen an, so daß 
selbst ein unerzogenes Publikum nicht verführt wird, sie zu be- 
treten. Wie sehr solch eine gemeinsame Vorgartenbehandlung 


Die Gartenkunst moderner Gemeinden und ihre soziale Bedeutung. 897 


das Bild einer Straße harmonisch und ruhig macht, wie sehr hier 
die Architektur von der Gartenkunst unterstützt und gehoben 
werden kann, liegt auf der Hand. Die Hausbewohner verlieren 
aber auch nicht, da ihre Wohnungen doch von der unmittel- 
baren Berührung mit der Straße geschützt sind. 

Reich und verlockend sind so die Aufgaben, die die Stadt- 
verschönerungen im heutigen Sinne dem Gartenkünstler bietet. 
Ein paar typische Beispiele mögen aus einer Reihe schöner 
Leistungen herausgehoben werden: Charlottenburg hat sich im 
Lietzensee den Rest eines Grunewaldsees inmitten der Stadt 
erhalten; ein Teil der Ufer ist für Anlagen vorbehalten, ein anderer 
der Bebauung übergeben. In diesem letzten aber sind zwei 
Schmuckplätze ausgespart worden, der Dernburg- und der Kuno- 
Fischer-Platz, die einen freien Durchblick auf den See von 
den dahinterliegenden Straßen gestatten. Der Künstler konnte 
hier den Gedanken eines Schmuckparterres ausführen, das mit der 
Vorderseite der dahinterliegenden Straße und den Seiten der 
durchbrochenen Flucht sich zu einem Bilde zusammenschließt. 
Der Dernburg-Platz zeigt den Zufluß von frischem Wasser zum 
See als Kaskade gestaltet. Rechts und links davon laufen zwi- 
schen Rhododendronbüschen schräge Wege zu einer Pergola 
herab, die das Seeufer zu beiden Seiten des halbrund heraus- 
tretenden Sammelbassins umsäumen. Blumenbeete und flach- 
geschnittene Bäume, zwischen denen ein Kinderspielplatz an- 
gelegt ist, grenzen das Bild nach obenab. Der Kuno-Fischer-Platz 
ist bedeutend kleiner. Dadurch daß hier die Vorgärten der seit- 
lichen Häuser nur durch niedere Hecken abgeschlossen, wie 
zum Platz gehörige Gartenstreifen wirken, rückt die Grünanlage 
mit der Architektur besonders nahe zusammen. Das Gelände 
fällt in drei Terrassen herab, die oberste ist eine mit Blumen- 
streifen umgebene Rasenfläche, nach der zweiten durch eine 
Hecke abgeschlossen, auf deren anderen Seite Sitzplätze an- 
gebracht sind; man schaut von hier über die wenig Stufen tiefer 
liegende zweite Terrasse, die eine plastische Gruppe inmitten 
bunter Blumenfülle schmückt ; ein schmiedeeisernes Gitter über 
einer Stützmauer grenzt sie nach der dritten Terrasse ab, wo eine 
Wiese, von zwei Silberpappeln flankiert, sich zum See senkt. Beide 
Plätze sind dem Verkehr ganz entrückt, in ihrem Grundgedanken 
an die alten Squareserinnernd. Nurjemand, der sich ausruben 


und eine Weile die Schönheit des Blickes genießen will, wird 
58* 


898 Marie Luise Gothein, 


sich dort aufhalten. Sie konnten daher wie ein Binnengarten 
behandelt werden und zeigen ihren öffentlichen Charakter mehr 
in der Strenge der Linienführung als Gegengewicht gegen die 
Umgebung der hohen Bauten. 

Eine weit schwerere Aufgabe winkt dem Gartenkünstler 
bei sehr verkehrsreichen Plätzen, die vielfach von Straßen durch- 
schnitten . werden, und unter diesen ist bisher der Bahnhofsplatz 
immer das sauerste Stück Arbeit gewesen. Das Gebäude stehtda, 
die Wege sind vom Straßenbaumeister fertig gestellt, und nun möge 
der Gärtner seine »Anlagen« schaffen. Die Umgestaltung des 
Frankfurter Bahnhofsplatzes hat hier das Möglichste geleistet, 
um einen einheitlichen Eindruck zu erzielen — etwas Vollkom- 
meners war nicht mehr zu erreichen. Aber selbst diese sprödeste 
aller Verwaltungen scheint allmählich von dem neuen Geiste ergrif- 
fen zu sein. So hat die Oldenburger Eisenbahnverwaltung einen 
Gartenarchitekten für den Bau des neuen Bahnhofs zugezogen 
und Lebrecht Migge, dem die gärtnerische Oberleitung obliegt, 
konnte von vorneherein auf die Führung der Zufahrtsstraßen 
einen gewissen Einfluß üben und bei aller nötigen Rücksicht auf 
den Verkehr, der gerade auf solch einem Platze nicht gehindert 
werden darf, doch einheitlich ruhige Flächen schaffen, die den 
monumentalen Charakter eines solchen Platzes wahren. 

Wir haben bisher bei der Betrachtung der Aufgaben der 
Gartenkunst, die den Städten in unsern Tagen zufällt, ausschließ- 
lich die eine Seite, die Verschönerung ins Auge gefaßt, eine weit 
wichtigere aber liegt ihnen ob auf hygienischem sowohl geistigem 
wie körperlichem Gebiet. Und hier hat das Gewicht sozialer 
Forderungen die Stadtleiter gezwungen in der Parkpolitik voll- 
kommen umzulernen, so daß wir hier am klarsten den engen 
Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Stil beobachten kön- 
nen. Den Anlaß für diese neue Entwicklung, in der wir mitten 
inne stehen, bot und bietet das unerhörte Wachstum der Städte, 
das seit dem letzten Jahrzehnt des XIX. Jahrhunderts ein Tempo 
annahm, das die höchste Aufmerksamkeit verlangte: Die bis- 
herigen Großstädte wurden zu Riesenstädten und neue Groß- 
städte waren plötzlich da. 

Bisher hatte man die Parks möglichst in die ruhigen Wohn- 
gegenden oder deren Peripherie angelegt, die Fabrik- und Prole- 
tariergegenden waren meist von allen Grünanlagen entblößt, 
bei der modernen Städteentwicklung mußte dieser Mangel be- 





Die Gartenkunst moderner Gemeinden und ihre soziale Bedeutung. 899 


sonders fühlbar werden, da hier die Gefahr der Verkümmerung 
für die Bevölkerung am größten ist. Das zunächst am stärksten 
bedrohte Amerika ging auch in dieser Erkenntnis allen voran ° 
und mit der dem Amerikaner in sozialen Schöpfungen eignen 
Energie hat er in dem letzten Jahrzehnt in den meisten Groß- 
städten Bewunderungswürdiges geleistet. Auf verschiedenem 
Wege wurde in den verschiedenen Städten die Aufgabe bewäl- 
tigt. Teils legte man verstreut kleinere und größere Parks an, 
so daß sie von allen Wohnungen ohne zu große Einbuße erreicht 
werden können; ganz große Parks wurden besonders für die 
Arbeiterviertel geschaffen, oder man legte die großen 
Parks als Gürtel um die Peripherie der Stadt und führte 
breite mit Gartenanlagen versehene Zufahrtsstraßen in das Innere 
der Stadt. | 

Das Großartigste hat hierin wohl Chicago geleistet, das 
besonders seit der Weltausstellung eine energische Parkpolitik 
betreibt. Noch vor kaum 20 Jahren war Chicago die an Gärten 
ärmste Stadt, heute nennt sie sich stolz urbs in hortis. Eine 
große Reihe von kleineren Binnenparks sind als Spielgärten ge- 
staltet, indenen für Sport aller Art reiche Möglichkeiten geschaffen 
sind. Grandiose monumentale Parks entstehen an der Peripherie, 
unter denen der Grandpark am Michigansee bisher der bedeu- 
tendste ist. Um drei Hauptgruppen momentaler Gebäude legen 
sich Gartenparterres, während zu beiden Seiten am Ufer des 
Sees große Freiflächen für Sport aller Art mit Schmuckgärten 
und Schattenpartien abwechseln. Eine ganz gewaltige An- 
lage plant die Stadt in dem sogenannten Lagunenpark, der 
aus Abfuhraufschüttungen der Stadt im See auf verschiedenen 
Landzungen erbaut werden soll, auf denen Gartenanlagen stille 
Wasser für den in Amerika über alles geliebten Wassersport um- 
säumen sollen. 

Bei den meisten Städten in Amerika wie bei uns galt es 
Versäumtes nachzuholen, eine einzige Stadt dort hatte das seltene 
Glück erst jetzt mit der neu erwachten Aufmerksamkeit auf 
einheitliche Stadtanlagen in einen alten Plan hineinzuwachsen. 
Bei der Gründung der Stadt Washington hatte der Franzose 
Enfant mit dem genialen Weitblick, der den Baumeistern jenes 
Jabrhunderts anhaftet, einen Bebauungsplan entworfen, der 
das Vorbild europäischer Residenzstädte vor Augen so weit 
und großzügig entworfen war, daß man den lange vergessenen 


900 Marie Luise Gothein, 


bei der Zentenarfeier der Stadt herraussuchen und aufs Neue 
der erweiterten Bebauung. zugrunde legen konnte: An Stelle 
des zentral gelegenen Fürstenschlosses mit seinen Gartenanlagen: 
von dem in Eurcpa Straßen und Plätze in rationeller Ausstrah- 
lung ausgehen, liegt in der republikanischen Bürgerstadt das 
Stadthaus als monumentaler Kuppelbau, von diesem sollte 
eine Prachtstraße auf beiden Seiten von Gartenanlagen begleitet 
ausgehen und zu einem zweiten öffentlichen Bau, dem Präsidenten- 
hause führen. Eine zweite Parkstraße, die zum See herunterführt 
kreuzt diese erste, im Kreuzungspunkt Gelegenheit zu großen 
Gartenanlagen bietend. Auch die übrigen öffentlichen Gebäude 
waren von l'Enfant so verteilt, daß sie überall von Gartenan- 
lagen unterstützt und durch prächtige Avenuen verbunden 
waren. So war die ganze Stadt nicht nur durch sorgsam abge- 
wogene Bebauung zu möglichster Schönheit erhoben, sondern 
zeigte auch eine glückliche Verteilung von Luft und Licht. Die 
verhältnismäßig langsame Entwicklung der Stadt hatte den 
Plan ein ganzes Jahrhundert fast auf dem Papier stehen lassen, 
glücklicherweise aber war durch Festlegung der Hauptstraßen- 
züge nichts zur Unheilbarkeit verdorben, so daß man jetzt im 
Sinne des alten Baumeisters gestalten und erweitern kann. 

Aber wenn auch die Mittel und das soziale Wollen drüben 
noch einen andern Schwung hat als bei uns, so scheinen doch 
die bescheideneren Verhältnisse Europas, besonders in Deutsch- 
land eine ganz andre straffe Stilentwicklung zu verraten. Wir 
sahen, wie bei der ersten Periode der Parkbildung große Massen- 
ansammlungen und Sport bei uns noch keine Rolle spielten; 
wir alle aber haben das Schauspiel erlebt, wie die auch bei uns 
in den Städten ungeheure anwachsende Bevölkerung sich dem 
Sport und Spiel als Selbsthilfe zuwandte, und wie dies befördert 
durch den Schulunterricht in immer breitere Schichten eindringt. 
Die Masse der Großstadtbevölkerung, der man. jetzt Zuflucht 
und Erholung von dem Leben in den engen Häusern gewähren 
will, konnte sich nicht mehr mit den alten Parks, diesen ideali- 
sierten Spaziergängen begnügen, wo man sich gesittet auf den 
Wegen halten muß und an Sonntagen womöglich gezwungen 
ist, seinen Schritt dem vorangehenden Spaziergänger anzupassen, 
da die Freiflächen viel zu klein sind, um sie dem Strom der Besu- 
cher frei zu geben. 

Aber es ist nicht die Platzfrage allein, die diese alten Parks 


Die Gartenkunst moderner Gemeinden und ihre soziale Bedeutung. QOI 


ungeeignet für eine Großstadt erscheinen läßt, die Stimmung 
beschaulicher Ruhe, die sich behaglich an einzelnen Blicken 
ergötzt, bringt diese Bevölkerung heute nicht mehr auf; das rast- 
lose Leben, das dort pulsiert, verlangt als Gegengewicht eine 
ganz neue Art Erholung, die sich vor allem in starker Bewegung 
und heiterem Spiele ausleben will. Dafür gilt es große Freiflächen 
und Spielplätze zu schaffen, wo auch diejenigen, die sich nicht 
selbst beteiligen, dem Schauspiel gerne zuschauen mögen, wo 
jeder sich im ganzen verliert und doch nicht bedrängt und durch 
Vorschriften beengt werden will. Man hat dies nun zum Teil 
durch erneute Nachahnung der englischen Parks zu erreichen 
gesucht, die, wie wir sahen, längst diesem Bedürfnis entgegenge- 
kommen waren, so z. B. in dem großen Ostpark in Frankfurt, 
der in seinem Hauptbestandteil aus großen Freiflächen mit male- 
rischer Waldumrandung besteht: Eine ġo ha große Wiese liegt 
neben einem 5 ha großen Teich, auf dessen anderer Seite wiederum 
eine 4!/, ha große Wiese sich hinstreckt. Selbstverständlich ist es 
schwerüber einen so jungen Park ein Urteilabzugeben, ich fürchte 
aber, daß auch bei hochgewachsenen Bäumen diesen riesigen 
Freiflächen etwas an Gegengewicht fehlen wird, besonders da 
hier auch die Eigenart der englischen mitbildenden Atmo- 
sphäre mangelt. | 
Ueberhaupt aber scheint mir die Entwicklung für Deutsch- 
land in neue Bahnen zu lenken. Jener neu erwachte Sinn für 
Form und Proportion, der im eigentlichen Garten zu architek- 
tonischer Gestaltung drängte, beginnt auch im Parke mehr und 
mehr sich geltend zu machen. Er findet hier zuerst seinen Aus- 
druck in einem großen Prospekt, der solch einer Schöpfung 
wieder Zentrum und Mitte verschaffen soll, um die sich alles 
kristallisieren muß. Die Architektur, solange im Park als Bei- 
werk oder quantité négligeable betrachtet, will ihr Vorrecht von 
neuem behaupten und trittals monumentales Gebäude inden Aus- 
gang des Prospektes als ein Gesellschaftshaus. Auch in Deutschland 
beginnt man sich hier und dort dem Gedanken zu öffnen, daß dies 
nicht nur ein verpachtetes Restaurant zu sein braucht, sondern da8 
man hier, wie es in Amerika längst geschieht, den Parkbesuchern 
auch Innenräume zur Unterhaltung als Lesezimmer, Spiel-, Tanz- 
und Turnräume, bieten soll. In der unmittelbaren Nähe des 
Hauses legt man naturgemäße Blumenbeete und Parterres an, 
die die Architektur des Hauses heben und genügend Ruheplätze 


902 Marie Luise Gothein, 


schaffen. Der Blick von hier soll sich frei entfalten, um den hier 
Weilenden die beste Gelegenheit zu gewähren, das bunte Treiben 
im Parke als ganzes zu genießen, darum läßt man den Blick von 
bier über Wasserflächen auf große Freiplätze schweifen, wo die 
Spiele der Volksmassen vor sich gehen, wenn irgend möglich 
schafft man dem ganzen Bilde nach der andern Seite einen point 
de vue als Abschluß. Ich denke bei diesem Schema zuerst an 
den Blücherpark in Köln, wo leider das Gesellschaftshaus selbst, 
das der ganzen Anlage erst das richtige Verhältnis geben wird, bis- 
her nur im Plan des Schöpfers, Direktor Encke, besteht. Verden 
dafür bestimmten Platze aber liegt zuerst der Weiher, dahinter 
etwas erhöht die große Spielwiese in ganz regelmäßiger Anord- 
nung, den Abschluß hinten soll nach Absicht des Künstlers eine 
überbrückte Straße, von zwei hohen Pappeln flankiert, bilde. 
Weiher und Wiese sind durch eine öffentliche Straße getrennt, 
die aber dem Blick ganz verdeckt ist durch eine Zieranlage am 
Ende des Weihers, die zu beiden Seiten durch erhöht angelegte 
Bosquets flankiert ist. Der Vorteil, das Wasser vor dem Haus 
anzulegen, ist mannigfach: In einem Volkspark strömt die Menge 
zuerst nach der Spielwiese, zu der sie hier von der Straße auf 
ein Paar Stufen emporsteigt. Von hier aus ist ein Hauptprospekt 
festzuhalten: Das Wasser, in dem sich auf der andern Seite ein 
monumentales Gebäude spiegelt, ist von hier besonders wirksam, 
sein Reiz wird durch den Blumengarten im Vordergrunde noch 
erhöht. Die am Gesellschaftshause Ausruhenden aber umgekehrt 
schauen auf die belebte Wiese über das Wasser, das siedavorschütst, 
von dem Lärm unmittelbar bedrängt zu werden. Um diesen Haupt- 
prospekt ist nun der übrige Park in einer Reihe von Sondergärten 
angelegt, wie sie den Forderungen teils eines mehr isolierenden 
Sportes, teils stiller Betrachtung von Blumen oder auch einem 
Ausruhen im gemeinsamen Gespräch und fröhlichen Genuß ent- 
gegenkommen. 

Direktor Encke hat selbst auf die Aehnlichkeit dieser seiner 
Schöpfung mit den großen Barockgärten hingewiesen und mit 
Recht hinzugefügt, daß es sich hier um keine Nachahmung 
handle. Auch ein oberflächlicher Blick auf das große Vorbild 
und die Wiege aller jener Gärten, auf Versailles, wird die auffallende 
Aehnlichkeit der Grundzüge aufzeigen: Vor dem thronenden 
Schloß, indem der autokratischste König mit seinem Hofe residiert, 
entfaltet sich als großer freier Prospekt der offene Repräsen- 


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Die Gartenkunst moderner Gemeinden und ihre soziale Bedeutung. 903 


tationsgarten, eine Stätte, wo sich die glänzendste Gesellschaft 
Europas zu fabelhaften Festen versammeln konnte, wo jeder 
Einzelne, strengstem Zeremoniell unterworfen, sehen und ge- 
sehen werden konnte. Hinten an den Repräsentationsgarten 
schließt sich der große Kanal an, so daß vom Schlosse aus das 
ganze prächtige Bild vor den Augen des Herrschers lag und von 
dem glänzenden Bande des Kanals in alle Weiten getragen wurde. 
Umgekehrt aber bot sich bei den Wasserfahrten auf dem Kanal 
den Blicken der Gondelnden der Garten zusammengefaßt auf- 
steigend zum ragenden Schlosse. Zu beiden Seiten dieses offnen 
Gartens aber war eine Fülle reicher Sondergärten angelegt, wo 
man sich zu intimen Festen, Konzerten, Theater, allerlei Spiel und 
körperlichen Uebungen oder auch zu heimlicher Zwiesprache im 
Schatten der hohen Hecken und schützenden Bäume zusammen- 
fand. 

Und diese beiden Gartentypen, hier der Königsgarten wie jener 
oben besprocheneVolksgarten haben ihre tiefeBedeutung und Ueber- 
zeugungskraft, weil beide aus den Forderungen der Gesellschaft 
hervorgehen, deren Formwille hier Befriedigung findet. Wohlist die 
Gesellschaft, die einst den Barockgarten im XVII. Jahrhundert 
schuf, das äußerste Widerspiel der heutigen, man muß an ein Be- 
rühren der Gegensätze denken, um die Aehnlichkeit zu fassen. 

Der Blücherpark in Köln ist denn auch durchaus kein verein- 
zeltes schönes Werk, wenn er auch vielleicht bisher am reinsten dies 
Wollen verkörpert. Eine ähnliche Lösung bei starker Stilab- 
weichung im einzelnen hat Fritz Schumacher in dem Hamburger 
Stadtpark in Winterhude gefunden. Auch hier liegt das monu- 
mentale Gesellschaftshaus von Blumengärten umgeben als Blick- 
punkt des großen Prospektes, der sich über den Weiher auf die 
große Spielwiese öffnet und hinten durch den Wasserturm ab- 
geschlossen wird. In der Umrahmung dieser Wiese ist noch ein 
Kompromiß mit dem malerischen Stil geschlossen, zwischen den 
Gebüschgruppen öffnen sich überall Einzelblicke vom Hause aus. 
Doch auch hier sind die Sondergärten zu beiden Seiten als Sport- 
und Spielplätze aller Art angeordnet. 

Auch die Parks, die Lebrecht Migge in verschiedenen Städ- 
ten anlegt, gehen bei abweichenden Einzellösungen doch von 
ähnlichen Grundsätzen aus, eine besonders glückliche Raumaus- 
nützung scheint mir aus solchen Werken, wie dem Mariannenpark 
in Leipzig-Schönfeld oder dem Stadtpark in Küstringen-Wil- 


904 Marie Luise Gothein, 


helmshafen zu sprechen. Ihnen allen liegt ebenfalls ein durch 
ein monumentales Gebäude zusammengehaltener Hauptprospekt 
zugrunde, an den sich Sondergärten im Park schließen. Daß 
diese Lösungen vielseitig, der Individualität des Künstlers und 
Sonderforderungen der Städte entsprechend, ausfallen, ist nur ein 
neues Zeichen von dem gesunden Leben, das sich in diesem 
Zweige deutscher Kunst entfaltet. 

Neben solchen großen Volksparks muß aber der Großstadt- 
bevölkerung auch die Möglichkeit geboten werden, in der Stadt, 
nahe erreichbar von allen Wohnungen, einen Gartenaufenthalt zu 
finden; und nicht nur in Amerika, sondern auch bei uns, hat man 
längst sein Augenmerk darauf gerichtet, auf großen Stadtplätzen 
mit der Aufgabe derVerschönerung diese hygienische zu verbinden. 
Und diese Forderung hat in manchen Städten — ich denke hier 
besonders an Charlottenburg und Köln— einen feinen reizvollen 
Stil herausgebildet. 

Die Aufgabe heißt, einen Spielplatz für Kinder oder auch 
Erwachsene mit einem Blumengarten für den von der Arbeit 
Erholungsbedürftigen zu schaffen. Man legt den Spielplatz höher, 
meist auf das Straßenniveau und vertieft den damit verbundenen 
Blumengartenplatz. Dadurch gewinnt man nicht nur der Anlage 
wechselnden Reiz ab, sondern vermag die spielenden Kinder weit 
leichter auf ihr Reich zu beschränken. Hier sollen sie sich ganz 
zwanglos bewegen können, daher geben dem sonst ganz unbe- 
pflanzten Platz nur Bäume den nötigen Schatten; häufig ist dieser 
Platz mit gutem Glück mit Lattenwerk umschlossen, um das 
von außen Gebüsch gepflanzt ist — auf dem Gustav-Adolf-Platz 
in Charlottenburg z. B. Rhododendron —die in der Blütezeit die 
Kinder in ein leuchtendes Paradies einschließen. Aus dem fröh- 
lichen Treiben steigt der Ruhebedürftige auf einigen Stufen in den 
vertieften Blumengarten, der naturgemäß von breiten Wegen 
durchkreuzt wird, auf dem eben erwähnten Platzist die Mitte durch 
einen Srpingbrunnen betont, um den Ruhebänke vor Hecken 
angebracht sind. Rings in den vier Feldern blüht die Fülle bunter 
Blumen, die in weisem Ermessen von den Stadtgärtnern heute in 
solchen Massen angepflanzt werden, daß selbst, wenn Blüten ab- 
gerupft werden, Lücken nicht leicht zu spüren sind. Die Er- 


ziehung aber zur Freude an der Schönheit dieser Blumen, die 


Bequemlichkeit zugleich, sie hier zu genießen ist das beste Mittel, 
diese Anlagen auch ohne strenge Bewachung zu erhalten, wenig- 


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sel. 


Die Gartenkunst moderner Gemeinden und ihre soziale Bedeutung. 905 


stens klagen die Schöpfer selbst nicht, daß sie hierin mit Schwie- 
rigkeiten zu kämpfen hätten. Auch in diesen Plätzen ist das 
Grundschema schon reich in den heutigen Schöpfungen variiert; 
ist der Platz groß genug, wie der Karolinenplatz in Charlotten- 
burg, so legt man neben den Schmuckplatz zu beiden Seiten 
noch kleine Schattenbosketts hier von Birken umstanden an, 
auch die Pergola ist als Umgebung des Schmuckplatzes ein sehr 
beliebtes Motiv so in der reizvollen Schöpfung des Königin-Luisen- 
Platzes in Köln. In Köln besonders werden solche Plätze überall, 
besonders auch in den Arbeitervierteln angelegt. Welch ein Segen 
sie für den in enger Wohnung ohne Garten lebenden Arbeiter, 
besonders aber für seine Kinder bedeuten, spricht sich auch in 
der Tatsache aus, daß sie von den Umwohnern mit eifersüchtiger 
Liebe gehütet werden, so daß sich die Anlagen auch ohne Ab- 
sperrung und besondere Bewachung erhalten, es bildet sich eine 
Art idealen gemeinsamen Eigentumgefühles aus, das erzieherisch 
sehr gut wirkt. 

Diese wenigen Beispiele ausgewählt aus zahlreichen Schöp- 
fungen sollten nur darauf aufmerksam machen, wie reich und 
schöpferisch dieser Zweig deutscher Kunst vor dem Kriege auf- 
geblüht war. Zu wurzelhaft hängt sie mit der Gesundheit und 
geistigen Frische unserer Stadtbevölkerung zusammen, als daß wir 
fürchten müßten, daß die schweren Aufgaben, die der Gemeinden 
in der ersten Friedenszeit harren, ihre Pflege vergessen machen 
könnten. | 


906 


Der Schutz des Koalitionsrechts. 


Von 
W. KULEMANN. 


I. Allgemeines. 


Die Erörterungen über das Koalitionsrecht beschä:tigen sic 
weit überwiegend mit der Prüfung der Frage, ob und in wie weit durch 
die Gesetzgebung den Arbeitern dieses Recht gewährt werden sol. 
Aber so wenig zu bestreiten ist, daß hierüber eine Klärung der An- 
sichten herbeigeführt werden muß, so wenig kann zugegeben werden, 
daß damit die Aufgabe erschöpft wäre. Kaum weniger wichtig ist 
vielmehr eine andere Seite des Themas, die bisher in der Literatur 
verhältnismäßig wenig Beachtung gefunden hat, nämlich der Schutz 
des bestehenden Koalitionsrechts gegen Be 
einträchtigungen seitens der Unternehmer. E 
liegt hier ebenso wie auf sehr vielen Gebieten des praktischen Lebens, 
nämlich daß die rechtliche Gewährung einer Befugnis noch 
nicht ausreicht, um demjenigen, dem sie eingeräumt ist, die Möglich- 
keit zu schaffen, sie tatsächlich auszuüben. Das Gesetz hindert den 
Armen nicht in höherem Maße als den Reichen, Erholungs- und 
Vergnügungsreisen zu machen, aber trotzdem ist er nicht imstande 
es zu tun. Ist dem Gefangenen, der auf Grund eines richterlichen 
Urteils eine Strafe verbüßt, die freie Bewegung rechtlich entzogel, 
so befindet sich der rechtswidrig der Freiheit Beraubte tatsächlich 
in keiner günstigeren Lage. 

Gerade die letztere Bemerkung führt uns sogleich in den Mittel- 
punkt unseres Problems. Die große Mehrheit der industriellen Arbei- 
ter besitzt seit 1869 das Koalitionsrecht, wenngleich mit erheblichen 
Einschränkungen. Aber auch wenn wir von diesen ganz absehen, 
so ist die deutsche Arbeiterschaft im Gegensatze zu der englischen, 
die eine solche Entwicklungsstufe bereits hinter sich liegen hat, nach 
wie vor gezwungen, die erbittertsten Kämpfe zu führen, um die Mög- 
lichkeit zu erhalten, dieses Recht auszuüben. Diejenigen, die sit 
daran hindern, sinddie Unternehmer. Sie bedienen sich, um ihren 
Zweck zu erreichen, ihres wirtschaftlichen Uebergewichts, indem sie 
denjenigen, dieebei ihnen um Beschäftigung nachsuchen, erklären, 


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Der Schutz des Koalitionsrechts. . 907 


daß sie diese nur dann erhalten werden, wenn sie auf ihr gesetzliches 
Recht verzichten, d. h. entweder überhaupt sich nicht organisieren, 
oder sich wenigstens von solchen Vereinigungen fernhalten, die sich 
des Wohlwollens der Unternehmer nicht erfreuen. 

Fast regelmäßig wird nach einem mißglückten Streik die Wieder- 
zulassung zur Arbeit von dem Austritte aus*der Gewerkschaft ab- 
hängig gemacht; mindestens.aber stellt man diese Forderung als 
Vorbedingung bei der Verleihung bevorzugter Stellungen. Ein be- 
sonders beliebtes Mittel zur Ausschließung des Koalitionsrechts 
bilden die »Schwarzen Listene, d. h. Verzeichnisse mißliebiger Ar- 
beiter, die den beteiligten Unternehmern zugestellt werden, um sie 
ir die Lage zú bringen, diese von der Beschäftigung auszuschließen. 

Allerdings ist der Wert dieses den Unternehmern zur Verfügung 
stehenden Zwangsmittels abhängig von der Lage des Arbeitsmarktes. 
Ueberwiegt die Nachfrage nach Arbeitskräften, so ist die dem Koa- 
litionsrechte drohende Gefahr nicht sehr groß, aber da ein Zustand 
unseres Wirtschaftslebens als verhältnismäßig normal angesehen 
werden muß, in dem das Gegenteil der Fall ist und vielmehr als Regel 
eine chronische Arbeitslosigkeit besteht, so sind die Unternehmer 
weitgehend in der Lage, den Arbeitern die Ausübung der ihnen gesetz- 
lich gewährten Befugnis unmöglich zu machen. 

Wenn wir den Ausdruck Koalitionsrecht gebrauchen, so scheint 
dabei vorausgesetzt zu sein, daß es sich um einen allgemein aner- 
kannten Begriff handle. Das ist jedoch nicht der Fall, vielmehr ist 
nicht allein die Abgrenzung des Koalitionsrechts gegen das Vereins- 
und Versammlungsrecht keineswegs einfach, sondern, auch wenn wir 
sie als erfolgt annehmen, fallen unter die erstere Bezeichnung ver- 
schiedene Befugnisse, die untereinander nur in einem losen Zusam- 
menhange stehen. 

-Es ist hier nicht der Ort, den Versuch einer erschöpfenden Be- 
griffsbestimmung zu unternehmen, aber immerhin muß darauf hin- 
gewiesen werden, daß der Ausdruck Koalitionsrecht in einem doppel- 
ten Sinne gebraucht wird. Zunächst versteht man darunter das im 
$ 152 GO. geordnete Gebiet, also die Befugnis, zur Erlangung gün- 
stiger Lohn- und Arbeitsbedingungen Verabredungen zu treffen und 
Vereinigungen zu bilden. Aber von einer Beeinträchtigung des Koa- 
litionsrechts spricht man auch dann, wenn gar nicht das Arbeits- 
verhältnis unmittelbar in Frage kommt, sondern der Arbeitgeber 
seine wirtschaftliche Machtstellung dazu benutzt, die von ihm be- 
schäftigten Arbeiter von der Beteiligung an gewissen ihm unwill- 
kommenen politischen Bestrebungen zurückzuhalten, insbesondere 
ihnen die Mitgliedschaft bei bestimmten Parteien, den Besuch ge- 
wisser Versammlungen und Lokale, das Lesen mißliebiger Blätter, 
sowie sonstige Betätigungen im öffentlichen Leben zu untersagen 1). 


1) Den Nachweis zu führen, daß dieses System im umfassendsten Maße 
geübt wird, würde mehr Raum in Anspruch nehmen, als hier zur Verfügung 
steht. Das ist auch nicht erforderlich, da die betreffenden Tatsachen als solche 
kaum bestritten werden. Ein umfangreiches Material bietet die Schrift von 


908 W. Kulemann, 


Bei den bisherigen Erörterungen über das Koalitionsrecht hat 
man in der Regel lediglich die erstere Gruppe von Befugnissen, also 
dessen wirtschaftliche Seite im Auge gehabt. Das ist unbefriedigend, 
und wir werden deshalb im folgenden das Wort in einem Sinne ver- 
stehen, in dem es auch die Sicherung gegen die zuletzt erwähnten 
Eingriffe in die persömliche Freiheit umfaßt. 


II. Die bisher gemachten Vorschläge. 


Die Bestrebungen, den erwähnten Schutz auf dem Wege der 
Gesetzgebung zu schaffen, sind in erster Linie von den Arbeitern 
selbst ausgegangen, und zwar ohne Unterschied der Parteirichtungen. 

Der Kongreß der freien Gewerkschaften in Dresden 
am 26. Juni ıgII?) beschloß nach einem Referate des Rechtsan- 
walts Dr. Heinemann einstimmig eine ausführliche Resolution, in 
der es heißt 2): 


»Dagegen fordert der Kongreß die Aufnahme von Strafbestimmungen in 
das Strafgesetzbuch für die vorsätzliche Hinderung der Ausübung des Koali- 
tionsrechts.« 


Der von den christlichen Gewerkschaften veran- 
staltete I. Nationale Arbeiterkongreß in Frankfurt a. M. am 23. bis 
26. Oktober 1903 forderte ?) u. a.: 


sDer $ 153 GO. soll dahin erweitert werden, daß nicht allein der MiB- 
brauch des Koalitionsrechts unter Strafe gestellt wird, sondern auch die Ver- 
hinderung am legitimen Gebrauche.« 


Eingehend hat sich später 1908 der Ge werkverein christ- 
licher Bergarbeiter mit der Frage beschäftigt. Das Ergeb- 
nis war eine Eingabe an den Reichstag in der u. a. iii Fassung 
des $,153 GO. empfohlen wird 4): 


»Wer Angestellte, gewerbliche Gehilfe, Gesellen oder Arbeiter, auch weib- 
liche Personen, durch Anwendung körperlichen Zwanges, durch Drohen mit 
einer rechtswidrigen Handlung oder Entlassung aus der Stellung oder Arbeits- 
gelegenheit, durch Verabredung, durch schwarze Listen, oder durch schwarzen 
Listen gleichwirkende Einrichtungen anderer Art hindert oder zwingt, von 
solchen Verabredungen oder Vereinigungen ($ 152, Abs. ı und 2) zurückzu- 
treten oder wegen Zugehörigkeit zu Berufsvereinen um die Stellung Oder Ar- 
beitsgelegenheit bringt oder an der Erlangung von Stellen oder Arbeitsgelegen- 
heit hindert, wird mit Gefängnis bis zu 3 Monaten bestraft, sofern nach dem 
allgemeinen Strafgesetz nicht eine höhere Strafe eintritt. Auch der Mensch 
ist strafbar.« 


Der am 1./3. Dezember 1913 in Berlin abgehaltene III. Deutsche 
Arbeiterkongreß stellte sich auf denselben Standpunkt und 
forderte u. a. 5): 


Nestriepke: Das Koalitionsrecht in Deutschland. Vgl. auch Soziale Praxis XX. 
299, 1369, XXII. 74 und die Verhandlungen des VIII. Gewerkschaftskongresses 
in Dresden ı911. 

2) Protokoll S. 241. 

3) Vgl. Kulemann: Die Berufsvereine II. 190. 

*) Vgl. Soziale Praxis XVIII. 177. 5) Vgl. daselbst XXIII. 837. 


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Der Schutz des .Koalitionsrechts. 909 


»Aufbebung des $ 153 GO. 2. Ausbau des Koalitionsrechts in dem Sinne, 
daß der rechtsmäßige Gebrauch desselben gewährleistet und daß Vereinigungen 
oder Maßnahmen zur Verhinderung des Gebrauchs des Koalitionsrechts unter 
Strafe gestellt werden.« 


Auch der am 14./16. Juni 1905 in Breslau abgehaltenen XV. Ver- 
bandstage des Evangel. Arbeitervereins forderte $): 


»sErweiterungen des $ 153 GO. dahin, daß die Verhinderung an der Aus- 
übung des Koalitionsrechts unter Strafe gestellt wird.+ 


Die Hirsch-Dunkerschen Gewerkvereinehaben 
von Anfang an den besseren Ausbau des Koalitionsrechts in den 
Mittelpunkt ihrer Bestrebungen gestellt. Am 7. Juni 1905 beschloß 
der Zentralrat eine Resolution ?), in der dessen Sicherung durch die 
Gesetzgebung gefordert wurde. In einem späteren Beschlusse vom 
17. Dezember 1908) erklärte er: 


»Der durch sittenwidrigen Gebrauch der Koalitionsübermacht erzeugte 
Schaden ist entweder auf dem Wege des Zivilrechts geltend zu machen oder 
durch freie Schiedsgerichte zur Entscheidung zu bringen. 


In demselben Sinne beschloß der 17. Verbandstag in Magdeburg 
am 17. Mai 1910: 
Etwaige private Vereinbarungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitneh- 


mern, die den Ausschluß dieses Rechts zum Gegenstande baben, sind rechts- 
unwirksam.« 


In nicht geringerem Grade als die Arbeiter werden die Privat- 
angestellten in der Ausübung ihres Koalitionsrechts durch 
die Unternehmer beeinträchtigt. Deshalb haben sie in gleichem Maße 
Veranlassung, dessen Sicherung ins Auge zu fassen. 

So findet sich indem von dem Bunde technisch-indu- 
strieller Beamten auf seinem II. Bundestage in Berlin am 
Ig./20. Mai 1907 beschlossenen Programm unter den aufgestellten 
Forderungen auch folgende °): 


»Die Verhinderung am gesetzmäßigen Gebrauche der Koalitionsfreiheit 
ist unter Strafe zu stellen, um die technischen Angestellten vor wirtschaftlichen 
Sen Rgungen wegen der Wahrnehmung der Standesinteressen zu schützen.« 


fy Auf demselben Standpunkte steht das Programm des »So zia- 
len Ausschusses von Vereinen technischer Pri- 
vatangestellter« das in dessen ‚Sitzung vom 5. Juli 1908 
beschlossen wurde in folgender Fassung !°): 


Zur wirksamen Vertretung der Standesinteressen der technischen Privat- 
angestellten ist der Ausbau der gegenwärtigen Gesetzgebung über die Koali- 
tionsfreiheit unbedingt notwendig: insbesondere ist es erforderlich, daß die 
Verhinderung am gesetzmäßigen Gebrauche der Koalitionsfreiheit unter Strafe 
gestellt wird.e 


Um eine Aenderung der Gesetzgebung in diesem Sinne herbei- 


*) Vgl. Kulemann a. a. O. II. 122. 
?) Vgl. daselbst XVIII. 359. 8) Vgl. Soziale Praxis XIV. 108ı. 
") Vgl. Kulemann a. a. O. III. 186. 10) Vgl. daselbst III. 300. 


QIO W. Kulemann, 


zuführen, richtete der Ausschuß an den Bundesrat und den Reichs- 
tag eine ausführliche Eingabe, in der es heißt 1): 


s»I. Im Bürgerlichen Gesetzbuche oder einem allgemeinen Reichsgesetze 
über den Dienstvertrag und durch positive Rechtsbestimmungen oder durch 
Beseitigung entgegenstehender Sonderbestimmung muß festgelegt werden, daß: 

I. Im Gegensatze zu $ 152 Abs. 2 GO. alle Zusagen, Versprechungen, 
Verabredungen und Vereinbarungen von Mitgliedern eines Berufsverbandes 
oder von Teilnehmern an einer wirtschaftlichen oder sozialen Bewegung bezüg- 
lich ihrer Rechtsverbindlichkeit und Erklagbarkeit den allgemeinen Bestim- 
mungen über Verträge unterliegen. 

2. Vereinbarungen irgend welcher Art, durch die Arbeitgeber sich ver- 
pflichten, bestimmte Personen oder Angehörige bestimmter Verbände nicht 
in Dienst zu nehmen, unverbindlich sind. 

3. Die Zugebörigkeit zu einem Verbande oder die Beteiligung an einer 
Verabredung zur Verbesserung oder Erhaltung bestehender Arbeitsbedingun- 
gen niemals als ein triftiger Grund zur Lösung eines Dienstvertrages ohne Ein- 
haltung der gesetzlichen oder vereinbarten Kündigungsfrist gilt. 

4. Alle Vertragsabreden, deren Einhaltung der zum Dienste Verpflichtete 
mit eidlicher Versicherung oder Ehrenwort verbürgen muß, unter allen Um- 
stäuden nichtig sind. 

II. Im Strafgesetzbuche sind die Bestimmungen über Nötigung, Erpressung 
und Wucher so zu fassen, daß folgende Tatbestände zweifellos mit erheblichen 
Strafen bedroht werden: 

si. Die Verhinderung des Beitritts zu irgend welcher gesetzlich erlaubten 
Vereinigung durch körperlichen Zwang, Drohung, Ehrverletzung oder Verrufs- 
erklärung. 

2. Die Veranlassung des Austritts aus irgend einer gesetzlich erlaubten 
Vereinigung durch die gleichen Mittel. 

3. Die Boykottierung bestimmter Personen, Verbands- oder Berufsgruppen 
durch schwarze Listen oder ähnliche Kennzeichnungen oder Verabredungen. 

4. Die Abnahme des Ehrenworts oder eidlicher Versicherungen als Bürg- 
schaft für die Einhaltung wirtschaftlicher Vertragsverpflichtungen.« 


Auch der Verband deutscher Handlungsgehil- 
fen in Leipzig forderte 1908 die Bestrafung der Arbeitgeber für 
den Fall, daß sie Angestellte oder Arbeiter durch Verabredungen, 
schwarze Listen oder ähnliche Einrichtungen anderer Art, wegen 
ihrer Zugehörigkeit zu Berufsvereinen um ihre Stelle bringen oder 
sie an der Erlangung einer anderen Stelle hindern 12). 

Die politischen Parteien nehmen zu dem Koalitions- 
rechte eine sehr verschiedene Stellung ein. Während die Konserva- 
tiven sich ihm gegenüber sehr unfreundlich verhalten, sind die links- 
stehenden Gruppen mehrfach für dessen besseren Schutz eingetreten. 

Das gilt insbesondere von der Sozialdemokratie, die 
auf dem Parteitage in Halle ı8go folgenden Antrag v. Vollmar mit 
allen gegen zwei Stimmen annahm 13): 


»Die Partei hat für die nächste Zeit eine hauptsächliche Wirksamkeit dahin 
zu richten, daß das vorhandene Koalitionsrecht nicht nur im ganzen Umfange 
aufrecht erhalten und gegen jede, wie immer geartete Beeinträchtigung tat- 


1) Vgl. Soziale Praxis XVIII. 305. 
12) Vgl. Soziale Praxis XVIII. 177. 13) Protokoll S. 93. 


Der Schutz des Koalitionsrechts. QII 


krāftig geschützt, sondern weiter bis zur vollen Versammlungs- und Verbin- 
dungsfreiheit entwickelt wird. Als die notwendigen Mittel zum Schutze des 
Koalitionsrechts der Arbeiter gegen die unterdrückerischen Bestrebungen des 
Unternehmertums ist ein Gesetz anzustreben, welches jeden Versuch, das Koa- 
litionsrecht oder die sonstige Ausübung politischer Rechte zu hindern oder 
zu erschweren, unter nachdrückliche Strafe stellt.« 


Auch die Fortschrittliche Volkspartei hat sich 
wiederholt im gleichen Sinne ausgesprochen 4): 

Im Reichstage ist die Frage sehr oft behandelt. 

Schon bei der Kommissionsberatung der Vorlage vom 6. Mai 
1890, die zum Erlasse des Gesetzes vom I. Juni 1891 führte, wurde 
der Antrag gestellt, dem $ 153 folgenden Zusatz zu geben: 

*. . . sowie derjenige, welcher mit Anderen vereinbart, Arbeitern deshalb, 
weil sie an solchen Verabredungen oder Vereinigungen teilgenommen haben, 
die Arbeitsgelegenheit zu erschweren, sie nicht in Arbeit zu nehmen oder sie 
aus der Arbeit zu entlassen .. .¢ 

Der Antrag wurde abgelehnt, weil er eine einseitige Richtung 
gegen die Arbeitgeber habe, und praktisch unausführbar sei. 

Eine eingehende Erörterung erfolgte in neuerer Zeit insbesondere 
im Januar 1913 im Zusammenhange mit einer durch mehrere Sitzun- 
gen sich erstreckenden Aussprache über die gesamte Sozialpolitik, 
bei der sowohl die Sozialdemokratie wie das Zentrum und die Frei- 
sinnige Volkspartei für einen besseren Schutz des Koalitionsrechts 
eintraten. Sie endete mit der Annahme folgenden Beschlusses: 

»Die verbündeten Regierungen zu ersuchen, tunlichst bald Gesetzentwürfe 
vorzulegen, welche bezwecken: 

I. Den Schutz und den weiteren Ausbau des Koalitionsrechts der Arbeiter 
($ 153 GO.), insbesondere auch dahin, daß Vereinbarungen oder Maßnahmen 
zur Verhinderung des Koalitionsrechts unter Strafe gestellt werden. 

2. Die Sicherung und weitere Ausgestaltung der Tarifverträge zwischen 
Arbeitgebern und Arbeitnehmern. 

3. Eine auf freiheitlicher Grundlage aufgebaute Regelung der prıvatrecht- 
lichen und öffentlich-rechtlichen Verhältnisse der Berufsvereine.« 

Eine andere Resolution forderte die Vorlegung eines »Gesetz- 
entwuries, welche: die dem Koalitionsrecht noch entgegenstehenden 
Beschränkungen, insbesondere unter Abänderung der $$ 152 und 153 
GO. aufhebt.« 

Zuletzt wurde das Thema behandelt in der Sitzung vom 6. Fe- 
bruar 1914. Von sozialdemokratischer Seite wurde beantragt, den 
Reichskanzler um Vorlegung eines Gesetzentwurfes zu ersuchen, 
swodurch alle das Koalitionsrecht einschränkenden ausnahmegesetz- 
lichen Vorschriften in den Reichs- oder Landesgesetzen aufgehoben 
werden und ferner für alle Personen, die ihre körperliche oder geistige 
Arbeitskraft gegen Lohn oder Gehalt in den Dienst eines Anderen 
stellen, das Koalitionsrecht gesichert wirde. 

14) In der Reichstagssitzung vom 29. Februar 1912 erklärte der Abgeord- 
nete Doormann, seine Partei habe stets beklagt, daß nur der Mißbrauch des 
Koalitionsrechts bestraft werde, aber die Verhinderung an dessen gesetzlichem 
Gebrauch straffrei sei. 


Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 3. 59 


912 W. Kulemann, 


Es heißt dann weiter: 


sInsbesondere wird gefordert; 

I1. Aufbebung des $ 153 GO. 

2. Ausdehnung des $ 152 Absatz 2 GO. auf alle Angestellten und Arbeiter, 
denen dieses Recht nach den geltenden Gesetzen vorenthalten wird. 

9. Um die Anwendbarkeit des 253 StrGB. auf Lohn- und Arbeitskämpfe 
auszuschließen, ist im Gesetze zum Ausdruck zu bringen, daß unter der Absicht 
der Verschaffung eines rechtswidrigen Vermögensvorteils nur die Absicht zu 
verstehen ist, sich oder einem Dritten, einen dem Recht zuwiderlaufenden Ver- 
mögensvorteil zu verschaffen. Es ist ferner zum Ausdruck zu bringen, daß 
die Ankündigung der Arbeitsniederlegung keine Drohung im Sinne des Gesetzes 
darstellt. 

4. Es ist im Gesetze ausdrücklich auszusprechen, daß jede Abrede und 
jedes Rechtsgeschäft als gegen die guten Sitten verstoßend nichtig ist, wodurch 
der Dienstpflichtige gezwungen wird, bestimmten Organisationen nicht beizu- 
treten oder aus ihnen auszuscheiden.« 

Dieser Antrag wurde abgelehnt, dagegen ein vom Zentrum ge- 
stellter angenommen, der die Vorlegung einer Denkschrift über die 
ganze Angelegenheit verlangte. 

Eine eingehende Erörterung über das Koalitionsrecht erfolgte 
in der Hauptversammlung der Gesellschaft für soziale 
Reform in Frankfurt a. M. am 5. März Igog im Anschluß an ein 
Referat von Potthoff über das Dienstrecht der Privatbeamten. Der 
Referent forderte u. a.: »Die Einschränkung der Befugnis zur will- 
kürlichen Entlassung eines Arbeitgebers.e Von anderer Seite wurde 
im Zusammenhange mit der oben erwähnten Eingabe des Verbandes 
deutscher Handlungsgehilfen die Schaffung von Strafbestimmungen 
gegen Eingriffe in das Koalitionsrecht empfohlen 1%), doch fand diese 
Anregung wenig Unterstützung, indem man geltend machte, es sei 
nicht ratsam, die bestehenden gesetzlichen Vorschriften noch zu 
vermehren und insbesondere snach dem Staatsanwalt zu rufen«. 

Auf diese Verhandlungen wurde Bezug genommen in dem von 
Prof. Oertmann für den XXX. deutschen Juristentag 
erstatteten Gutachten‘.über »Soziale Schutzvorschriften "für Privat- 
angestellte 1%). Er erwähnte einen von den Angestellten gemachten 
Vorschlag 17), in die Gewerbeordnung folgenden $ 133 a aufzunehmen: 


»Den Arbeitgebern in Handel, Industrie und Gewerbe ist untersagt, Ange- 


16) Ich persönlich vertrat diesen Standpunkt in längeren Ausführungen 
und empfahl folgende beiden Vorschriften: 

I. Ein Arbeitgeber, der es unternimmt, Arbeitnehmern die Ausübung des 
ihnen gesetzlich gewährten Koalitionsrecht dadurch zu erschweren, daß er 
ihnen für den Fall der Ausübung desselben eine wirtschaftliche Schädigung, 
insbesondere die Nichtbeschäftigung in seinem Betriebe in Aussicht stellt, 
wid ..... bestraft. 

II. Die gleiche Strafe trifft einen Arbeitgeber, der mit anderen eine Abrede 
dahin trifft, Arbeitnehmern für den Fall der Ausübung des ihnen gesetzlich 
gewährten Koalitionsrechtes eine wirtschaftliche Schädigung zuzufügen, insbe- 
sondere sie in ihren Betrieben nicht zu beschäftigen. 

10) Vgl. Verhandlungen des XXX. Juristentages S. 153. 

17) Vgl. Cuno in Heft 27 der Schriften der Ges. f. soz. Reform S. 41. 


Der Schutz des Koalitionstechts. 913 


stellte oder Arbeiter durch Verabredung, schwarze Listen oder Einrichtungen 
anderer Art wegen ihrer Zugehörigkeit zu Berufsvereinen um ihre Stellung zu 
bringen oder sie an der Erlangung zu hindern. Die Strafbestimmungen des 
$ 153 finden Anwendung.« 


Oertmann hielt freilich die Gewerbeordnung nicht für den rich- 
tigen Ort, um die Frage zu erledigen, da sie nicht ausschließlich die 
gewerblichen Angestellten betreffe, war aber der Ansicht, daß die 
Aufnahme einer entsprechenden allgemeinen Bestimmung in ein zu 
schaffendes Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Angestellten ange- 
zeigt sei. Er bemerkte dabei, daß er nicht zu den Personen gehöre, 
die gegenüber jeder energischen Maßregel des Klassenkampfes die 
Hilfe des Gesetzgebers anrufen, aber eine Verrufserklärung zu dem 
Zwecke, das gesetzlich gewährleistete Koalitionsrecht der Ange- 
stellten zunichte zu machen, sei den Tendenzen der modernen So- 
zialgesetzgebung durchaus zuwider. Angesichts der zunehmenden 
Versuche gegenteiliger Maßnahmen scheine es wohl an der Zeit zu 
sein, solchem Beginnen im Wege des Gesetzes entgegenzutreten. 

Auf dem Juristentage selbst ist man auf den Punkt nicht 
eingegangen. 

In der Literatur ist die Frage nur vereinzelt Gore mei- 
stens in Verbindung mit einer Umgestaltung des $ 153 GO. 

Brentano in seiner Schrift: »Reaktion oder Reforme bringt 
folgende Fassung in Vorschlag: 

»Wer es unternimmt, durch Anwendung körperlichen Zwanges oder durch 
Drobung mit Handlungen, zu deren Vornahme der Täter nicht berechtigt ist, 
Arbeitgeber oder Arbeiter zur Teilnahme an Vereinigungen oder Vefabredungen, 
die eine Einwirkung auf Arbeits- oder Lohnverhältnisse bezwecken, zu bestim- 
men oder von der Teilnahme an solchen Vereinigungen oder Verabredungen 
abzuhalten, wird nach Maßgabe der Bestimmungen des deutschen Strafgesetz- 
buches über körperlichen Zwang oder Drohung bestraft.« 


Auch der von v. Liszt, v. Lilienthal, Kahl und Goldschmidt 
ausgearbeitete Gegenentwurf zu dem Vorentwurfe eines neuen 
Strafgesetzbuches will den $ 153 G.O. dahin ausdehnen, daß nicht 
bloß der Zwang zur Teilnahme an den in $ 152 bezeichneten Verab- 
redungen, sondern auch derjenige bestraft wird, der den Zweck hat, 
die Teilfahme zu verhindern. 

Nestriepke 12) fordert strenge Strafen gegen diejenigen, die 
sich erkühnen, dem Arbeiter sein wichtigstes Recht zu rauben und 
ihm damit die Waffe zu entwinden, die allein ihm sozialen und wirt- 
schaftlichen Fortschritt ermögliche. 

Lotmar 1°) und Löwenfeld 2%) haben ebenfalls die Beeinträch- 
tigung der Koalitionsfreiheit für moralwidrig erklärt. Herkner 2) 
bezeichnet es als ein Unrecht, daß es an einer Vorschrift fehle, durch 
welche die Verhinderung der Beteiligung an einer Koalition oder 

28) A. a. O. S. 229. 

19) Vgl. Lotmar, Der Arbeitsvertrag I. 218. Anm. I, sowie derselbe, Der 


unmoralische Vertrag S. 73, Anm. 226. 
20) Vgl. dieses Archiv III. 472. 21) Arbeiterfrage S. 106. 
595 


914 W. Kulemann, 


die Nötigung zum Rücktritt unter Strafe gestellt wird. Auch Adolf 
Weber 22) erklärt es für erforderlich, $ 153 GO. dahin zu erweiten, 
daß auch die Verhinderung am legitimen Gebrauche des Koalition- 
rechts bestraft werde. 

Von großem Interesse sind die gesetzgeberischen Versuche mm 
Schutze des Koalitionsrechts, die in außerdeutschen Lir 
dern unternommen sind. 

Am weitesten fortgeschritten ist in dieser Richtung Austra 
lien und Neu-Seeland. Nach dem australischen conciliation 
and arbitration act vom 15. Dezember 1904 wird mit 20 Pfund Ster- 
ling der Arbeitgeber bestraft, der einen Arbeiter wegen Zugehöng 
keit zu einer Organisation kündigt, sowie ein Arbeiter, der aus diesen 
Grunde seine Stellung bei einem Unternehmer aufgibt ®). Eme 
ähnliche Vorschrift ist in Neu-Seeland durch das Gesetz vom 4. Av 
gust 1908 getroffen ?$). 

In der Schweiz wird nach dem Strafgesetzbuche jede Ver- 
letzung des Koalitionsrechts der Arbeiter durch einen Arbeitgeber 
bestraft 25). Eine gleiche Bestimmung war bereits vorher durch em 
Gesetz des Kantons Solothurn getroffen ®). 

In Frankreich ist ein Antrag Bovier-Lepierre wiederholt 
von der Kammer angenommen, aber bisher stets im Senate abge 
lehnt, der folgenden Wortlaut hat °”): 


»Wer überführt wird, durch Versprechungen oder tatsächlich (voies de 
fait), Drohungen mit Verlust einer Anstellung oder der Arbeitsentziehung die 
Freiheit der Berufsvereinigungen (associations, syndicats professionelles) ge- 
stört oder beschränkt oder sie in der Ausübung ihrer durch das Gesetz vom 
21. März 1884 gewährten Rechte gehindert zu haben, wird mit Gefängnis von 
ı Monat bis zu ı Jahr und Geldstrafe von 100—2000 Fr. bestraft.« 


III. Stellungnahme. 


I. Ausgangspunkt. 


Will man über die Berechtigung dieser Bestrebungen zu einem 
zutreffenden Urteile gelangen, so muß man vor allem sich über die 
Stellung klar werden, die der Staat zu der Organisationstrage ein 
zunehmen hat. In dieser Beziehung sind 4 Stufen zu unterscheiden, 
die nicht allein denkbar sind, sondern auch praktisch in Betracht 
kommen. Der Staat kann nämlich von der Auffassung ausgehen, 
die Organisationen seien: I. schädlich, 2. unschädlich, 3. nützlich, 
4. notwendig. Je nachdem eine diese Ansichten zugrunde gelegt 


mn m nn e 


22) Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit S. 171. 

13) Vgl. Kulemann, Die Berufsvereine VI. 131. 

2) Vgl. a. a. O. VI. 170. 

25) Vgl. dieses Archiv XVI 581. Hippy, Der schweizerische Gewerkschafts- 
bund S. 102. 

26) Vgl. dieses Archiv XVI. 58r. 

37) Vgl. das vom Office du trocaie veröffentlichte Heft; Les associations 
profescionelles onorières. Paris 1899 S. 65. 





Der Schutz des Koalitionsrechts. 915 


wird, muß auch die gesetzgeberische Behandlung sich verschieden 
gestalten. 

Bis zum Jahre 1869 ging die Gesetzgebung in Deutschland davon 
aus, daß die Koalitionen schädlich seien. Diese waren deshalb 
verboten. es 

Indem die Gewerbeordnung einen solchen Standpunkt aufgab, 
vollzog sie im wesentlichen den Schritt von derersten zur zwei- 
ten Stufe, d. h. sie behandelte die Koalitionen als unschädlich 
und bezeichnete sie deshalb als zulässig. Aber damit begnügte sie 
sich ; sie wählte den Standpunkt der Indifferenz. Der Staat erklärte 
den Arbeitern: Wenn ihr euch organisieren wollt, so habe ich nichts 
dagegen einzuwenden, aber ich unterstütze euch dabei nicht, son- 
dern überlasse es euch, ob ihr imstande sein werdet, die entgegen- 
stehenden Hindernisse zu überwinden. Konsequent durchgeführt 
war freilich auch das nicht, denn sonst hätte den von den Arbeitern 
getroffenen Vereinbarungen dieselbe Kraft zugestanden werden 
müssen, wie Verträge sie allgemein besitzen, nämlich die Beteiligten 
zu ihrer Innehaltung zu verpflichten. Indem der $ 152 Abs. 2 ihnen 
diese Wirkung entzog, bekundete der Gesetzgeber, daß er sich nicht 
entschließen konnte, auf seine frühere unfreundliche Auffassung, 
völlig zu verzichten 2). 

Was jetzt von den Arbeitern verlangt wird, bedeutet den Fort- 
schritt zu der dritten Stufe. Der Staat soll freilich den Arbeitern 
freistellen, ob sie sich organisieren wollen, er soll aber, falls sie sich 
dazu entschließen, ihnen dabei insoweit behilflich sein, daß er eins 
der wichtigsten entgegenstehenden Hindernisse beseitigt, nämlich 
den offenen Widerstand der Unternehmer. Allerdings soll ein solcher 
nicht völlig verboten werden, denn es bleibt diesen das Recht, die 
Arbeiterkoalitionen in jeder ihnen gut scheinenden Weise zu be- 
kämpfen, insbesondere mit Hilfe ihrer eigenen Organisationen. Nur 
eineinzelnes Kampfmittel soll ihnen genommen werden, 
indem ihnen untersagt wird, die Beschäftigung der Arbeiter von 
ihrer Beteiligung an einer Organisation abhängig zu machen. 

Der letzte Schritt würde bestehen in dem Uebergange zu der 
vierten Stufe, also darin, daß der Staat die Organisation erzwingt, 
indem er sie selbst in die Hände nimmt. Mit dieser Frage haben 
wir uns hier nicht zu beschäftigen. 

Uns interessiert es nur, ob der Gesetzgeber sich auf die dritte 
Stufe stellen, also den gewünschten Schutz des Koalitionsrechts 
gewähren soll. Das ist davon abhängig, ob er die Organisation nicht 
bloß für unschädlich, sondern für nützlich hält. Im 

ersteren Falle wird er sich damit begnügen, ihr seinerseits keine 


238) Nach dem treffenden Ausspruche von Brentano, den Herkner: Arbei- 
terfrage S. 106 sich zu eigen macht, »zeigt der Gesetzgeber die unliebenswürdige 
Miene des durch die Tatsachen zwar überwundenen, aber innerlich nicht be- 
kehrten Doktrinärs, indem er Preis- und Lohnverabredungen zwar gestattete, 
aber gleichzeitig für unverbindlich erklärte«. 


916 W. Kulemann, 


Schwierigkeiten zu machen, im letzteren wird er darüber hinaus- 
gehen und zu ihren Gunsten eine positive Tätigkeit ausüben. 

Ob das eine oder das andere System Billigung verdient, ist in 
letzter Linie abhängig von der Grundauffassung des sozialen Pro- 
blems, von dessen Erörterung hier abgesehen werden muß. Aber wir 
können die Berechtigung der erhobenen Forderungen auf einem 
andern Wege zeigen, nämlich durch den Hinweis darauf, daß der 
Gesetzgeberselbstsich bereitsaufdiesenStand- 
punkt gestellt hat. Dann erscheint seine bisherige Hal- 
tung als eine einfache Inkonsequenz und Schwäche. 

Dieser Beweis ist zu führen aus den gesetzgeberischen Verhand- 
lungen. 

Besonders wertvoll sind in dieser Beziehung die Ausführungen 
in der Begründung des am r0. Februar 1866, von der preußischen 
Regierung dem Landtage vorgelegten Gesetzentwurfes, der den 
Zweck hatte, die in der Gewerbeordnung von 1845 und dem Gesetze 
vom 24. April 1854 enthaltenen Koalitionsverbote zu beseitigen, 
aber wegen Ausbruches des Krieges nicht zur Erledigung gelangte. 
Es heißt dort: 


»Die Koalitionsverbote erscheinen vom Standpunkte des Rechts als ein 
Ausnahmegesetz. Sie steben nicht im Einklang mit den Prinzipien des Straf- 
rechts und greifen auch ein in das Privatrecht als Ausnahmebestimmungen .. . 
Koalitionsverbote sind gegen Arbeitgeber ohne Bedeutung. Jeder industrielle 
Unternehmer bildet schon für sich seinen Arbeitern gegenüber die planmäßigste, 
konzentrierteste und stetigste Union. Er bedarf der Koalition nicht: schreitet 
er dazu, so kann die Verabredung sich auf wenige Teilnebmer beschränken, 
und vermöge dieses Umstandes und mit Hilfe der Mittel, welche die größere 
Umsicht und das größere Vermögen gewähren, in der Stille eingeleitet und 
durchgeführt werden, ohne daß sie nachweisbar würde .. . In diesem Sinne 
ist es von Wert, daß die Arbeiter in der Vereinigung die Kraft suchen können, 
welche dem Einzelnen abgeht durch die Androhung gemeinschaftlicher Arbeits- 
anstellung .. . Daß das Gesetz für die Arbeitgeber ohne praktische Bedeu- 
tung sei, ist den Arbeitern nicht verborgen. Die Empfindung davon erzeugt 
das Mißverständnis, daß die Beschränkung lediglich zugunsten der Arbeitgeber 
bestehe. .. . Das Mißtrauen, welches mit dem Irrtum verbunden ist, schließt 
zugleich die friedliche Ausgleichung durch rechtzeitige Verständigung aus.« 


Wenn hier ausgesprochen wird, der Unternehmer habe infolge 
seines wirtschaftlichen Uebergewichts schon als Einzelner seine ähn- 
liche Machtstellung, wie die Arbeiter sie nur durch Zusammenschluß 
erreichen könnten, sodaß es lediglich der Gerechtigkeit entspreche, 
ihnen diesen zu ermöglichen, so wird damit offen anerkannt, daß 
die Koalitionen nicht bloß zulässig seien in dem Sinne, daß der 
Staat keine Veranlassung habe, sie zu verbieten, sondern daß sie 
aus den angegebenen Gründen, für nützlich gehalten werden müssen. 

Die Motive zur Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 sind so 
dürftig, daß sie einen Anhaltspunkt zur Entscheidung unserer Frage 
nicht bieten, denn sie beschränken sich darauf, zu erklären, daß den 
Koalitionsbestrebungen der staatliche Schutz vorenthalten bleibe, 


Du nn nun fa 


Der Schutz des Koalitionsrechts. 917 


ohne sich über den hierfür maßgebenden Gesichtspunkt auszu- 
sprechen ??°). 

Jedoch schon bei Beratung des Gesetzes vom I. Juni 189r wur- 
den von der Regierung Erklärungen abgegeben, die einen ähnlichen 
Standpunkt zum Ausdruck brachten, wie in der oben mitgeteilten 
Begründung des preußischen Entwurfes von 1866. Als bei den Kom- 
missionsverhandlungen die beabsichtigte Verschärfung des $ 153 
als eine Schmälerung des Koalitionsrechts der Arbeiter beanstandet 
wurde, erklärte der Regierungsvertreter, Freiherr von Berlepsch, 
daß er seinen Vorschlag als aussichtslos fallen lasse, aber dagegen 
protestiere, daß dieser einen arbeiterfeindlichen Zweck verfolge. 
Er bemerkte: »Ich betone hierbei ausdrücklich, daß die verbündeten 
Regierungen dem Koalitionsrecht der Arbeiter in keiner Weise zu 
nahe treten wollen; sie erkennen dieses gesetzliche Recht nicht nur 
an, sondern sind überzeugt, daß dasselbe nach Lage der Verhältnisse, 
der Arbeiter nicht entbehrt werden kann. 

Noch bestimmter äußerte sich der Reichskanzler bei der Etats- 
beratung im Reichstage am Io. Dezember 1913, indem er sagte: 
»Das Koalitionswesen ist eine "Erscheinung, die bei uns ebenso wie 
in anderen Ländern durch die wirtschaftliche Entwicklung zu einer 
Notwendigkeit, für die Arbeiterschaft wie für das Unter- 
nehmertum geworden ist.« 

Da die Gewerkschaften ohne Koalitionsrecht undenkbar sind, 
so darf man auch eine von dem Regierungsvertreter am 10. Mai 1916 
im Reichstage abgegebene Erklärung hierher rechnen ‚müssen, die 
dahin lautet, daß »die Gewerkschaften sich jetzt im Kriege als no t- 
wendiges Glied unserer ganzen Volkswirtschaft erwiesen haben«. 

Wenn in den beiden letzten Aeußerungen das Koalitionsrecht 
bzw. die Gewerkschaften sogar für notwendig erklärt werden, 
so ist damit um so mehr ihre Nützlichkeit anerkannt. 

Aber ganz offen und zweifellos hat die Regierung sich auf den 
Boden der hier vertretenen Auffassung gestellt in dem am 26. Mai 
1899 dem Reichstage vorgelegten Entwurfe eines »Gesetzes zum 
Schutze des gewerblichen Arbeitsverhältnissese Hier wurde folgen- 
der $ I vorgeschlagen: 

»Wer es unternimmt, durch körperlichen Zwang, Drohung, Ebrverletzung 
oder Verrufserklärang Arbeitgeber oder Arbeitnehmer zur Teilnahme an Ver- 
einigungen oder Verabredungen, die eine Einwirkung auf Arbeits- oder Lohnver- 
hältnissen bezwecken, zu bestimmen oder vonder Teilnahmeansol- 
chen Vereinigungen oder Verabredungen abzuhalten, 
wird mit Gefängnis bis zu I Jahre bestraft.« 

In der Begründung war ausdrücklich gesagt, durch die vorge- 
schlagene Bestimmung solle auch die bei $ 153 GO. streitig gewor- 
dene Frage dahin entschieden werden, daß der Zwang nicht nur 
dann strafbar sei, wenn er von Arbeitern gegen Arbeiter oder von Arbeit- 
gebern gegen Arbeitgeber ausgeübt sei, sondern auch die widerrecht- 
liche Einwirkung von Arbeitnehmern auf Arbeitgeber und umgekehrte. 

t°) Vgl. Motive zu $ 169 der Vorlage S. 29. 


918 © W. Kulemann, 


Damit war also der Forderung Rechnung getragen, daß der 
vom Arbeitgeber unternommene Versuch, Arbeiter zwangsweise an 
der Ausübung ihres Koalitionsrechts zu hindern, verboten und straf- 
bar sein solle. 

Allerdings war der praktische Wert dieser Vorschrift fast völlig 
dadurch vernichtet, daB in $ 4 gesagt war: 


»Eine Verrufserklärung oder Drohung im Sinne der $$ 1—3 liegt nicht vor, 
wenn der Täter eine Handlung vornimmt, zu der er berechtigt ist, insbesondere, 
wenn er befugterweise Arbeits- oder Dienstverhältnis ablehnt, beendigt oder 
kündigt, die Arbeit einstellt, eine Arbeitseinstellung oder Aussperrung fortsetzt 
oder wenn er die Vornahme einer solchen Handlung in Aussicht stellt. e 


Dazu war in der Begründung bemerkt: 


»Steht dem Arbeitgeber die freie Wahl seiner Arbeiter und dem Arbeit- 
nehmer die Entscheidung darüber zu, bei welchem Arbeitgeber, wie lange und 
unter welchen Bedingungen er in ein Arbeits- oder Dienstverhältnis eintreten 
will, so muß es beiden Teilen auch unverwehrt sein, bestehende Arbeits- oder 
Dienstverhältnisse ordnungsmäßig zu beendigen, nach seinem Belieben eine 
Beschäftigung abzulehnen, oder Arbeiter bestimmter Art abzuweisen und der- 
artige ihnen freistehende Willensakte auch für die Zukunft anzukündigen oder 
mit anderen zu vereinbaren. .. . Ebenso wird es den Arbeitgebern nicht zu 
verwehren sein, daß sie sich über die Nichtbeschäftigung gewisser Arbeiter 
untereinander verständigen und sich gegenseitig Verzeichnisse der Personen 
mitteilen, die sie in ihre Betriebe nicht aufnehmen wollen.« 


Das ist ein unrichtiger Gedankengang. Daraus, daß es Arbeitern 
und Arbeitgebern freisteht, ob sie in ein gegenseitiges Veıtragsver- 
hältnis treten wollen, folgt durchaus nicht, daß sie berechtigt wären, 
diese Freiheit zu verwenden, um der Gegenpartei das Koalitionsrecht 
zu rauben. Es gibt sehr viele Handlungen, die als solche erlaubt 
sind, aber strafbar werden, sobald sie in den Dienst eines unerlaubten 
Zweckes gestellt werden. Aber das ist für unsere Frage ohne Bedeu- 
tung, denn das Wesentliche des in der Vorlage enthaltenen Vorschla- 
ges liegt darin, daß der Gesetzgeber den Weg betreten hat, Beein- 
trächtigungen des Koalitionsrechts durch eine Strafandrohung zu 
bekämpfen. — 

Nach der hier geschilderten Entwicklung kann es keinem Zweifel 
unterliegen, daß der Gesetzgeber selbst die Auffassung vertritt, die 
Organisation sei nicht bloß unschädlich sondern nützlich. 
Dann aber ist es auch seine Aufgabe, sie gegen äußere Hindernisse 
insoweit zu schützen, wie ein solcher Schutz nach den gegebenen 
Umständen als notwendig erscheint. Darüber, ob diese Voraus- 
setzung zutrifft, kann man streiten. Man kann insbesondere die 
Ansicht haben, daß die Gewerkschaften aus eigener Kraft imstande 
seien, sich Anerkennung zu verschaffen. Ist das der Fall, so soll der 
Staat nicht eingreifen, denn, wo die Selbsthilfe ausreicht, ist sie 
stets der Staatshilfe vorzuziehen. Aber in dieser Beziehung liegen 
die Verhältnise in den einzelnen Ländern verschieden. Wenn die 
aufgeworfene Frage für England, wie es scheint, bejaht werden darf, 
so ist das ohne Bedeutung für Deutschland, und wenn hier, wie wir 


Der Schutz des Koalitionstechts. 919 


sehen, alle gewerkschaítlichen Richtungen in der Forderung nach 
staatlichem Schutze einig sind, und zwar selbst solche, die unter 
dem Einfluß der Sozialdemokratie stehen und deshalb einer Macht- 
erweiterung der Behörden durchaus abgeneigt sind, so spricht das 
in hohem Maße dafür, daß der Selbstschutz bei der heutigen Entwick- 
lung der Gewerkschaftsbewegung nicht imstande ist, das Koalitions- 
recht gegen Beeinträchtigung durch die Arbeitgeber zu sichern. Das 
wird auch durch die Beobachtung der tatsächlichen Verhältnisse 
bestätigt, und so ist die Notwendigkeit eines gesetzlichen Schutzes 
als gegeben anzusehen. 


2. Zivilrechtund Strafrecht. 


Für den gesetzlichen Schutz des Koalitionsrechts bieten sich 
zwei Wege, nämlich der zivilrechtliche und der straf- 
rechtliche. 

Den ersteren wollen diejenigen einschlagen, die von der Ge- 
setzgebung fordern, sie solle Verabredungen und Vereinbarungen 
der Arbeitgeber, die sich gegen das Koalitionsrecht richtet, für u n- 
wirksam erklären. Aber dieser Standpunkt zeigt ein recht ge- 
ringes Verständnis dessen, worum es sich handelt. Wir stoßen hier 
auf denselben Gesichtspunkt, dem es entsprungen ist, daß § 152 
Abs. 2 GO. den Koalitionsverabredungen die rechtliche Wirksam- 
keit entzogen hat, nämlich daß die Arbeiter gegen einen Zwang zum 
Beitritt geschützt werden müßten. Der Zwang, den man im Auge 
hat, liegt gar nicht auf dem Gebiete des Rechts, sondern auf dem 
der tatsächlichen Verhältnisse. Was man zu verhindern 
beabsichtigt ist nicht, daß Arbeiter, die durch einen tadelnswerten 
Druck zur Uebernahme einer Verpflichtung gezwungen sind, an die- 
ser mit den Mitteln des Rechtsverfahrens festgehalten werden, son- 
dern, daß sie gewisse Schädigungen zu befürchten haben, wenn sie 
sich weigern, an der Beschließung und Durchführung einer Arbeits- 
einstellung sich zu beteiligen. Tun sie dies, so droht ihnen nicht 
etwa ein Prozeß seitens der Streikenden, um sie zur Innehaltung 
der erzwungenen Verabredung anzuhalten oder Schadenersatz zu 
fordern, sondern sie werden beschimpft, mißachtet, kurz verfehmt 
unter Anwendung von Mitteln, die völlig außerhalb des rechtlichen 
Gebietes liegen. Dann aber ist offenbar, die Ungültigkeitserklärung 
der erzwungenen Verabredungen ein durchaus untaugliches Mittel, um 
den beabsichtigten Erfolg herbeizuführen. Der Vorwurf, den man 
den Verteidigern der angegriffenen Bestimmung zu machen bat, geht 
also gar nicht dahin, daß sie sich ein nicht zu billigendes Z ie l steck- 
ten, sondern dahin, daß sie nicht ausreichend überlegt haben, in 
welcher Weise dieses Ziel seiner Natur nach erreicht werden 
kann. Ihr Fehler liegt nicht auf dem Gebiete des Wollens, sondern 
auf dem des Denkens. 

Aber alles, was hier über den Schutz gegen Terrorismus seitens 
der Arbeiter gesagt ist, gilt auch für den Schutz gegen die Arbeit- 
geber. Nicht das schädigt die Arbeiter, daß jene gegen das Koali- 


920 W. Kulemann, 


tionsrecht gerichtete Vereinbarungen treffen, sondern, daß sie 
diese zur Durchführung bringen, und hiergegen schützt 
keine Ungültigkeitserklärung. 

Wollte man das Ziel auf dem Wege des Zivilrechts erreichen, 
so müßte man sich schon zu einem wesentlich tiefer greifenden Schritte 
entschließen, nämlich die jetzige Befugnis des Unternehmers auf- 
heben, seine Arbeiter nach seinem Belieben zu entlassen. Ob es Fälle 
gibt, in denen man so weit gehen soll, ist hier nicht zu untersuchen. 
Als allgemeine Rechtsvorschrift ist eine solche Maßregel jedenfalls 
solange unmöglich, wie man überhaupt an der privatrechtlichen 
Form des Arbeitsverhältnisses festhält. 

Hiernach bleibt nur der Weg des Strafrechts, und es ist 
in der Tat nicht einzusehen, weshalb man ihn grundsätzlich ablehnen 
sollte. Diejenigen, die es tun, haben auch bisher durchaus darauf 
verzichtet, für ihren Standpunkt Gründe anzugeben, sondern haben 
sich auf die allgemeine Warnung beschränkt, man solle nicht snach 
dem Staatsanwalt rufen« Das ist eine inhaltlose Phrase, die in nichts 
zerfällt, sobald man versucht, in ihr einen verständlichen Sinn zu 
finden. Ob man überhaupt den Staat um Schutz angehen soll, ist 
freilich eine sehr wichtige und sehr berechtigte Frage, die wir bereits 
in dem Sinne beantwortet haben, daß der Selbstschutz grundsätzlich 
den Vorzug verdiene. Ist man aber der Ansicht, daß er nicht aus- 
reicht — und diese Auffassung haben auch diejenigen, die eine gesetz- 
liche Ungültigkeitserklärung fordern — so ist nicht einzusehen, wes- 
halb der strafrechtliche Weg anstößiger sein sollte, als der zivilrecht- 
liche. 

Nach dem Gesagten kommt als Schutzmittel ausschließlich das 
Strafrecht in Betracht, wie denn auch nach dem oben Mitge- 
teilten diejenigen, die überhaupt das Eingreifen der Gesetzgebung 
für notwendig halten, in ihrer überwiegenden Mehrheit sich für den 
strafrechtlichen Weg entschieden haben und auch der Bundesrat mit 
seiner Vorlage vom 26. Mai 1899 sich auf denselben Boden gestellt hat. 


3. Das Ziel. 


Versuchen wir nach Erledigung dieser Vorfragen der Lösung 
des Problems näher zu treten, so ist es erforderliclt, vor allem das 
Ziel, das erreicht werden soll, genauer zu bestimmen. 

Dabei handelt es sich zunächst um eine Umgrenzung der Aufgabe. 
Die bisherigen Einrichtungen und Versuche beschränkten sich, wie 
wir sahen, im wesentlichen auf das Koalitionsrecht in en gerem 
` Sinne, d. h. auf die Befugnis der Arbeiter, durch gemeinsame Tätig- 
keit auf eine ihnen günstige Gestaltung des Arbeitsverhältnisses 
hinzuwirken. Aber wir haben bereits mehrfach darauf hingewiesen, 
daß sie daneben mit Recht sich darüber beklagen, daß die Arbeit- 
geber die in ihren Händen liegende wirtschaftliche Macht auch dazu 
benutzen, den Arbeitern die Ausübung ihrer politischen Rechte 
zu erschweren, indem sie ihnen die Mitgliedschaft an Parteiorgani- 
sationen, die Teilnahme an Versammlungen, den Besuch gewisser 


Der Schutz des Koalitionsrechts. 921 


Lokale, das Halten bestimmter Blätter und dergl. bei Strafe der 
Entlassung verbieten. Es ist kein Grund abzusehen, weshalb man 
diese beiden Arten der Freiheitsbeschränkung verschieden behan- 
deln sollte. Allerdings bezweckt die eine, die Erlangung wirtschaft- 
licher Vorteile, während die andere auf dem Gebiete ideeller Inte- 
ressen liegt. Aber das ändert nichts daran, daß beide nicht allein 
in gleichem Maße verwerflich sind, indem sie darauf ausgehen, ein 
gesetzlich gewährtes Recht illusorisch zu machen, sondern daß auch 
der rechtswidrige Zweck durch dasselbe Mittel verfolgt wird. 

Ja gerade auf dem ideellen Gebiete finden wir in der bestehenden 
Gesetzgebung bereits wertvolle Ansätze zur strafrechtlichen Verhin- 
derung von Eingriffen in die vom Staate gewährten Rechte und des- 
halb eine Unterstützung des hier vertretenen Standpunktes. Nach 
$ 107 des StrGB. wird derjenige bestraft, der »veinen Deutschen 
durch Gewalt oder durch Bedrohung mit einer strafbaren Handlung 
verhindert, in Ausübung seiner staatsbürgerlichen Rechte zu wählen 
oder zu stimmen«e Der $ 167 StrGB. enthält eine Strafdrohung 
gegen denjenigen, der »durch eine Tätigkeit oder Drohung jemand 
hindert, den Gottesdienst einer im Staate bestehenden Religions- 
gesellschaft auszuüben«. Vielleicht kann man auch die in 239 StrGB. 
behandelte Freiheitsberaubung unter denselben Gesichtspunkt stellen. 
In allen diesen Bestimmungen, mögen sie das Wahlrecht, die Reli- 
gionsübung oder das allgemeine Recht auf Freiheit betreffen, wird 
man den Ausdruck des Grundgedankens finden müssen, daß Befug- 
nisse, die den Staatsbürgern im öffentlichen Interesse gegeben sind, 
ihnen nicht durch Eingriffe Anderer geschmälert werden dürfen. 
Es entspricht nur diesem von dem Gesetzgeber bereits heute einge- 
nommenen Standpunkte, auch die Beeinträchtigung des Koalitions- 
rechts im weiteren Sinne unter den gleichen Schutz zu stellen, 
denn daß bei dessen Gewährung nicht etwa lediglich das Interesse 
der unmittelbar Beteiligten, insbesondere also der Arbeiter, für den 
Gesetzgeber bestimmend war, sondern vielmehr seine Auffassung 
über das Wohlbefinden der Gesamtheit, dürfte kaum bestritten 
werden. 

Der hier verfolgte Zweck würde am vollständigsten erreicht 
werden durch eine ganz allgemeine Strafvorschrift gegen denjenigen 
Arbeitgeber, der in Ausübung seiner gewerblichen Tätigkeit einen 
Arbeiter aus dem Grunde ungünstiger als andere behandelt, weil 
dieser an einer Verabredung oder Vereinigung beteiligt ist, die eine 
Einwirkung auf das Arbeitsverhältnis bezweckt oder weil er sich 
politisch betätigt. Dadurch würde insbesondere auch der Fall ge- 
troffen werden, daß ein Arbeitgeber organisierte oder im Sinne der 
Sozialdemokratie tätige Arbeiter grundsätzlich nicht in Arbeit nähme. 

Aber soweit wird man nicht gehen dürfen. Zunächst spricht 
dagegen die Erwägung, daß es schwer sein würde, nachzuweisen, 
daß die Nichtbeschäftigung eines Arbeiters auf die bezeichnete Ab- 
sicht zurückzuführen ist. Aber auch abgesehen hiervon ist es ein 
allgemeiner Grundsatz des Strafrechts,“nach dem inneren Motive 


922 W. Kulemann, 


einer Handlung nicht zu fragen oder dieses wenigstens nicht zu einem 
Tatbestandsmomente zu erheben. Endlich wird man, wie schon 
bemerkt, unter der Herrschaft der privaten Produktion dem Unter- 
nehmer die Freiheit in der Auswahl seines Personals nicht beschrän- 
ken können. 

Muß man davon absehen, den Unternehmer zu bestrafen, wenn 
er sich weigert mit bestimmten Personen einen Arbeitsvertrag ab z u- 
schließen, so muß dasselbe gelten für dessen Auflösung. 
Auch wenn anzunehmen ist, daß die Entlassung eines Arbeiters ledig- 
lich deshalb geschieht, weil der Entlassene aus den mehrfach erörter- 
ten Gründen dem Arbeitgeber mißliebig ist oder wenn der letztere 
dieses Motiv offen zugibt, würde ein staatliches Eingreifen nicht 
gerechtfertigt sein. 

Die Grenze, innerhalb welcher dem Arbeitgeber die Betätigung 
seiner Abneigung gegen das Koalitionsrecht seiner Arbeiter erlaubt 
sein muß, wird erst überschritten, wenn er seine wirtschaftliche Macht 
dazu gebraucht, deren Willensentschließungen nicht lediglich m i t- 
telbar, wie unter den bisher erörterten Annahmen, sondern 
unmittelbar in der Weise zu beeinflussen, daß er ihnen für 
den Fall einer Betätigung ihrer gesetzlichen Befugnisse in einem 
bestimmten Sinne die Entlassung in Aussicht stellt. Wenn in der 
oben angeführten Begründung des Gesetzentwurfes vom 26. Mai 1899 
gesagt war, aus dem Rechte des Arbeitgebers, Arbeiter aus beliebigen 
Motiven nicht zu beschäftigen oder zu entlassen, ergebe sich von 
selbst dessen Befugnis, solche »ihm freistehende Willensakte auch 
für die Zukunft anzukündigene, so ist das nur in sehr eingeschränk- 
tem Maße richtig. Allerdings ist es im allgemeinen niemandem ver- 
wehrt, die Absicht, eine bestimmte Handlung vorzunehmen, bereits 
im voraus auszusprechen, aber diese Regel erleidet eine Ausnahme, 
wenn der Zweck, der mit der Ankündigung erreicht werden soll, 
rechtlich unzulässig ist. Das aber liegt vor, wenn seine Einwirkung 
auf dem Willen eines anderen in einem vom Gesetze mißbilligten 
Sinne beabsichtigt wird. Daß der Gesetzgeber auf diesem Stand- 
punkte steht, beweist der $ 240 StrGB., nach dem wegen Nötigung 
derjenige bestraft wird, der durch Drohung einen Anderen zur Vor- 
nahme einer positiven oder negativen Handlung zu bestimmen sucht, 
wobei unter Drohung jedes in Aussichtstellen eines Uebels verstanden 
wird, auch wenn die angedrohte Tätigkeit durchaus erlaubt ist. 

Es liegt aber auch auf der Hand, daß es völlig verschiedene 
Dinge sind, ob ein Arbeitgeber zu einem bisher von ihm beschäftig- 
ten Arbeiter sagt: »Ich entlasse dich, weil du einer Gewerkschaft 
angehörste oder ob er ihm erklärt: »Ich werde dich entlassen, wenn 
du einer Gewerkschaft beitrittst.«e Im ersteren Falle trägt seine 
Handlung einen repressiven, im letzteren einen präventiven 
Charakter. Nun sind freilich die Kriminalisten darüber einig, daß 
die staatliche Strafe die beiden hier bezeichneten Zwecke gleichzeitig 
verfolgt, aber das ist doch eine ungenaue Ausdrucksweise, denn es 
muß zwischen der Androhung und der Verhängung einer 


Der Schutz des Koalitionsrechts. 023 


Strafe unterschieden werden. Die erstere wirkt präventiv, die letztere 
repressiv. 

Das Gesagte betrifft zunächst nur den Fall, daß ein Arbei- 
ter von dem Beitritte zu einer Gewerkschaft zurückgehal- 
ten werden soll, aber es gilt auch dann, wenn der Arbeiter 
bereits organisiert ist und zum Austritt gezwungen werden soll. 
Dann ist freilich der Ausdruck »präventive nicht mehr am Platze, 
aber es soll immerhin eine Handlung des Arbeiters veranlaßt werden. 
Zwischen diesem Falle und dem andern, in dem die Entlassung aus- 
gesprochen wird, weil der Arbeiter sich mit dem Wunsche des 
Arbeitgebers in Widerspruch gesetzt hat, besteht deshalb derselbe 
Unterschied, den wir bereits betont haben, daß nämlich eine Ein- 
wirkung auf die Zukunft bezweckt wird, während dort lediglich 
aus der Vergangenheit ein Motiv des Handelns entnommen 
wird. 

Hiernach ist also derjenige Arbeitgeber zu bestrafen, der seine 
Arbeiter in ihrem Koalitionsrechte dadurch beschränkt, daß er ihnen 
für den Fall der Ausübung die Entlassung aus der Beschäftigung 
in Aussicht stellt. 

Aber damit würde die Aufgabe erst zur Hälfte gelöst sein. Bis- 
her haben wir die Tätigkeit des einzelnen Arbeitgebers erörtert: 
es bleibt noch zu prüfen, ob das Gesagte auch da zutrifft, wo viele 
von ihnen zusammenwirken, also auch für deren Organisa- 
tionen. 

Man könnte versucht sein, den Satz aufzustellen, daß dasjenige, 
was ein Mensch für sich allein tun darf, nicht unerlaubt sein dürfe, 
wenn mehrere es gemeinsam tun. Die bereits erwähnte Begründung 
des Gesetzentwurfes vom 26. Mai 189g stellte sich in der Tat auf 
diesen Standpunkt, wenn sie bemerkte, da der Arbeitgeber das Recht 
habe, aus beliebigen Gründen Arbeiter einer bestimmten Art abzu- 
lehnen, so müsse es ihm auch freistehen, dies mit Andern zu verein- 
baren. Auch die Arbeiter haben gelegentlich, wo es in ihrem Interesse 
lag, sich denselben Gedankengang zu eigen gemacht. Insbesondere 
haben die englischen Gewerkschaften ihren langjährigen Kampf um 
die gesetzliche Regelung ihrer Rechtsstellung auf dem Axiom auf- 
gebaut, keine Handlung einer Arbeiterorganisation dürfe unter 
Strafe gestellt werden, die nicht strafbar sei, wenn sie von einem 
einzelnen Arbeiter vorgenommen werde. 

Aber mag die eine oder die andere der beiden Parteien einen 
solchen Satz aufstellen, so ist er nichtsdestoweniger falsch. Er beruht 
auf derselben doktrinären Kurzsichtigkeit, deren sich das alte Manclıe- 
stertum schuldig machte, wenn es glaubte, allen berechtigten Forde- 
rungen dadurch Genüge geleistet zu haben, daß es Arbeiter und 
Unternehmer auf den gleichen Boden einer formalen Freiheit und 
Rechtsgleichheit stelle, ohne zu überlegen, daß für das beiderseitige 
Verhältnis neben der Gesetzgebung auch noch die wirtschaftlichen 
Faktoren in Betracht kommen. Beging die Manchestertheorie den 
Fehler, daß sie gewissermaßen ein Bauwerk ohne Rücksicht auf die 


924 W. Kulemann, 


Schwerkraft und die sonstigen physikalischen Eigenschaften des 
verwendeten Baumaterials aufführen wollte, so sind in ganz ähn- 
licher Lage diejenigen, die den Umstand außer Betracht lassen, daß 
eine Organisation für das reale Leben eine ganz andere Bedeutung 
hat, als ein Einzelner. 

Um sich von dem Gesagten zu überzeugen, braucht man nur 
einen Fall als bereits eingetreten vorauszusetzen, der es freilich heute 
noch nicht ist, der aber der Verwirklichung bereits ziemlich nahe 
gerückt ist, nämlich die Durchführung der Organisation der Arbeit- 
geber in dem Umfange, daß sie annähernd vollständig wäre, daß es 
also kaum mehr Unternehmer gäbe, die nicht der Organisation ihres 
Gewerbes angehörten. Wäre das eingetreten, so würde der 
eines solchen Arbeitgeberverbandes, organisierte Arbeiter aller oder 
einer bestimmten Art nicht zu beschäftigen, nichts anderes bedeuten, 
als allen in den gezogenen Kreis fallenden Arbeitern das Koalitions- 
recht zu entziehen, da ihnen bei dessen Ausübung jede Arbeitsgelegen- 
heit verschlossen wäre. 

Nun ist freilich, wie bemerkt, dieser Zustand noch nicht erreicht, 
aber immerhin ist die Organisation der Arbeitgeber bereits soweit 
fortgeschritten, daß der Beschluß eines Verbandes, gewisse Arbeiter 
von den Betrieben der Mitglieder auszuschließen, diese Arbeiter weit- 
gehend brotlos macht. Stützt sich eine derartige Maßregel darauf, 
daß die Arbeiter einer Vereinigung angehören, die eine Einwirkung 
auf das Arbeitsverhältnis bezweckt, oder daß sie sich in bestimmter 
Weise politisch betätigen, so bedeutet sie eine tatsächliche Hinfällig- 
machung des Koalitionsrechts, die aus den oben erörterten Gründen 
auf strafrechtlichem Wege bekämpft werden muß. — 

Das Ergebnis, zu dem wir gelangt sind, besteht also darin, daß 
es zwei Fälle der Beeinträchtigung des Koalitionsrechts der Arbeiter 
durch die Unternehmer gibt, in denen das Strafrecht einzugreifen 
hat. Der eine ist die Androhung der Entlassung zu dem Zwecke, 
den Arbeiter an der Ausübung seines Rechts zu hindern. Derandert 
liegt dann vor, wenn mehrere Unternehmer sich verabreden, Arbeitet 
aus dem Grunde nicht zu beschäftigen, weil sie von ihrem Koalitions- 
rechte Gebrauch machen oder gemacht haben. 


4. Parität. 


Daß das Koalitionsrecht den Arbeitgebern in demselben Maße 
zusteht, wie den Arbeiter, wird allseitig anerkannt und bedarf keiner 
Begründung. Wenn daraus hergeleitet wird, daß auch hinsichtlich 
des streitigen Schutzes beide Teile gleichzustellen seien, so erscheint 
das auf den ersten Blick als selbstverständlich, aber bei nähere! 
Ueberlegung zeigt sich, daß es doch nur mit gewissen Beschränkun- 
gen als richtig anerkannt werden kann. Sie beruhen auf zwei von- 
einander unabhängigen Gesichtspunkten. 

Der erste ist folgender: Wenn es in der Bibel heißt, daß nicht 
der Gesunde sondern nur der Kranke des Arztes bedürfe, so 
man mit demselben Rechte sagen dürfen, daß der staatliche Schutz 











Der Schutz des Koalitionsrechts. 925 


nur für den Schwachen und nicht für den Starken erforderlich ist, 
also nur für denjenigen, dessen Eigenkraft nicht ausreicht, um Un- 
recht von ihm abzuwenden. Auch hier müssen wir an den Irrtum des 
Manchestertums erinnern, eine formale oder ideelle Freiheit mit 
einer materiellen und realen zu verwechseln. Der Fehler ist logischer 
Art: er besteht darin, ungleiche Dinge mit gleichem Maße zu messen 
und in gleicher Weise zu behandeln. 

Darüber, daß der einzelne Arbeiter gegenüber dem einzelnen 
Arbeitgeber der schwächere Teil ist, besteht kein Streit. Dieselbe 
Macht, die von den Arbeitern erst durch Vereinigung errungen wer- 
den kann, ist bei demjenigen, der tausende von Arbeitern beschäftigt, 
schon dann vorhanden, wenn er lediglich auf sich selbst gestellt ist. 
Es trifft völlig zu, wenn die oben erwähnte Begründung des preuß- 
ischen Gesetzentwurfs vom Io. Februar 1866 sagte, der einzelne 
Unternehmer sei schon für sich allein die festeste Organisation. 

Außerdem muß man sich stets vor Augen halten, daß die un- 
gleiche Machtstellung von Arbeitern und Arbeitgebern nicht in unab- 
änderlichen Verhältnissen, also in der Naturordnung, begründet ist, 
sondern daß sie die kapitalistische Form der Produktion und das 
Lohnsystem zur Voraussetzung hat, also auf menschlicher Willkür 
beruht. Es ist hier nicht der Ort, nachzuweisen, daß diese Einrich- 
tungenTungeachtet der von sozialistischer Seite gegen sie erhobenen 
Einwendungen grundsätzlich aufrecht erhalten werden müssen, da 
die Abwägung ihrer Vorzüge und ihrer Nachteile die ersteren als die 
größeren erscheinen läßt. Aber das gilt nur solange, wie dieses Wert- 
verhältnis besteht, und das Urteil ist deshalb davon abhängig, wie 
die Tatsachen unter der Herrschaft des heutigen Systems sich gestal- 
ten. Wer dieses aufrecht erhalten will, hat ein dringendes Interesse 
daran, dessen Mängel tunlichst zu vermindern. Jedenfalls bedeutet 
es einen wichtigen Unterschied in der Stellung von Arbeitern und 
Arbeitgebern, daß die ersteren in einem Arbeitskampfe nur von ihrem 
natürlichen Rechte Gebrauch machen und nur dieses durch ihre 
Organisation zur Geltung zu bringen suchen, während die letzteren 
eine ihnen durch das bestehende System verliehenen Macht ausüben 
und sich bemühen, sie durch ihren Zusammenschluß noch weiter zu 
steigern. Die Schutzlosigkeit des Arbeiters beruht darauf, daß er 
ohne Mitwirkung eines Kapitalbesitzes außerstande ist, seine Arbeits- 
kraft zu verwerten. Deshalb hat das Koalitionsrecht, das dazu dient, 
ihm einen Schutz zu gewähren, bei ihm eine andere prinzipielle Be- 
deutung als bei dem Unternehmer. 

Hierin liegt auch die Erklärung dafür, daß die Arbeiter ein sehr 
viel größeres Interesse an dem Koalitionsrechte und dessen unge- 
hinderten Ausübung haben und deshalb viel energischer für dessen 
Schutz kämpfen, als die Arbeitgeber. Eine Parität, die nicht schema- 
tisch sein, sondern der wahren Gerechtigkeit entsprechen will, darf 
das alles nicht unberücksichtigt lassen. 

Endlich kommt für unsere Frage noch ein letzter Gesichtspunkt 
in Betracht. So erbittert der Kampf der Unternehmer gegen die 


926 W. Kulemann, 


Koalitionen der Arbeiter geführt wird, so wenig hat man bisher 
davon’ gehört, daß die letzteren versucht hätten, den Organisations- 
bestrebungen der ersteren entgegenzutreten. Zweifellos hat das 
seinen Grund in den bereits erörterten Umständen und deshalb darin, 
daß die Arbeiter daran interessiert sind, den Organisationsgedanken 
als solchen zu vertreten, was sie hindern muß, ihn selbst dann zu 
bekämpfen, wenn er zu ihrem Nachteil verwertet wird. Dieser Tat- 
sache muß der Gesetzgeber Rechnung tragen. Es gilt mit Recht 
als fester Grundsatz, daß Gesetze nicht sauf Vorrate gemacht werden 
sollen, d. h. daß man davon abzusehen hat, Verhältnisse zu regeln, 
die gar nicht gegeben sind und Gefahren vorzubeugen, die nicht 
real existieren, sondern nur mit dem Verstande konstruiert werden 
können. Dann aber hat es keinen Sinn, den Unternehmern einen 
Schutz anzubieten, dessen sie gar nicht bedürfen. Wenn unsere 
Gesetze sich stets ängstlich bemühen, eine Fassung zu wählen, bei 
der formell Arbeiter und Arbeitgeber umfaßt werden, während man 
sehr wohl weiß, daß nur eine dieser beiden Gruppen tatsächlich in 
Betracht kommt, so ist das, wenn nicht eine bewußte Heuchelei, 
so doch mindestens ein törichter Schematismus. — 

Mehr Beachtung scheint ein Einwand gegen den strafrecht- 
lichen Schutz des Koalitionsrechts zu verdienen, der gelegentlich 
in der Literatur sowie bei öffentlichen Besprechungen des Themas 
geltend gemacht ist und ebenfalls mit der Paritätsforderung argu- 
mentiert. Dieser Einwand wird freilich ganz überwiegend von den 
einseitigen Vertretern der Arbeitgeberinteressen erhoben 3°), hat aber 
vereinzelt auch auf arbeiterfreundlicher Seite Zustimmung gefun- 
den 3). 

Man beruft sich darauf, daß die von Arbeitern gegen mißliebige 
Unternehmer verhängten Sperren und Boykotts mit den beanstande- 
ten Maßregeln der Arbeitgeber auf dieselbe Stufe gestellt werden 
müßten, da sie den Zweck verfolgten, diesen die Ausübung ihres 
Gewerbebetriebes unmöglich zu machen oder eine bestimmte Unter- 


30) Er spielt eine Hauptrolle in der anonym erschienenen, aber wohl von 
dem Arbeitgeberverbande Hamburg-Altona ausgegangenen Schrift: »Koali- 
tionsrecht; verfaßt von V. S. Hamburg, Verlag von Schröder und Jeve. 

31) So äußert W. Zimmermann, der Mitherausgeber der »Sozialen Praxise 
in Nr. 25 der sIndustriebeamtenzeitung« Jahrgang 1909 über den oben erwähn- 
ten von dem Verbande deutscher Handlungsgehilfen gemachten Vorschlag: 
»Alle die oben erwähnten Vorschläge zur Ergänzung des $ 153 GO. sind rechts- 
politisch und rechtstechnisch unmöglich, denn einmal stellt es sich als ein ein- 
seitiges Ausnahmegesetz gegen die Arbeitgeber dar, denen die Maßregelung 
organisierter Arbeiter unmöglich gemacht werden soll: während die Maßrege- 
lung organisierter Arbeitgeber durch die Arbeiter, d. h. die Bekämpfung wider- 
sprechender Arbeitgeber, die durch einen Verbandsbeschluß von der Bewilligung 
der Gewerkschaftsforderungen abgehalten werden, in den Vorschlägen nicht 
berückschtigt ist. Dieses rechtspolitisch notwendige Gegenstück für die gemaß- 
regelten Arbeiter zuzuschnüren, möchte sich wohl kein praktischer Gewerk- 
schaftskenner bestreben, denn er würde dabei leicht der Arbeiterorganisation 
selbst den Hals abschneiden«s. 


Der Schutz des Koalitionsrechts. 927 


nehmerorganisation zu bekämpfen. Deshalb würden Strafvorschrif- 
ten, wie man sie im Auge habe, wenn man nicht den Grundsatz der 
Parität verletzen wolle, auch diese Kampfmittel der Arbeiter unmög- 
lich machen, so daß die letzteren gegen ihr eigenes Interesse handel- 
ten, wenn sie derartige Forderungen erhöben. 

Bei diesem Gedankengange übersieht man einen sehr wichtigen 
Umstand. Kampfmittel, die von Arbeitern gegen Arbeitgeber oder 
umgekehrt von diesen gegen jene angewandt werden, sind völlig 
verschieden zu beurteilen, je nachdem dies geschieht, um das Organi- 
sationsrecht des Gegners allgemein und in seinem ganzen Um- 
fange zu beeinträchtigen, oder lediglich im Rahmen eines ein ze l- 
nen kongreten Streites in der Absicht, diesen zugunsten 
desjenigen zu beeinflussen, der sich ihrer bedient. 

Um sich die Tragweite dieses Unterschiedes klar zu machen, 
braucht man nur den parallelen Fall eines Krieges zwischen zwei 
Staaten zur Vergleichung heranzuziehen. Ein solcher kann ent- 
weder das Ziel. verfolgen, den Gegner völlig zu vernichten, sein Ge- 
biet zu erobern und dauernd mit dem eigenen zu vereinigen, oder er 
kann sich darauf beschränken, eine einzelne Forderung durchzu- 
setzen. Ist das letztere der Fall, so wird der siegreiche Staat, selbst 
wenn der erfolgreich geführte Kampf es ihm gestattet, nicht weiter 
gehen, als sein Zweck es gebietet, und es wird sein Wunsch sein, nach 
beendigtem Kriege wieder ein gegenseitiges befriedigendes Verhält- 
nis herzustellen. 

In gleicher Weise kann ein Kampf zwischen Arbeitern und Ar- 
beitgebern entweder das Ziel verfolgen, die Organisation des Gegners 
zu zerstören, oder er kann lediglich deshalb unternommen werden, 
um diesen zu gewissen Zugeständnissen zu zwingen. Es liegt auf der 
Hand, daß beide Fälle nicht auf dieselbe Stufe gestellt werden können. 
Das erstere Ziel verstößt nicht nur gegen das Interesse der Gesamt- 
heit sondern auch gegen die schon bisher von dem Gesetzgeber zum 
"Ausdruck gebrachte Auffassung und muß deshalb verhindert wer- 
den; das zweite fällt außerhalb dieses Gesichtspunktes und hat von 
staatlichen Eingriffen unberührt zu bleiben. 

Stellt man sich auf diesen Boden und berücksichtigt die her- 
vorgehobene Verschiedenheit, so fällt der geltend gemachte Einwand 
offenbar in sich zusammen. Das, was nach den obigen Ausführungen 
auf Seiten der Arbeitgeber verboten und unter Strafe gestellt werden 
soll, ist nicht die Einsetzung der durch Vereinigung gesteigerten 
Macht zu siegreicher Durchführung eines einzelnen Arbeitskampfes, 
sondern lediglich ein Vorgehen, das darauf gerichtet ist, den Arbei- 
tern die Ausübung ihres Koalitionsrechts überhaupt unmöglich zu 
machen. Einer gleichen Maßregel gegen die Arbeiter bedarf es nicht, 
da, wie bereits erwähnt, diese noch niemals daran gedacht haben, 
die Arbeitgeber an ihrer Organisation zu hindern. Hielte man es 
aber wirklich für wünschenswert, im Interesse einer formalen Parität 
eine Vorschrift, wie sie gegen die Arbeitgeber gefordert wird, auch 

Archiv für Sosialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 3. 60 


928 W. Kulemann, 


gegen die Arbeiter zu treffen, so müßte sie so gefaßt sein, daß sie 
sich nur auf Bestrebungen dieses Inhaltes bezöge. -- 

Von besonderer Bedeutung wird die behandelte Frage bei den 
sog. schwarzen Listen. Man versteht darunter Verzeichnisse 
von Arbeitern, deren Nichtbeschäftigung den betreffenden Unter- 
nehmern empfohlen wird, und zwar entweder in dem Sinne, daß es 
deren Ermessen überlassen bleibt, ob sie diese Empfehlung berück- 
sichtigen wollen, oder in Ausführung einer vorher getroffenen Ver- 
abredung, die den Beteiligten dies zur Pflicht macht. Haben diese 
Listen nur den hervorgehobenen Zweck eines Kampfmitteis zur 
erfolgreichen Erledigung eines bestimmten Streitfalles, so steht ihrer 
Anwendung nichts entgegen. Ist dagegen beabsichtigt, daß die in 
sie aufgenommenen Arbeiter auch nach Beendigung des Kampfes 
oder gar für immer von der Beschäftigung ausgeschlossen werden 
sollen, so fallen sie unter das zu erlassene Verbot. 


5. Ergebnis. 


Das Ergebnis, zu dem wir bei den bisherigen Untersuchungen 
gelangt sind, läßt sich in folgenden Sätzen zusammenfassen: 

I. Die Arbeitgeber sind überwiegend darauf bedacht, den Ar- 
beitern das diesen gesetzlich gewährte Koalitionsrecht tatsächlich 
dadurch zu entziehen, daß sie denjenigen Arbeitern, die es in einer 
bestimmten Weise ausüben, die Beschäftigung versagen. 

2. Ein solches Verfahren muß staatlicherseits verhindert wer- 
den. 

3. Von den beiden in Betracht kommenden Wegen, der zivilrecht- 
lichen Ungültigkeitserklärung und der Bedrohung mit Strafe, ist 
nur der zweite gangbar. 

4. Die koalitionsfeindlichen Handlungen der einzelnen Ar- 
beitgeber sind nur insoweit unter Strafe zu stellen, wie sie darin be- 
stehen durch Androhung der Entlassung auf den Arbeiter einen 
Zwang auszuüben. 

5. Gegen eine auf Beeinträchtigung des Koalitionsrechts gerich- 
tete gemeinsame Tätigkeit mehrerer Arbeitgeber ist auch dann 
einzuschreiten, wenn sie auf einem bewußten und gewollten Zusam- 
menwirken, insbesondere auf einer ausdrücklichen Verabredung 
beruht. 

6. Das Verbot hat sich zu beschränken auf soiche Bestrebungen. 
die sich gegen das Koalitionsrecht als solches richten. 
Unberührt bleiben deshalb Maßregeln, die ergriffen werden inner- 
halb eines bestimmten Arbeitskampfes zu dem Zwecke, 
ihn zugunsten der Arbeitgeber zu entscheiden. 

7. Der Versuch, das Organisationsrecht der Gegenpartei illu- 
sorisch zu machen, ist bisher ausschließlich von den Arbeitgebern 
unternommen, während die Arbeiter sich von solchen Bestrebungen 
ferngehalten haben. Die zu erlassenden gesetzgeberischen Vorschrif- 
ten sind deshalb auf die ersteren zu beschränken. 

Hiernach handelt es sich um zwei Bestimmungen, von denen 


Der Schutz des Koalitionsrechts. 929 


die eine den Satz unter 4, die andere den unter 5 zur Geltung zu 
bringen hat. Da, wie hier nicht weiter ausgeführt werden kann, der 
jetzige $ 153 GO. als eine gegen die Arbeiter gerichtete unberechtigte 
Ausnahmevorschrift aufzuheben ist, so wird die erstere der beiden 
Bestimmungen als ein neuer $ 153 an dessen Stelle zu treten haben, 
während die zweite als $ 153 a ihreh Platz erhält. 

Für den ersteren Zweck wird etwa folgende Fassung geeignet sein: 


$ 153. 

sEin Arbeitgeber, der einem von ihm beschäftigten Arbeiter . 
die Entlassung aus der Beschäftigung in Aussicht stellt, um ihn 
von der Beteiligung an einer Verabredung oder Vereinigung, die 
eine Einwirkung auf das Arbeitsverhältnis bezweckt, zurückzuhalten, 
oder ihn zum Rücktritt von einer solchen Verabredung oder Vereini- 
gung zu veranlassen, oder um ihn bestimmen, sich einer politischen 
Betätigung zu enthalten, oder sie in einem bestimmten Sinne auzsu- 
üben wird .. . bestraft. 

Diese Vorschrift findet keine Anwendung, wenn die bezeich- 
nete Handlung vorgenommen wird von einem Arbeitgeber, der an 
einem Arbeitskampfe beteiligt ist, während dessen Dauer und zu dem 
Zwecke, dessen Ausgang zu beeinflussen. « 

Durch diesen Wortlaut ist von der Strafdrohung sowohl der 
Fall ausgeschlossen, daß ein Arbeitgeber grundsätzlich solche Ar- 
beiter, die seinen Wünschen nicht entsprechen, nicht beschäftigt, 
wie der andere, daß er sie aus dem gleichen Grunde entläßt. Ver- 
boten ist ihm nur eine solche Maßregel gegen die einmal in Beschäfti- 
gung stehenden Arbeiter als Druckmittel in Anwendung zu bringen, 
um sie zum Verzichte auf ihr Koalitionsrecht zu bestimmen. Wenn 
im $ 152 GO. von »Verabredungen und Vereinigungen zum Behufe 
der Erlangung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen« die Rede 
ist, so enthält der letztere Ausdruck einen Pleonasmus, denn die 
Arbeitsbedingungen umfassen auch den Lohn, und außerdem versteht 
sich von selbst, daß die Aenderungen dieses Verhältnisses, die von 
den Arbeitern erstrebt werden, nach ihrer Auffassung für sie nicht 
ungünstig, sondern günstig sind. Es empfiehlt sich deshalb, die vor- 
geschlagene Kürzung. Ebenso ist es überflüssig, wenn 152 sagt: 
»Insbesonders mittels Einstellung der Arbeit«, denn daß diese das 
hauptsächlichste Kampfmittel ist, braucht nicht besonders hervor- 
gehoben zu werden. 

Der zweite Absatz bringt den Satz unter 6 zur Geltung. Er 
setzt einen Arbeitskampf voraus, der sich auf bestimmte einzelne 
Streitpunkte bezieht. Solche Arbeitskämpfe sind zweifellos bedauer- 
lich, aber die Frage, wie sie vermieden werden können, ist hier nicht 
zu erörtern, und soweit sie einmal stattfinden, müssen die Arbeit- 
geber ebenso das Recht haben, die Entlassung und deren Androhung 
als Waffe zu verwenden, wie den Arbeitern die Sperre und der Boy- 
kott erlaubt sind. Ein offener Kampf ist glücklicherweise in dem 
Arbeitsverhältnisse ebenso ein Ausnahmezustand, wie in den Be- 

60 * 


930 W. Kulemann, Der Schutz des Koalitionsrechts. 


ziehungen unter den Staaten. Ist er aber ausgebrochen, so müssen 
hier wie dort Maßregeln gestellt sein, die während‘ des Friedenszu- 
standes nicht angewandt werden dürfen, ohne das durch die Natur 
selbst geforderte Zusammenwirken unmöglich zu machen. 

Ist hiernach der Absatz 2 erforderlich, weil beide Teile in einem 
Kampfe derartige Mittel nicht dħtbehren können, so ist jedoch Vor- 
sorge zu treffen, um die Ausnahmebestimmung innerhalb des Rah- 
mens zu halten, der ihr nach dem Gesagten zu ziehen ist. Dazu ge- 
hört zunächst, daß der Arbeitgeber an dem Kampfe persönlich betei- 
. ligt ist. Lediglich aus Sympathie, um Genossen zu unterstützen, 
darf die Handlung nicht vorgenommen werden. Ebenso sind ihr 
zeitliche Grenzen zu ziehen. Bloße Rachemaßregeln, die auch nat 
Beendigung des’ Kampfes wirken sollen, sind ausgeschlossen. End- 
lich muß die Handlung mit dem Kampfe insofern in einem kausalen 
Zusammenhange stehen, als sie den Zweck verfolgt, dessen Ausgang 
zu beeinflussen. 

Die zweite der oben geforderten Bestimmungen würde etwa 
folgende Form zu erhalten haben: 


$ 153a. 

Die im $ 153 bezeichnete Strafe trifft auch denjenigen Arbeit- 
geber, der an einer Verabredung oder Vereinigung teilnimmt, die 
den Zweck verfolgt, Arbeitern, die sich an einer der in $ 153 bezeich- 
neten Verabredung oder Vereinigung beteiligen oder eine politische Tā- 
tigkeit ausüben, die Arbeitsgelegenheit zu entziehen oder zuschmälen. 

Diese Vorschrift findet keine Anwendung, wenn die Verabredung 


oder Vereinigung, an welcher der Arbeitgeber teilnimmt, ausschließlich - 


den Zweck verfolgt, die Entziehung oder Schmälerung der Arbeitsge- 
legenheit als Mittel zur Beendigung eines Arbeitskampfes zu verwenden.! 

Wie oben ausgeführt, ist die auf Beeinträchtigung des Koalitions- 
rechts der Arbeiter gerichtete Tätigkeit anders zu beurteilen, went 
sie nicht von einem einzelnen Arbeitgeber ausgeht, sondem 
mehrere von ihnen zu diesem Zwecke zusammenwirken. Ist 
dem einzelnen nicht zu verwehren, daß er für die Auswahl der von 
ihm zu beschäftigenden Personen bestimmte Grundsätze auf.tellt 
und befolgt, auch wenn sie an sich nicht zu billigen sind, so liegt das 
anders, wenn die Arbeitgeber eines gewissen Gewerbezweiges SiC 
zu einem gemeinsamen Vorgehen verbinden, denn dadurch sind sie 
in der Lage, das Koalitionsrecht zu beseitigen. Dazu ist jedoch erfor- 
derlich, daß nicht bloß eine tatsächliche Gleichzeitigkeit, sondem 
eine Gemeinsamkeit im *subjektiven Sinne vorliegt. d. h. daß em 
bewußtes und gewolltes Zusammenwirken stattfindet (Satz 5). _ 

Auch hier ist das Verbot zu beschränken auf Bestrebungen, die 
sich gegen das Koalitionsrecht als solches richten, währ 
Vereinigungen erlaubt sein müssen, die derartige Maßregeln nur ZU 
dem Zwecke anwenden wollen, in einem kongreten Arbeitskampi® 
die Stellung des Gegners zu schwächen (Satz 6). Dem ist durch 
Absatz 2 Rechnung getragen. 


931 


Antwerpens Bedeutung für Deutschland. 


Von 


JOSEF von GRASSMANN. 


Dr. Hermann Schumacher, Antwerpen, seine Weltstel. 
lung und seine Bedeutung für das deutsche Wirt. 
schaftsleben, München und Leipzig bei Duncker und Humblot 
1916. I8I S. 

Kurt Wiedenfeld, Antwerpen im Weltverkehr und 
Welthandel, Heft 3 in der deutschen Folge der von E. Jäckh- 
Berlin und dem Institut für Kulturforschung in Wien herausge- 
gebenen Schriftenfolge Weltkultur und Weltpolitik. München beiF. 
Bruckmann 1915. S. 47. 

Die mächtigen deutschen Interessen, die in dem belgischen See- 
hafen seit Jahrzehnten verankert sind, müssen mit im Vordergrunde 
stehen bei der Umgestaltung der europäischen Verhältnisse, die der 
Frieden bringen wird. Denn das Gedeihen der wichtigsten deutschen 
Wirtschaftsgebiete ist an die Einfuhr und Ausfuhr über die Rhein- 
mündungen gekettet. Die freie Ausnützung der Rheinhäfen, die deut- 
sche Arbeit am fremden Meeresstrande und die große Entfaltung der 
deutschen Industrie im Rheingebiet sind aber auch unentbehrliche 
Voraussetzungen für die Blüte des Seehandels in Belgien und Holland 
geworden. Seitdem die deutsche Siegesfahne auf der Turmpyramide 
der Kathedrale zu Antwerpen flattert, haben sich endlich weitere 
deutsche Kreise eingehend mit dem künftigen Schicksale der Schelde- 
stadt, mit der Erforschung ihrer Entwicklung und ihrer Beziehungen 
zum deutschen Hinterlande befaßt, es ist dankenswert, daß dabei auch 
Vertreter der Wissenschaft diesen Fragen ihre Arbeit zugewendet 
haben. Wiedenfeld hatteschon im Jahre 1903 in einem umfassen- 
den Werke die westeuropäischen Welthäfen in ihrer Verkehrs- und 
Handelsbedeutung untersucht, seine neue Schrift gehört zu den sog. 
populär-wissenschaftlichen Darstellungen, die es nicht anstreben, 
ausreichende Grundlagen zur Nachprüfung der aufgestellten Mei- 
„nungen und Urteile des Verfassers zu bieten. In dieser Methode, für 
unsere Zukunft so wichtige Fragen ohne Mitteilung des unentbehr- 
lichen Tatsachenmaterials vor der Oeffentlichkeit gemeinverständlich 
zu erörtern, liegt eine große Verantwortung beschlossen; die der All- 


032 Josefvon Grassmann, 


gemeinheit als wissenschaftliche Ergebnisse bekannt gegebenen An- 
sichten müssen in den Tatsachen voll begründet oder als persönliche An- 
nahmen (Hypothesen) des Verfassers gekennzeichnet sein. Ob ersteres 
der Fall ist, kann der Leser der Wiedenfeld’schen Schrift aus ihr selbst 
nicht nachprüfen, sein Bedürfnis nach selbständiger Würdigung all 
der Fragen wird aber noch erstarken, wenn er die Schumacher- 
sche Schrift zur Hand nimmt. Denn diese bekämpft in den ausführ- 
lichen, mit reicherem Tatsachenstoff ausgestatteten Anmerkungen 
scharf die Wiedenfeld’schen Darlegungen, Schumacher 
nennt sie in wesentlichen Punkten schwankend, sich widersprechend, 
unzutreffend. Die Stellungnahme zu den beiden Schriften wird noch 
dadurch erschwert, dad Schumacher auch auf eine von W ie- 
denfeld vielfach verteilte, vertrauliche Denkschrift Bezug nimmt, 
die dessen weitere Schlußfolgerungen aus seiner Schrift enthält. Sie 
liegt auch mir vor und, da sie einmal in die Polemik hereingezogen 
ıst, kann ich sie hier auch berühren. 

Wiedenfeld’s Ansicht ist wohl in folgenden Worten zusam- 
mengefaßt: »Wie immer man die Zukunft Antwerpens betrachten 
mag, wirtschaftlich steht und fällt seine Bedeutung damit, daß es 
den Zusammenhang mit dem belgischen Staat bewahrt.« Die Begrün- _ 
dung dieses Satzes, der nur eine Seite der Frage in den Vorder- 
grund schiebt, beruht auf nachstehendem Gedankengang: I. Ant- 
werpens Einfuhrstellung baut sich auf dem starken Eigenhandel auf, 
der sich auf die Bedürfnisse Belgiens nach industriellen Rohstoffen 
und überseeischen Nahrungsmitteln gründet. Dieser Handel wird 
durch viele Dampferlinien, die auf dem Wege von London nach Ham- 
burg die Scheldestadt anlaufen, unterstützt. Seine Ausfuhrstellung 
beruht, bei fast völligem Fehlen eines Eigenhandels ‚auf den Ausfuhr- 
bedürfnissen der belgischen Industrie und auf der Tarifpolitik der 
. belgischen Eisenbahnen, die seine Anziehungskraft künstlich auch 
für deutsche, schweizerische und österreichische Erzeugnisse steigert. 
Dazu kommt die Mehrung der Verschiffungsgelegenheiten in Ant- 
werpen durch die anlaufenden Schiffe, die Beiladung suchen. 3. Der 
Rhein kann trotz großen Verkehrs nach und von dem belgischen Hafen 
nicht als entscheidendeStütze seinerVerkehrsbeziehungen angesprochen 
werden, der eigentliche Müridungshafen bleibt Rotterdam. 

Wiedenfeld stellt die Wirkung der belgischen Binnenschiff- 
fahrt, die Eisenbahntarifpolitik und den Handel, der sich auf Belgiens 
Einfuhrbedürfnisse stützt, als eigentliche Grundlagen von Antwerpens 
Aufschwung hin. Daß seine Annahme über die Bedeutung der bel- 
gischen Binnenschiffahrt und ihr Verhältnis zur Zufuhr und Abfuhr auf 
dem Rhein, deren innere Verhältnisse Schumacher vielrichtiger 
darstellt, unzutreffend sind, hat in diesem HefteS. Rosenthal 
auf Grund der Statistik des städtischen Hafendienstes klar 
nachgewiesen. 

Mit Recht hält Wiedenfeld den Eisenbahnverkehr in’ 
Antwerpen — ohne statistische Unterlagen beizubringen — für erheb- 
lich größer als den Wasserstraßenverkehr; unrichtig aber ist seine 


Antwerpens Bedeutung für Deutschland. 933 


Einschätzung der belgischen Tarifpolitik, nicht nachgewiesen die 
Annahme heimlicher Refaktien, die auch die vorzügliche Hamburger 
Denkschrift über Antwerpen nicht nachweisen konnte; haltlos ist seine 
Besorgnis, daß die Ausdehnung der deutschen Macht auf die belgischen 
Eisenbahnen Antwerpens Verkehrsbeziehungen zum deutschen Hinter- 
lande schwer schädigen müßte, denn die bestehende gleichheitliche 
Transittaxe in Belgien hat, wie der Verkehr zeigt, auch jet2t nicht all- 
gemein die Wirkung einer besonderen Bevorzugung des Hafens; über- 
dies würde auch eine deutsche Tarifpolitik auf belgischen Bahnen 
von der Rücksicht auf den niederländischen Wettbewerb ebenso wie, 
auf die bestehenden Bedürfnisse des nord- und südwestlichen Deutsch- 
lands beherrscht werden. Das lehrt auch die Geschichte der Rhein- 
tarife. Alle hieraus von Wiedenfeld für die Zukunft gezogenen 
Schlußfolgerungen sind meines Erachtens hinfällig. 

Schumacher will Antwerpens Bedeutung nicht aus den 
»Werken der Menschen« sondern aus tieferen Wurzeln erfassen und 
den ausschlaggebenden Anteil Deutschlands an seiner Entfaltung 
nachweisen. Diese Arbeit ist schon nach ihrem Zwecke gründlicher, 
auch in den Einzelheiten, sie wirkt überzeugender, weil die tatsäch- 
lichen Grundlagen für die Schlußfolgerungen mitgeteilt und diese 
klar, bestimmt und, wie ich finde, ohne von politischen Absichten be- 
herrscht zu werden, vorgetragen sind. 

Seine Darstellung baut sich anders auf: Die günstige Lage des 
Hafens zu den großen Handelsstraßen des Meeres schafft die Möglich- 
keit internationaler Verkehrsvermittlung, die Notwendigkeit solcher 
Vermittlung wird aber erst durch die außerordentlichen Transportbe- 
dürfnisse seines Hinterlandes, des einheitlich herausgebildeten Ge- 
bietes der europäischen Exportindustrien begründet. See- und Land- 
lage sind hier besonders günstig, der westlichste große Festlandshafen 
wurde zum internationalsten Hafen; der Aufschwung der Industrie - 
in dem voll beherrschten Hinterlande zwang deutsche und dann eng- 
lische Dampferlinien immer mehr zur Einkehr in der Schelde. Nicht 
nur der Umstand, daß Antwerpen der Monopolhafen für das hochent- 
wickelte belgische Wirtschaftsgebiet ist, schuf seine Bedeutung, son- 
dern auch seine natürliche Vorzugsstellung zu dem deutschen Rhein- 
gebiete, zu Süddeutschland und darüber hinaus, wofür insbesondere 
unser mächtiger, in der belgischen amtlichen Statistik aus bekannten 
Gründen nicht richtig dargestellter Durchfuhrhandel mit Belgien zeugt. 
In diesem Zusammenhang bemerkt Schumacher mit Recht, 
daß Antwerpens Verkehrsbedeutung nicht von seiner Verbindung mit 
dem belgischen Staate (s. oben Wiedenfeld), sondern mit der 
belgischen Wirtschaft abhänge, die die ausgeprägteste Exportindustrie 
in sich schließe. Das ganze große dichtbevölkerte, industriereiche 
ausfuhrbedürftige Gebiet, das weithin das Hinterland von Antwerpen 
bildet, schafft dauernd eine starke und dringliche Nachfrage nach 
Schiffsraum, wie sonst nirgend auf dem europäischen Festlande 
sich findet, auch nicht in Rotterdam, das an der Peripherie dieser Nord- 
westecke und in einem Lande liegt, das gegenüber Belgien als ein hoch- 


934 Josef von Grassmann, 


entwickeltes Agrarland zu bezeichnen ist. Antwerpen allein ist es 
gelungen, die passive Tonnagebilanz, die sich aus großen Bedürfnissen 
an Einfuhr von überseeischen Rohstoffen und Massengütern für die 
Nordwesthäfen ergab und die nur durch die Ausfuhr englischer Kohle 
beseitigt werden konnte,durch seine mächtige Ausfuhr von gewerblichen 
Erzeugnissen stärker auszugleichen als andere Wettbewerbshäfen, 
namentlich Rotterdam. Der Vorzug, den die Scheldestadt der Aus- 
fuhr bietet, wächst hervor aus den dauernd gegebenen allgemeinen 
Verhältnissen des Platzes und besteht in jener elementarsten Eigen- 
. schaft alles Wirtschaftslebens: der Billigkeit. Diese gründet sich 
auf. die günstigsten Rückfrachtverhältnisse und die vorteilhafteste 
Zusammenstellung der Güter, wozu noch die Wirkung des Umstandes 
tritt, daß Antwerpen in besonderem Maße ein Hafen für die größten 
Schiffe ist. Diese natürliche Billigkeit greift unmittelbar in die Binnen- 
schiffahrt und zwar auf dem Rhein über, bringt also für Antwerpen 
trotz der besseren Lage Rotterdams zum Rhein doch eine gewisse 
Frachtparität in Tal- und Bergfahrt. Zu den künstlichen Maßnahmen, 
die diese Billigkeit steigern, rechnet Schumacher hauptsächlich 
nur solche auf dem Gebiet des Eisenbahntarifwesens und der Hafen- 
verwaltung. Erstere beurteilt er richtiger als Wiedenfeld, 
der hierin mehr Willkür als Bedingtheit durch die Verkehrslage zu 
erblicken scheint. Der Initiative der Kaufleute schreibt Schu- 
macher keinen so weittragenden Einfluß auf die Verkehrsbedeutung 
Antwerpens zu wie Wiedenfeld, da auch die Entwicklung des 
Eigenhandels nicht auf persönlicher Willkür, sondern auf tieferen 
mächtigeren Kräften der Weltwirtschaft beruhe. 

Die Betrachtungsweise der beiden Gelehrten ist hienach wesent- 
lich verschieden, für die praktische Lösung des Problems ist die Heraus- 
schälung der dauernd wirkenden und der durch menschliches Ein- 
- greifen leichter veränderlichen Grundlagen der Antwerpener Größe 
das wichtigste. Die richtige, mehr theoretische Scheidung zwischen 
den natürlichen Elementen und den »Werken der Menschene ist nicht 
so bedeutsam, auch Schumacher scheint mir manchmäl die 
Grenzen zwischen beiden zu verschieben, während Wieden- 
feld verschiedene Verhältnisse, die nach seiner Ansicht mehr zu 
den künstlichen Maßnahmen gehören, für zu leicht veränderlich hält, 
weil sie nicht aus natürlichem Zwang entsprungen sind. Letzteres 
trifft z. B. auf seine Meinung zu, es wäre, sofern Antwerpen ein deut- 
scher Hafen neben einem belgischen Staate würde, diesem leicht, 
seinen ganzen Ein- und Ausfuhrverkehr von Antwerpen abzulenken; 
das ginge sicherlich ebensowenig, als eine einfache Umstülpung 
der bestehenden Eisenbahntarife im Antwerpener Einzugsgebiete 
unzulässig wäre, wenn Belgiens Eisenbahnen zu deutschen Verkehrs- 
einrichtungen würden. 

Meines Erachtens können auch sog. künstliche Maßnahmen nicht 
ohne weiteres willkürlich beseitigt werden, wenn sie bestehenden 
allgemeinen und dauernden Verhältnissen Rechnung tragen. Dies 
zeigen auch die Forderungen der Großbelgier, die sich durch Ausdeh- 


Antwerpens Bedeutung für Deutschland. 935 


nung des belgıschen Staates das deutsche Hinterland sichern wollen, 
weil ihnen die sonst begenrte Absperrung des verhaßten deutschen 
Handels wegen Antwerpens Sorge macht. 

Antwerpens Blüte wird stets durch die Beziehungen zum 
deutschen Hinterlande bedingt sein, die Einschränkung auf Belgien 
würde es gegenüber dem, namentlich während des Krieges finanziell 
enorm erstarkten Rotterdam stark verkümmern lassen, Frankreich 
wird trotz der Phrasen der belgischen Chauvinisten (Teugels de Vos, 
Billiard usw.) seine dem Scheldehafen entgegenwirkende Verkehrspolitik 
trotz des politischen Bündnisses nicht ändern. Wollen die Belgier ihren 
Hafen vorwärts bringen, so müssen sie mit Deutschland gehen. Aber 
auch für Deutschlands Ausfuhrindustrie und sonstige Interessen 
im Rheinland und Süddeutschland, wie für die Behauptung der ge- 
samten deutschen Linienschiffahrt ist die reale volle Sicherung des 
freien deutschen Verkehrs und Arbeitens im Scheldehafen ein drin- 
gendes Gebot. Es wäre ein Mißgriff ersten Ranges für die Zukunft 
der ganzen deutschen Volkswirtschaft, wenn Deutschland nicht die 
höchste Kraft daran setzen würde, jetzt, dasich zum letztenmal hiezu 
die Möglichkeit bieten wird, diesen Welthafen auch für seinen Handel 
und Verkehr zu sichern. 


936 


Der Binnenschiffsverkehr Antwerpens. 


Von 


„SIEGFRIED ROSENTHAL. 


In der Kölnischen Zeitung vom 26. VII. 1916 (Nr. 751) wif 
Dr. Schroeter (Duisburg) die Frage auf: Hat Schumacher (in: »Ant- 
werpen, seine Weltstellung und Bedeutung für das deutsche Wirt- 
schaftsleben«) recht, wenn er der Auffassung von Wiedenfeld (in: 
»Antwerpen im Weltverkehr und Welthandel«), daß für Ant 
werpen der Binnenschiffahrtsverkehr mit den 
belgischen Plätzen ungefähr doppelt so grol 
sei, als mit dem deutschen Rhein, entgegentritt? 

Nach Wiedenfeld entspricht das Verhältnis des Binnenschiff- 
fahrtsverkehrs zwischen Antwerpen und dem belgischen Binnen 
lande einerseits und Antwerpen und dem deutschen Reiche anderer: 
seits dem Verhältnis der allgemeinen Verkehrsbeziehungen Ant- 
werpens zu Belgien und zu Deutschland und bildet damit einen 
Beweis mehr für seine These (S. 12), daß »Belgiens Wirtschaftsleben 
die tragende Stütze für das Handels- und Verkehrsgebäude der bel- 
gischen Stadt darstellt, daß die Beziehungen zu Deutschland ent 
eine Folgeerscheinung der von Belgien her gegebenen Anziehung‘ 
kraft sinde«. 

Schroeter beantwortet die Frage im Sinne Wiedenfelds: er gibt 
Ziffern über den Binnenschiffahrtsverkehr Antwerpens mit dem 
Auslande und glaubt daraus den Schluß ziehen zu können, daß unzwer 
felhaft sder Verkehr zwischen Antwerpen und den belgischen Plätzen 
ungleich größer ist, als der Verkehr zwischen Antwerpen und dem 
deutschen Rheine. 

Seine Ziffern sind aus dem »Tableau general du commerce de la 
Belgique 1912, 3. Teile entnommen. Sie beziehen sich nur auf die 
Tragfähigkeit der in Antwerpen 1ọr2 ein- und ausgegangenen Schiffe; 
denn diese Handelsstatistik — wie das Tableau im Folgenden immer 
genannt werden soll — weist für Antwerpen die Ein- und Ausfuhr 
‚von Gütern von und nach dem belgischen Innenland nicht aus. 
Sie gibt auch keinen Aufschluß darüber, wie sich ihre Zahlen über 
die Tragfähigkeit auf die vier für den Binnenschiffahrtsverkehr Ant- 


Der Binnenschiffsverkehr Antwerpens, 937 


werpens allein in Betracht kommenden Länder, Deutschland, Hol- 
land, Frankreich und Belgien verteilen. Um deren Einzelziffern 
kennen zu lernen, ist es erforderlich, die vom städtischen Hafen- 
dienst in Antwerpen herausgegebene, ausführliche und überaus 
lehrreiche Statistik der See- und Binnenfahrt des Hafens von Ant- 
werpene zur Hilfe zu nehmen, aus der die Handelsstatistik (S. 606) 
offenbar nur die Endziffern entnommen hat. 

Die Zahlen, die Schröter gibt, sind keineswegs falsch. Im Jahre 
1912 sind in Antwerpen allerdings an Binnenschiffen, in Tonnen 
Tragfähigkeit zu je ’I000 kg ausgedrückt, ein- und ausgegangen: 


Aus und nach Ankunft Abgang Zusammen 
Deutschland 2 922 703 2 640 670 5 563 373 
Frankreich 150 374 271 662 422 036 
Holland 810 639 I 386 278 2 196 917 
Belgien 5814 188 5 315 961 IT 130 149 

zusammen 9 697 904 9 614 571 19 312 475 


Das ist in der Tat ein Ergebnis, das geeignet erscheint, die Auffassung 
Wiedenfelds zu stützen und Schumacher zu widerlegen. 

Um aber die Zahlen in ihrer wahren wirtschaftlichen Bedeu- 
tung würdigen zu können, ist zu untersuchen, auf welche Weise sie 
zustande gekommen sind. Dann stellt sich heraus, daß sie die Ge- 
samttragfähigkeit der ein- und ausgehenden Schiffe schlechthin 
wiedergeben, ohne Unterschied, ob sie beladen oder leer waren. Ein 
getreues Bild von dem wirklichen Verkehr läßt sich aber nur dann 
gewinnen, wenn man die Ziffern der tatsächlich beladenen 
Schiffe miteinander vergleicht und die leeren, somit für den 
Handelsverkehr toten, ausscheidet. Die vorliegende Hafenstatistik 


ermöglicht das. 
Anleeren Schiffen gingen Igı2 ein und aus (in Tonnen Trag- 


fähigkeit): 

Aus und nach Ankunft Abgang Zusammen 
Deutschland 32 160 335 603 367 763 
Frankreich 4414 174 4 588 
Holland 174 913 694 336 869 249 
Belgien 2 452 107 791 904 4 244 311 

zusammen 3 663 894 ı 822 017 5 485 911I 


Zieht man diese Ziffern von denen Schröters ab, so bleiben als 
beladen in Antwerpen ein- und ausgegangen (in Tonnen Trag- 


fähigkeit): | 
Aus und nach Ankunft Abgang Zusammen 
Deutschland 2 890 543 2 305 067 5 195 610 
Frankreich 145 960 271 488 417 448 
Holland 635 726 691 942 I 327 668 
Belgien - 2 361 781 4 524 057 6 885 838 
zusammen 6 034 OIO 7 792 554 13 826 564 


Diese Zahlen bieten ein Ergebnis, welches sich von dem durch 
Schröter gewonnenen ganz wesentlich unterscheidet. 


938 Siegfried Rosenthal, 


Bei der A n k u n f t übersteigt die Tragfähigkeit der von Deutsch- 
land kommenden Schiffe um mehr als eine halbe Million Tonnen jene der 
aus Belgien in Antwerpen eingetroffenen, oder in relativen Zahlen 
ausgedrückt: Die Ankunft aus Deutschland stellt 47,8% der Ge- 
samtankunft dar, die Ankunft aus Belgien nur 39,1%. 

Bei der Abfuhr allerdings bleibt noch ein Saldo zugunsten 
Belgiens in Höhe von 2,2 Millionen Tonnen, obwohl sich auch hier 
derUnterschied gegenüber Schröters Zahlen um knapp eine halbeMillion 
Tonnen ermäßigt. Der Ueberschuß, den Belgien hier gegenüber 
Deutschland aufweist, befremdet bei der Tatsache, daß Antwerpen 
für Belgien mehr Einfuhr-, für Deutschland aber mehr Ausfuhrhafe 
ist, weit weniger, als das Ergebnis, das aus Schröters Zahlen gezogen 
werden müßte, die auf den Verkehr Antwerpens mit dem Binner- 
land in der Anfuhr eine halbe Million Tonnen mehr ausweisen 
als in der Abfuhr. 

Der Unterschied in den Gesamtziffern des Verkehs 
mit Deutschland und dem belgischen Binnenland (An- und Abfukı 
zusammengenommen), der nach Schröter zuungunsten des deut- 
schen Verkehrs 5,5 Millionen überstieg, ist nach den vorstehenden, 
berichtigten Zahlen auf 1,7 Millionen Tonnen gesunken. 

Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Zahlen noch immer gegen- 
über der Wirklichkeit für Schröter (und Wiedenfeld) bei weiten 
zu günstig sind. Es versteht sich von selbst, daß auf den Strecken, 
auf denen so viele Schiffe leer fahren, nicht weniger mit ge- 
ringer Ladung fahren, weil der Schiffer das Aufnehmen einer geringen 
Ladung auf einer Strecke, auf der er sonst ganz ohne Ladug 
fahren müßte, vorzieht. Am besten veranschaulicht das die folgende 
Aufstellung der Zahl der Schiffe, bei denen als leer nur diejenigen 
gezählt werden, die ganz leer fahren, als beladen dagegen auh 
diejenigen, die nur geringe Ladung tragen: 


Deutsch- Frank- 
j Tan Holland Belgien Zusammen 


land reich 
Ankunít 3 674 522 5 972 32 892  43%0 
leer 164 20 I 005 17 626 18 a0% 

ne tn a E ern 
beladen 3 510 502 4 877 15266 24154 
Abfahrt 3 992 925 6 604 31448 4299 
leer 418 I 3 499 5858 977 
beladen 3 574 924 3 105 25 590 33 193 
Gesamtverkehr 7 666 1447 12 576 64 340 86 029 
leer 582 21 4 594 23 484 28 682 
beladen 7 084 I 426 7 982 40 856 57 347 


Danach müssen die Zweifel darüber, daß der Verkehr zwischen 
Antwerpen und den belgischen Plätzen sungleich größer ist, als der 
Verkehr zwischen Antwerpen und dem deutschen Rheine von denen 
Schröter behauptet, daß sie »kaum mehr bestehen können« mit guten 


Der Binnenschiffsverkehr Antwerpens. 939 


Recht aufrechterhalten werden. Die Auffassung Wiedenfelds, daß 
für Antwerpen der Binnenschiffahrtsverkehr mit den belgischen 
Plätzen ungefähr doppelt so groß sei als mit dem deutschen Rhein, 
dürfte als widerlegt anzusehen sein. 

Dieser Eindruck wird verstärkt durch eine Betrachtung der 
Mengen des gesamten Binnenschiffahrtsverkehrs im Antwerpener 
Hafen, von denen Schröter sagt, daß darüber »leider keine Zahlen 
vorliegen«, die sich aber unschwer aus dem angeführten statistischen 
Hefte des städtischen Hafendienstes von Antwerpen zusammen- 
stellen lassen. Für die hauptsächlichsten Ein- und Ausfuhrgüter 
sind darin sogar nach den 4 Nachbarländern getrennte Einzelziffern 
gegeben. 

Im Jahre ıgr2 sind auf den verschiedenen Binnenschiffahrts- 
wegen an Waren von und nach Antwerpen gefahren (in Tonnen von 


1000 kg): 


Aus und nach Ankunft Abgang Zusammen 
Deutschland 2 207 562 1 842 674 4 050 236 
Frankreich 116 775 222 658 339 433 
Holland 460 467 491 065 951 532 
Belgien I 589 468 3 631 245 5 220 713 

zusammen 4 374 282 6 187 642 IO 561 924 


Die Zahlen, die Schröter aus der belgischen Handelsstatistik 
für Deutschland, Frankreich und Holland gibt, sind sowohl in der 
Ankunft als im Abgang niedriger als die hier angegebenen. Die bel- 
gische Handelsstatistik unterscheidet aber — bei der Ankunft — die 
' Waren nicht nach den Wegen, auf denen sie hierher gelangt sind, 
noch nach den Ländern von denen aus sie die Binnenschiffsfahrt 
nach Antwerpen angetreten haben und — bei der Abfahrt — nicht 
nach den Wegen, auf denen sie hinausgelangt sind, noch nach den 
Ländern, in denen ihre Binnenschiffsfahrt endet. 

Sie gruppiert die Waren vielmehr nach Herkunfts- und Bestim- 
mungsländern und versteht unter dem Herkunftsland das Land, 
aus dem die Waren direktoderindirekt,sogarinder 
Durchfuhr durch ein anderes Land und unter 
Wechsel des Beförderungsmittels in diesem 
Lande nach Antwerpen verfrachtet worden sind. Fehlen muß 
lediglich. sune transaction commerciale de nature & la nationaliser«. 
Entsprechendes gilt umgekehrt für den Begriff des Bestimmungs- 
landes. Wenn also eine Ware z. B. aus Oesterreich nach Deutschland 
mit der Eisenbahn fährt und dort auf ein Binnenschiff nach Ant- 
werpen verladen wird, so zählt sie in der belgischen Handelsstatistik 
als aus Oesterreich spar canaux et riviärese nach Antwerpen ge- 
langt. So kommt es, daß nach der Statistik I9I2 ein Binnenschiff- 
fahrtsverkehr Antwerpens mit 60 verschiedenen Ländern stattge- 
‘ funden hat, darunter mit Venezuela, Mexico, China, Liberia, Zypern 
um nur einige in ‘diesem Zusammenhang besonders widersinnige 
Namen zu nennen. 


940 Siegfried Rosenthal, Der Binnenschiffsverkehr Antwerpens. 


Es ist klar, daß gegenüber dieser Statistik, der es doch — z. B. 
für Handelsverträge — im wesentlichen allein auf die Ware ankommt, 
die Hafenstatistik von Antwerpen, aus der die vorstehenden Zahlen 
stammen, brauchbarer für die Nachweisung der Binnenschiffahrt 
ist. Sie kennt als Ausland, das für den Kanal- und Flußschiffahrts- 
verkehr in Betracht kommt, nur die drei unmittelbar angrenzenden 
Nachbarstaaten Deutschland, Frankreich und Holland. Sie enthält 
auch allein die Ziffern über den Verkehr mit dem belgischen Binnen- 
land, über den die Handelsstatistik sich völlig ausschweigt und ermög- 
licht somit allein eine vergleichende Zusammenstellung der Verkehrs- 
ziffern für Belgien und das Ausland. 

Der Unterschied der oben angegebenen Zahlen gegenüber den 
Ziffern Schröters erklärt sich daher unschwer: in den Zahlen der 
Hafenstatistik für Deutschland sind eben auch die Zahlen der Han- 
delsstatistik für Rußland, Dänemark, Oesterreich usw. wenigstens 
teilweise mit enthalten, in denen der Hafenstatistik für Holland 
offenbar auch Zahlen der Handelsstatistik für Amerika und z. B. 
in denen der Hafenstatistik für Belgien selbst ein Teil der Zahlen 
der Handelsstatistik für England, von Waren, die möglicherweise 
zur See in Ostende angekommen sind und durch »Kanäle und Flüsse« 
nach Antwerpen gelangten. 

Was ergibt nun die Betrachtung der so berichtigten Zahlen? 

Der Schlußsatz Schröters s»Antwerpens Verkehr auf dem Binnen- 
wasserwege hat sich im Verkehr mit Belgien selbst, auch nach der 
Menge der Güter, nicht geringer gestellt als mit Deutschland, Hol- 
land und Frankreich zusammen genommen«, dürfte wenigstens, was 
die Ankunft betrifft, nicht mehr aufrecht zu erhalten sein. Hier 
ist für Deutschlands Verkehr eher das Umgekehrte richtig: der Ver- 
kehr aus Deutschland nach Antwerpen ist allein um 1,16 Millionen 
Tonnen größer als der aus Belgien, Frankreich und Holland zusam- 
mengenommen nach Antwerpen. Er ist absolut um 1,62 Millionen 
Tonnen größer als der Verkehr Antwerpens mit dem belgischen Binnen- 
land allein und, in relativen Zahlen ausgedrückt, umfaßt er 50,5% 
des ganzen Binnenschiffahrtsverkehrs in der Ankunft, während 
der mit Belgien nur 36,3% beträgt. 

Im Abgang ändert sich das Bild. Hier kehrt es wieder zu 
dem Verhältnis zurück, das bei dem Vergleich der Tragfähigkeit der 
abgegangenen Schiffe erörtert wurde. Es überwiegt bei weitem der 
Verkehr mit Belgien, die Einfuhr auf der Schelde wird in die Kanäle 
des belgischen Wirtschaftslebens hineingepumpt. Aber der Unter- 
schied beim Abgang reicht nicht aus, um bei der Zusammen- 
stellungvonAnkunftundAbgang, bei dem Vergleich 
der Gesamtziffern des Güterverkehrs das bei dem 
Vergleich der Tragfähigkeit gefundene Ergebnis zu erschüttern. 
Im Gegenteil, der Unterschied der Gesamtziffern wird verringert. 
Hier beträgt er nur mehr 1,17 Millionen Tonnen zugunsten Belgiens, 
während er dort noch 1,69 Millionen Tonnen und nach Schröter 
5,57 Millionen Tonnen betrug. 


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- +6. 


Ta un a — — 


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941 


LITERATUR. 
»Sozialdemokratische« Philosophie. 


(Dietzgen, Marx und Engels). 


Von 


KARI. VORLÄNDER. 


»Sozialdemokratische Philosophies, das klingt wie ein Wider- 
spruch in sich. Wer wird von »konservativer«, »nationalliberalere 
oder sZentrumss«-Philosophie anders als in Gänsefüßchen, d. h. in 
ironischer oder polemischer Absicht reden? Denn politische Partei- 
unterschiede begründen doch keinen philosophischen Standpunkt. 
Ja, selbst soziale Klassenscheidung vermag an sich noch keine be- 
sondere Philosophie zu bewirken. So werden denn auch Wendungen 
wie »aristokratische«, »Bourgeois«-- oder »Proletarier«-Philosophie 
meist nur in kritischer oder allenfalls charakterisierender Darstellung 
gebraucht. Trotzdem findet sich der Ausdruck: Sozialdemo- 
kratische Philosophie — und zwar ohne »Gänsefüß- 
chen« — als ernstgemeinte Ueberschrift über dem Kapitel eines uns 
vorliegenden Buches !) und ist auch bereits vor vierzig Jahren eben- 
falls als Ueberschrift: einer Artikelreihe im Leipziger »Volksstaate, 
von demjenigen Manne angewandt worden, dem dieses neuerschienene 
Buch gilt: dem Arbeiter-Philosophen Josef Dietzgen. 

Dietzgen ist in der Tat ein Typus — und zwar, wie wir ausdrück- 
lich hervorheben möchten, ein interessanter und sympathischer 
Typus — für die besondere Gattung »sozialdemokratischer« Philoso- 
phie, der es, schon wegen seiner nicht unbedeutenden Verbreitung 
innerhalb des internationalen Sozialismus, wert ist, daß wir ihm 
eine kurze Erörterung widmen. 

Weder Karl Marx noch Friedrich Engels haben diesen Ausdruck, 
soviel wir wissen, jemals zur Bezeichnung ihrer eigenen Anschau- 





+) JosefDietzgensPhilosophischeLehren. Von Adolf 
Hepner. Mit einem Porträt von J. Dietzgen. 58. Band der internationalen 
Bibliothek. J. H. W. Dietz Nachf. G. m. b. H. Stuttgart 1916. Preis brosch. 
M. 2.—. gebunden M. 2.60. 186 Seiten. 


942 Karl Vorländer, 


ungen, ja sie haben ihn unseres Wissens überhaupt nicht gebraucht. 
Das lag einmal wohl an ihrer eigenen philosophisch-wissenschaft- 
lichen Vorbildung. Beide hatten sich eine solche — Marx auf der 
Universität, Engels frühzeitig durch eigene Studien — erworben. 
Sie hatten daher durch die eigene Erfahrung schon in jungen Jahren 
` gelernt, daß Philosophie eine nicht leicht zu bewältigende Wissen- 
schaft ist. Und, teils durch ihre großen nationalökonomischen Arbei- 
ten, teils und noch mehr durch ihre ungeheure politische Tätigkeit 
den größten Teil ihres Lebens in Anspruch genommen, sind sie später 
zur Philosophie nur in ihren Mußestunden zurückgekehrt, haben 
sich darum auch selbst nie als Philosophen bezeichnet. Sie wußten, 
daß es wohl eine sozialistische Weltanschauung, auch allenfalls eine 
sozialistisch-demokratische Geschichtsauffassung (sie selber haben 
ihr statt dessen charakteristischerweise das unpolitische Beiwort 
smaterialistische« verliehen), nicht aber eine besondere ssozialdemo- 
kratische« Philosophie oder Wissenschaft geben kann; wenn sie auch 
ihre neue soziale Geschichtsauffassung als s»wissenschaftliche der 
sutopistischen« und ähnlich ihren national-ökonomischen Standpunkt 
der »Vulgär-Dekonomie« entgegengesetzt haben. Ihre philosophischen 
Ansichten dagegen muß man, mindestens bei Marx ?), erst aus ihren 
verschiedenen Schriften zu verschiedener Zeit herausdestillieren, 
wie wir dies an anderer Stelle 3) versucht haben. Sie selber sind 
nicht zu einer streng-philosophischen Begründung ihrer Lehren, 
geschweige denn zu dem Aufbau eines philosophischen Lehrgebäudes, 
gekommen, ebensowenig wie, beiläufig gesagt, auch Ferdinand Lassalle, 
obwohl dieser bekanntlich ein dickleibiges Buch über Herakleites 
den Dunklen von Ephesos, dazu ein großes rechtsphilosophisches 
Werk, sdas System der erworbenen Rechte«, geschrieben hat. 

Um so erwünschter mußte es dem sozialistischen Dioskuren- 
paar sein, als ihnen der rheinische Lohgerber Josef Dietzgen die 
philosophische Seite ihrer Arbeit bis zu einem gewissen Grade abneh- 
men zu wollen schien. Dietzgen (damals Werkmeister in einer Leder- 
fabrik zu Petersburg) sandte am 7. November 1867 Marx einen län- 
geren Brief philosophischen Inhalts zu 4), den dieser an seinen in 
philosophischen Dingen beschlageneren Freund Engels schickte, um 
von ihm das Zeugnis zu erhalten, daß Dietzgen zwar der sreine Auto- 
didakt«, sandere Nationen« aber sdoch nicht im Stande« seien, seinen 
solchen Lohgerber zu produzieren«; welches Urteil Marx dann, ohne 
sich selbst zu äußern, in einem Schreiben an seinen Freund Kugel- 
mann in Hannover weitergibt. Ermutigt offenbar durch Marx Aner- 
kennung, sandte Dietzgen sodann im Herbst des folgenden Jahres 
ihm ein ausführlicheres Manuskript, wie Marx schreibt 5), süber das 


3) Bei Engels sind sie allerdings im »Antidühring« leichter zu finden, 

») K. Vorländer, Kant und Marx, Tübingen ıgı1, Kap. z: Die philoso- 
phische Entwicklung von Marx und En els. 

t) Abgedruckt als Beilage zu einem Briefe von Marx an Kugelmann vom 
7. Dez. 1867 (Neue Zeit XX 2, S. 126—128). 

5) An Kugelmann 5. Dez. 1868 (ebd. S. 381). 


»Sozialdemokratische« Philosophie. 943 


Denkvermögens: offenbar die Urgestalt seiner ersten Druckschrift 
»Ueber das Wesen der menschlichen Kopfarbeit«.. Von einem Hand- 
sarbeiter.« Wieder bittet Marx den kundigeren Engels um Mitteilung 
seiner Ansicht; sein eigenes Urteil ist vorläufig ziemlich ablehnend: 
Dietzgen müsse seine umfangreichen Ausführungen auf zwei Druck- 
bogen zusammenschrauben, sonst sblamiere er sich durch Mangel 
an dialektischer Entwicklung und Drehen im Kreise« (an Engels, 
4. Oktober 1868). Am 4. November mahnt er um Beantwortung 
seiner Anfrage: »Der arme Kerl wartet sicher ängstlich auf meine 
Antwort«! Höchst interessant ist dann die zwei Tage später folgende 
Erwiderung von Engels (der das Manuskript doch gelesen, aber 
dann verlegt und vergessen hatte). Wir veröffentlichen die erst seit 
1913, durch die Bebel-Bernsteinsche Ausgabe des Briefwechsels, 
bekannt gewordene Stelle im Wortlaut, nicht bloß um einen Begriff von 
der plastischen Anschaulichkeit und Klarheit des Engelsschen Stils 
zu geben, sondern mehr noch, um seine Stellung zu der Dietzgenschen 
Art des Philosophierens zu kennzeichnen. Sie lautet: »Es ist schwer, 
ein ganz bestimmtes Urteil über das Ding zu fällen; der Mann ist 
nicht naturwüchsiger Philosoph und dabei erst halber Autodidakt. 
Seine Quellen (zum Beispiel Feuerbach, Dein Buch und diverse popu- 
läre Schriften über Naturwissenschaften) sind teilweise aus seiner 
Terminologie sofort zu erkennen; es ist aber nicht zu sagen, was er 
sonst gelesen hat. Die Terminologie ist natürlich noch sehr konfus, 
daher Mangel an Schärfe und häufige Wiederholungen in neuen Aus- 
drücken. Dialektik ist auch drin, aber mehr in Gestalt von Funken 
als im Zusammenhang. Die Darstellung des Dings an sich als Ge- 
dankending wäre sehr nett und sogar genial, wenn man sicher 
wäre, daß er es selbst erfunden. Esprit ist viel darin und trotz 
der mangelhaften Grammatik ein bedeutendes Stiltalent. Im ganzen 
aber ein merkwürdiger Instinkt, mit so mangelhaften Vorstudien 
so viel Richtiges auszuspintisieren.«e Darauf folgt dem aus Lob und 
Tadel gemischten Urteil der dementsprechende Rat: »Die Wieder- 
holungen sind, wie gesagt, teils Folge der mangelhaften Terminologie, 
teils der Ungewohnheit logischer Schule. Es wird schwer halten, sie 
alle herauszubekommen. Wenn der Mann seine Sachen platterdings 
drucken lassen will, so weiß ich nicht, ob Beschränkung auf zwei 
Bogen das Beste für ihn wäre, es wäre jedenfalls eine Heidenarbeit 
für ihn, da er sich seiner Wiederholungen nicht bewußt ist, und dann 
weiß ich auch nicht, ob zwei Bogen irgendwie Beachtung finden 
würden. Sechs bis acht Bogen wohl eher. Und in eine Zeitschrift 
bringt ers doch nicht. -Marx beschränkt seine Erwiderung vom 
folgenden Tag, Engels zustimmend, auf die Sätze: »Ich halte die 
Entwicklung des Dietzgen, soweit Feuerbach usw., kurz seine Quellen 
nicht herausgucken, ganz für seine selbständige Arbeit. Im übrigen 
stimme ich mit allem, was du sagst, überein. Ueber die Wiederho- 
lungen werde ich ihm einiges sagen. Es ist ein Pech für ihn, daß er 
gerade Hegel nicht studiert hat«®). 

®©) Aehnlich strotz einer gewissen Konfusion und zu häufiger Wiederho- 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 3. 61 


944 Karl Vorländer, 


Marx hat trotz dieser Bedenken offenbar seinem begeisterten 
Verehrer, der kurz vorher (1868) auch im »Demokratischen Wochen 
blatte, dem Vorläufer des »Volksstaat«, als einer der ersten Verteid 
ger für sein »Kapital« eingetreten war 7), die Drucklegung von dessen 
Erstlingsschrift bei seinem eigenen Verleger Otto Meißner in Ham- 
burg vermittelt. Er schreibt 29. März 1869 an Engels: »Ich habe 
einen Brief von Dietzgen, wohlbestalltem Gerber in Siegburg, erhalten 
. . „ Dietzgens Gedanken erscheinen bei Meißner, dem er die Druck- 
kosten garantiert hat (!), unter dem Titel: sDie Kopfarbeit, darge- 
stellt von einem Händarbeiter usw.e Er besuchte ihn dann aud. 
in Begleitung seiner Tochter Jenny, auf einer Rheinreise im Septen- 
ber desselben Jahres in Siegburg. Und bei Gelegenheit des Inter- 
nationalen Arbeiterkongresses im Haag 1872) stellte er den gleidh- 
falls als Delegierten erschienenen Dietzgen seinen Mitdelegierten 
mit den Worten vor: »Da ist unser Philosoph.e Auch Engels hat 
‚noch 1886 im sFeuerbach« (S. 45) ihm ein anerkennendes Wort gewid- 
met: »Diese materialistische Dialektik . . . wurde merkwürdiger- 
weise nicht nur von uns (d. h. Marx und Engels, d. Verf.), sondem 
außerdem noch, unabhängig von uns und selbst von Hegel, wieder 
entdeckt von einem deutschen Arbeiter, Josef Dietzgen.e Wo sich 
beide ungeschminkt miteinander unterhalten, d. h. in ihren Privat- 
briefen, lautet das Urteil weniger günstig. Marx schreibt am 5. Januar 
1882: »Aus einliegendem Brief von Dietzgen wirst du ersehen, 
der Unglückliche rückwärts svorangegangen« und richtig bei der 
Phänomenologie sangekommen« ist. Ich halte den Kasus für unhei- 
bar.e Und Engels hat in seiner Antwort vom 8. Januar nichts darau 
zu erwidern. 

Mag man nun auch solchen brieflichen Aeußerungen keine durch- 
schlagende Bedeutung zuerkennen, zumal da dem Engels’ anerkennen- 
des Wort aus dem Jahre 1886 gegenübersteht, so bemerkt man doch 
zu Dietzgens Lebzeiten nichts von einem näheren philosophischen 
Verhältnis zwischen ihm und den beiden sLondonern«. Vor allem, 
und damit kommen wir zu unserem Ausgangspunkt zurück, haben 
sie weder von seiner noch von einer anderen als »sozialdemokratischer‘ 
Philosophie gesprochen. 

Aber auch nach seinem Tode haben die sozialdemokratische 
Theoretiker sich volle anderthalb Jahrzehnte lang so gut wie gar n 
mit Dietzgens philosophischen Schriften beschäftigt, obwohl, ja viel 
leicht gerade weil er manches Neue in die Philosophie des Maris 
mus hineingebracht, ihm eine erkenntnistheoretische Grundlage 7% 
geben versucht hat. Er war »für die Sozialisten ein toter Hund gewo- 
dens, was sich sin der Folge durch theoretische Zerfahrenheit und 


lungen viel Vorzügliches und — als selbständiges Produkt eines Arbeiters — 
selbst Bewundernswertese äußert er sich auch in einem gleichzeitigen Briefe 
(vom 5. Dez.) an Kugelmann (N. Zeit XX 2, S. 381). Von ihm hört er de? 
auch, daß Dietzgen doch kein Arbeiter im gewöhnlichen Sinn sei (ebd. S. 3821. 

1) Wie dies Marx im Nachwort zur 2. Auflage von, Kapital’Bd. I (S. 817 ff 
rühmend anerkennt. 


»Sozialdemokratische« Philosophie. 045 


viele Streitereien um des Kaisers Bart bitter genug gerächt hats, 
meint sein Sohn Eugen Dietzgen im Oktober 1903 (Neue Zeit XXI 2, 
S. 234); und Hepner klagt noch 1906, daß »die deutschen Sozial- 
demokraten, für die er in erster Linie geschrieben hat, ihn nur wenig 
kennen«. Der erste vielmehr, der zuerst nachdrücklich auf das wirk- 
liche Verdienst des philosophischen Gerbers hingewiesen hat, war 
ein Vertreterdersogenannten »bürgerlichen« Philosophie: Franz 
Staudinger. Durch ihn bin auch ich auf den bis dahin außer- 
halb der sozialdemokratischen Parteikreise so gut wie unbekannt, 
ja. fast ungenannt gebliebenen Denker aufmerksam geworden und 
darf mich zu den wenigen zählen, welche die wirklichen philosophischen 
Leistungen, die hinter seiner oft ungeschlachten Sprache liegen, nach 
Kräften hervorgehoben haben. Ich verweise diejenigen, die sich 
dafür interessieren, auf die ausführlichen Darlegungen im dritten 
Kapitel meines »Kant und Marx«®) und begnüge mich hier mit der 
Heraushebung der Ergebnisse meiner dortigen Untersuchung: »So 
finden sich in Dietzgens Erkenntnistheorie eine ganze Reihe Momente, 
die ihn Kant verwandter erscheinen lassen als Hegel . . . Kantisch 
ist vor allen Dingen Dietzgenn methodische Tendenz, Er- 
kenntniskritik an Stelle der alten Philosophie, d. h. Meta- 
physik zu setzen. Freilich mischt sich ein metaphysischer Dualismus 
immer wieder ein« (a. a. O. S. 95 f.). Und, was die Ethik betrifft, 
so finden wir bei ihm sogar, sobwohl in anderer Formulierung, Aus- 
führung und Begründung, wesentliche Stücke einer wissenschaft- 
lichen Ethik, wie sie dem Kritizismus zugrunde liegen: die Gedanken 
des Allgemeinen, der Gattung, der Freiheit als der Gesetzlichkeit, 
der Selbstbestimmung des Individuums und vor allem des Zwecks 
aller Zwecke« (S. 98). Aus diesen fruchtbaren Keimen hätte 
in der Tat allmählich eine philosophische Ergänzung des in dieser 
Hinsicht teils ungenügend teils einseitig orientierten Marxismus 
hervorwachsen, eine erkenntnistheoretische Unterlage geschaffen 
werden können. 

Leider, wenn auch psychologisch erklärlich, hat sich jedoch die 
seit etwa 1903 innerhalb der Sozialdemokratie wieder, ja eigentlich 
zum erstenmal sich zeigende philosophische Anhängerschaft Dietz- 
gens weniger an diese fruchtbaren erkenntniskritischen Ansätze 
gehalten, als an den aus seiner agitatorisch-politischen Stellung her- 
vorfließenden Gegensatz zur »bürgerlichen« Philosophie, kurz an die 
ssozialdemokratisches Philosophie unseres, mit Engels zu reden, 
shalben Autodidakten«.. Das Entstehen einer speziell Dietzgenschen 
Richtung, des — wie ihre Anhänger stolz sagen — »Dietzgenismuss, 
innerhalb der sozialdemokratischen Theoretiker ist fast einzig und 
allein dem glühenden Eifer von Josef Dietzgens Sohne Eugen 
Dietzgen zu verdanken, der nach Absolvierung des heimischen 
Progymnasiums nach Amerika ging, um sich und den Seinen eine 
neue wirtschaftliche Existenz zu gründen, was ihm denn auch an- 
scheinend in hervorragendem Maße gelungen ist. Jetzt seit Jahren 

8) Tübingen ıgıı, S. 88—103. 

61* 


946 Karl Vorländer, 


in Deutschland lebend, gilt sein ganzes Bestreben der Tendenz, der 
Philosophie seines Vaters, von deren Vortrefflichkeit er ehrlich über- 
zeugt ist, Freunde zu erwecken, seine Schriften in verschiedenen Aus- 
gaben (er hatte zu dem Zweck sogar einen »Verlag für Dietzgensche 
Philosophie« gegründet) herauszugeben, selbst oder durch andere 
Erläuterungen dazu zu veröffentlichen, sie gegen Angriffe zu ver- 
teidigen usw. Wer sich für die Geschichte dieses »Dietzgenismus« 
näher interessiert, muß die Jahrgänge der »Neuen Zeita in die Hand 
nehmen, in der es, namentlich um 1910, sehr stark pro und contra 
Dietzgen widerhallte; wir können hier diese Bewegung nur flüchtig 
berühren °). 

Kurz vor dem Sohne Dietzgen hatte schon die Holländerin 
Cornelie Huygens, eine Nachkommin des berühmten Physikers, auf 
Josef Dietzgens »Spinozismus« hingewiesen und ihn als Bundesgenos- 
sen angerufen gegen sdie reaktionären Strömungen in der proletari- 
schen Bewegung selbst, welche unter dem Namen Neokantianismus 
das Rückgrat des Marxismus brechen und die längst überwundene (!) 
dualistische Weltanschauung des klassischen Philosophen der Bour- 
geoisie (!) wieder zur Herrschaft bringen wollene (N. Z. XXI, 199 ff.) 
Auf Eugen Dietzgen selbst, der sich recht gemäßigt ausdrückte, 
folgte dann wieder ein junger holländischer Gelehrter Anton Panne- 
koek, dem auch die Neuausgabe von J. Dietzgens »Wesen der Kopf- 
arbeit« anvertraut wurde. Pannekoek ist schon so weit, daß er Phile- 
sophie schlechtweg mit »bürgerlichem Denken« gleichsetzt und als 
dessen Kennzeichen nicht.bloß den verdammten »Dualismus«, son- 
dern einfach »das Unvermögen, die Dinge richtig und klar zu sehen«, 
bezeichnet. Bei solcher, soll man lieber sagen: Kritiklosigkeit oder 
blinder Voreingenommenheit, ist es dann natürlich kein Wunder, 
daß er den einfachen und bescheidenen Josef Dietzgen, der »es ver- 
schmähte, für seine Arbeiten die Trommel zu rühren« und sherzlich 
zufrieden« sein wollte, »wenn vorläufig nur ein halbes Dutzend Sozia- 
listen meine Arbeit begriffen haben« (Eugen Dietzgen), bis in die 
Wolken erhebt. Man denke an die oben von uns erwähnten Urteile 
von Marx und Engels über Dietzgens erste Schrift und höre dem- 
gegenüber die Worte des Marxisten Pannekoek: »Dieses System bildet 
die wissenschaftliche Fortsetzung der früheren Philosophie, so wie 
die Astronomie die Fortsetzung der Astrologie, die Chemie die Fort- 
setzung der Alchemie ist«; oder: »In seinen dialektischen Erörterungen 
über Geist und Stoff, über Endlichkeit und Unendlichkeit, über Gott 
und Welt hat Dietzgen das verwirrt Mysteriöse, das bisher (!)« — also 
bis auf Josef Dietzgen! — »diese Begriffe verdunkelte, gründlich 
aufgeklärt und allen übersinnlichen Glauben endgültig widerlegt.« 
Umsonst suchten kritischere Gemüter wie der Engländer Beltort-Bax 
(1904) und Otto Ehrlich (1905) zu bremsen. Der selbstzufriedene 


») soweit sie sich auch mit Kant beschäftigte, und das war in ziemlich 
starkem Maße der Fall, habe ich sie in meinem »Kant und Marxe S. 99—103 
eingehend behandelt. Dort finden sich auch die im folgenden benutzten Beleg- 
stellen genau verzeichnet. 


»Sozialdemokratisches Philosophie. 947 


»auch alle andern Anschauungen, selbst den »Eng-Marxismus« von 
Kautsky, Plechanow und Mehring verächtlich herabschauende »Dietz- 
genismus« gipfelte schließlich in dem dicken, unkritischen und dabei 
durch und durch von Polemik durchsetzten Wälzer eines sonst gänz- 
lich unbekannten Deutsch-Amerikaners, namens Ernst Untermann: 
»Die logischen Mängel des engeren Marxismus« (1910). Hier sind alle 
die wertvollen erkenntniskritischen Ansätze von Josef Dietzgens 
Denken völlig in den Hintergrund gedrängt zugunsten einer abwech- 
selnd als sdialektischer Naturmonismus«, »Weltdialektik« oder »Welt- 
Erkenntnis-Wissenschaft« bezeichneten Metaphysik des Absoluten, 
die sdas Wesen der Dinge bis auf den letzten universalen und abso- 
luten Grund aufhellte. Für Kant »gibt« dieser vornehme Denker 
— ssechs Groschen«, für die französischen Materialisten des 18. Jahr- 
hunderts, die Plechanow empfohlen habe, »fünfzig Pfenniges. »Wir 
haben es nicht mehr nötig, uns an irgend einem derselben zu orien- 
tieren. .. . Wir holen uns unsere Philosophie nicht aus alten Schar- 
teken, sondern meißeln sie uns aus unserem Leben mitten im Kampf 
heraus.« Sapienti sat! 

So weit nun auch der alte Josef Dietzgen von Untermanns teil- 
weise wüstem Geschimpfe entfernt ist, mit so viel Wärme und Ach- 
tung er auch von den großen deutschen Denkern wie Kant, Hegel 
oder F. A. Lange spricht: etwas von dem, was in Untermanns letzt- 
erwähnten Sätzen steckt, und was von dem Autodidaktentum beinahe 
unzertrennlich erscheint, tritt auch doch bei der trotz aller Grob- 
schlächtigkeit innerlich viel feineren Natur Dietzgens hervor: das 
Unvermögen, sich eine rein wissenschaftliche, objektiv ihre Wege 
gehende Philosophie außerhalb der exakten Naturwissenschaft vor- 
zustellen. Das tritt naturgemäß noch mehr, als in seinen zusammen- 
hängenden Schriften (dem »Wesen der menschlichen Kopfarbeits 
und dem Acquisit der Philosophie), in seinen volkstümlichen Auf- 
sätzen und Zeitungsartikeln hervor; am schlagendsten vielleicht in 
den schon zu Anfang von uns erwähnten sieben Artikeln aus dem 
»Volksstaat« (1876), welche die Ueberschrift »sozialdemokra- 
tische Philosophies tragen 19). 

Diese »Philosophie« will ausgesprochenermaßen eine »sozialdemo- 
kratische Anti philosophie sein, die »hohe Schulmeisterins, nämlich 
die (bisherige) Philosophie, die nach Ludwig Feuerbach doch nur 
eine »Betschwester der Theologie« ist, »degradieren« (S. 167 f.), Philo- 
sophie bedeutet: den »Holzweg aller Holzweges (168). Dietzgen 
will daher die Bezeichnung »sozialdemokratische Philosophies auch 
nur für das »Uebergangsstadium« gebrauchen, in Zukunft sie lieber 
»Dialektik« oder »Generalwissenschaftslehres nennen (169). Eine 
Welt- und Lebensauffassung überhaupt kann der Mensch allerdings 
nicht entbehren; aber die zwischen Religion und exakter Wissen- 
schaft in der Mitte stehende Philosophie (was allerdings für eine 
gewisse Art christlicher oder scholastischer Philosophie zutrifft, K. V.) 

10%) Im folgenden zitiert nach J. Dietzgens »Sämtliche Schriften« hrsg, 
von E. Dietzgen (Wiesbaden 1911), Bd. I, S. 157 ff. 


948 Karl Vorländer, 


ist eine saparte, entbehrliche Arte (179). Philosophie und Religion, 
Pfaff und philosophischer Professor haben ihre aparte Methode, 
sdie Wahrheit zu — maskieren« und mißbrauchen sie zu sraffinierter 
politischer Bauernfängerei« (180). Demgegenüber besteht die sphilo- 
sophische Pointe der Sozialdemokratie« darin, sunsere Prinzipien 
auf die — leibliche Empfindung zu gründen« (183)! Im Gegensatz 
zu der »idealistischen«e o der (!) srappelköpfischen« (18x1) Philosophie, 
heißt das erste Gebot »sozialdemokratischens Philosophierens: »Du 
sollst die materielle Welt, die leibliche Natur oder das sinnliche Dasein 
lieben und verehren als den Urgrund der Dinge, als das Sein ohne 
Anfang und Ende, welches war, ist und sein wird von Ewigkeit zu 
Ewigkeit« (195). Die gerade in jenen Jahren von den Gelehrten eifrig 
behandelte Frage nach den Grenzen der Erkenntnis ist zugleich eine 
sozialdemokratische Frage, denn sie »berührt ganz fühlbar die Knecht- ' 
schaft des Volks« (206). Aber es kommt noch stärker. Was soll man 
z. B. dazu sagen, wenn S. 170 erklärt wird: sschockweise« würden 
sich lie Belege« dafür aufbringen lassen, daß «die Professoren und 
Privatdozenten ganz konfus sind inbetreff der Aufgabe, des Zweckes 
oder der Bedeutung der Philosophie«? Was dann vom Sohne Dietz- 
gen in dem kurzen Vorwort von Igo6 (S. 160) noch ins Moralische 
gebogen und plump überboten wird durch den Satz: »Weil die ortho- 
doxen, freisinnigen und freireligiösen Gelehrten und Pfaffen immer 
noch fortfahren — teils bewußt, teils unbewußt — die spekulative 
Philosophie und die Religion dem Volke im Herrschaftsinteresse der 
Bourgeoisie erhalten zu wollen, möge das Proletariat diese naiv-listigen 
Verschleierungs- und Verdummungsmittel schonungslos bloßstellen 
mit Hilfe der folgerichtig monistischen Denkmethode und Weltan- 
schauung, welche Josef Dietzgen so wesentlich auch in den vorliegen- 
den Aufsätzen über Sozialismus und Philosophie gefördert hat. 
Mit solchen Tiraden macht man aus »Saulussene wahrhaftig keine 
»Paullusse«, wie es Eugen Dietzgen vor kurzem in seinem viel ruhiger 
geschriebenen und deshalb sympathischer wirkenden »Dietzgenbrevier 
für Naturmonistene (München 1915, Verlag der Dietzgenschen Philo- 
sophie!) aufs neue versucht hat. Hier gesteht er immerhin Immanuel 
Kant, trotz seiner »Widerlegunge (S. XX) desselben, einige sbleibende 
Verdienste auf philosophischem Gebiet« zu (S. IL). Freilich aus 
»dem Ballast der reinen bzw. phantastischen Spekulation« besteht 
ihm auch jetzt noch »Neunzehntel aller Philosophie«: während der 
tiefe Gedankenweg in Goethes Faust, Erster Teil auf seiner poetisch 
antizipierenden Darstellung der durch Dietzgen zuerst erkenntnis- 
kritisch begründeten Denkweise und naturmonistischen Weltan- 
schauungs (S. IV) beruhen soll! 
Verhältnismäßig fern von plumpen Angriffen hält sich auch die 
neueste Wiedergabe von J. Dietzgens »Philosophischen Lehrens, zu 
denen der unermüdliche Sohn diesmal den alten Parteiveteranen 
und Mitangeklagten von Bebel und Liebknecht in dem Leipziger 
Hochverratsprozeß von 1872 Adolf He p n e r gewonnen hat. Hepners 
Schrift ist ein freilich unselbständiger, aber klar und allgemeinver- 





»Sosialdemokratische« Philosophie. 949 


ständlich abgefaßter Auszug, der alles Wesentliche aus Dietzgens 
Schriften gibt. Störend auf jeden wissenschaftlich gebildeten Leser 
wirkt nur auch hier wieder die an einzelnen Stellen hervortretende, 
aber für diese Gattung von Schriften bezeichnende Art, die den 
Mangel an sachlicher Ueberzeugungskraft durch übertriebene Lobes- 
erhebungen der Person ersetzen zu können glaubt. So beginnt das 
Kapitel über »Dietzgens monistische Erkenntnislehre« mit dem Aus- 
ruf: sZeige man mir, wer vor oder nach Dietzgen (1860) das »Stoff- 
und Kraft«-Problem besser oder auch nur ebenso mustergültig be- 
handelt hat — in rein philosophischer und sprachmeisterlicher Be- 
ziehung«! (S. 23). In der Ethik gibt Dietzgen seine so bündig über- 
zeugende Klärung des Pflichtbegriffs, wie sie vor Dietzgen keinem 
Denker erkenntniskritisch gelungen iste (33). Und seine Logik schließ- 
lich stellt seine philosophische Epopöe des Universalzusammenhangs, 
ein Heldenplädoyer des wahren Monismus« dar, sdas der modernen 
Weltanschauung eine festere Grundlage schafft als irgend ein anderes 
der zahlreichen, sonst trefflichen Bücher auf diesem Gebietee (76): 
während sie auf der anderen Seite doch wieder eine sspeziell demo- 
kratisch-proletarische Logik« (77) sein soll. Eine Auseinandersetzung 
mit den einzigen Vertretern der philosophischen Wissenschaft, die 
sich überhaupt mit J. Dietzgen beschäftigt haben, wird gar nicht 
versucht, obwohl der Verfasser wie sein Auftraggeber Eugen Dietzgen 
deren Ausführungen kannten 1). 

Wir fürchten, durch solche AusschlieBlichkeit werden Dietzgen 
Sohn und seine Anhänger, die »Dietzgenisten«e, die es in der Partei 
durch die Art ihres Auftretens und ihrer Polemik sowohl mit den 
orthodoxen Marxisten wie den revisionistischen Theoretikern ver- 
dorben haben, auch außerhalb derselben trotz aller gemachten 
Anstrengungen ihrem Meister keine Freunde erwerben. Und das ist 
schade. Denn nicht bloß dem wackeren Menschen, sondern auch dem 
urwüchsigen Denker Josef Dietzgen hätten wir es gegönnt, daß man 
sich um die mancherlei gesunden und klugen Gedanken, die sich 
neben Unreifem und Schiefem in seinen Schriften finden, etwas mehr 
gekümmert hätte. Einen Anspruch freilich müssen seine sozial- 
demokratischen Jünger und alle, die in gleicher Lage sind, radikal 
fahren lassen, falls sie nicht von vornherein zur Unfruchtbarkeit 
innerhalb der Wissenschaft verdammt sein wollen, denjenigen näm- 
lich: eine sozialdemokratische« Philosophie zu ge- 
ben. Eskann wohl eine demokratisch-sozialistische W e lt a ns ch au- 
ung geben, wie es eine antike, christliche, aristokratische, kapitalisti- 


1) Das geht aus dem Schlußabsatz eines mir zugesandten, von Hepner 
verfaßten Prospektes zu der Neuausgabe von J. Dietzgens Sämtlichen Schriften 
(1911) hervor. Als einzige Ausnahme von dem Totschweigen Dietzgens seitens 
der »Philosophen vom Fache erwähnt Hepner ferner in seiner neuesten Schrift 
S. 17 Anm. eine in die Neuauflage von Ueberweg IV aufgenommene Stelle, 
während die Berücksichtigung Dietzgens in meiner Geschichte der Philosophie 
(von der ersten Auflage 1903 an bis zu der vierten 1913) ebenso totgeschwiegen 
wird, wie die ausführliche in »Kant und Marxe (s. oben) oder bei Staudinger. 


950 Karl Vorländer, »Sozialdemokratische« Philosophie. 


sche, individualistische Weltanschauung gegeben hat und noch gibt. 
Aber es kann keine sozialdemokratische Philosophie geben. 
Denn Philosophie smuß Wissenschaft sein, nicht allein im 
ganzen, sondern auch in allen ihren Teilen, sonst ist sie gar nichts« 
(Kant) %). Die Wissenschaft aber, auch als nimmer ruhendes 
Forschen nach der Wahrheit aufgefaßt, kann ihrem innersten Begnit 
und Ziele nach immer nur eine sein, unabhängig von dem Streit 
der Weltanschauungen oder gar Parteiansichten; andernfalls ist auch 
sie — gar nichts. 


12) Prolegomena ed Vorländer S. 147. 


951 


Zur Kritik der Sozialpathologie. 
Von 


GUSTAV PETER. 


Wer die kürzlich an dieser Stelle erschienene Kritik Oskar Blums 
über Müller-Lyers »Soziologie der Leiden« gelesen hat, wird sich wohl 
des Eindrucks nicht haben erwehren können, daß M.-L.s Versuch 
einer Grundlegung der Sozialpathologie in ihren Einzelheiten größten- 
teils mißglückt sei; denn wenn auch anerkannt wird, daß der Anfang 
zu einer solchen mit dem Buche gegeben sei, so ist nach dieser über- 
wiegend negativen Kritik doch nicht einzusehen, worauf eine solche 
Anerkennung eigentlich basiert ist, um so weniger als Blum sagt, daß 
er in.der Hauptsache den ganzen Gedankengang besprochen habe, 
was wohl auch zugegeben werden muß. 

Angesichts der vielen anerkennenden, ja begeisterten Rezen- 
sionen der übrigen Werke M.-L.s wird man jedoch wohl vermuten 
dürfen, daß Blum dem zu diskutierenden Werk nicht völlig gerecht 
geworden ist. 

Die Kritik Blums muß daher da, wo sie offenbar die Ansichten 
und Absichten M.-L.s verkennt oder mißversteht, angefochten wer- 
den. 

Auf den ersten Seiten seines Buches sagt M.-L. »Die Soziologie 
setzt die Psychologie voraus«. Und wer zusieht, wie er danı immer 
wieder psychologische Untersuchungen als Grundlage der weiteren 
Ausführungen anstellt, und wer weiß, daß M.-L., der das auch selbst 
andeutet, von der Psychologie aus zur Soziologie kam, weil er einsah, 
daß die Lösung vieler psychologischer Probleme nur mit Hilfe sozio- 
logischer Einsichten möglich ist (eine Ansicht, die auch ein Resultat 
der modernen Psychanalyse darstellt), der begreift, daß die obige 
Forderung in der Kritik keineswegs genügend berücksichtigt sein kann. 

Gleich zu Anfang erkennt man, daß der Kritiker nicht beachtet 
hat, daß der Begriff »Leiden« in seiner ursprünglichen und meist 
gebrauchten Bedeutung ein psychologischer Begriff ist, und daß 
ihn M.-L. auch als solchen gebraucht, denn er stellt deutlich das 
Leiden der Freude und dem Glück gegenüber (S. 9), also G e f ü h- 
len die dem Reich der Individualpsychologie angehören, und deren 


952 Gustav Peter, 


Anwendung auf die Gesellschaft einem widerstreben muß; denn 
gerade so wie wir Blum in der Ablehnung des Gumplowiczschen 
Satzes, daß nicht das Individuum, sondern die Gesellschaft denke, 
beistimmen, so lehnen wir auch die Auffassung ab, daß die Gesell- 
schaft fühle. Die Gesellschaft ist ein Abstraktum, das niemals im- 
stande ist zu fühlen, bzw. zu leiden, weil ihm die Grundlage dazu, 
das Gehirn fehlt. Wenn der von Blum zitierte Satz von sUebeln 
und Leidene spricht, sdenen Gesellschaft und Individuum unter- 
worfen sinde, so ergibt sich aus dem Gesagten, und besonders aus 
der von M.-L. gegebenen Definition, in welchem Verhältnis diese 
Begriffe zueinander stehen. — Daß übrigens auch in der Medizin 
der Begriff Leiden von dem der Krankheit getrennt aufgefaßt wer- 
den muß, ergibt sich daraus, daß mehrere objektiv feststellbare und 
sehr schwere Krankheiten ohne jedes Leiden verlaufen. 

Da wir also vom psychologischen Standpunkt aus die Leiden 
. als subjektive Gefühle betrachten, ist es für uns auth ohne weiteres 
selbstverständlich, daß eine vollkommene Definition derselben heute 
noch völlig unmöglich ist, und da die Erfahrung, wie Blum ja zugibt, 
lehrt, daß die Menschen in dieser Beziehung sehr weitgehend überein- 
stimmen, so darf und muß man ihnen wohl oder übeleinstwer 
len die sinstinktive«e Entscheidung überlassen. Denn wie M.-L. 
sagt: Die Wissenschaften beginnen eben nicht mit Definitionen, 
sondern mit Tatsachen, und die Definitionen kommen zuletzt und 
werden niemals vollkommen. Wir glauben darum nicht an die kriti- 
sierte smangelnde Unterscheidung zwischen den persönlichen Leiden 
und den Leiden der Gesellschaft als solchen, unabhängig vom 
Individuum. »Wohl aber können wir sehr. leicht zugeben, daß es 
Krankheiten der Gesellschaft im übertragenen Sinn gibt, denn der 
Begriff Krankheit ist ein objektiver, wenn auch wie M.-L. selbst 
sagt, fließender Begriff, der ohne Schwierigkeiten mit dem objek- 
tiven Begriff Gesellschaft kombiniert werden kann. — Diese Krank- 
heiten gehören jedoch keineswegs in serster Linie« zur Soziologie 
der Leiden, sondern sie gehören einfach in die Soziologie und daß 
M.-L. sehr wohl imstande ist, zu unterscheiden, wo Unterscheidung 
nötig ist, beweist die Tatsache, daß M.-L. diese Krankheiten schon 
sehr eingehend in seiner »Systematischen Soziologie, unabhängig 
von ihren Einwirkungen auf die menschliche Psyche analysiert hat. 
Er unterscheidet daher die reine von der angewandten Soziologie, zu 
welch letzterer die Soziologie der Leiden gehört, und die demnach 
eine Anwendung der Soziologie auf diejenigen Probleme der Psycho- 
logie darstellt, die diese allein nicht zu lösen imstande ist. (Vgl. das 
Vorwort.) 

Nach dem Gesagten erscheint uns die klare Unterscheidung 
zwischen dem subjektiven Leiden, und der dasselbe verursachenden 
sozialen Krankheit, dem objektiven sUebele, und die Zusammen- 
fassung beider Begriffe unter dem Oberbegriff »Konflikt«, für den 
ersten Aufbau der neuen Wissenschaft durchaus brauchbar zu sein. 
Dagegen halten wir den Versuch Blums, die wissenschaftliche Un- 


Zur Kritik der Sozialpathologie. 953 


haltbarkeit einer instinktiven Unterscheidung zwischen psycholo- 
gischen Begriffen wie Gut und Böse nachzuweisen durch die Analogie 
mit physikalischen Begriffen wie Tag und Nacht wissenschaftlich 
für anfechtbar, da bei den letzteren Begriffen eine genauere Unter- 
scheidung wegen der Objektivität dieser Erscheinungen leicht mög- 
lich ist. Wenn Blum die Unterscheidung von hell und dunkel zum 
Vergleich heranziehen würde, so müßte er sich wohl auch der »sinstink- 
tivene Methode bedienen, die eben bei psychologischen Problemen 
durchaus wissenschaftlich ist. 

M.-L. lehnt eben eine smetaphysische Betrachtung der Wirklich- 
keit«, die ihm Blum an anderem Orte vorwirft, die er aber hier zu 
fordern scheint, ab. Wenn er kurz darauf den Begriff Uebel zu defi- 
nieren versucht, so tut er es in der klaren Voraussetzung, daß Uebel 
und Leiden nicht dasselbe ist, und darum »bezieht« er auch nicht 
einfach »die Definition des Leidens in die Analyse des Uebels ein« 
wie Blum sagt, sondern er stellt die beiden in gewissem Sinne in Ge- 
gensatz: Das objektive Uebel ist die Ursache des subjektiven Leidens. 

Wenn weiter von einer »unüberbrückbaren Abgrenzung der 
Begriffe« die Rede ist, so frägt man sich, ob diese Charakterisierung 
gerade auf M.-L. paßt, der immer wieder betont, daß »Systeme nur 
künstliche Hilfsmittel sind, die der Geist den Dingen aufzwingt, um 
sie durch Ordnung sich untertan zu machen, die aber nie Götzen 
werden dürfen denen man sich unterwirft, Hilfsmittel die man immer 
zu verbessern suchen müsse.e Gerade bei der Analyse des Begriffs 
Krankheit z. B. weist M.-L. darauf hin, daß wir heute noch keine 
scharfe Abgrenzung zwischen gesund und krank vornehmen können. 

Ob die Auffassung Blums, daß das Leiden nicht nur eine Wirkung 
der gesellschaftlichen Krankheiten, sondern eine Form derselben 
darstelle, eine Erkenntnis svon höchster Wichtigkeite ist, ist fraglich, 
Der Begriff der Form hat sich wohl in erster Linie aus körperlichen 
Dingen abstrahiert; während aber im Bereich der Stereometrie ohne 
weiteres klar ist, was damit gemeint ist, dürfte dies bei dem auf gei- 
steswissenschaftliche Abstraktionen übertragenen Begriff nicht mehr 
der Fall sein und es wäre wohl eine sehr weitgehende Differenz bei 
der Definierung dieses übertragenen Formbegriffes durch die Gelehr- 
ten zu erwarten. Jedenfalls ist das Verhältnis von Ursache und 
Wirkung klarer und wissenschaftlich eindeutiger festgelegt, als das- 
jenige von Form und Wesen. 

Blum sagt: »Mit welchem Recht Leben als oberster Zweckbe- 
griff aufgefaßt werde, bleibt dahingestellt.« Nun ist allerdings richtig, 
daß dieses Recht nicht in dem vorliegenden Buche begründet ist, 
weil diese Begründung ihrerseits ein Buch für sich beansprucht. 
Aber dahingestellt ist die Sache keineswegs; denn genau an der Stelle 
wo die Frage danach auftaucht, und wo Blum die Antwort vermißt, 
‚weist M.-L. auf sein Buch »Sinn des Lebens und die Wissenschaft e 
hin, in welchem er seinen positivistischen Standpunkt eingehend 
begründet. | 


954 Gustav Peter, 


Die folgenden Sätze, die die Definition vom sUebel als lebens- 
störend« flache Selbstverständlichkeit nennen, und das ganze Werk 
als von einer gewissen Einfältigkeit bezeichnen, reihen Blum ein in 
eine Kategorie von Menschen, die die Wissenschaft erst dort beginnen 
lassen, wo sie nicht mehr selbstverständlich und einfach ist, sondern 
schwerverständlich und kompliziert wird, so daß dann begreiflicher- 
weise schlichte Klarheit sunbeliebte ist. 

Weiter soll die Tatsache, daß die Leiden soziale Krankheiten 
sind, unvereinbar sein mit dem Satz: sDie meisten Uebel fangen 
klein an und sind im status nascendi leicht abzutöten.e Die ge- 
schichtliche Notwendigkeit kennt nach Blum keine Grade. Und doch 
gibt er zu; sallerdings gibt es ein Wachstum«e. Ob es ein Wachstum 
gibt das nicht klein anfängt? sAber« fährt Blum fort, ses läßt sich 
nicht willkürlich abbrechene, swas wird, muß werden und kann nicht 
aufhören zu sein, als bis es geworden ist. Die Vorstellung, daß gesell- 
schaftliche Kategorien klein anfangen, ist eine unhaltbare Parodie.: 
Wenn Blum M.-L. hier Gedankenlosigkeit vorwirft, so dürfen wir 
nun wohl Blum hier smetaphysische Betrachtung der Wirklichkeite 
vorwerfen, denn daß eine Typhusepidemie klein anfängt und im 
status nascendi, ja sogar auf ihrer Höhe leicht und willkürlich abge- 
brochen werden kann, sobald der Staat das Geld gibt zur Sanierung 
der Wasserverhältnisse, und die Leute zur Schutzimpfung zwingt, 
das soll unvereinbar sein mit der Tatsache, daß die Leiden der Kran- 
ken Ausflüsse sozialer Schäden sind. (Armut, Ausbeutung, Unbi- 
dung usw.) Ebenso unvereinbar damit die langsam einsetzende 
und immer weiter um sich greifende Kriminalisierung der Jugend 
durch Schundliteratur und Kinematograph und das willkürlich 
unterbrochene Wachstum dieser Bewegung durch entsprechende 
Gesetze. Ebenso das stufenweise Sinken vieler Mädchen bis zum 
Elend der Prostitution, und die willkürliche Vermeidung der letzten 
Stufen durch Verbringung in ein anderes MRY z. B. durch die Mut- 
terschutzbewegung. 

Aber mit diesem letzten Beispiel seezin wir eine neue Forde- 
rung Blums: »Es ist nicht Aufgabe der Soziologie, dem Einzelnen 
behilflich zu sein, sein Leiden zu vermeiden. Sie ist keine philantr.- 
pische Anleitung zur Glückseligkeit.«e Ob wohl auch die soziale Medi- 
zin: die Hygiene sich zu vornehm dünken soll, den einzelnen über 
die Bedeutung der Reinlichkeit aufzuklären vnd ihn anzuleiten, wie 
er seine Gesundheit selbst erhalten kann. Worauf gründet sich die 
Ansicht Biums, daß die Wissenschaft bei der Möglichkeit sich auch 
dem einzelnen nützlich zu machen, geringschätzig sich abwenden 
soll? Ist das die »Nächstenliebe«, die Blum an der Soziologie rühmt. 

Blum wirft M.-L. vor, sıdie Frage nach dem Wert des Leidens 
sei teleologisch, und setze voraus, daß alles zu einem bestimmten 
Zweck da sei. Man müsse vielmehr von der Bedeutung des 
Leidens sprechen. Diese Behauptung muB als völlig willkürliche 
Hineinlegung in die Worte M.-L.s erscheinen, denn erstens ist der 
Begriff »Wert« durchaus nicht von vornherein teleologischer Natur. 


nn 


Zur Kritik der Sozialpathologie. 955 


Denn man kann sehr wohl nur kausal bedingte Erscheinungen, die 
nie »zu einem bestimmten Zwecke entstanden sind, durch ihre Ein- 
flüsse auf andere Erscheinungen -- werten. Und M.-L. tut auch 
nichts anderes als die Wirkungsweise der Leiden auf Körper und 
Geist zu analysieren. Zweitens ist gerade M.-L. der Letzte, der die 
Ansicht teilen würde, daß die Leiden im Hinblick auf einen bestimm- 
ten Zweck entstanden seien, denn, wenn er das auch nicht ausdrück- 
lich sagt, so muß es doch merkwürdig erscheinen, daß ihm der Vor- 
wurf, teleologisch zu denken, gerade bei demjenigen Kapitel gemacht 
wird, das demjenigen über k au sales Denken folgt, in welchem M.-L. 
selbst die Kausalität als den Grundbegriff der Leidenslehre hinstellt 
(S. 74). Zudem spricht M.-L. in seinem Buche »Sinn des Lebens« 
(5. 28) von der sungeheuren Anoia der Natur, dem sinnlosen Gebären 
und Verschlingen, der vernunftlosen Zwecklosigkeit der Na- 
ture; was den Beweis erbringen dürfte, daß M.-L. nicht teleologisch 
denkt. Und endlich scheint Blum ganz übersehen zu haben, daß 
M. L. selbst das kritisierte Kapitel betitelt mit: «Wert und Be d e u- 
tung des Leidens«, wobei für jeden Unvoreingenommenen aus dem 
Inhalt des vorhergehenden und des betr. Kapitels selbst unzweifel- 
haft ersichtlich ist, daß die beiden Begriffe als Synonyma verwendet 
sind. 

Die im weiteren folgende Begründung des Vorwurfs, daß die 
Unterscheidung zwischen sozialer und individualer Bedeutung des 
Leidens völlig fehlt, ist die logische Konsequenz der anfänglich erwähn- 
ten Anwendung des Begriffs Leiden sowohl auf das Individuum als 
auf die Gesellschaft, die im Grunde nichts anderes ist als ein Identifi- 
zieren von Ursache und Wirkung. Nach M.-L.s Auffassung des kau- 
salen Verhältnisses zwischen Leiden und sozialer Krankheit kommt 
nur eine individuale Bedeutung des Leidens gegenüber einer 
sozialen Bedeutung der sozialen Krankheit, des Uebels, für die Dis- 
kussion in Betracht. Denn über dieindividuale Bedeutung der so- 
zialen Krankheit ist jaim ganzen Buche die Rede, und daß dem 
Leiden als solchem nach M.-L.s Ansicht eine positive, soziale Be- 
deutung nicht zukommt, geht aus dem betr. Kapitel eigentlich von selbst 
hervor. Denn sic könnte ja nur auf dem Umwege über das Individuum in 
Erscheinung treten, wenn aber das Leiden nicht imstande ist, das Indi- 
viduum günstig zu beeinflussen, so kann es noch viel weniger die Ge- 
sellschaft in günstigem Sinne beeinflussen. Ob M.-L. mit seiner Beweis- 
führung über den Unwert des Leidens für das Individuum und seine 
Entwicklung recht behalten wird, eine Beweisführung die sicher 
niemals in Bausch und Bogen abgelehnt werden kann, scheint mir 
noch unsicher zu sein. Jedenfalls wird man sich darüber klar werden 
müssen, daß das Leiden den Aktivismus für seine eigene 
Beseitigung weckt (so lange es nicht übermächtig ist und 
dadurch alle Tatkraft überhaupt lahmlegt) und insofern hätte dann 
das individuelle Leiden wohl auch soziale Bedeutung überall dort, 
wo diese Beseitigung nur mit Hilfe der Gesellschaft, auf sozialem 
Wege möglich wird. Ob jedoch die bloße Beseitigung eines Leidens 


956 Gustav Peter, 


auch schon als fortschrittliche Leistung bezeichnet werden darf, das 
bleibt wohl noch einer eingehenderen Untersuchung vorbehalten, 
wenn es auch auf den ersten Blick wahrscheinlich erscheint, daß 
gerade das, was man unter sozialem Fortschritt versteht, das 
Resultat dieser summierten, individuellen, hindernis-beseitigenden 
Leistungen ist, während zum Beispiel die individuelle schöpfe- 
rische Entwicklung eher unabhängig von dieser Hindernisse aus dem 
Weg räumenden Tätigkeit vor sich gehen dürfte. M.-L. selbst ist 
wohl kaum weit von einer solchen Auffassung entfernt, wie wir bald 
noch sehen werden, und außerdem ist jedenfalls wichtig, zu wissen, 
was Blum nicht erwähnt, daß M.-L. durchaus nicht sämtliche W i d e r- 
stände aus dem Leben ausschalten will, sondern daß er Wider- 
stände geradezu als Vorbedingung einer erfolgreichen Entwicklung 
bezeichnet. »Die Ueberwindung von Widerständen ist aber keines- 
wegs gleich bedeutend mit Leiden, denn die Arbeit ist nur dann mit 
Leiden verbunden, wenn die Widerstände zu groß sind.« In 
diesem Sinne wird man auch sagen dürfen, daß die bloße Drohung 
eines Leidens nicht, wie Blum sagt, schon Leiden ist, sondern nur 
als Widerstand wirkt, der die Kräfte zur Tat herausfordert, und 
erst dann selbst Leiden verursacht, wenn die Unvermeidlichkeit 
des drohenden Leidens vorausgesehen wird. Man versuche ein Bei- 
spiel aus dem eigenen Leben daraufhin zu analysieren und man wird 
dieser Ansicht zustimmen. 

Wenn Blum aber meint, daß sich M.-L. auch der sozialen Bv- 
deutung der sozialen Krankheitene« nicht bewußt sei, so irrt er 
gewaltig. Wenn M.-L. das Problem in der Soziologie der Leiden nicht 
behandelt, so rührt das daher, daß es eine Frage der reinen Soziologie 
ist, und deshalb finden wir auch in der systematischen Soziologie 
M.-L.s mehrmals den Hinweis auf den unschätzbaren Wert der sozia- 
len Krankheiten für die fortschreitende Entwicklung. In seinem 
Buch »Phasen der Kulture sagt er (Schluß des zweiten Kapitals): 
Die treibende Kraft des Fortschrittes ist weder im Individuum, noch 
in den einzelnen Gruppen zu finden, sondern in der Gruppenberüh- 
rung, mag diese nun in Raub, Krieg, Verdrängung, Unterjochung, 
Einverleibung, Ausbeutung best:hen, oder in... . usw. Auf S. 293 
desselben Werkes finden wir eine weitere Anerkennung des Uebels: 
»So hatte der Hochkapitalismus eine harte und häßliche Welt ge- 
schaffen, aus der die Habgier Schönheit und Lebensfreude mit kräf- 
tigen Besenhieben hinaustegte. Aber diese Habgier hatte auch gute 
Eigenschaften, indem sie mächtig dazu beitrug, die Produktion zu 
heben und die Organisation der Arbeit in höhere Formen zu über- 
führen.« Und endlich der glänzendste Beweis auf Seite 303; »ın der 
Geschichte des Arbeitszwanges haben wir ferner gesehen, welch Lohe 
Bedeutung für den Fortschritt der Not und dem Zwang zukommt.«. 
Dieser Satz möchte einen beinahe stutzig machen, scheint er doch 
dem entsprechenden Kapitel der Soziologie der Leiden direkt zu 
widersprechen. Geht man jedoch der Frage nach, wodurch der Arbeits- 
zwang fortschrittlich wirkte, so erkennt man, daß es durchaus nicht 


Zur Kritik der Sozialpathologie. 957 


cas Leiden der Unterdrückten war, das den Fortschritt in Form 
der Intensivierung der Arbeit bewirkte, sondern daß die zunehmende 
Intensivierung im Gegenteil mit zunehmender Verschärfung der 
Leiden einher ging. Die sorgfältige Untersuchung zeigt also, daß 
die vielleicht zweideutigen Worte Not und Zwang nur im objektiven 
Sinn von Uebeln, nicht im subjektiven von Leiden gebraucht sein 
können, womit dann aber der Blumsche Vorwurf in nichts zerstoben 
ist. (Ebenda S. 306 findet sich auch der Ansatz zu der Lösung der 
oben aufgeworfenen Frage, ob Fortschritt mit Beseitigung von Hin- 
dernissen identisch sei. »Die Not kann wohl als kategorischer Impera- 
tiv zur Arbeit und Anstrengung anstacheln, aber Erfindungen lassen 
sich, wie ihre Geschichte zeigt (S. 304—305), nicht auf Befehl machen, 
sondern hängen von dem ungestörten Spiel der Gedanken und Ein- 
fälle ab, die sich in dem von allen großen Sorgen befreiten Bewußt- 
sein ungerufen einstellen.«: 

Nur kurz soll noch die Behauptung widerlegt werden, M.-L. 
weise nirgends auf den Klassencharakter der Gesellschaft hin. Nicht 
genug damit, daß in der Systematik die Feindschaften zwischen 
Reichen und Armen, Ausbeutern und Ausgebeuteten eingereiht 
sind, stellt er das soziale Problem auf S. 177 als eines der 
vier Zentralprobleme hin und sagt, daß es bekanntlich darauf beruhe, 
daß es sin jedem Staat zwei Klassen« gebe, die er dann weiter charak- 
terisiert. 

Und endlich — auch hier ist es »höchste Zeite — gelangen wir zu 
der wichtigen Untersuchung, was es mit M.-L.s »Anpreisung der 
Vereinsmeierei«, wie Blum sich ebenso höflich wie witzig ausdrückt, 
auf sich hat. Blum scheint völlig übersehen zu haben, daß M.-L. 
den von Blum einzig zitierten »}Ge sinn ungsgenossenschaftene 
die kleinste Bedeutung unter den Organisationen beimißt, weil sie »noch 
sehr schwach sind«und daß er ihnen auf S.196 im Sperrdruck »die höchst- 
wertvollen Erwerbsgenossenschaften« gegenüberstellt, 
zu denen sich auf S. 168 noch die Aufzählung zum Teil riesiger s t a a t- 
licher Organisationen hinzugesellt. Es ist jedenfalls nicht 
unwichtig, sich kurz klar zu werden, welcher Art die M.-L.sche »Ver- 
einsmeierei« ist, die offenbar mit Kegelklubs und Schützenvereinen 
zu identifizieren ist. Also zuerst unter den Gesinnungsorganisa- 
tionen: Der Verein für Säuglingsfürsorge, der Bund für Mutterschutz 
und Sexualreform, die Friedensbewegungen, der internationale Orden 
für Ethik und Kultur usw. Dann unter den Erwerbsorganisationen: 
Die Gewerkschaften,die Genossenschaften, die Gesellschaften der Künst- 
ler, Hochschullehrer usw., die Vereine der Arbeitnehmer und Arbeit- 
geber usw.Und endlich unter den Staatsorganisationen: Zoll- und Steuer- 
wesen, Unterrichts- und Versicherungswesen, Kassen und Biblio- 
theken, Transport- und Verkehrswesen, Eisenbahn, Telegraph, Tele- 
phon usw. (vgl. 16. Kap.). 

Schließen wir die Kritik der Kritik in der Hoffnung dazu beige- 
tragen zu haben, daß M.-L.s »Soziologie der Leiden« bald das objek- 
tive Urteil empfängt, das es verdient. 


958 


Das Studium der Verwaltungswissenschaft nach 
dem Kriege. 


Von 


J. JASTROW. 


Ferdinand Schmid-Leipzig hat seinem Vorschlage einer 
Zentralstelle für Verwaltungswissenschaft !) eine so ins einzelne gehende 
Begrürdung gewidmet, daß mit dieser Denkschrift die Frage, wie sich 
das Studium der Verwaltungswissenschaft nach dem Kriege gestalten 
werde, auf die Tagesordnung gesetzt ist. 

Die Verwaltungsprobleme, die der Krieg neu aufgedeckt hat, die 
Forderung nach einem »Volkswirtschaftlichen Generalstabe u. ä. 
bieten dem Verfasser nur den äußeren Anknüpfungspunkt. Maßgebend 
ist für die Denkschrift der Gedanke, daßder wahre Grund einzelner Män- 
gel in der fehlenden Pflege der Verwaltungswissenschaft überhaupt ihren 
Grund habe. Eine wirkliche Lehre von der Verwaltung befinde sich 
weder in der heutigen Jurisprudenz, noch auch in der sogenannten 
»Politik«. Aber sie sei auch keineswegs in der heutigen Nationalökono- 
mie zu finden. Es sei ein Irrtum, daß es in dieser Beziehung in Oester- 
reich besser bestellt sei, als bei uns; die im Jahre 1913 veröffentlichten 
»Anträge« der österreichischen Kommission zur Förderung der Verwal- 
tungsreform seien keineswegs geeignet, das Erlöschen verwaltungs- 
wissenschaftlicher Studien aufzuhalten, sondern im Gegenteil bestimmt, 
ihnen den Todesstoß zu versetzen. Bewußt oder unbewußt hätten die 
Nationalökonomen die Weiterentwicklung der Verwaltungslehre 
als einer selbständigen akademischen Disziplin verhindert. 

»In der Spezialisierung der Fächer liegt der Fortschritt der Wissenschaft, 
und es ist nicht richtig, wenn auf den großen Universitäten überflüssige Doppel- 
besetzungen der Hauptfächer vorgenommen werden, statt die vorhandenen 
Mittel für eine weitere Spezialisierung des akademischen Lehrbetriebes zu be- 
nutzen. Die Naturwissenschaften (z. B. die Chemie) sind auf diesem Wege den 
Geisteswissenschaften, zumal den juristischen und den staatswissenschaftlichen 
Disziplinen, längst weit vorausgeschritten, und was für die Geschichtswissen- 


1) Eine deutsche Zentralstelle zur Pflege der Verwaltungswissenschaft 
und Verwaltungspraxis. Eine Denkschrift von Prof. Dr. Ferd. Schmid- 
Leipzig, Verlag von Veit und Co. 1916. 32 S. 4°. 


Das Studium der Verwaltungswissenschaft nach dem Kriege. . 959 


schaften selbst auf den kleineren Hochschulen schon lange ständige Uebung ist, 
sollte doch endlich auch für die Sozialwissenschaften Platz greifen! Nicht drei 
oder vier Professoren der politischen Oekonomie oder der Staatswissenschaften 
schlechthin gehören an die großen Hochschulen, sondern dieselben hätten sich 
in ibre Gesamtaufgabe nach Spezialfächern (theoretische Nationalökonomie, 
Verwaltungslebre [mit Einschluß der Volkswirtschaftspolitik], Finanzwissenschaft, 
Statistik und Soziologie usw.) zu teilen. Auch die Kolonialpolitik könnte ein 
solches Spezialfach abgeben. Wir wissen ganz wohl, daß der praktischen Ver- 
wirklichung dieser Forderung gerade von seiten jener Hochschullehrer die größten 
Hemmnisse bereitet werden dürften, welche in der Theorie das Schlagwort von 
der so wünschenswerten Spezialisierung der Fächer am eifrigsten zu vertreten 
geneigt sind. Wer unsere akademischen Einrichtungen näher kennt, wird die 
letzten Gründe dieser auffallenden Erscheinung leicht erraten. An die Unter- 
richtsverwaltungen ergeht daher die Aufforderung, in Zukunft mit dem bisherigen 
Systeme der Doppelbesetzungen zu brechen und dasselbe durch ein solches von 
Spezialprofessoren zu ersetzen! Daß diese letzteren ihre Qualifikation auch für 
‘das weiters Fachgebiet der Staatswissenschaften erwiesen haben müßten und 
damit fernerhin in engster Fühlung bleiben sollten, betrachten wir als selbstver- 
ständlich.e (S. 8—9.) 

Die Versuche, den Beamten nachträglich die fehlenden Kennt- 
nisse durch »Staatswissenschaftliche Fortbildungskurse« zuzuführen, 
hätten bei der Kürze ihrer Dauer, dem Fehlen seminaristischer Uebun- 
gen und dem mangelnden Kontakt zwischen Lehrenden und Lernen- 
den ihr Ziel verfehlt (S. 24). Der Verfasser bespricht im einzelnen 
(S. 9—ı6) Versuche dauernder Veranstaltungen. Oertliche, wie die 
in Posen und Aschersleben, hätten mehr Bureaubeamte im Auge, 
und dasselbe gelte auch von denen in Wien (1913) ?). Akademischen 
Charakter trügen die beiden nahe benachbarten und fast gleichzeitig 
entstandenen Hochschulen für kommunale Verwaltung in Düsseldorf 
(1911) und Köln (1912). Die Mißstände in der Vorbereitung der Na- 
tionalökonomen zu praktischen Volkswirten und Verwaltungsmännern 
hat der Verein für Sozialpolitik auf seiner Magdeburger Tagung 1907 
an der Hand der Referate von Bücher und Behrend besprochen, wobei 
Behrend gerade stark für eine juristische Ergänzung eintrat, Bücher 
nur das öffentliche Recht stärker einbeziehen wollte, übrigens eine 
Klärung der Anschauungen nicht erzielt wurde. Auf dem Deutschen 
Juristentage in Wien (1912) habe der Referent Gerland sich auf die 
Vorbildung der Richter und Rechtsanwälte beschränkt, und die All- 
gemeinheit des Problems sei nur durch Hanausek gerettet worden. 

Gegenüber diesen Vorgängen postuliert Schmid eine eigene »Ver- 
waltungswissenschaft« (innerhalb deren das Recht der Verwaltung 
nur einen Teil bilde) unter Anwendung sowohl deskriptiver wie ver- 
waltungspolitischer Methode; und zwar sei das Studium, da es den Uni- 
versitätsstudenten in seinem ganzen Umfange nicht zugemutet werden 
könne, in spätere Lebensjahre zu verlegen. Als Trägerin aller darauf 
abzielenden Bestrebungen sei eine »Deutsche Vereinigung für Verwal- 
tungswissenschaft« zu gründen, zu deren in einem eigenen Abschnitt 

3) Ob auch von der in Begründung befindlichen »Fürst-Leopold-Akademie 
für Verwaltungswissenschatt« in Detmold, ist aus den bisher bekannt gewor- 
denen Mitteilungen nicht ersichtlich, 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 3. 62 


960 J. Jastrow, 


(S. 10—22) dargelegten Aufgaben noch die Zentralisierung des gesamten 
in der Praxis erwachsenen Stoffes an Denks hriften, Beratungsord- 
nungen usw. (S. 19) hinzuzunehmen ist. Die Krönung des so geplanten 
Werkes soll eine ¿Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaft« 
bilden (S. 23—27). Für die Vereinigung sowohl, wie für die Hochschule 
werden im Anhange Satzungsentwürfe gegeben. — — — 


In dem Grundgedanken, daß für eine zukünftige Reform der Ver- 
waltung oder der Verwaltungsstudien die besonderen Kriegsprobleme 
nicht die Hauptsache zu bilden haben, sondern der allgemeine Gedanke 
einer Lehre von der Verwaltung und des Studiums dieser Lehre, stimme 
ich mit dem Verfasser überein. Hiermit soll nicht etwa das, was in der 
bisherigen Kriegsliteratur zur Begründung einer Kriegswirtschafts- 
oder Kriegsverwaltungslehre inhaltlich geboten wird, als unbeachtlich 
hingestellt werden ; wie denn von keinem geringeren als von v.Mayr >) 
bereits Vorarbeiten zu einer Systematik vorliegen. Aber wenn eine Ver- 
waltung sich einem Aufgabenkomplex nicht gewachsen gezeigt hat, so 
verspreche ich mir niemals von einer besonderen Fürsorge für die 
Probleme etwas, von denen man überrascht worden ist. Eine gute 
Verwaltung muß so konstruiert sein, daß sie auch überraschenden 
Aufgaben gewachsen ist. Dies muß für die Zukunft angestrebt wer- 
den, und es kann nur geleistet werden durch bessere Vorbildung und 
durch Vervollkommnung der Theorie, aber nicht durch besondere 
und infolgedessen übertriebene Betonung jenerProbleme, von denen man 
ohne Grund annimmt, daß sie auch die Ueberrraschungen einer zu- 
künftigen Generation sein werden. Ich halte an dem, was ich vor 
15 Jahren über Begriff und Bedeutung der »Verwaltungswissenschaft« 
geschrieben habe #), fest, und bin der Meinung, das die Kriegser- 
fahrungen mir recht gegeben haben. 

$) Volkswirtschaft, Weltwirtschaft, Kriegswirtschaft. (Berlin und Leipzig 
1915, 64 S. (aus Archiv f. Rechts- und Wirtschaftsphylösophie 8, 9); Der Krieg 
und die Staatswissenschaften: »Der Tage, 10. Okt. 1915 (Nr. 238). — Dazu 
von Ferd. Schmid selbst: »Kriegswirtschaftsiehre« Leipzig, Veit 1915. 

150 S.). 

> 4) Jastrow, Sozialpolitik und Verwaltungswissenschaft, Bd. ı. Berlin. G. 
Reimer 1902, S. 28—42 (Abschnitt »Was ist Verwaltungswissenschafte) Ob 
Schmids Urteil (s. o. S. 958) daß die Aussichten für eine Berücksichtigung 
derartiger verwaltungswissenschaftlicher Studien in Oesterreich noch geringer 
seien als bei uns, richtig ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber ich will 
nicht unterlassen, die Leser dieser Zeitschrift auf die umfangreichen und nach 
den verschiedensten Seiten hin belehrenden Arbeiten der österreichischen Kom- 
mission zur Förderung der Verwaltungsreform aufmerksam zu machen. Sie 
liegen vor (Wien, gedruckt in der Staatsdruckerei fol.): in drei Jahresberichten 
(Juni 1911/14), deren drittem eine Mappe Beilagen beigegeben ist; einer 
Mappe und 5 Heften sAnträge« (darunter die von Schmid erwähnten betr. 
Reform der rechts- und staatswissenschaftlichen Studien); einem Bande, »En- 
quete« (Okt.-Nov. 1912); einem Sonderbericht von J. Redlich betr. Finanzver- 
waltung. — Die Preußische Immediatkommission ist zwar bereits aufgelöst; 
doch sind für eine Bearbeitung der Ergebnisse aus ihren Protokollen zwei 
Referenten ernannt. — Ueber die einschlägigen Fragen der Kriegszeit vgl. die 








Das Studium der Verwaltungswissenschaft nach dem Kriege. 961 


In der Frage der Gestaltung der Studien handelt es sich um drei 
verschiedene Fragen: die Studien während der Universitätszeit, 
die Studien nach der Universitätszeit, und die Beschaffung der 
Einrichtungen (Sammlungen) für beide. 

In den Debatten über die Studien in der Universitätszeit sehe 
ich mit ziemlicher Bestimmtheit eine Wendung kommen. Diese Er- 
weiterungen stehen alle noch unter dem Zeichen des Protestes gegen 
den Assessorismus, d. h. gegen die Anschauung, als ob juristische 
Bildung befähige, Verwaltung zu üben. Sowie es aber ernst damit 
werden soll, Nationalökonomie in die Verwaltung hinein zu bringen 
und also das Studium der Nationalökonomie so zu gestalten, daß der 
»praktische Volkswirt« an den Stellen brauchbar ist, in die er gelangt, 
werden wir alle sehr bald einsehen 5), daß er hier juristische Kenntnisse 
im höchsten Maße nötig hat. Diese Reformliteratur wird — nicht weil 
sie ihren grundsätzlichen Standpunkt, sondern weil sie die Adresse 
ändert, an die sie sich wendet — je länger je mehr die Ausführungen 
über die Einseitigkeit der Juristen beschränken müssen zugunsten von 
Ausführungen darüber, wie notwendig das Studium der Jurisprudenz 
diesen Nationalökonomen ist. Dies gilt nicht bloß von der juristischen 
Bildung im allgemeinen, sondern namentlich auch von der im Verwal- 
tungsrecht. Schon aus dem äußerlichen Grunde, weil im Laufe der 
letzten Jahrzehnte die Literatur über Verwaltungsfragen zu ?/ , eine 
Literatur über das Recht der Verwaltungsfragen geworden ist. Wer 
heute eine dieser Fragen studieren will, findet den literarischen 
Einsatzpunkt fast immer nur in ihrer juristischen Seite. Auch kann er 
sich über das Gefächer der Verwaltung einerohe Uebersicht nur schwer 
anders erwerben, als durch ein Lehrbuch des Verwaltungsrechts, das 
ihm den Rahmen zwar in durchaus ungenügender, oft in irreführender 
Weise, aber immerhin doch einen Rahmen liefert. Nach meinen Erfah- 
rungen ist es kaum möglich, die Kritik der juristischen und insbeson- 
dere der verwaltungsrechtlichen Einseitigkeit in dem Maße, in dem es 
für die Wissenschaft notwendig ist, auf dem Katheder fortzusetzen, 
ohne das gröbliche und gefährliche Mißverständnis hervorzurufen, daß 
das Studium des Verwaltungsrechts überflüssig sei. — Da übrigens 
für 'absehbare Zeit als Hörer für Verwaltungswissenschaft haupt- 
sächlich Studierende der juristischen Fakultät in Betracht kommen, 
sind die Hoffnungen, so lange das juristische Studium in seiner gegen- 
wärtigen Verfassung bleibt, äußerst bescheiden. Diese Studierenden 
sind mit großen Kollegien so bepackt, daß neben den hergebrachten 
volkswirtschaftlichen Vorlesungen ihnen für große verwaltungswissen- 
schaftliche Vorlesungen weder die Zeit noch in vielen Fällen die er- 
forderlichen materiellen Mittel bleiben. Da man nun billigerweise 
Ausführungen meines Aufsatzes »Die Organisationsarbeit nach dem Kriege und 
die Aufgaben der Wissenschaft«, in Schmollers Jahrbuch f.Gesetzgebung 40 ® 
(1916), namentlich S. 138 bis 139. Beispiele aus den verschiedensten Zweigen 
der Verwaltung habe ich in dieser Zeitschrift, Bd. 43, S. 42—107. 397—437 
(Wirtschaft und Verwaltung nach dem Kriege«) besprochen. 

5) Vgl. die erwähnten Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik 1907 


(Schriften, Bd. 125, ersch. 1908). 
62 * 


962 J. Jastrow, 


nicht einem Einzelfache zuliebe eine radikale Umwandlung der Unter- 
richtsverfassung einer ganzen Fakultät fordern darf, so wird das Schick- 
sal der Verwaltungswissenschaft an den Universitäten im wesentlichen 
davon abhängen, ob man aus anderen Gründen endlich 
aufhören wird, sich in der juristischen Fakultät mit Einzelmaßregeln 
zu begnügen und die radikale Frage ®) stellen wird, ob diese Fakultät 
in dem ganzen bisherigen Aufbau der Vorlesungen und Uebungen sich 
auf richtigen Wege befunden hat. Wird diese Frage bejaht, so muß die 
Verwaltungswissenschaft sich bescheiden und mit einer untergeordne- 
ten Rolle zufrieden sein; wird die Frage verneint, dann ist der Zeit- 
punkt gekommen, um die Ansprüche auch dieser Wissenschaft anzu- 
melden. Aber auch dann wird eine gewisse Zurückhaltung immer noch 
erforderlich sein. Das Studium der Verwaltung ist kein geeigneter 
Gegenstand zu breiter Beschäftigung für junge Leute, die das prak- 
tische Leben noch nicht kennen, und denen infolge dessen das fehlt, 
was in Unterrichtsgegenständen dieser Art die Hauptsache ist: die An- 
schauung. Kommt es zu einer wirklichen Reform der juristischen Stu- 
dien, so ist es indes nicht ausgeschlossen, daß auch dieser Mangel bis 
zu einem gewissen Grade behoben wird. 

Das zweite Problem betrifft das Studium nach der Univer- 
sitäts- und Vorbereitungszeit. Sie ist das eigentliche Ziel der Schmid- 
schen Denkschrift. Was er hier plant, verzeichnet er an verschiedenen 
Stellen als die »Generalstabsschule« für Zivilbeamte o. ä. (S. 25 und 
26) und meint damit jedenfalls eine Akademie analog der Kriegsaka- 
demie, aus der die Generalstabsoffiziere hervorgehen. Für das Avance- 
ment in der Armee haben wir geradezu zwei Arten von Offizieren, solche, 
die, durch Kriegsakademie und Generalstab hindurchgegangen, mit 
schnellerem Avancement für hohe Stellen in Aussicht genommen sind, 
und solche, die nur soweit gelangen, wie sie es im gewöhnlichen Avance- 
ment bis zur Altersgrenze bringen können. Bis zu einer vollen Analogie 
hiermit wird der Verfasser vermutlich nicht gehen wollen. Denn wir 
werden für unsere Verwaltungswissenschaft nicht entfernt eine Bedeu- 
tung in Anspruch nehmen können, wie sie die höhere Strategie seit 
Menschenaltern, ja vielleicht seit Jahrhunderten besitzt. Für abseh- 
bare Zeit zum mindesten werden persönliche Befähigung und literari- 
sche Hilfsmittel je nach der Individualität so Bedeutendes leisten kön- 
nen, daß wir für jenen Weg wohl nicht mehr werden in Anspruch 


©) Dieser scheint gegenwärtig eine neue’Gefahr in Gestalt der Erleichterungen 
zu erwachsen die den Kriegsteilnehmern gewährt werden sollen. Bis jetzt wenig- 
stens berücksichtigen die Besprechungen darüber in der Oeffentlichkeit weder die 
Frage, inwieweit vorgeschlagene Erleichterungen die Privilegierten und den 
ihnen anvertrautenBeruf schädigen,noch auch andererseits die uns hier interessie- 
rende Frage: ob nicht Verzichte, die man sich aus Anlaß der Zustände nach dem 
Kriege mühsam als Ausnahme abringen läßt, vielleicht geeignet sind, als dauernde 
Regel eingeführt zu werden. Es ist nicht richtig, daß eine Ausnahmezeit wie die 
nach dem Kriege für eine durchgreifende Reform in dieser Beziehung unge- 
eignet sei. — Die Konferenz von Rektoren und juristischen Dekanen, die Anfang 
Januar 1917 in Eisenach zur Beratung über die juristischen Studien nach dem 
Kriege zusammentrat, bat ihre Beratungen vertraulich behandelt. 








Das Studium der Verwaltungswissenschaft nach dem Kriege. 963 


nehmen können, als daß er eine Bildungsmethode unter mehreren dar- 
stelle. Wie sich der Verfasser die geplante neue Hochschule im Ver- 
hältnis zu den gegenwärtigen staatswissenschaftlichen Fortbildungskur- 
sen denkt, ist nicht ganz klar.Sowohl für seine»Vereinigung «wie für seine 
»Hochschule« sieht er in den Satzungen Berlin als Sitz vor und unter- 
stellt die Hochschule der Aufsicht der preußischen Verwaltung (S. 31). 
Von dieser sind die bestehenden Fortbildungskurse ausgegangen. Ob 
nun sein ungünstiges Urteil über die Fortbildungskurse mit Plänen 
der preußischen Unterrichtsverwaltung zusammenhängt, oder ob das. 
Gegenteil der Fall ist, ist aus der Denkschrift nicht zu ersehen ?). 
So sicher die Verwaltungswissenschaft auf breiter Basis erst 
in einer derartigen Akademie für Praktiker vorgetragen werden kann, 
ebenso sicher ist auch, daß nach deutschen Verhältnissen ihre wissen- 
schaftliche Zukunft trotzdem von ihrer äußeren Stellung an den Uni- 
versitäten abhängig sein wird. Die Behauptung des Verfassers, daß 
mit Ausnahme von Leipzig nirgends eine Lehrkanzel für diese jüngste 
Tochter der Staatswissenschaften bestehe« (S.4), mag in ihrer Richtigkeit 
von dem abhängen, was unter Bestehen einer Lehrkanzel zu begreifen 
ist (das Extraordinariat des Verfassers dieses Aufsatzes an der Universi- 
tät Berlin ist für »Verwaltungswissenschaft« bezeichnet). In der Haupt- 
sache aber hat Schmid recht und würde selbst dann noch recht behalten, 
wenn im Laufe der nächsten Jahre das Wort Verwaltungswissenschaft 
aus Anlaß von Ernennungen öfter gebraucht würde. Die Geschichte 
aller Disziplinen in Deutschland wird gleichmäßig den Beweis dafür 
liefern, daß die Autorität unserer Universitäten zu groß ist, als daß 
irgend ein Fach zu gleichwertiger Anerkennung in unserer wissenschaft- 
lichen Welt sich früher durchsetzen könnte, als bis ihm gleichstellende 
Anerkennung in allen Aeußerlichkeiten an den Universitäten zuteil 
geworden ist. Wenn heute in Deutschland das Sanskrit volle Anerken- 
nung als Objekt einer eigenen Wissenschaft genießt und das Keltische 
nicht, so wird der Grund ganz allgemein darauf zurückgeführt, daß keine 


7 Zwischen dem Studium der Anfänger und dem der bereits erfahrenen 
Praktiker gibt es übrigens auch noch einemittlereLerngelegenheit,die in gewissen 
Kursen an den technischen Hochschulen (zweite Hälfte der Studienzeit, vielfach 
bereits nach praktischer Tätigkeit) zu finden ist. Seit Jahren betreibt W.Franz- 
Charlottenburg die amtliche Anerkennung von »Verwaltungsingenieuren«, tür 
die er, unter Abänderung der preußischen Gesetze von 1879 und 1906,eine ähnliche 
Zulassung wie für Regierungsreferendare und die gleiche Stellung wie für Regie- 
rungsassesoren in Anspruch nimmt. In dem Samm.lwerke von Bozi und 
Heinemann »Recht, Verwaltung und Politik im neuen Deutschlande« 
(Stuttgart, Encke 1916) ist der Abschnitt » Juristische Vorbildung und Auslese 
der Verwaltungsbeamtens (S. 19—32) von ihm bearbeitet. Vergleiche ferner 4 
Aufsätze desselbenVerfassersin »Technik und Wirtschaft« 1910, 1913,1916, sowie 
seine Sammlung von Aufsätzen »D- r Verwaltungsingenieur« Berlin und München, 
Oldenbourg 1908. — Schmid übersiebt die technischen und anderen Hochschulen 
nicht (S. 14), erwähnt aber die Eigenart dieser Vorgänge nicht. An der technischen 
Hocbschule Charlottenburg besteht bereits, allerdings bis jetzt nur in der Abtei- 
lung für Maschinenbau, die Möglichkeit, in der zweiten Hälfte der Studien diese 
auf den zukünftigen »Verwaltungsingenieur« einzurichten. 


964 J. Jastrow, 


Universität es duldet, wenn sie ohne Sanskritvertreter gelassen wird, 
während der gleiche Anspruch für das Keltische nicht durchgesetzt 
ist. Das ist der wahre Grund, weswegen eine angemessene Vertretung 
der Verwaltungswissenschaft an den Universitäten gefordert werden 
muß. Und mit dem Eingestehen dieses wahren Grundes erweist man 
der Sache einen viel besseren Dienst, als wenn man die Forderung mit 
der Notwendigkeit für die Studien rechtfertigt und damit trotz gegen- 
teiliger Versicherungen den Verdacht hervorruft, daß hier dem ohnedies 
. schon stark belasteten Studenten noch ein »Hauptfach« mehr aufge- 
bürdet werden soll 8). 

Den Studien an der Universität wie an der geplanten Verwal- 
tungsakademie gemeinsam ist der Studienapparat für den 
Schmid die große Sammlung an Drucksachen und anderem Material 
aus der Praxis plant. In Begrenzung auf kleine Gebiete habe ich der- 
artige Sammlungen zweimal versucht. Fast seit Bestehen des Gewerbe- 
gerichtsgesetzes von 1890 war ich bemüht, die einschlägigen Materialien 
zu sammeln, und mit dem ersten auf praktische Verwaltungszwecke 
gerichteten Annäherungsversuch der Arbeitsnachweise in der Karls- 
ruher Konferenz von 1897 habe ich eine Ausstellung von Drucksachen 
dieser Anstalten die sich in meinem Besitz befanden, verbunden. 
Beide Male mußte ich, für das Unternehmen breitere Schultern suchen 
und habe die privaten Sammlungen an den Verband deutscher Gewerbe- 
und Kaufmannsgerichte, sowie an den Verband deutscher Arbeits- 
nachweise abgetreten. Anscheinend hat sich die Ausdehnung über alle 
einschlägigen Gebiete und namentlich die Verwaltung der Sammlungen 
unter dem Gesichtspunkte der Evidenthaltung und leichten Zugäng- 
lichkeit selbst in dieser Begrenzung auf Einzelobjekte nocht nicht 
durchführen lassen. Sehr umfangreich sind die Sammlungen der Zentral- 
stelle für Volkswohlfahrt und der damit verbundenen Zentralstelle 
für Armenpflege und Wohltätigkeit in Berlin. Nach dem Muster des 
Pariser Musée Sozial sind in Frankfurt a. M. und anderen Orten 
»Soziale Museen« gegründet worden. Das großangelegte Archiv der 
Zentrale des deutschen Städtetages teilt die Schicksale dieser Organi- 
sation, der seit Beginn des Weltkrieges ganz andere Aufgaben erwach- 








s) Daß es sich hier um eine wirkliche Meinungsverschiedenheit gegenüber 
Schmids Betonung der Spezialisierung (s. o. S. 958) handle, glaube ich nicht. Nach 
meiner Meinung darf niemanden die Vertretung eines Teiles der »Staatswissen- 
schaften« anvertraut werden, dem man nicht zutraut, daß er imstande sei, alle 
ihre Teile zu vertreten. Vollends aus der »Verwaltungswissenschaft« eine »Spe- 
zialität« zu machen, würde ich schon deswegen nicht befürworten können, weil 
ich als grundlegendes Element dieser neu aufzubauenden Wissenschaft von jeher 
ihren umfassenden Charakter und ihren Protest gegen die Herrschaft irgend 
eines Spezialistentums in der Verwaltung angesehen habe (s. das in Note 4 
angeführte Buch, namentlich S. 33—36.) Damit ist es wohl vereinbar, jedem 
Lehrer der »Staatswissenschaften« neben seinem allgemeinen auch noch einen 
besonderen Lehrauftrag zu geben. Ich glaube nicht, daß Schmid mit dem oben 
5.959 abgedruckten Zitat etwas anderes gemeint hat. — Dagegen tritt v. Mayr 
in seiner Besprechung von Schmid (der Tag 25. und 23. Aug. 1916, Nr. 196/7) 
grundsätzlich für die Universität als Hauptlehrstätte ein. 


Das Studium der Verwaltungswissenschaft nach dem Kriege. 965 


sen sind, als die beschauliche Pflege verwaltungswissenschaftlicher 
Vorarbeiten. Gemeinsam ist allen diesen Versuchen die Erfahrung, daß 
bei der Begründung der Umfang der Aufgabe auch nicht annähernd 
geahnt worden ist °). Früher oder später wird an einen Apparat, wie 
den vorgeschlagenen, herangegangen werden müssen. Das äußere 
Zeichen dafür, ob der Umfang der Aufgabe richtig eingeschätzt ist, 
wird darin liegen, daß man von vornherein ein eigenes Gebäude da- 
für errichtet, und zwar nicht ein kleines. 


Die Beurteilung aller dieser Reformfragen wird zu einem erheb- 
lichen Teile davon abhängen, daß man sich historisch darüber 
Rechenschaft gibt, wie das heutige Problem einer besonderen Verwal- 
tungswissenschaft entstanden ist. Die Vorstellung, daß mit der Verwal- 
tungswissenschaft etwas Neues gefordert werde, ist so unrichtig, daß 
man sie vielmehr als den ältesten Bestandteil der sogenannten 
»Staatswissenschaften« anzusprechen hat. Die alte Kameralistik war 
ihrem Ursprung und ihrem Wesen nach eine Literatur zur Verwaltungs- 
technik, bestimmt, zukünftige Verwaltungsmänner in alles das einzu- 
führen, was sie für Verwaltung der fürstlichen »Kammere nötig hatten. 
Sieht man von der auswärtigen Politik und den Gerichten ab, so gibt 
es schlechterdings keinen Zweig der Verwaltung, den nicht die alte 
Kameralistik behandelte. Dies gilt nicht nur von ihrem Vorläufer 
Veit v. Seckendorff, nach dessen »Teutschem Fürstenstaat« ganze 
Generationen von Fürsten erzogen wurden, sondern ebenso noch von 
den Vertretern der Kameralistik auf ihrer Höhe, Justi, Sonnenfels 
und allen ihren Zeitgenossen. Erst als die Physiokraten des 18. Jahr- 
hunderts und nachher die Schule von Adam Smith und seinen Nach- 
folgern aus der Betrachtung des wirtschaftlichen Lebens als eines Na- 
turvorganges eine eigene, theoretische Wissenschaft machten, und 
vollends als im Laufe des Ig. Jahrhunderts neben die theoretische 
»Nationalökonomie« (ein Spezifikum der deutschen Universitäten) 
besondere Vorlesungen über praktische Nationalökonomie traten, 
d. h. in der Hauptsache über Agrar-, Gewerbe- und Handelspolitik, 
mußte jetzt dem, was von Verwaltungsfragen übrig blieb, eine eigene 
Vorlesung gewidmet werden. Da man diesen Rest wesentlich unter 
dem Gesichtspunkte der polizeilichen Fürsorge für die Untertanen 
auf den verschiedensten Gebieten der Verwaltung betrachtete, so nannte 
man diese Vorlesung »Polizeiwissenschaft«. In der ganzen Zeit, in der 
die ersten Smithianer anfingen in Deutschland herrschend zu werden, 
in der später, von den 20er bis in die 60er Jahre, die Rauschen Lehr- 
bücher der theoretischen und der praktischen Nationalökonomie 
in einer Auflage nach der andern die zukünftigen Verwaltungsmänner 
Preußens und Deutschlands in die wirtschaftlichen Lehren einführten, 
erschienen auch die Handbücher der Polizeiwissenschaft von Berg, 


") Ueber eine Einbeziehung der außerhalb des Buchhandels stehenden Ver- 
waltungsmaterialien in öffentlichen Biblictheken liegen zu wenige Nachrichten 
vor, als daß man bis jetzt darüber urteilen könnte. 


966 J. Jastrow, 


(1799/1802), Burckhardt (1808), Zimmermann (1845/8) u. a. m. 
Noch im Jahre 1866 hat die letzte »Polizeiwissenschaft«e, von Robert 
v. Mohl herrührend, eine dritte Auflage erlebt. Die Vorlesungen über 
Polizeiwissenschaft erhielten sich bis in die 70er Jahre hinein, also 
bis in die Zeit, in der der Polizeistaat bereits verrufen war, und die 
Einengung der Polizei auf ein möglichst geringes Maß von Bewegungs- 
freiheit politisches Ideal geworden war. Die Ankündigung im Vor- 
lesungsverzeichnis wurde nicht mehr verstanden, weil die meisten 
Studierenden sich darunter eine Anleitung dachten, wie man als 
höherer Beamter Schutzleute zu instruieren habe. Und da die Vorle- 
sung keine Anziehungskraft mehr auszuüben vermochte, so suchte man 
sie ihr dadurch zu verleihen, daß man ihr den erklärenden Beisatz 
»Verwaltungslehre« o. ä. hinzufügte. Das war gerade die Zeit, wo 
Lorenz v. Stein bereits erkannte, daß aus der Nationalökonomie oder 
den akademisch sogenannten Staatswissenschaften nach Ausscheidung 
des Wirtschaftlichen im engeren Sinne die Aufgabe einer wissenschaft- 
lich fundierten »Verwaltungslehre«e als literarische Notwendigkeit 
erwuchs. Als mit jener 3. Auflage von Robert v. Mohl die Polizeiwis- 
senschaft in der Literatur sozusagen die Visitenkarte mit p. p. c. ab- 
gab, war gerade im Jahre vorher (1865) der Anfangsband des Monu- 
mentalwerkes Lorenz’ v. Stein erschienen. Nun war die natürliche 
Möglichkeit vorhanden, daß in das Vakuum, das durch Verschwinden 
der Vorlesungen über Polizeiwissenschaft entstand, die sich ent- 
wickelnde Verwaltungswissenschaft ohne weiteres hätte einrücken 
können. Wenn das nicht geschah, so hatte es wohl seinen Grund haupt- 
sächlich darin, daß im Vorlesungsverzeichnis gerade um diese Zeit 
das Wort Verwaltung sich an einer anderen Stelle einführte: in der 
juristischen Fakultät kamen Vorlesungen über Verwaltungsrecht auf. 
Auf Gneists Schrift »Verwaltung, Justiz, Rechtsweg« (1869) ging das 
Urgesetz der neueren preußischen Verwaltungsreform, die »Kreis- 
ordnung« von 1872 in so hohem Maße zurück, daß Gneist der Rechts- 
grundlage, die hiermit der preußischen Verwaltung geschaffen wurde, 
ein eigenes kleines Publikum, eine einstündige Vorlesung, widmete, 
der er den Namen »Verwaltungsrecht« gab. Der Stoff für diese Vorlesung 
war äußerst bescheiden, um nicht zu sagen dürftig. Denn es war her- 
gebracht, die rechtlichen Schranken, die der Verwaltung gezogen waren, 
zum Verfassungsrecht zu rechnen und sie in den Vorlesungen über 
Staatsrecht zu erledigen. Als Gneist die Vorlesung zum erstenmal zwei- 
stündig (übrigens auch noch »öffentlich«, d.i. unentgeltlich) ankün- 
digte — es muß etwa in den Jahren 1876 /77 gewesen sein — begrün- 
dete er dies mit dem inzwischen hinzugewachsenen neuen Stoff der 
Gesetzgebung und der Praxis und fügte, über diesen aus seiner literari- 
schen und parlamentarischen Wirksamkeit erwachsenen Erfolg 
schmunzelnd, hinzu: er werde schließlich Verwaltungsrecht noch als 
großes vierstündiges Kolleg lesen müssen, was das Auditorium als guten 
Witz mit Beifall beloehnte. Nachdem nun das, was damals spaßhaft 
war, heute ernst geworden ist, und es kaum noch eine deutsche Uni- 
versität geben wird, an der nicht in der Tat Verwaltungsrecht als 


Das Studium der Verwaltungswissenschaft nach dem Kriege. 967 


sgroßes vierstündiges Hauptkolleg« gelesen wird, schien das Bedürfnis 
nach »Verwaltunge durch diese Stelle des Vorlesungsverzeichnisses 
gedeckt. Wenn ein Standardwerk wie das Lorenz’ v. Stein, ein stau- 
nenswertes Wunderwerk in seiner Verbindung von unermüdlicher 
Sammlung und tiefdenkender philosophischer Durchdringung des 
Materials, nicht imstande war, den in Mißkredit gekommenen Namen 
der Polizeiwissenschaft durch den der Verwaltungslehre oder Verwal- 
tungswissenschaft zu ersetzen, so ist dies kaum durch etwa anderes 
zu erklären, als dadurch, daß für den gewöhnlichen Universitätsbetrieb 
das Wort »Verwaltung« an einer andern Stelle aufgetaucht war. Da 
nun aber die Lehre von den rechtlichen Grenzen, die der Kunst des 
Verwaltungsmannes gezogen sind, und die Lehre von dieser Verwal- 
tungskunst selbst zwei verschiedene Gegenstände sind, so fiel dieser 
zweite Gegenstand im Universitätsunterricht aus, ohne daß je- 
mand diese Aenderung beabsichtigt hätte. 

Es gibt kaum eine Frage der Verwaltungswissenschaft, die nicht 
im Verwaltungsrecht vorkommt, aber sie kommt immer nur vor unter 
dem Gesichtspunkt, welche bindenden Schranken in dieser Beziehung 
das Recht aufgerichtet hat (oder allenfalls de lege ferenda aufrichten 
soll). Es ist schon ganz richtig, daß der junge Jurist hier von den 
Dingen, die ihn nachher in der Verwaltung beschäftigen können, etwas 
reden hört; aber es wird ihm immer nur unter dem Gesichtspunkt vor 
Augen gestellt, welche Gesetze er nicht verletzen darf. Daß nun in 
ihm die Vorstellung erweckt wird, er wisse jetzt etwas von der Kunst 
des Verwaltens ist nicht eine Bereicherung seines Wissens, sondern ein 
sehr bedeutender neuer Minusposten. Wer mit jungen Assessoren 
in der Verwaltung zu tun hatte, weiß, wie schwer dieser Minusposten 
ins Gewicht fällt. Es kann natürlich nicht bestritten werden, daß der 
größte Teil unserer Verwaltungsleistungen mit dem Menschenmaterial 
vollbracht ist, das aus einem solchen Assessorentum hervorging. Aber 
die Frage, ob dies gelungen ist, weil oder obgleich sie durch ein Kolleg 
über Verwaltungsrecht schief eingefahren waren, darf keineswegs so 
ohne weiteres zugunsten der ersteren Alternative entschieden werden. 

Erst der historische Ueberblick über die Entstehung des Problems 
macht uns die Stellung der heutigenVerwaltungswissenschaft (in statu 
nascendi) zur Disziplin des Verwaltungsrechts in ihrer merkwürdigen 
Eigenart klar. Es ist einerseits unmöglich, zu einer Wissenschaft 
von der Verwaltung zu gelangen, wenn man sie an die Lehre vom Rechte 
der Verwaltung anlehnen wollte, deren Herrschaftsstellung gerade 
schuld daran ist, daß wir jene Wissenschaft nicht erhalten haben, ja 
sogar ihre sehr respektablen Anfänge dem Verkümmern anheim gaben; 
das österreichische Zugeständnis, daß die Verwaltungswissenschaft 
zusammen mit dem Verwaltungsrecht vorgetragen werden solle, heißt 
also in dieser Beziehung den Bock zum Gärtner machen. Andererseits 
aber ist die literarhistorische Entwickelung der letzten Jahrzehnte 
nicht einfach zu streichen, und aus diesem Grunde kann die neue Lite- 
ratur der Verwaltungs wissenschaft nicht entwickelt werden, 


.. m — - e a 


968 J. Jastrow, Das Studium der Verwaltungswissenschaft nach dem Kriege. 


ohne daß beständig die Einsatzpunkte berücksichtigt werden, die die 

Literatur über Verwaltungsrecht bereits gibt. Sich des Verwal- 

tungsrechts bedienen, ohne sich von ihm beherrschen oder auch nur 

ae zu lassen, das ist das wissenschaftliche und pädagogische 
oblem. 


969 


Das Buch von Köln. 


Von 


MATHIEU SCHWANN. 


Aus dem erwählten Titel möge man erkennen, daß es sich bei 
dem Buche, worüber hier berichtet werden soll, nicht um eine wissen- 
schaftliche Veröffentlichung allein handelt, sondern um ein Werk, 
das wieder einmal ganz als Kunstwerk historischer Darstellung ge- 
nommen sein will, und dessen Verfasser von dem Willen des Polybius 
erfüllt war, seine Arbeit zugleich als eine Quelle des »Nutzens und 
Vergnügens« erscheinen zu lassen. Aus diesem Grunde sei es gestattet, 
den Rahmen einer nur kritisch-akademischen Besprechung von vorn- 
herein zu verlassen und eine Form zu wählen, die solcher Arbeit ge- 
genüber als die würdigere erscheint: nicht nur Kritik, sondern An- 
erkennung und freudiger Dank. 

Die letzten Jahre sind ja im Hinblick auf die geschichtliche Er- 
forschung und Darstellung unseres rheinischen Lebens recht frucht- 
bar gewesen. So haben die Führer des rheinischen Lebens, die Hanse- 
mann, Harkort, Mevissen, von der Heydt, Camphausen in Mono- 
graphien, wie sie in den kenntnisreichen Arbeiten Bergengrüns über 
Hansemann und von der Heydt, in dem tiefdringenden Werke Han- 
sens über Mevissen und in anderen Arbeiten vorliegen, ihre manch- 
mal mehrfachen Darstellungen gefunden. Wohl gibt es noch Lücken 
in diesem Reigen. So fehlt z. B. eine wirkliche Biographie Hermanns 
von Bcckerath; es fehlt, um nur bei Köln zu bleiben, an Monographien 
über die ‚Mallinckrodts, vom Rath, Hölterhoff u. a. Monographien aber 
Felten und Guilleaume, Langen, Farina sind zum Teil auf Veranlas- 
sung des Rheinisch-Westfälischen Wirt:chaftsarchivs in Bearbeitung 
genommen, so daß sie nach Beendigung der schweren Kriegszeit wohl 
bald der Oeffentlichkeit übergeben werden können. Die Lücken der 
Darstellung auszufüllen muß man heute noch auf die vielen Fest- 
und Erinnerungsschriften einzelner Unternehmungen zurückgreifen, 
Denkschriften, wie sei bei Krupp, Haniel, Stinnes u. a. vorliegen, und 
die zum Teil auch für die wissenschaftliche Erkenntnis von großem 
Werte sind. Aber gar erst, wenn man den Kranz der rheinischen und 
westfälischen Städte abwandert — welche Fülle von Leben aller Art, 
das einer geschichtlichen Feststellung und Festlegung wert wäre! 


970 MathieuSchwann, 


Auch nach der anderen Seite einer größeren, systematischen 
Zusammenfassung sind bedeutende Fortschritte erzielt worden. So 
beschenkte uns Weisweiler mit einer Geschichte des Rheinpreußischen 
Notariats. Der Fachmann spricht hier nicht nur zu den Männem 
seines geliebten Standes, sondern auch zu einem größeren Leserkreis. 
Und mit an erster Stelle die prächtige Arbeit Kurt Wiedenfelds über 
die Entwicklung der rheinischen Schwerindustrie in den letzten 100 
Jahren, die in großem Zuge diese Entwicklung mit fast naturgesetz- 
lichem Zwange vor uns erstehen läßt. Diese Arbeit ist von einer so 
methodischen Festigkeit und unterrichtenden Eindringlichkeit, daß 
man staunen muß, wie hundertfältige Einzeleinsichten, die Wieden- 
feld bei seiner lebendigen Forschungsart gewann, sich dem Kanon 
seiner nationalökonomischen Erkenntnis einordnen, wie Praxis und 
Wirklichkeit die Theorie stützen und bestätigen, und wie umgekehrt 
die erfahrunggesättigte Theorie wieder in die Praxis und in das Leben 
hinausweisen und -wirken. Wie es hier die Arbeit eines Forschers zu 
einem xtipa eis «el für die geschichtliche und volkswirtschaftliche 
Erkenntnis des rheinischen Lebens brachte, so begrüßen wir nun in 
Eberhard Gotheins Buch »Die Stadt Cöln 1815 
bis Igı5«!) das neuzeitliche Buch von Köln. 

Gothein hatte es übernommen, für das groß angelegte Jubiläums- 
werk der Stadt Köln die Zeit von 1815 bis 1870 zu behandeln. Aber 
schon gleich zu Anfang greift er über diesen Rahmen hinaus. Er bringt 
uns den Rückblick auf die französische Zeit, auf Revolution und 
Kaiserreich, auf den Sturz der alten Verfassung, die französische Ver- 
waltung und auf die Finanzen der Stadt; daran schließt sich die Dar- 
stellung der wirtschaftlichen Verhältnisse während der französischen 
Zeit: Douane und Kontinentalsperre, Handel und Industrie, die 
geistigen Zustände. Erst jetzt hebt die preußische Zeit an mit der 
schweren Frage der städtischen Verfassung und der vielleicht noch 
schwereren der städtischen Finanzen. Denn dieses Köln, einst, vor 
Jahrhunderten, eine Krone unter den deutschen Städten, war eine 
arme Stadt geworden mit Tausenden von Bettlern und Hunderten 
von leer stehenden Häusern, eine arme Stadt auch in bezug auf seine 
geistige Kultur und Verfassung. Und nun wieder, nach kaum 20 Jah- 
ren, wo die alte Handelsstadt sich mühsam, aber geborgen hinter 
den festen Mauern des französischen Prohibitivsystems, in eine In- 
dustriestadt umzuwandeln versucht hatte, der Wechsel der Herr- 
schaft, mit ihm der Wechsel der geographisch-politischen und der 
wirtschaftsgeographischen Lage! 

An sich schon ein ungemütlicher Zustand, der eine volle Neu- 
orientierung nicht nur forderte, sondern auch sehr erschwerte, ge- 
wann man von der neuen Herrschaft auch bald den Eindruck, daß 
sie nicht gerade zur Hebung der Gemütlichkeit ihre Schritte dem 
deutschen Westen zugelenkt hatte, und daß sie recht ungemütlich 
werden konnte, wenn man sich ihren Forderungen zu versagen Miene 





1) Verlag von Neubner. Köln 1916. 


— 





Das Buch von Köln. 971 


machte. Denn dieses sarme Preußen« stellte Forderungen, zwingende 
Forderungen, deren prinzipielle Berechtigung — und das war wohl 
mit der Hauptgrund seiner Unbeliebtheit — man nicht einmal ab- 
leugnen konnte. Unter den Forderungen stand an erster Stelle die- 
jenige der preußischen Schulpflicht, der »Morgengabe des preußischen 
Staates«e an die Rheinlande. Diese Teile der Gotheinschen Darstellung 
sind wohl mit die am meisten anziehenden, wenn sie auch die Rhein- 
lande, wo man so gern das Wort vom vorgeschrittenen Westen gegen- 
über dem etwas mitleidig betrachteten Osten in den Mund nahm, 
als durchaus rückständig zeigen. 

Und das war nicht einmal das einzige Gebiet, wie es der so ernst 
geschilderte Kampf um die Gemeindeordnung erweist, wo mehr der 
Aberglaube, daß alles Gute nur vom Westen kommen könne, als sach- 
liches Urteil und rechtes Bedenken als die Ursache der Zurückweisung 
der preußischen Städteordnung erscheint. 

Unter anderen Einrichtungen hatte die französische Zeit der 
Stadt Köln auch diejenige der Handelskammer hinterlassen. Schon 
bald nach ihrer Schöpfung war die Handelskammer durch den Wechsel 
der verschiedenen Verwaltungen, ja Verwaltungssysteme, gezwungen 
worden, um ihr Dasein und Wesen den entschiedensten Kampf zu 
führen. Noch einmal kehrte eine solche Kampfzeit für sie zurück, 
als die Rheinlande nun preußisch geworden waren. Der Kampf zwang 
zu einer Besinnung auf den eigenen Zweck, auf das eigene Recht, zu- 
gleich aber auch dazu, den Gegner — und das war hier die preußische 
Verwaltung — fest und scharf ins Auge zu fassen. Er nötigte weiter 
dazu, sich mehr vertraut mit der Natur des Staates zu machen. Denn 
das fühlte man von Anfang: in Preußen kommt keiner durch oder 
über die bestehende Ordnung, der nicht Besseres an die Stelle des Be- 
stehenden zu setzen nicht nur den Willen, sondern auch die Kraft 
hat. So wuchs der kritische, zugleich aber auch der schöpferische 
Sinn der Männer, die in der Kölner Handelskammer die Führung über- 
nahmen. Es wuchs damit zugleich eine stolze Tradition empor, und 
es wuchs noch etwas, was man namentlich in Gebieten, wo noch die 
Landwirtschaft den Ausschlag gibt, ebenso häufig wie naturgemäß 
findet: die Kraft und der Zusammenhalt der »Sippschafte. 

In den kleinen, dem Landbau noch nahestehenden Gemeinden 
jenseits des Rheins erhob sich das Werk Einzelner zur Familienunter- 
nehmung empor, da schuf die gegebene Lage die mächtigen Werke 
der Haniel und Stinnes in Mülheim und Ruhrort, der Hasenclever in 
Remscheid, der Remy in Bendorf-Neuwied. Aber auch nach Köln 
drang eine Welle dieses zusammenhaltenden Geistes der Familie; 
sie drang selbst bis in die modernste Form des Wirtschaftslebens hin- 
ein, in die Aktienbank, so daß man mit Recht die Pluralform »die 
Oppenheims, sdie Deichmannss im Volksmunde gebrauchte und 
in s»hochdeutscher« Sprache von »dem Hause« Oppenheim oder Deich- 
mann usw. redet. Die Familie ist da noch vielfach das wirtschaftliche 
und schöpferische Subjekt, am meisten wohl bei der großen Familie 
vom Rath, wo das einzelne Mitglied weder zurücktritt, noch auch 


972 MathieuSchwann, 


führend und alleinbeherrschend hervortritt. Aber selbst hinter den 
zweifellos führenden Männern, wie Camphausen und Mevissen, stehen 
als Heim- und Geschäftswalter, bei dem einen der Bruder, bei dem 
andern der Schwager als durchaus zuverlässige Stützen und Mitar- 
beiter. Ein Stück jenes starken patriarchalischen Sinnes auch hier 
noch! Und sieht man nach den damals noch kleinen Landstädten 
des linken Rheinufers oder der Saar, so findet man in Düren z. B. 
nicht minder den engen, familienhaften Zusammenschluß (Hösch ?), 
Schöller u. a., an der Saar Stumm, Böcking) als das stärkende und 
starkmachende Element wirtschaftlicher Unternehmung. Aus sol- 
chem naturhaftem Boden keimte aber nicht nur die Lust am Besitz 
und Erwerb, sondern zunächst einmal der Wille zur Bildung. 

Ein weiterer Blick in diese Richtung, auf das Emporkommen 
der ersten neuzeitlichen Wirtschaftskräfte im 19. Jahrhundert 
belehrt uns, daß ihre Träger und Vertreter unstreitig zu den Gebil- 
deten gehören, daß sie solche Männer waren, denen nicht nur eine 
energische Schul- und Fachbildung mit auf den Weg gegeben wurde, 
sondern zum Teil gar solche, die sich dann selbständig und mit tiefem 
Ernste in das neu erwachte geistige Leben unseres Volkes hineinge- 
arbeitet und dabei keineswegs in selbstgefälliger Beschränkung die 
allgemeinen Errungenschaften des europäischen Geisteslebens außer 
acht gelassen hatten. Fanden sich doch in einer alten Kaufmanns- 
bibliothek in Mülheim nicht nur die neuesten Fortschritte in der Che- 
mie, sondern ebenso die alten Ausgaben der französischen Klassiker, 
der Voltaire, Diderot, Rousseau. Einen wie großen Einfluß auf das 
fernere, mehr und mehr dem Zufall und der Gunst entzogene 
Wachstum der kommenden Generationen die allgemeine Einführung 
und Hebung des preußischen Schulwesens in den neueren Provinzen 
darum haben mußte, kann man hieran ermessen. 

Aber auch noch in anderer Richtung erwuchs aus jenem festen 
Grunde der Familie und Sippe ein befruchtender Wille. Gothein 
z. B. widmet der Tatsache, daß die rheinische, zumal die Kölner Auf- 
fassung der volkswirtschaftlichen Bedeutung des Kapitals vielfach 
eine andere war, als man sie bei den rein individualistisch gerichteten 
Vertretern der englischen modernen Wirtschaft oder bei der bourgeois- 
dürftigen Gesinnung der Franzosen findet, prächtige Ausführungen. 
Es waltet ein sozial und staatlich gerichteter, lebendiger Geist in 
der Auffassung der rheinischen Führer. Man sträubte sich gegen den 
Effektenhandel, gegen das Börsenspiel überhaupt; man schädigte 
damit in gewissem Sinne auch die Börse des eigenen Platzes, die es 
— allerdings nicht nur aus diesem Grunde — niemals zu rechter Be- 
deutung zu bringen vermochte; der Terminhandel galt lange Zeit 
als der reine Schwindel; man sprach das Wort » Agiotage« mit einem 
gewissen Abscheu aus; und von Merkens über Camphausen bis zu 
Mevissen machte sich die Auffassung in steigendem Maße geltend, 
daß die Assoziation des Kapitals in einer Aktiengesellschaft nur dort 

2) S. namentlich die große und grundlegende Monographie von Justus 
Hashagen: Geschichte der Familie Hoesch. 


Das Buch von Köln. 973 


berechtigt sei, wo große Zwecke von privatem und zugleich öffent- 
lichem Interesse ein solches Zusammenwirken erforderten. Ja, bis 
in die Zeit der Verstaatlichung der Privatbahnen (Ende der 70er 
Jahre) hielt Mevissen an dieser Anschauung fest, die, wie Gothein 
scharfsinnig dartut, damals ohne Aussicht auf Erfolg, heute dennoch 
»in wenig veränderter Form in den gemischten Gesellschaften« wieder 
auflebte. 

Es ist nicht möglich, in einem noch einigermaßen den Raum 
einhaltenden Bericht ein Miniaturbild des ganzen Werkes von Got- 
hein zu geben. Nur an einer Stelle möchte ich darum noch hinein- 
‚bohren, um vielleicht noch eine Kostprobe des reifen Inhaltes zu ge- 
winnen. Aus welcher Gesellschaftsschicht strebte in der Handels- 
stadt Köln die Industrie empor ? Die älteste von Bedeutung — die 
Zuckerindustrie. — die mehr als ein Menschenalter hindurch in Köln 
herrschte und den Stadtfinanzen den stärksten Rückhalt bot, kam 
aus dem Handel, dem ehemals so bedeutenden Kolonialwarenhandel. 
Sie bewahrte sich denn auch bei allem äußeren und technischen Wan- 
del die Beweglichkeit des kaufmännischen Geistes, der sie ins Leben 
rief und der sie wieder abzubauen begann, als das Kölner Gebiet für 
sie anfing bedenklich zu werden. In Magdeburg, dann vollends in 
Schlesien, wo Grund und Boden noch wohlfeiler waren, schlug sie 
ihr Zelt auf, aber die Firma blieb in Köln. Und selbst heute noch, 
wo doch die Rübenzuckerindustrie zur Alleinherrscherin geworden 
ist; wo die alte Kolonialzuckerraffinerie vollkommen verdrängt wurde; 
wo jene die Industrie zum Bunde mit der den Rohstoff liefernden 
Landwirtschaft führte, wurden ihre rheinischen Vertreter nicht von 
der Landwirtschaft aufgesogen, sondern sie verleugnen ihre ehemalige 
Herkunft aus der Kaufmannschaft nicht; sie stehen vielfach bei rein 
kaufmännischen oder industriellen Unternehmungen in führender 
Linie (vom Rath, Langen). Von jener Horazischen Selbstgenügsam- 
keit des 

Beatus ille qui procul negotiis 

Paterna rura bobus exercet suis 

Solutus omni fenore 

ist noch nicht allzuviel in dieses regsame Geschlecht hineingedrungen. 
Gerade aus ihren Reihen ging der gewandte Techniker und große 
Organisator hervor, der, vielleicht angeregt durch den dauernden 
Hinblick auf den Tiefstand des ehemals so blühenden Kölner Hand- 
werks, den durchschlagenden Versuch machte, die Maschinenkraft 
der Klein- und Individualarbeit zu erobern: Eugen Langen. 

In der von ihm und Otto ins Leben gerufenen Deutzer Gasmo- 
torenfabrik betreten wir das rechte Rheinufer. Und wie Deutz und 
Kalk mit der großen Maschinenindustrie des »Humboldte, der che- 
mischen Fabrik der Vorster und Grüneberg heute zur Kölner 
Stadtgemeinde gehören, so auch das seit Jahrhunderten »feindlich 
ante portas« liegende Mülheim. Eingeschlossen wird so von Köln 
wieder die einst von ihm vertriebene Seiden- und Sammetindustrie 
der protestantischen Häuser (heute vor allem Andreae) und das von 


974 Mathieu Schwann. 


Köln des Raumes halber ausgewanderte Karlswerk der Felten und 
Guilleaume. 

Nicht aus der Kaufmannschaft, sondern aus der alten Hand- 
werkerzunft ist diese Weltfirma erwachsen. Solide und vorsichtig 
um sich schauend in der ersten Generation des alten Zunftmeisters 
Feiten, scheint der große Weg doch erst möglich geworden zu sen 
durch das Einströmen des schon wissenschaftlich und technisch be 
rührten und beweglicheren Geistes der Guilleaume, deren zweite 
Generation ihr technisch-wissenschaftliches Interesse fast einseitig 
ausbaut, während sie es der geborenen Felten überläßt, in noch ur- 
ruhigen kaufmännischen Versuchen innerhalb dem bunten Wirrwarr 
der Kölner Bestrebungen das Feld der Zukunft abzutasten. Erst in 
der dritten Generation werden die beiden Strömungen eins — eine 
Harmonie, und sie zeigen sich alsbald von solcher Kraft und Kühn- 
heit, daß sie, nunmehr geeint, bis zur Höhe, bis zur Großunteraeh- 
mung durchstoßen. Von rückwärts gesehen erscheint dieser durch 
vier Generationen entwickelte Fortschritt, womit das so heikle und 
in seiner alten Technik beschränkte Gewerbe der Seilerei von der 
Zunft bis zum größten modernen Kabelwerk den Platz an der Sonne 
gewinnt, als die Tat einer kaum erklärbaren Instinktsicherheit und 
Folgerichtigkeit, ein Typus gleichsam wirtschaftlicher Geschlechter- 
folge vom Ende des 18. Jahrhunderts durch das 19. hindurch. 

Die Frage nach dem »Woher« ist gestellt. Die Antwort wird 
wohl in jedem Falle auf eine neue Nuance weisen und auf eine be- 
sondere innere Ranghöhe führen, denn diese beruht immer auf der 
Tragkraft des Anfangs. Mag uns das hier genügen, wo die Notwendig- 
keit eines Aus- und Aufbaues durch Generationen hindurch vom 
ersten »aus der Masse« herausstrebenden Willens zur Individuation 
für uns sichtbar wurde. Nur noch weitere Namen zu nennen hat kei- 
nen Zweck. 

Diese wirklichen Kämpfe um die Kultur, wie sie bald nach dem 
Zusammenkommen Preußens und der Rheinlande entbrannten, 
werden von Gothein mit vollem und tiefgehendem Verstehen ge- 
schildert, und in dem von ihm nachgezeichneten werdenden Stadt- 
bilde drückt sich die Ausräumung der alten Selbstgenügsamkeit und 
halbdunklen Beschränktheit und die Ausweitung zur Helligkeit, zu 
gesunder Luft und klarem Licht, nocheinmal wie in einem Gleich- 
nisse aus. Wohl sind die Rheinländer Rheinländer geblieben, die 
Kölner Kölner, aber sie sind preußisch geworden, als sie die aus der 
preußischen Verpflichtung entspringende Frucht zu würdigen lernten. 
Vom alten Köln aber ist bei diesem Wandel nicht viel geblieben. Denn 
die alte Handelsstadt wurde, obschon ein Groß- und Eigenhandel 
heute wieder in ihr heimisch ist, obschon sie der Mittelpunkt des 
rheinischen Bank-, Versicherungs- und Verkehrswesens wurde, heute 
zugleich »die vielseitigste Fabrikstadt Deutschlands«. 

So hat Gothein es versucht, das Individuum »Köln« als in Gan- 
zes zu fassen, es in allen seinen Bestrebungen und Betätigungen, 
seinem Walten im Innern, seinem Wachsen, Schaffen und Wirken 


gie y -o 


Das Buch von Köln. 975 


nach außen vor uns hinzustellen. Er hat es versucht, mit solcher Art 
der Objektivierung die städtische Geschichtschreibung auf einen 
neuen, tragbaren und ertragreichen Boden zu stellen. Der Versuch 
ist seiner reifen Kunst in vollem Umfange geglückt. Darum nannte 
ich sein Werk »Das Buch von Köln«e. Möge das Leben und die Wissen- 
schaft ihm — und mir recht geben! 


Berichtigung. 


Herr Professor Knut Wicksell (Lund) ersucht uns, ein in seiner letzten 
Replik gegen Walter Federn unterlaufenes Versehen zu berichtigen. Danach soll 
es im vorigen Heft (Bd. 42, S. 608) in Anm. 3 nicht heißen: Die Bank von Eng- 
land zahlt z. Z. bekanntlich 5°/, Zins, auf die Guthaben der Privatbanken 7.; 
sondern richtig: Die Bank von England zahlt z. Z. bekanntlich 5%, auf die Gut- 
haben der Privatbanken. 


Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 3. 63 


976 


LITERATUÜUR-ANZEIGER. 


Inhaltsübersicht: 1. Enzyklopädien, Sammelwerke, Lehrbücher S. 975; 
2. Sozial- und Rechtsphilosophie S. 976; 3. Soziologie, Sozialpsychologie, Rassen- 
frage S. 981; 4. Sozialismus S. 981; 5. Sozislökonomische Theorie und Dogmengt- 
schichte S. 981; 6. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Biographien S. 985; 7, Be- 
völkerungswesen S. 988; 8. Statistik S. 991; 9. Soziale Zustandsschilderungen 
S. 991; 10. Agrarwesen, Landarbeiterfrage S. 991; 11. Gewerbliche Technik 
und Gewerbepolitik S. 991; 12. Kartellwesen, Unternehmerorganisation S. 992; 
13. Gewerbliche Arbeiterfrage, Arbeitsmarkt S. 992; 14. Arbeiterschutz S. 992; 15. Ver- 
sicherungswesen (bes. Arbeiterversicherung) S. 992; 16. Gewerkvereine und Tarif- 
wesen S. 992; 17. Allgemeine Sozialpolitik und Mittelstandsfrage S. 992; 18. Privat- 
beamten- und Gehilfenfrage S. 994; 19. Handel und Verkehr S. 994; 20. Privat- 
wirtschaftslehre (Handelswissenschaft) S. 995 ; 21. Handels- und Kolonialpolitik 
S. 995; 22. Geld-, Bank- und Börsenwesen S. 995; 23. Genossenschaftswesen 
S. 995; 24. Finanz- und Steuerwesen S. 995; 25. Städtewesen und Kommunalpolitik 
S. 996; 26. Wohnungsfrage S. 996; 27. Unterrichts- und Bildungswesen S. 96; 
28. Jugendfürsorge, Armenwesen und Wohlfahrtspflege S. 997; 29. Kriminologit, 
Strafrecht S. 998; 30. Soziale Hygiene S. 998 ; 31. Frauenfrage, Sexualethik S. 1001; 
32. Staats- und Verwaltungsrecht S. 1001; 33. Gewerbe-, Vereins- und Privatrecht 
S. 1008; 34. Politik S. 1008; 35. Kriegswirtschaft S. ıorı. 


ı. Enzyklopädien, Sammelwerke, Lehrbücher. 


a. Sozial- und Rechtsphilosophie. 


Baumgarten, Otto: Politik und Moral. Tübinger 
1916. J. C. B. Mohr. 3.—, geb. 4.— Mk. 

Wer Baumgartens mannigfach angefochtene Stellung zu dem 
jetzt viel in theologischen Kreisen behandelten Problem verstehen 
will, muß davon ausgehen, daß er es als seine Aufgabe betrachtet, 
allen lebens- und weltfernen Illusionen und Forderungen gegenüber 
fest auf den Boden der Wirklichkeit zu treten und mit den Dingen zu 
rechnen, wie sie sind. Darum kann er nicht anders, als vom Staat 
zu sagen, was er in Wirklichkeit ist, anstatt sich in der üblichen Weise 
darüber auszulassen, was er sein soll. In einem größeren geschicht- 
lichen Teil führt Baumgarten zumeist im Anschluß an Troeltschs, 
in diesen Blättern zuerst erschienene Ausführungen (Soziallehren der 
Kirche), die immer weiteren Einfluß gewinnen, und dann in zumeist 
zustimmender Auseinandersetzung mit Treitschkes Politik, das Pro- 


- —— — , 


2, Sozial- und Rechtsphilosophie. 977 


blem bis an die Gegenwart heran, wo er mit Recht auf dem ihm aus 
eigensten Studien wohlbekannten Boden der Bismarckschen Gedanken- 
welt verweilt; hier in dem Christen und zugleich Machtpolitiker Bis- ` 
marck ist natürlich das Problem greifbar, wenn er es auch selbst 
kaum empfunden hat. In dem systematischen Teil zieht sodann Baum- 
garten Folgerungen. Mit Recht lehnt er es ab, die Maßstäbe der 
Privatmoral auf den Staat zu übertragen, der vielmehr unter das all- 
gemeine ethische Gesetz falle, seine eigenste Natur entfalten zu müssen; 
und diese ist im Sinn Machiavellis und der beiden genannten großen 
Deutschen-Behauptung und Gewinn von Macht. Macht ist Recht und 
Sittlichkeit, und: Der Zweck heiligt die Mittel-, unter diesen beiden 
Losungen behandelt dann Baumgarten die bekannten großen und 
kleinen Fragen, wie die nach der Treue gegen den Vertrag, die nach 
der Lüge usw. Dabei entscheidet er sich stark für die realistische 
Antwort auf sie, weilihm der Zweck, die Macht des Staates zu erhalten 
und zu steigern, diese Mittel heiligt. Baumgarten empfindet es nicht 
als Widerspruch, sondern als die andere Seite am Ding, wenn er dann 
wieder wie Treitschke, aber über ihn hinaus, sittliche Forderungen 
an die Politik stellt, und zwar von demGedanken aus, daß sich das Sitt- 
liche auch als das im höchsten Sinn Kluge herausstellt und weil alles 
politische Handeln auch seine Rückwirkung auf das eigene Volk hat. 
Ueber diesen Standpunkt führt wieder für manche überraschend 
der Schluß hinaus, . der doch über das staatliche Leben, das leicht den 
Staat zum Abgott macht, gerade auch mit einem gewissen Trotz 
gegen die jüngste Schwenkung im geistigen Leben, die Persönlichkeit 
als der Güter höchstes erkennen lehrt. In dieser Dissonanz empfindet 
er weniger einen Mangel an systematischer Klarheit als das unvermeid- 
liche tragische Gesetz des Lebens, das es nötig macht, daß sich manche 
in beiden Bereichen, wenn auch ohne innere Einheit abmühen, weil 
man nicht ohne Opfer zwei Herren dienen kann, wie das Los der 
Christen in dieser Welt sein muß. 

Sicher gewinnt diese Art zu dem Problem Stellung zu nehmen, 
viele Freunde, weil wir nun einmal, in den Bahnen Luthers, weder 
alles gutheißen können, was die Machthaber tun, noch wie die Schwarm- 
geister das göttliche Recht der Obrigkeit bestreiten können. Man kann 
dabei sicher die Linie zwischen Politik und Moral noch etwas näher 


. an das Moralische —, an die Selbstbehauptung der Macht heranlegen 


als es Baumgarten getan hat, weil man Grenzen der Machtpolitik 
in höherem Maße anerkennen muß. Dazu hätte Baumgarten kommen 
können, wenn er noch einen Schritt in dem Verständnis des ethischen 
Grundbegriffs der Pflicht weiter getan hätte: nicht nur hat die Gat- 
tung Staat eine andere Moral als die Gattung Einzelmensch, sondern 
wie jeder einzelne in dieser, so hat auch jeder in jener wieder seine be- 
sondere Pflicht, wie sie sich aus seiner ganzen, wenn auch stets wech- 
selnden Lage ergibt. Sicher steht darin etwa Deutschland aus bekann- 
ten Gründen anders da als Frankreich, was das Streben nach mehr Land 
und Macht angeht. Ueberhaupt wäre es in mancher Hinsicht gut ge- 
wesen, wenn Baumgarten seine Abneigung gegen die Systematik 
überwunden hätte und tiefer auf diegroßen ethischen Grundbegriffe 
eingegangen wäre. Sicher hätte es zur Klarheit beigetragen, wenn er 
etwa das Verhältnis von klug und gut bis in die Tiefe hinein angefaßt 
hätte. Auch hätte die Unterscheidung zwischen theologischer und 
formalistischer Ethik viel erhellt, und nicht am wenigsten eine ein- 
gehende Behandlung der Hauptfrage, was denn das höchste Gut sei, 
63 * 


978 Literatur-Anzeiger. 


wie es sich zu den andern hohen Gütern verhalte; genauer: wie steht 
das Reich der Sittlichkeit, zu dem die Moral ein positives Verhältnis 
hat, zu der Selbstbehauptung des Volkes, zu der die Politik gehört; wie 
steht wieder zu beiden jenes dritte Reich der Persönlichkeitskultur 
usw. Vielleicht wäre das nicht nur für Studenten wertvoll gewesen. 
Dann hätte es für viele Leser eine tiefere Erkenntnis gegeben, ds 
es die mehr aphoristische Gestalt der Vorlesungen erlaubte. Aber 
diese ist wiederum für andere willkommen, die Baumgarten, wie auch 
solche von der eben erwähnten Art, herzlich dankbar sind für die 
tapfere und besonnene Art, wie er dieses dornenvolle Problem angefaßt 
und gelöst hat. (F. Niebergall.) 


Solovjeff, Wladimir: Die Rechtfertigung des 
Guten. Ausgewählte Werke, Bd. II. (LII und 523 Seiten). Jena 
1916. Eugen Diederichs. M. 12.—, geb. M. 14.—. 

Der zweite Band der ausgewählten Werke Solovjeffs, der sein 
ethisch-geschichtsphilosophisches Hauptwerk enthält, gestattet ein 
Urteil, wenn auch nicht über die Totalität, so doch über das Wesen 
seines philosophischen Denkens und hauptsächlich darüber, ob uns 
in diesem Lebenswerk nur die Aeußerung einer interessanten, be- 
deutungsvollen und anziehenden Persönlichkeit und dazu ein schät- 
zenswertes Dokument für die geistige Geschichte des modernen Rub- 
lands vorliegt, was zweifellos der Fall ist, oder darüber hinaus das Auf- 
werfen und Lösen von Problemen, zu denen unsere Kulturentwick- 
lung notwendig gedrängt wird, für die aber unsere — westeuropäische, 
also hauptsächlich: deutsche — Philosophie nicht ausreicht (der Her- 
ausgeber scheint — Bd. I, S. VI—VII — dies anzunehmen). Unsere 
Stellungnahme zu dieser Einschätzung des Lebenswerkes von Solovjeff 
muß nach der Lektüre dieses Bandes eine entschieden negative sein. 
Diese Ablehnung kann hier freilich kaum angedeutet, keines 
wegs aber begründet werden, da eine ausführliche Kritik der grund- 
legenden Prinzipien Solovjeffs und ihrer systematischen Gestaltung 
eine Kritik erfordern würde, die den Zielen dieser Zeitschrift kaum 
angemessen wäre. Wir müssen uns also auf einige Bemerkungen be- 
schränken. Solovjeff will, wie seine Zeitgenossen, die welthistorischen 
Dichter Rußlands, über den »europäischen« Individualismus (und über 
die Anarchie, Verzweiflung und Gottlosigkeit, die aus ihm folgen) 
hinauskommen, ihn aus dem Innersten heraus überwinden und einen 
neuen Menschen und mit ihm eine neue Welt an die so eroberte Stelle 
setzen. Esist natürlich, daß es den Dichtern, soweit sie wirklich Dichter 
geblieben sind, fast ausschließlich auf den neuen Menschen und seinen 
Gegensatz zum Alten ankam: hier und nur hier vermochten sie in 
Wahrheit Visionäre und Verkündiger sein; was sie über die neue Welt 
sagen konnten, war eine bloße Utopie, nur inhaltlich nicht aber dem 
Wesen nach von sonstigen Utopien unterschieden; den neuen Menschen 
— ich denke dabei an Gestalten wie der Fürst Myschkin oder Aljoscha 
Karamazoff Dostojewskys, wie der Platon Karatajeff Tolstojs — aber 
haben sie gesehen und konnten ihn als Wirklichkeit der anderen Wirk- 
lichkeit gegenüberstellen. Und gerade diese handgreifliche und ab- 
tastbare Realität seines Daseins sichert diesen Dichtern ihre wahrhaft 
weltgeschichtliche Bedeutung: hier liegt in der Tat etwas vor, was die 
»europäische« Entwicklung von sich aus nicht zu gestalten vermocht 
hatte, — wenn sie es auch ersehnte und erstrebte; etwas, das eine 


2. Sozial- und Rechtsphilosophie. 979 


Antwort auf eine ganze Reihe von verzweifelten Fragen zu bringen 
vermag. Und — dies ist der andere, der ergänzende Aspekt ihrer 
Berufenheit — diese Dichter haben die ganze Problematik des »In- 
dividualismus«, die sie gestaltend hinter sich lassen, ebenfalls gestal- 
tend, durcherlebt: Sonja bringt der kranken Seele Raskolnikoffs 
die neue, die frohe Botschaft und Platon Karatajeffs schlichtes Licht 
weist einen Weg für Pierre Bezuchoff aus tiefster Finsternis und Ver- 
zweiflung. Um es kurz zu sagen: die Enttäuschung, die die europäi- 
schen Leser an Solovjeff unbedingt erleben werden, ist, daß man bei 
ihm eine philosophische, gedanklich-visionäre Gegenständlichkeit, 
die der dichterischen Tolstojs und Dostojewskys entspricht und sie 
ergänzt (so wie die metaphysische Vision des deutschen Idealismus 
neben der Dichtung der deutschen Klassiker und Romantiker steht), 
erwartet, aber kaum mehr als einen edlen und feine Eklektizismus 
antiker und moderner idealistischer Philosophien findet. Das bezeich- 
nendste Symptom hierfür ist, daß die zu überwindende Problematik 
des Individualismus, die Tragik des In-sich-selbst-verlorenseins, der 
Isolation und der Gottverlassenheit nirgends einen wirklich starken 
Ausdruck findet. Für Solovjeff ist der Zustand der menschlichen Soli- 
darität setwas durchaus Begreifliches, als Ausdruck einer natürlichen 
und offenbaren Solidarität alles Seienden. Dieser Anteil, den die 
Geschöpfe aneinander nehmen, entspricht offenbar dem Sinn des 
Weltalls, stimmt vollständig mit der Vernunft überein oder ist voll- 
kommen rationell. Sinnlos oder irrationell ist im Gegensatze dazu 
die gegenseitige Entfremdung der Geschöpfe untereinander, ihr 
subjektives Sondersein, das der objektiven Untrennbarkeit wider- 
spricht. Diese Tatsache eines inneren Egoismus und keineswegs die 
gegenseitige Teilnahme zwischen den Einzelwesen der einheitlichen 
` Natur ist in Wirklichkeit ein im höchsten Grade Geheimnisvolles 
und Rätselhaftes, etwas, worüber sich die Vernunft nicht unmittelbar 
Rechenschaft geben kann, und die Ursachen dieser Erscheinung 
können auf dem Erfahrungswege nicht gefunden werden« (76). Aber 
dieses Rätselhafte, das als formendes Prinzip unsere ganze Gegen- 
wart erfüllt, erweckt kein philosophisches $aupatsıv in Solovjeff; 
er nimmt es — ohne es wirklich erlebt, erlitten (und hiermit: in Wahr- 
heit erkannt) zu haben, als bedauerliche aber vergängliche, unsym- 
ptomatische und sporadische Tatsache hin — und eilt durch nichts 

ehemmt oder gehindert der geforderten solidarischen Einheit des 

innes zu. Diese jedoch ist auch ohne wirkliche metaphysische Er- 
schütterung gewonnen, und bleibt deshalb matt und unintensiv, 
ohne wirkliche Ueberzeugungskraft: edel und eklektisch. Der Mangel 
an vorangehendem»Staunen« macht ihn unfähig tiefeProblemstellungen , 
vergangener Philosophen in ihrer wirklichen Tiefe zu begreifen (z. B. 
Schopenhauers Mitleidstheorie S. 72—75; Kants und Fichtes Pflichten- 
kollisionen, die aus dem absoluten Verbot der Lüge entstehen S. 118 ff., 
die ethischen Fragen des Buddhismus S. 253 ff. usw.) geschweige denn 
weiterzuführen; er nimmt ihm die Möglichkeit das Eigenleben der 
geschichtlichen oder gesellschaftlichen Gebilde und der bedeutsamen 
ethischen Typengruppen wirklich zu erfassen: denn nur in einer von 
vornherein abgematteten und auf Einklang verfälschten Wesenheit 
kann die von ihm geforderte Harmonie entstehen. Ich verweise nur 
auf seine Fassung der Beziehung von Recht und Moral, die im Wesen 
auf das Jellineksche »ethische Minimum« (S. 407) ausläuft, wobei 
ihre prästabilierte Harmonie so weit getrieben wird, daß erklärt wer- 


980 Literatur-Anzeiger. 


den kann: ses gibt keine moralische Beziehung, die nicht auch vollkom- 
men richtig und allgemein verständlich in eine juristische Formel 
gebracht werden könnte « (S. 405) ; auf seine vollkommene Verkennung 
des abstrakten Machtcharakters des Staates mit allen Problemen 
die daraus entstehen können (S. 317—322); auf seine maßlose Ueber- 
schätzung »moralischers Einwirkungen der »öffentlichen Gewalt« 
sowohl in ihren Motiven, wie in ihren Folgen (S. 281—2 und 362); 
auf seinen naiven Optimismus in bezug auf das stetige humaner und 
harmloser werden der Kriege (S. 431 —2 und 437) usw. Freilich können 
selbst ihm die unzähligen realen Konflikte nicht entgehen, die die 
Geschichte zwischen an sich berechtigten und die eigenen Notwendig- 
keiten zu Ende gehenden Typen und Gebilden aufzeigt; er hat aber 
hierfür die unerschütterlich optimistische, immer gleiche Antwort: 
die Idee des Guten — die als inhaltlich gegeben und als inhaltlich und 
eindeutig erkennbar gefaßt wird — wäre von diesen Menschen noch 
nicht im ganzen Umfange oder nicht richtig erkannt worden usw. 
Weil aber diese Harmonie aus Unterdrückung und — selbstverständ- 
lich unbewußter und unbeabsichtigter — Verfälschung der Bestand- 
teile entstanden ist, muß ihr alles Ueberzeugende fehlen; und weil sie 
nicht aus einem derartigen Geblendetsein vom himmlischen Licht 
ihren Ursprung nimmt, daß sie leichten Schrittes und unbelasteten Ge- 
wissens jede irdische Dissonanz vergessen und unbeachtet lassen 
könnte, fehlt ihr alles Strahlende und Ueberwältigende. Ich will noch 
ein letztes Beispiel für diese ausweichende und kompromißhafte Art 
Solovjeffscher Problembehandlung geben: Wenn er von Krieg und 
Mord, in gehässiger, stellenweise witziger Polemik gegen Tolstoj 
spricht, sagt er, dem Töten im Kriege fehle zum Mord die Absicht »be- 
sonders beı der heutigen Art der Kriegführung, bei der aus weit- 
tragenden Gewehren und Geschützen auf einen sehr weit entfernten 
und daher unsichtbaren Feind geschossen wird. Nur in Fällen, 
wo es wirklich zum Nahkampf kommt, entsteht für den einzelnen 
Menschen die Gewissensfrage, wie er handeln soll... .e(S. 441—2). 

Wir sind uns freilich bewußt,daß diese mehr das Motiv der Ab- 
lehnung andeutende als sie selbst nur skizzierende Darlegung kein 
Bild von dem Werk Solovjeffs geben kann. Es kam unshier auch 
nur darauf an wirkliche oder mögliche Prätensionen, in Solovjeff 
einen großen, über den deutschen Idealismus hinausführenden Denker, 
eine philosophische Ergänzung des Dichters Dostojewsky etwa zu 
erblicken, a limine abzuweisen. Daß auch dieses Werk des — wir wieder- 
holen — edlen und feinen idealistischen Eklektikers manche wertvolle 
Bemerkung, glückliche Formulierung und der Weiterbildung würdige 
Andeutung enthält, soll nicht geleugnet werden, (ich denke dabei ın 
erster Reihe an die Fassung der Scham als moralisches Grundphä- 
nomen), wenn all dies auch nicht ausreicht, um aus dem uns bis jetzt 
bekannten Werk Solovjeffs einen dauernd bereichernden Bestandteil 
der philosophischen Weltliteratur zu machen. Als Dokument seiner 
Epoche und hiermit als Material zur Kenntnis der russischen Kultur 
bleibt dies Werk höchst wertvoll und wir müssen, wie bereits bel 
Gelegenheit der Besprechung des ersten Bandes, dem Verlag ein großes 
Verdienst wegen dieses Unternehmens zusprechen. 

(Georg von Lukäcs.) 


5. Sozialökonomische Theorie und Dogmengeschichte. 981 


3. Soziologie, Sozialpsychologie, Rassenfrage. 


Naumann, D., Friedrich: Wie wir unsim Kriege 
verändern. Wien 1916. M. Perles. M. 1.—. 

Man kann sich denken, wie Naumann diese Frage behandelt: 
aus großen geschichtlichen Uebersichten und Erkenntnissen heraus 
und mit scharfer Beobachtung des äußeren und zumal des inneren 
Lebens der Gegenwart, mit dem Blick für das, was im einzelnen »be- 
deutend« ist und in einer Darstellung, die Verstand, Phantasie und 
Gefühl gleichmäßig fesselt. So geht er alle Lebensgebiete durch, indem 
er mit der großen Völkerwanderung der aus allen Verhältnissen ge- 
rissenen’ Soldaten beginnt und bei der Veränderung endet, die die 
großen Völker und Staaten, die auf unserer Seite stehen, fähig machen, 
zu Mitteleuropa zusammenzutreten. (F. Niebergall.) 


Wundt, Wilhelm: Die Gesellschaft. 2 Bände. (7. und 
F Band der »Völkerpsychologie«). Leipzig 1917, Alfred Kröner. 

. 20.—. 

Eine auch nur kurze Anzeige des reichen Inhalts, der uns nur unter 
vorwiegend soziologischem Gesichtspunkt interessiert, der aber in 
der Ethnographie und angewandten Psychologie wurzelt, ist hier 
unmöglich ; uns interessiert vor allem die Art, wie Wundt in der Ein- 
leitung einer zentralen Gesellschaftswissenschaft, eben der Sozio- 
logie, das Wort redet, die ihm ein philosophisches Postulat scheint. 
Dabei läßt er zur Abgrenzung des Begriffs alle Theorien und De- 
finitionen über Wesen und Inhalt des vielseitigen Begriffs der Soziologie 
Revue passieren und entscheidet sich nach Verwerfung sowohl der 
rein formalen, mit fertigen philosophischen Begriffskonstruktionen 
arbeitenden Richtung (Simmel!) wie auch der biologischen, die mit 
Analogien aus der Zoologie und Physiologie operiert, für eine Auffas- 
sung der Soziologie als einer zwar vom allgemeinen Gesellschafts- 
begriff ausgehenden Anschauungsweise, deren Stoff und Aufgaben 
aber in den Einzelwissenschaften, aus deren Gesamtheit sich der Wissen- 
stoff der Soziologie zusammensetzt, vorbereitet liegen. 

(R. Leonhard.) 


4. Sozialismus. 


5. Sozialökonomische Theorie und Dogmengeschichte. 


Moll, Dr, Bruno: Die Logik des Geldes. München 
und Leipzig 1916. Duncker und Humblot. 104 S. 

Von einem Buch, das diesen sonderbaren Titel trägt,dürfte man wohl 
erkenntnistheoretische und begriffliche Untersuchungen erwarten, 
Untersuchungen über Methode, Grundbegriffe und Systematik der 
Geldlehre. Wenig von all dem ist in der unter obigem Titel er- 
schienenen Schrift von Bruno Moll zu finden. Gleich das 
erste Kapitel nennt sich zwar »Methodologie« und der Anfang des 
vierten ist der »wirtschaftlichen Logik« gewidmet; was darin über 
Methodenfragen geboten wird, sind jedoch nur gelegentliche Be- 
merkungen, für die man dem Verfasser trotzdem dankbar sein 
muß, wenn sie auch wenig Neues bieten. Denn siegewähren einen 
Einblick in seine Arbeitsweise und ermöglichen es dem Kenner, 


982 Literatur-Anzeiger. 


aus dem so Gebotenen auf die »Logik« des Verfassers (bzw. auf seine 
philosophische Bildung) schließen zu können. Weit mehr Raum be- 
anspruchen bei Moll literar-historische Auseinandersetzungen (im 
wesentlichen nur mit deutschen Autoren), die sein Unterneh- 
men, die Zahl von geldtheoretischen Schriften noch um eine ver- 
mehrt zu haben, rechtfertigen sollen. Diese Rechtfertigung soll da- 
rin liegen, daß es ihm gelungen sei, ein an sich uraltes Problem 
in neue Beleuchtung gerückt, dadurch wesentlich vertieft und 
der (ebenfalls schon bekannten) Lösung systematisch entgegen- 
geführt zu haben: sdie Frage, worauf Wert oder Geltung des 
Geldes beruhee (S. 13), die er ihm Anschluß an Altmann 
als das statische Geldproblem bezeichnet (das dynamische frägt 
nach den Gesetzen, nach welchen sich der Wert des Geldes ändert). 
Und die neue Beleuchtung besteht darin, daß der herkömmliche Gegen- 
satz zwischen »Metallistene und »Nominalisten« in die Form’ einer 
K an tischen Antinomie gekleidet wird. So wie nach Kant die 
raumzeitliche Unendlichkeit der Welt ebenso undenkbar sein soll, 
wie die Annahme eines Anfangs und eines Ende derselben, so tauche 
auch beim Geldproblem »dem ehrlichen Denker zuweilen der Verdacht 
auf, daß die Vernunft mit sich selbst in Widerspruch gerate« (S. 28). 
Denn es sei doch undenkbar, was der Nominalist fordert, daß das 
Papiergeld ohne Rücksicht auf eine schließliche Einlösbarkeit zirkuliere. 
Höchstens wäre das für normale Zeiten richtig; was aber, wenn Krisen 
die Volkswirtschaft, sogar den Staat selbst erschüttern? Dann fiele 
ja die Voraussetzung der Knappschen Geldtheorie, nämlich 
»ein geordnetes einheitliches Staatswesen mit dem währungspolitischen 
Streben nach festen Wechselkursen« weg (S. 77), womit man als mit 
einer prinzipiellen Möglichkeit auch normalerweise rechnen müsse, 
und dann wird die Frage nach Einlösbarkeit, nach »letzter Befriedigung« 
brennend. Die Antwort, daß die »Befriedigung« eine bloß »zirkulatori- 
sche« sei, auf der Möglichkeit des Weitergebens beruhe, weiß Moll 
(S. 63) leicht zu begegnen: jedes Weitergeben müsse doch seinmal 
in unserer Vorstellung eine Ende haben. Und was kommt dann?s 
Es müsse doch etwas geben, worauf das »stoffwertloses Geld letzten 
Endes laute (S. 44 f.). Vergeblich würde man ihm einwenden, wie es 
ein Rezensent bereits getan hat (R.Liefmann in den » Jahrbüchern 
für Nationalökonomie und Statistik«, 1916, S. 694 ff.), in Wirklich- 
keit kümmere sich kein wirtscnaftendes Individuum darum, was mit 
dem Gelde »letzten Endes« geschehe; er weiß darauf zu erwidern, 
es sei sgleichgültig, wie weit diese Vorstellungen voll bewußt werden« 
(S. 72), sie bräuchten »durchaus nicht immer als an der Oberfläche 
des Bewußtseins existierend angenommen werden« (S. 61). Und ohne 
im Geringsten anzudeuten, was ihn zu der Konstruktion solcher sunter- 
bewußter« (S. 44) Vorstellungen berechtige, wird die Frage gestellt. 
worin jeneBefriedigung bestehen könnte. Etwa in Waren und Diensten? 
Keineswegs: »Sind nicht Waren leicht verderblich und zerstörbar? 
Ist nicht ihre Verwendungsmöglichkeit im Vergleich zum Gelde eine 
sehr einseitige und beschränkte ?« (S. 28). Also lautet die Antinomie 
(S. 27): »Geld kann nicht ohne Ende zirkulieren — denn es muß eine 
schließliche Befriedigung, eine Einlösung als Abschluß erwarten lassen, 
— Geld muß ohne Ende zirkulieren, denn nur im ewigen Weitergegeben- 
werden, in der Funktion liegt sein Wesen ... .« 

Sollte dem Verfasser vielleicht der »Gegensatz« zwischen Rentabili- 
tät und Sicherheit von Kapitalanlagen vorgeschwebt haben, als er 


5. Sozislökonomische Theorie und Dogmengeschichte. 983 


seine Antimonie konstruierte? Die Verehrung, die er Adam 
Müller entgegenbringt, würde darauf hindeuten, denn bei diesem 
Romantiker finden sich reichlich Gegensätze dieser Art in geldtheo- 
retischer Verklärung !). Man wagt es kaum, die Vermutung auszu- 
sprechen — aber wo soll man sonst im Wirtschaftsleben Tatsachen 
suchen, die zu jener Konstruktion berechtigen würden? Es hieße 
ja, ein Individuum finden zu wollen, das sich bei seinen wirtschaft- 
lichen Ueberlegungen von dem Gedanken leiten ließe, ob es durch die 
Zahlungsmittel, die es für seine Leistungen erhält, für alle Ewig- 
keit sichergestellt werde oder nicht 2). Bruno Moll hätte die 
Aufgabe gehabt — wenn sein »Problem des Endes« kein Schein- 
Sn bleiben soll —, zu zeigen, daß es eine solche ökonomische 
enkweise tatsächlich gibt, und sei es auch nur bei einzelnen, führen- 
den Personen; statt dessen bietet er im 4. Kapitel einen seigenen Lö- 
sungsversuchs, der nicht weniger willkürlich ist, als die Problemstellung 
selbst: Aus dem individualistischen Endziel aller Wirtschaft folge 
die Forderung nach endlicher Befriedigung des Geldbesitzers sei es 
am Stoffe des Geldes, sei es durch Einlösung in anderen Gütern oder 
Diensten als ein unumgängliches Postulat der »wirtschaftlichen Logik« 
(S. 59 f.) und dementsprechend kämen die Güter in der Rangordnung 
als Mittel jener Befriedigung in Betracht, in der sie für die »Befriedi- 
materieller Bedürfnisse« (S. 79 ff.) verwendet werden können 
(Sachgüter, vollwertiges Metallgeld, unterwertiges Metallgeld, Papier- 
geld usw.). 

Es ist keine angenehme Aufgabe, einen Forscher auf solche logische 
Unklarheiten aufmerksam machen zu müssen. Was soll man dann 
davon halten, wenn ihm (S. ıı) das Problem der sogenannten Geld- 
funktionen (und ebenso die Frage nach dem Unterschiede zwischen 
Geldwirtschaft und Tauschwirtschaft) gar nicht der Rede wert dünkt ? 
Kein Wunder, wenn er dann seinen Ausführungen eine Definition des 
Geldes zugrunde legt, die an Verschwommenheit nichts zu wünschen 
übrig läßt (» .. . Bewegliche Objekte, die... . als Vermittler des 
Güterverkehrs gebraucht werden« S. 24). Diese Definition soll jedoch, 
wie jede andere, nur eine »relativee Geltung besitzen, denn (!) das 
Geld »ist nicht, es wird gedacht« (S. 2r, 60), und folglich soll 
das »Problem des Endess — das Moll obendrein ausdrücklich 
(S. 4) mit der Frage nach dem Wesen des Geldes verwechselt — im 
Grunde (S. 28, 56) unlösbar sein. Wie kann er dann trotzdem einen 
Lösungsversuch unternommen haben? wird man fragen (wenn man 
es nicht vorzieht, angesichts der Willkürlichkeit der ganzen Konstruk- 
tion, deren eingehendere Kritik einen durch die Bedeutung der Schrift 
keineswegs gerechtfertigten Raum erfordern würde, auf weiteres 
Fragen zu verzichten). Die Antwort findet man im »Anhang« (S. 91 ff.) 
angedeutet. Danach wäre der Gegensatz von Metallismus und No- 
minalismus leicht zu s»versöhnen«, soweit er rationaler Art sei. Aber: 
»In jeder der beiden Auffassungen ist viel Gefühlsmäßiges enthaltene 


2) Vgl. z. B. die »Elemente der Staatskunst« (1809), III. 134 if. 

23) Daß es ihm tatsächlich auf ein überzeitliches Prinzip ankommt, dafür 
sei noch folgende Stelle zitiert (a. a. O. S. 60): »Nicht ob dieser oder jener Staat 
sein Geld wirklich jemals einlösen kann oder will,.. . interessiert uns, 
sondern nur die Frage: Wie stellen wir als wirtschaftende Menschen uns 
das Geld und das Ende des Geldes vor und welche Vorstellungen liegen etwa 
im Unterbewuß:sein ?« 


984 Literatur-Anzeiger. 


und deshalb bleibe »überall ein gefühlsmäßiger, subjektiver Rest zu- 
rück . . ., der verstandesmäßig nicht analysiert werden kanne. Dieser 
Passus dürfte wohl den Schlüssel zum Verständnis der Mollschen 
Logik und Geldlehre enthalten. Die so nachdrückliche Betonung 
(unter Geltendmachung der eigenen Entdeckerschaft: S. 60), daß das 
Geld nicht ist, sondern gedacht wird, wird erst verständlich, wenn 
man unter dem »Gedachtsein« zugleich ein gefühlsmäßiges Bewerten 
versteht und das Antinomienspiel erhält erst einen Sinn (5.94, übrigens 
auch S. 22), wenn man die Gegensätze als gefühlsmäßig bedingte auf- 
faßt. Einen Sinn, aber keine Berechtigung. Denn es braucht wohl 
kaum gesagt zu werden, daß es zwar richtig sein mag, daß die Kon- 
struktion des Geldbegriffs in gar manchen Fällen durch subjektive 
Momente verschiedenster Art bedingt war — vor allem gilt das für 
den von Moll (S. 48, 55 ff.) in überschwenglichen Worten ver- 
herrlichen Adam Müller —, daß dies sich aber keineswegs 
notwendig aus der Natur des menschlichen Denkens oder dem Wesen 
des Geldes ergibt. Auf das Erstere nachdrücklich hingewiesen zu haben, 
dürfte Moll für sich als ein Verdienst in Anspruch nehmen); 
sein Irrtum ist, daß er dem Satze: das Geld ist nicht, sondern wird 
gedacht, einen psychologistischen Sinn unterlegte, demzufolge es 
einem Jeden freistünde, das Geld nach Maßgabe seiner »Neigungen und 
Begabungen« (S. 22) zu denken. So wurde aus dem ganz richtig beob- 
achteten Widerstreit der Meinungen ein angeborener Widerstreit 
des menschlichen Denkens selbst, obendrein mit romantischen Vor- 
aussetzungen à la Adam Müller verquickt®). Die eine Hälfte 
der Antinomie, die rationaler Art und also lösbar sein soll, enthält 
als Lösung nichts weiter als die Binsenwahrheit, daß kein Vernünftiger 
einen Gegenstand in Zahlung nehmen würde, der nicht in irgendwelcher 
Weise zur Befriedigung von Bedürfnissen verwendet werden könnte; 
die zweite, romantische, eigentlich bloß gefühlsmäßig faßbare Hälfte 
existiert als Problem überhaupt nur in der Phantasie des Verfassers. 
(Melchior Palyi.) 


8) Freilich ist Aehnliches auch schon vorher geschehen; so Þat es z.B. Andreas 
Voigt in der Zeitschrift f. d. ges. Staatswissenschaften (1906) eingehend dar- 
gelegt, daß eine der historıschen Schule eigentümliche Bewertung der staatlichen 
Allmacht die psychologische Voraussetzung der K nap p schen Geldtheorie 
bildet. Auch bei Moll (S. 91) gibt es übrigens eine Stelle, wo er nur den Nomi- 
nalismus gefühlsmäßig bedingt erscheinen läßt, »während der Metallismus der 
rauhen und nüchternen Wirklichkeit gerecht wird.e — Man kann sich des Ein- 
drucks nicht erwehren, daß die Art, wie er z.B. auch in diesem Falle über einen 
Selbstwiderspruch hinweggleitet, um in allen Farben zu schilern, bewußte An- 
lehnung an romatische Eigenart, an die auch Redensarten von »Versöhnung der 
Gegensätze«, vom (S. 28) »Ideal des ewig-vermittelnden Geldes« usw. erinnern, 
bedeutet. 

4) Moll knüpft nachdrücklichst an diesen Romantiker an, den er (S. 56) 
als den »Begründer der bedeutendsten Geldlehres feiert, besonders weil derselbe 
Elemente »gefühlsmäßiger Natur« zur »Beseelung des toten Stoffes« herangezogen 
habe. — Man muß hoffen, daß diese Bewunderung für alle Unklarheiten eines 
Adam Müller bier wie auch sonst bei Nationalökonomen darauf beruht, daß 
man aus dessen klangvoll-mystischer Sprache jeweils die eigenen Anschauungen 
herausliest. 


6. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Biographien. 985 


6. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Biographien. 


Wiedenfeld, Kurt, Prof, Ein Jahrhundertrheini- 
scher Montan-Industrie. (Moderne Wirtschaftsgestal- 
tungen, Heft IV). Bonn 1916. A. Marcus und E. Webers Verlag. 

»Die Arbeit ist ursprünglich für das rheinische Jubiläumswerk 
geschrieben worden, das Professor Dr. Joseph Hansen-Köln unter 
Mitwirkung zahlreicher Wissenschaftler zur Erinnerung an das hun- 
dertjährige Preußentum der Rheinlande herausgeben wird« — teilt 
Wiedenfeld selbst im Vorworte mit. Die Arbeit wird auch an dem 
ihr dort bestimmten Platze erscheinen. Also eine Gelegenheitsarbeit — 
möchte man schließen. Aber diesmal scheint es vielmehr umgekehrt: 
die äußere Gelegenheit zwang Wiedenfeld dazu, seine jahrelangen 
Arbeiten, Forschungen, Erfahrungen im rheinischen Industriegebiete 
noch kurz vor dem »Erbleichen« aus frischester Anschauung heraus 
in einem Gesamtbilde darzustellen. Auf dem gleichen Boden gewann 
Gothein seine erkenntnisfrohe Wissenschaft vom »Bergbau«, die er 
dann ins Große und Allgemeine ausbaute und im Grundriß der Sozial- 
ökonomik (J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen) veröffentlichte. 
Seiner Aufgabe und Neigung gemäß ging Gothein ins Allgemeine. 
Trotzdem verraten seine Erläuterungen mannigfach den Ort seines 
errungenen Wissens. Wiedenfeld umgekehrt kam aus dem Allgemeinen 
— der theoretischen Nationalökonomie — und er ging in das besondere 
des rheinisch beschränkten Gebietes. Damit wurde ihm vielfach eine 
größere Intensität und Kompaktheit möglich; die Abfolge der Er- 
scheinungen wird der Willkür entzogen und der inneren Gesetzmäßig- 
keit unterstellt. Wollte der Historiker ihm dabei vorhalten, daß er 
doch noch zuviel im Allgemeinen hängen bleibe, so kann er dies als 
einen Zwang erklären, der ihm zunächst durch den zur Verfügung 
stehenden Raum, dann aber besonders durch die Lückenmassen, die 
auf diesem Gebiete die historische Forschung selbst noch offen ließ, 
auferlegt wurde. Für uns aber ist dieser Zwang ein Glücksfall. Die 
Arbeit Wiedenfelds errang damit eine innere Geschlossenheit und 
kräftigste Herausarbeitung der großen Linie, die sie bei tieferem Ein- 
dringen auf alle möglichen kleineren Unterschiede und Uebereinstim- 
mungen nicht hätte bewahren können. Wir haben von ihm gleichsam 
den Kanon der Entwicklung der rheinischen Schwerindustrie erhalten, 
damit einen Wegweiser für manigfachste Einzelforschung, und unser 
voller Dank gebührt dem Verfasser. 

Was vom Rheinischen in die scharfe und kritische Art Wieden- 
felds hineingedrungen ist, erweist sich hier als einen Vorteil für Beide: 
Er mußte lehren. Er mußte anderen etwas klar machen. Das geht 
bekanntlich nur, indem man sich erst für sich selber ein Licht anzündet, 
wie Schopenhauer sagt. So kam in seine Arbeit die innere Durch- 
leuchtung hinein, zu der der Leser nur zu gern » Ja« sagt, da sie sein 
Erkennen wirklich Schritt für Schritt fördert. 

Der Nationalökonom ging zur geschichtlichen Darstellung über. 
Natürlich fragte er seiner Wissenschaftsart gemäß nicht nach dem 
»Wie« allein, sondern auch nach dem »Warum« und zuweilen gar nach 
dem »Wozu«. Kurz, er steigt über das engere Fachgebiet hinaus 
und strebt zu dem höheren Wissen: der Kunde vom Leben, ein Gang, 
den jede lebendige Wissenschaft erstrebt und einmal antreten muß. 

Ein Jahrhundert — eine kurze Zeit, und doch welcher Wandel! 
Einen Augenblick möge es vergönnt sein, dahinauszuschauen. Essen 


986 Literatur- Anzeiger. 


z. B., einst ein Mittelpunkt der Landwirtschaft; am Anfang der preuĝi- 
schen Zeit liefert dieses Gebiet »bei dem nur sackweise erfolgenden 
Einzeltransport den Brennstoff der Steinkohles der ferner liegenden 
oIndustriee. Die Technik des Bergbaues steckt noch ganz in den An- 
fängen. Die Schachttiefe erreicht kaum 50 Meter; die Hochöfen, 
mit Koks betrieben, dringen erst in den vierziger Jahren in das Ruhr- 
gebiet; eine zweite Schmelzung des Roheisens ist noch unbekanıt; 
das Puddlingsverfahren, Roheisen in Stahl zu verwandeln, rückt erst 
seit 1824 langsam an die Seite des alten Herdfrischverfahrens. Sit 
1818 setzt die erste Messingfabrikation linksrheinisch ein. Krupp 
nahm erst 1838 seine erste Dampfmaschine in Betrieb. Der alte vom 
Wasser getriebene, in allen Bachtälern verbreitete Hammer ist noch 
die Universal-Maschine. Hammer —Holzkohle — der alte, kleine Hoch- 
ofen bilden die alte Harmonie. Also war großer Wald und seine Nähe 
Vorbedingung. Da aber begann es zu fehlen. Die Steinkohle trat in 
die Lücke: die Harmonie der alten Zeit war zerrissen. Ihr aber ent- 
sprang die Organisation der Betriebe. Es war sEinheitsbetrieb«, fußend 
auf geringem Kapital eines Mannes, einer Familie, einer Gewerkschaft, 
die wohl eine Art Arbeitsgemeinschaft darstellte, aber in alter 
Weise mit durchaus individuellem Ziele der Nahrung-Gewinnung, 
und von Vergesellschaftung war noch kaum die Rede. In der Gegend 
von Essen und Werden bildete nur erst Stollenbetrieb die Regel. 

Im Inde-Wurmgebiet war es schon anders. Die französische Zeit 
hatte hier gewirkt. Es kam zu Zusammenlegungen der kleinen Be- 
triebe. Eine Familie (Englerth) beschäftigte 1816 schon 34 
Arbeiter gegen durchschnittlich 7 (Höchstzahl rx) an der Ruhr. 
1830 sind esschon 536 Bergleute. Und so kam es hier auch im Bergbau 
zu den ersten Aktiengesellschaften. 

An der Saar dagegen schon straffste Konzentration. 1836 stehen 
hier 1925 Arbeiter unter einheitlicher Verwaltung. Warum der Unter- 
schied? Wiedenfeld gibt die Begründung sachlich, knapp, entschieden. 

Umgekehrt oder vielmehr logischerweise finden sich an der 
Saar auch die ersten größeren Unternehmungen in der Eisenindustrie. 
Fast durchweg sind es »gemischte Werke« (Erzbergbau, Hüttenprozeß, 
Hämmern des Halbzeugs und der Fertigfabrikate und der Gießerei- 
betrieb. Dazu dann bald Walzwerke; aber moderne Hochöfen erst 
seit 1840). Den Grund bildet erspartes Eigenkapital (kein Gesell- 
schafts- oder Leihkapital) einzelner großer Familien. Vereinzelt 
findet sich das nördlich auch noch, so bei den Hoesch im Aachener 
Revier, bei den Remy in Neuwied. Aber die Krupp? Die Haniel, 
Jacobi und Huyssen an der Ruhr? Es sind schwer kämpfende Aus- 
nahmen. Der handwerkliche Hammerbetrieb am Bach bleibt fast 
allgemein Sieger. Demgemäß wird der Absatz, der swirtschaftlich 
eine Zusammenfassung der verschiedenen Fabrikationsstufen und erst 
recht der Fabrikationssorten fordert«, noch fast ganz vom Händler 
getragen. 

Auf dem Gebiete der Metallindustrie bildet der Unternehmer 
Rhodius noch im Jahre 1842 rechtsrheinisch durch die Verbindung 
seines Zinkwalzwerkes in Mülheim am Rhein mit einem Galmel- 
Gewinnungsbetrieb und einer Zinkhütte in Linz eine vereinzelte Er- 
scheinung, während es linksrheinisch schon längst zu großen Zusammen- 
fassungen gekommen war. (Altenberg, Stolberger Bergwerksgesell- 
schaft, Mechernich). Wiedenfeld weist darauf hin, daß Zink-Blei- 
produkte zu den leichttransportlichen Waren gehören (im Vergleich 


6. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Biographien. 987 


zu Eisen- und Stahlprodukten), so daß also derartige Unternehmungen 
sich von vornherein auf einen größeren Fernabsatz einrichten 
konnten. Aber sie mußten es auch, da ihre Rohstoffe, wie Gothein 
erwähnt, seltener, als Eisenerze, und vor allem ganz ungleichmäßig 
verteilt sind, so daß eine solche Quelle einen größeren Umkreis 
befruchtet, als eine Eisenquelle. 

Transport! Nicht nur in die Politik (Zollverein) und Gesetz- 
gebung, sondern bis tief in die Wissenschaft hinein wirkt durch die 
neuen und großen Anforderungen, die an die Technik gestellt 
werden, die Neugestaltung des Wirtschaftslebens. Und zwar 
so, daß die »Produktionstechnik ganz und gar in den Vorder- 
grund tritte. Ein großer Teil der Unternehmer schwingt sich von 
der Technik her zur Leitung empor. Am Eingang der neuen Epoche 
(1840—1870) steht daher für Wiedenfeld mit Recht als entschei- 
dende Neuerung das Aufkommen und der Ausbau der modernen 
Transportmittel an erster Stelle. Ein Beispiel der gewaltigen Ver- 
schiebungen, die sie hervorbrachten! Gothein erwähnt, wie die Minette 
wegen ihrer Massenhaftigkeit, leichten Gewinnung und Geringhaltig- 
keit, die einen sehr weiten Transport ausschließen, die Industrie in 
steigendem Maße nach Lothringen gezogen habe. — Aus dem Verhält- 
nis Kohle zu Erz bei der Roheisenfabrikation (3 Ztr. Koks zu r Ztr. 
Erz oder gar 10 Ztr. Kohle zu ı Ztr. Erz) führt Wiedenfeld organisch 
die Wanderung der Eisenindustrie aus ihren alten Standorten zur Kohle 
her. Umgekehrt wandert dort die Kohle zur Minette. Also die Dinge 
sind nicht so mechanisch einfach zu erfassen, sondern ihre Gesetz- 
mäßigkeit will erkannt sein. Für die Minette eine leichtere Transport- 
möglichkeit zu schaffen, lag so lange außerhalb dem Interesse der 
Industriellen an der Ruhr z. B., bis sie sich selber Minettefelder sicher- 
ten, und jetzt auch der billigeWassertransoprt für sie zur Notwendigkeit 
wurde. Man erkennt daraus den Kampf der Standorte gegeneinander; 
man erkennt aber auch die großen Möglickheiten jedes einzelnen 
Wirtschaftsgebietes, über seine lokalen Grenzen hinauszuwachsen, 
denn »der Fernabsatz der Montanindustrie« wurde durch diese Steige- 
rung des Transportwesens erst möglich. 

Setzte sich auf die Kohle auch eine beträchtliche Industrie, 
so doch nur da, wo es im Interesse einer alten Industrie lag, ihren frü- 
heren Standort zu verlassen und der Kohle nachzuwandern, anstatt 
die Kohle zu sich kommen zu lassen. Gab es doch eine Zeit, wo der 
Weg von Spanien nach der Ruhr zur Anfuhr hochwertiger Erze kürzer, 
d. h. billiger war, als der aus dem nahen Siegerlande. 

Wie diese gesetzmäßigen Wirkungen weitergreifen bis ins Indivi- 
duelle hinein, davon erhalten wir von Wiedenfeld ein so klares Bild, 
daß es einem fast wohltut, hört und sieht man dabei auch, daß der 
Mensch nicht nur als duldendes Objekt, sondern auch als tätiges und 
schaffendes Subjekt in diese Sachlichkeit und Gesetzmäßigkeit mit 
eingeschlossen ist. Städte sind ja zumeist keine Standorte von Kohle, 
Erzen u. dgl., und doch haben sie Industrie. Berlin, Kassel, Köln, Düs- 
seldorf z. B. sogar sehr bedeutende. Aber die Städte sind »Standorte« 
der Intelligenz, und so finden wir hier meist diejenigen Zweige der 
Schwerindustrie vertreten, die an erster Stelle der Intelligenz bedürfen ; 
die Maschinenindustrie mit all ihren Variationen. Absatznähe und 
LOrE PEAN Arbeitskräfte machen die Städte zu Standorten der In- 

ustrie. 

In einem dritten Abschnitt (1870—1915) bringt Wiedenfeld nun 





988 Literatur-Anzeiger! 


èdie volle Durchsetzung der neuen Zeit«. Darin weiter das »Gesamtbild 
der Gegenwart«, um zu schließen mit zwei Kapiteln: Sachinterese 
und Persönlichkeit, Industrie und Bankwelt. Charakterisiert wird die 
Zeit im ganzen durch den Kampf um den Markt. Nicht mehr vorwa- 
tend technische Zielsetzung, wie sie in der früheren Zeit notwendig 
war, sondern neben ihr greift die kaufmännische Organisation immer 
tiefer in diesen gewaltigen Prozeß. Es ist natürlich, daß dieses mehr und 
mehr eindringende persönlich spekulative Element auf die eigene 
Gewinn-und Machterweiterung zunächst lossteuert. Aber da findet jetzt 
die freie Spekulation ihre Grenze an der natürlichen und logischen 
Gesetzmäßigkeit der technisch-industriellen Entwicklung selbst. Es 
mußte schließlich dahin kommen, was die Industrie erwartet hatte: 
Hilfe des Kapitals, nicht Herrschaft. Je sicherer und gleichmäßiger 
sie also das Kapital zu verzinsen vermag, um so mehr wird das Kapıtal 
dazu geführt, das zu sein, »was es seinem inneren Wesen nach ist: 
die Sachunterlage für das wirtschaftliche Wirken der Unternehmer, 
nicht die Machtunterlage für das Kapitalistentum selbst«. 

Die technische Gebundenheit suchte und sucht immer wieder 
die Verbindung mit der wirtschaftlichen Beweglichkeit. Kommt es hier 
zu einer Harmonie, so kann ihre Ausbreitung eine ethische Wirkung 
nach der Seite des sozialen und staatlichen Pflichtbewußtseins nicht 
verfehlen. Eine Wirkung, die, wie Rießner nachweist, in das deutsche 
Bankwesen einzudringen begann, die aber nicht minder von Wieden- 
feld in der neuen Entwicklung des Unternehmertums als lebendige 
Schaffensmacht erkannt wurde. Eine Wirkung allerdings, die eine 
solche Entwicklung mit dem rein persönlichen, gewinnstrebenden 
Freibeutertum der ganzen Welt in Gegensatz bringt. Im Großen wieder- 
holt sich da zwischen Kapitalismus und Unternehmertum der gleiche 
Kampf, den schon bei der ersten großen Unternehmung des Rhein- 
landes, bei der Gründung der rheinischen Eisenbahn Camphausen 
gegen die Bankiers auszufechten hatte, der gleiche Kampf, in den dam 
auch Mevissens hohe Anschauung mit der Praxis seiner Zeitgenossen 
sich verwickelt salı. Beweist die Darstellung Wiedenfelds die Wahr- 
heit des alten Est modus in rebus, wobei ich den »modus« mit Gesetz- 
mäßigkeit übersetzt sehen will, die aller Willkür schließlich die Grenze 
zieht, so beweist sie sowohl, als auch der Fortgang der Willensfolg? 
bei hervorragenden Männern nicht minder, was schon Ovid betonte: 
Est Deus in nobis, agitante calescimus illo, und ich übersetze: In 
uns waltet ein Geist, der unsern Willen zur Glut facht. 

(Mathieu Schwann.) 


7. Bevölkerungswesen. 


Bernays, Dr. Marie: Untersuchungen über den 
Zusammenhang von Frauenjabrikarbeii und 
Geburtenhäufigkeit in Deutschland. Schriften des 
Bundes Deutscher Frauenvereine. Berlin 1916. W. Moeser. 112 $. 

Bei dem überaus mannigfachen Ursachenkomplex, auf den wir 
den neuzeitlichen Geburtenrückgang zurückführen müssen, ist es eine 
überaus dankenswerte Aufgabe eine Kausalreihe herauszugreifen 
um ihre Wirkung in dem genannten Sinne festzustellen. Zwar ist dabe! 
ganz erhebliche Vorsicht am Platze, wenn man Parallelität und ur- 
sächlichen Zusammenhang zweier Erscheinungen nicht zusammen 


m 


u 


7. Bevölkerungswesen, 989 


verwechseln will. Gerade bei der Frage des Geburtenrückganges ist 
dieser Fehler schon häufig begangen worden; vor allem bei der Frage, 
Konfession und Fruchtbarkeit, hat man vielfach daran vergessen, 
daß sich aus der einfachen Gegenüberstellung zweier Zahlenreihen noch 
kein Kausalzusammenhang nachweisen läßt. Esist ein ganz besonderes 
Verdienst der Verfasserin, daß sie sich in dieser Hinsicht durchaus 
der Grenzen ihrer Darlegungen und Beweisführung bewußt ist und 
daß sie nur mit großer Vorsicht irgendwelche bindenden Schlüsse 
über den Zusammenhang von Frauenfabrikarbeit, Geburtenhöhe 
und Geburtenrückgang zieht. Die Objektivität und wissenschaft- 
liche Ruhe, mit der sie hierbei vorgeht, berührt den Leser überaus 
wohltuend. 

Es werden nacheinander verglichen, Frauenerwerbsarbeit und 
Geburtenzahl in den europäischen Kulturländern, dann in den Bun- 
desstaaten und Provinzen Deutschlands, dann in den Regierufigsbe- 
zirken der Bundesstaaten und schließlich in 22 deutschen Städten. 
Drei weitere Kapitel behandeln dann den Zusammenhang von Kon- 
fession, Geburtenzahl und Frauenfabrikarbeit, den Geburtenrückgang 
im Proletariat als soziologisches Problem, und die Frage von Frauen- 
fabrikarbeit und Frauenbewegung. 

Wenn es auch der Verfasserin nicht gelungen ist, aber auch auf 
Grund des vorhandenen Materials nicht gelingen konnte, etwas über 
das Maß auszusagen, in dem die Frauenfabrikarbeit einen Einfluß 
auf Geburtenhöhe und Geburtenrückgang ausübt, so zeigen ihre Unter- 
suchungen jedenfalls, daß ein solcher Zusammenhang, wenn auch nicht 
in sehr erheblichem Maße, vorhanden ist. Es fragt sich nur, und darüber 
spricht sich die Verfasserin nicht deutlich genug aus, welche Momente 
es sind, die einen solchen Einfluß begünstigen und herbeiführen. 
Sie scheint geneigt zu sein, diese vorwiegend und in erster Linie in 
den direkten Schädigungen des weiblichen Körpers durch die Fabrik- 
arbeit zu erblicken und es kann auch keinem Zweifel unterliegen, daß 
ein solcher Einfluß besteht, daß durch die Frauenfabrikarbeit die Ge- 
bärfähigkeit herabgesetzt wird. Es liegt aber auch nahe daneben noch 
an einen psychologischen Zusammenhang zu denken, daran, daß die 
berufliche Tätigkeit der Frau ein größeres Maß wirtschaftlichen und 
rationalistischen Denkens in ihr erweckt und daß auf diesem Umwege 
dann ein Einfluß auf die Fruchtbarkeit stattfindet. Auch das umge- 
kehrte ist natürlich denkbar und-möglich, daß ein aus anderen Grün- 
den vielleicht schon vorhandenes hohes Maß dieser wirtschaftlichen 
und rationalistischen Denkweise in einer Bevölkerung, die Entstehung 
und Verbreitung der Frauenfabrikarbeit begünstigt. Es mag z. B. 
sein, ein Zusammenhang der schon eine spezielle Untersuchung lohnte, 
daß gerade aus diesem Grunde eine verschiedene Verbreitung der 
Frauenfabrikarbeit bei beiden Konfessionen festzustellen ist. Viel- 
leicht wäre es auch der Verfasserin möglich gewesen die Ergebnisse 
ihrer Untersuchung noch etwas eindeutiger zu gestalten, wenn sie sich 
in noch höherem Grade der Differenzmethode bediente, d. h. versucht 
hätte noch andere Faktoren, die ebenfalls einen Einfluß auf die Ge- 
burtenhäufigkeit ausüben, aus der Betrachtung auszuscheiden. Bei der 
Frage der Konfession ist ja diese Methode angewandt worden. 

Sehr lesenswert ist das Kapitel V, in welchem der Geburtenrück- 
gang im Proleatriat als soziologisches Problem besprochen wird; es 
werden hier Fragen behandelt, die dann in dem letzten Kapitel »Frauen- 
fabrikarbeit und Frauenbewegung« ausklingen, Ausführungen, durch 


990 Literatur-Anzeiger. 


die ein gewisser tragischer Unterton hindurchgeht: Das Problem 
von dem kulturellen Gewinn und Verlust, den die Frauenfabrikarbeit 
bringt, ein fast unlösbares Problem, vor allem was die Fabrikarbeit 
der verheirateten Frau angeht. (P. Mombert.) 


Ehrenberg, Prof, Richard: Die Familie in ihrer 
Bedeutung für das Volksleben. Jena 1916, Gustav 
Fischer. 8° 48 S. M. 1.—. 

Die Schrift Ehrenbergs zerfällt in zwei Abschnitte, ein erster, 
in dem die Familie in ihrer Bedeutung für das Volksleben behandelt 
wird, und ein zweiter, der die Familie als Gegenstand der wissenschaft- 
lichen Erkenntnis erörtert. 

Die ersten Ausführungen haben — im guten Sinne des Wortes — 
einen, starken romantischen Charakter. Mit Recht hebt Ehrenberg 
die große Bedeutung hervor, welche die Familie nach den verschie- 
densten Seiten hin für ein Volk und seine Entwicklung hat. In mancher 
Beziehung geht er mir dabei doch etwas zu weit, indem er doch für zu 
vieles die Familie als Grundlage oder in gewissem Sinne als verant- 
wortlich heranzieht. So spricht er z. B. von ihrer Bedeutung für die 
körperliche Beschaffenheit eines Volkes sinsbesondere davon, wie sie 
hier ihre Aufgabe löst, dem Staate die erforderliche Wehrkraft 
zu stellen« und daran anschließend weist er dann mit einigen Zahlen 
auf die verschiedenen Tayglichkeitsziffern auf dem Lande und in der 
Stadt hin. Er sieht selbst, wie schwach die hier vorhandenen Bezie- 
hungen sind, indem er sagt, daß dieser Unterschied allerdings zunächst 
nur den Einfluß der ganzen Umgebung zeigt, »der aber doch durch die 
Familie ausgeübt wird«. Aber auch das letzte ist doch nur ein auf recht 
schwachen Füßen stehender Zusammenhang und etwas sehr an den 
Haaren herbeigezogen. Auch mit anderen Beziehungen, auf welche 
Ehrenberg verweist, steht es nicht viel besser. Auf Einzelheiten 
geht er bei seinen Darlegungen nicht ein; sein Ziel ist auch mehr an- 
regend zu wirken und die Probleme aufzuzeigen, die bei der Frage 
der Familie und ihrem Zusammenhang mit dem Volksleben auftreten. 
Gewisse Unstimmigkeiten sind bei dem, was Ehrenberg im Interesse 
der Familie für wünschenswert hält, aber doch zu bezeichnen. So 
weist er mit einem gewissen Recht auf der einen Seite darauf hin, 
wie schädlich das extrem-individualistische Erbrecht am ländlichen 
Boden vom Standpunkt der Familie aus sei, er hebt rühmend die 
neuerliche Wiederbelebung des geschlossenen Erbganges hervor; 
auf der anderen Seite jedoch betont er, welch große Schäden die starke 
Abwanderung vom Lande nach der Stadt, die immer geringer werdende 
Seßhaftigkeit der Bevölkerung dem Familien- und Heimatgedanken 
zuzufügen,während dochgerade zahlreiche neueArbeitendargetan haben, 
daß gerade der geschlossene Erbgang, der geschlossene Grundbesitz, 
die Abwanderung vom Lande begünstigen und doch nicht immer 
so sehr zum Vorteil des Familiensinnes ausschlagen; in der Regel 
wird man sogar eher das Gegenteil behaupten können. 

Der zweite Abschnitt gibt eine kurze Uebersicht über die bis- 
herige Berücksichtigung der Familie in den Wirtschaftswissenschaften; 
hier hätte Ehrenberg vielleicht etwas eingehender als es von ihm ge- 
schehen ist, darauf hinweisen können, wie sehr bisher die amtliche 
Statistik die Familienverhältnisse vernachlässigt hat, wie stiefmütter- 
lich die Haushaltungsstatistik behandelt worden ist, und wie viel 
der richtige Ausbau desselben nicht nur zur Kenntnis der Familie, 


ı1. Gewerbliche Technik und Gewerbepolitik. 991 


sondern auch zur Erforschung der damit doch eng zusammenhängen- 
den Bevölkerungsvorgänge beitragen kann. 

Ehrenbergs Vergleich zwischen Thünen und Le Play kann ich 
nicht beipflichten. Man wird dem ersteren nicht gerecht, wenn man, 
wie.Ehrenberg sagt, daß dieser das gleiche für die Erwerbswirtschaft 
geleistet habe, was Le Play für die gesamten Sozialwissenschaften 
anstrebte. Es ist bekannt, daß dies etwa den Anschauungen Ehren- 
bergs von Thünen und seiner Methode entspricht, daß dies jedoch eine 
Auffassung ist, die sehr wenig Anhänger finden wird; denn die Stärke 
und Bedeutung Joh. Heinrich von Thünens liegt nun einmal in aller- 
erster Linie in der von ihm angewandten abstrakt isolierenden Methode 
— von den wichtigen Ergebnissen, zu denen er auf diesem Wege ge- 
langt ist, sei hier natürlich abgesehen — während die Wege und das 
Vorgehen Le Plays von Grund aus andere gewesen sind. 

(P. Mombert.) 


8. Statistik. 
9. Soziale Zustandsschilderungen. 


10. Agrarwesen, Landarbeiterwesen, 


Denkschrift über die russische Agrarrejorm 
I909—I9I3. Verfaßt vom russischen Landwirtschaftsministerium 
1914. Weimar 1916. Gustav Kiepenheuer. 58 S. M. 2.—. 

Die vorliegende Denkschrift über die russische Agrarreform stammt 
vom russischen Landwirtschaftsminister Kriwoschein und 
enthält eine gedrängte Darstellung aller vom russischen Landwirt- 
schaftsministerium getroffenen Maßnahmen, hauptsächlich der Ver- 
waltungstätigkeit auf dem Gebiete der Besitzregulierung und der 
Verbesserung des landwirtschaftlichen Betriebes. Besonders wertvoll 
ist die eingehende Darstellung der von der Regierung geförderten 
und organisierten Auswanderung nach Sibirien, welche als wesentliche 
Ergänzung der Agrarreform im europäischen Rußland zu betrachten 
ist. Es mag sein, daB diese Denkschrift die Erfolge zu optimistisch 
beurteilt, und es sei deshalb auch hier auf die Abhandlung von Og a- 
nowsky in diesem Archiv!) hingewiesen, der, wohl mit Recht, 
die schwachen Punkte der Reform hervorhebt. Die Denkschrift ist 
also kaum als ein objektives Dokument über die Bedeutung der ge- 
troffenen Maßnahmen zu betrachten, gibt aber Aufschluß über die 
Absichten der Regierung und die Pläne, welche wenigstens vom Minister 
Kriwoschein verfolgt wurden und die sämtlich in der Richtung liegen, 
eine ausgedehnte Bauernwirtschaft mit starken Exportmöglichkeiten 

im'europäischen Rußland und in Sibirien zu schaffen. 
(—?) 


ı1. Gewerbliche Technik und Gewerbepolitik. 


Leiter, Hermann: Die Leinen-Hanft- und Jute- 
sndustrie Desierreich-Ungarns. (Heft 16 der swirt- 
schaftsgeographischen Karten und Abhandlungen zur Wirtschafts- 
kunde von Oesterreich-Ungarn«.) Wien 1916. Verlag Hölzel. K. 12.— 

Das Kartenwerk stellt einen interessanten Beitrag zur Stand- 


1) Bd. 37, S. 701. 
Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 3. 64 


d 


992 Literatur-Anzeiger. 


ortslehre dar, da das Vorkommen der österreichischen Textilindustrie 
zur Oertlichkeit in Beziehung gesetzt wird. Natürlich wird auch der 
bereits vor dem Kriege in ganz Mitteleuropa problematischen Roh- 
stoffbeschaffung ein breiter Platz eingeräumt, wie nicht minder der 
Arbeiterfrage. Alles das läßt sich, so scheint es mir wenigstens, 
kartographisch anschaulicher ausdrücken als durch Abhandlungen 
und Tabellen. 
Neben der unsere Voraussetzung a ern starken Verbrei- 
tung der Textilindustrie in Nordböhmen und Mähren fällt diejenige 
in West- und Südungarn auf. Allerdings drücken hier die zahlreichen 
farbigen Punkte der Karten wohl nur die Zahl der Fabriken, nicht aber 
ihre Größe und Produktionsfähigkeit, aus. Immerhin wird die allge- 
meine Erfahrung bestätigt, daß bei der Industriealisierung eines bıs- 
herigen reinen Agrarlandes immer die Textilindustrie neben der Eisen- 
industrie den Anfang macht. (R. Leonhard.) 


ı2. Kartellwesen, Unternehmerorganisation. 
13. Gewerbl. Arbeiterfrage, Arbeitsmarkt. 
14. Arbeiterschutz. 
15. Versicherungswesen (bes. Arbeiterversicherung). 
16. Gewerkvereine und Tarifwesen. 


17. Allg. Sozialpolitik und Mittelstandsfrage. 


Tyszka,Dr. Karl,v.: Der Konsument inderKriegs 
wsrischaft. Kriegswirtschaftliche Zeitfragen. Heft 5. Tübingen 
1916. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). 65 S. M. 1.20. 

Die kleine Schrift Tyszkas ist sehr geeignet, in die recht schwieri- 
en Verhältnisse einzuführen, in welche der Krieg weite Kreise des 
aufenden Publikums versetzt hat. Es ist nicht so ganz leicht hierbei 

die richtige Trennung zwischen Produzenten und Konsumenten durch- 

zuführen — beides geht doch vielfach zu sehr ineinander über — aber 
man wird doch dem, was der Verfasser im ersten Abschnitt seiner 

Schrift darüber sagt, im Allgemeinen zustimmen können. Freilich 

darf man nicht außer acht lassen, daß auch der Lohnarbeiter ganz er- 

hebliche Produzenteninteressen hat und daß es sehr gut möglich ist — 
diesbezügliche Untersuchungen sind kaum vorhanden — daß trotz 
der ganz erheblichen Preissteigerung des letzten Jahrzehntes, für ge- 
wisse Kategorien von Arbeitern, z. B. für die gelernten, auch der 

Reallohn eine nicht unerhebliche Steigerung erfahren hat. So mag es 

also sein, daß bei manchen Arbeitern die Produzenteninteressen doch 

die überwiegenden sind. In einem weiteren Abschnitt stellt der Ver- 


H 


17. Allg. Sozialpolitik und Mittelstandsfrage. 993 


fasser die Lage des Konsumenten vor dem Kriege dar und geht dann 
dazu über, die entsprechenden Verhältnisse während des Krieges 
zu erörtern. Mit Recht enthalten diese Ausführungen eine scharfe 
Kritik unserer wirtschaftlichen Gesetzgebung, Fragen, über die nach 
Beendigung des Krieges noch erheblich mehr, vor allem auch in grund- 
sätzlicher Beziehung, zu sagen sein wird. Der Schutz der Regierung 
gegen die Preistreibereien war ein durchaus unzureichender, und er 
ist es heute noch, und wenn Tyszka dies als eine Folge der einseitigen 
Bevorzugung hinstellt, der sich bei uns der Produzent, vor allem der 
landwirtschaftliche, bis zum Kriege zu erfreuen hatte, so wird man 
ihm darin ebenfalls durchaus beipflichten müssen ; nur das eine möchte 
ich noch hinzufügen, daß dabei auch sicher ein durchaus unzuläng- 
liches Können, eine gewisse Unerfahrenheit in wirtschaftlichen Dingen, 
eine gewisse Hilfslosigkeit der dabei maßgebenden Kreise, eine nicht 
zu unterschätzende Rolle gespielt hat. 

In enger Anlehnung an die bekannten Hermannschen Preisbe- 
stimmungsgründe wird sodann die Preisbildung und die Preisgestal- 
tung in der Kriegswirtschaft erörtert. Vielleicht hätte hier Tyszka, 
doch etwas eingehender als es geschehen ist, darauf eingehen müssen, 
wieso und warum eine Vermehrung des Papiergeldes eine Verteuerung 
der Waren bewirkt hat. So ganz selbstverständlich ist der Zusammen- 
hang keineswegs. Es handelt sich hier nicht um das rein quantitative 
Problem einer bestimmten Menge von Umlaufsmitteln auf der einen 
und einer bestimmten Warenmenge auf der anderen Seite; es ist 
vielmehr die Wirkung, die eine Vermehrung der ersteren unter Um- 
ständen auf die Einkommen und die Einkommensverteilung ausüben 
kann, aus der sich ganz allein heraus ein solcher Einfluß auf die Preise 
erklären läßt. Auch die Rolle des Zwischenhandels, vor allem des 
Kettenhandels, hätte eine etwas eingehendere Behandlung verdient. 

Sehr anschaulich und reichhaltig ist das, was der Verfasser an 
Zahlenmaterial über die Verteuerung der Lebenshaltung im Kriege 
bietet; man sieht auf das deutlichste, welchen Rückgang sie infolge 
der gewaltigen Preissteigerung vielfach erfahren haben muß. Ich 
sage ausdrücklich vielfach, da es auch Momente gibt, auf die Tyszka 
jedoch nicht genügend eingeht, die doch geeignet waren für weite 
Kreise einer Verschlechterung der Lebenshaltung mehr oder weniger 
entgegenzuwirken, wie sie sonst als Folge einer solchen Preissteigerung 
der wichtigsten Lebensmittel hätte eintreten müssen. Hierher gehört 
nicht nur die Bedarfsverschiebung in der Wahl der Nahrungsmittel, 
der Tyszka mit Recht große Bedeutung beimißt, sondern auch die 
Tatsache, daß doch im Kriege und durch den Krieg für sehr viele 
auch der Nominallohn eine oft wesentliche Steigerung erfahren hat 
und daß doch auch infolge des Rückganges im Verbrauch vieler anderer 
Bedarfsartikel, und mannigfacher anderer Einschränkungen, ein 
größerer Teil des Einkommens als zuvor für die Lebenshaltung im 
engeren Sinne, d.h. für die Ernährung, zur Verfügung stand. 

Ein weiterer Abschnitt bringt unter dem Titel »Kriegssozialis- 
mus« eine Reihe treffender Ausführungen. Zum Schlusse ist die Rede 
von den zu erwartenden Verhältnissen nach dem Kriege. Ich finde, 
daß dabei die Entwicklungsmöglichkeit der Konsumvereine etwas sehr 
kurz wegkommt. Wohl ist es zweckmäßig, wie es Tyszka auch vor- 
schlägt, daß sich die Konsumenten durch machtvolle Organisationen 
Gehör zu verschaffen und politischen Einfluß zu gewinnen versuchen; 
man darf aber nicht daran vergessen, daß der Erfolg nicht allein vom 

64 * 


994 Literatur-Anzeiger. 


politischenEinfluß abhängig ist, eine so großeRolle derselbe auch spielen 
mag, daß der wirtschaftliche Einfluß im Kampf um die Preisgestal- 
tung nicht minder wichtig ist und daß gerade in dieser Hinsicht eine 
kraftvolle Weiterentwicklung der Konsumvereine ganz erhebliche 
leisten kann. (P. Mombert.) 


18. Privatbeamten- und Gehilfenfrage. 


19. Handel und Verkehr. 


Kirchhoff, H.: Der Bismarcksche Reichseiser 
bahngedanke. Stuttgart-Berlin 1916, Cotta. 

Mit großer Beredsamkeit und Wärme vertritt die bekannte Av- 
torität im Eisenbahnwesen eine Ablösung der Bahnen aller in dieser 
Beziehung noch selbständigen Einzelstaaten durch das Reich und 
erhofft von dieser Vereinheitlichung, die auch auf die Wasserwege 
sich erstrecken solle, nicht nur eine günstige Rückwirkung auf die 
Reichsfinanzen, denen die Ersparnisse und Ueberschüsse einer ein- 
heitlich zentralisierten Reichseisenbahnverwaltung zugute kämen, 
sondern auch eine Stärkung des Reichsgedankens. 

Kirchhoffs Streit mit dem Freiherrn von Zedlitz, wie sich seinerzeit 
Bismarck zu diesem Gedanken gestellt hat, und ob seine Eisenbahr- 
politik eine prinzipielle oder opportunistische war, wollen wir hier 
unerwähnt lassen und nur auf die Schwierigkeiten des sog. Reichs- 
eisenbahngedankens hindeuten, welche der Autor doch wohl etwas 
unterschätzt hat, wenn er meint, die Einzelstaaten würden gem und 
freudig ihren Anteil am deutschen Bahnnetz in den gemeinsamen 
Topf werfen. Kirchhoff arbeitet viel mit dem Wort Sonderinteresen, 
aber diese Sonderinteressen sind eben zugleich ausschlaggebende 
Interessen der Einzelstaaten und Parteien. Die Majorität der im preubi- 
schen Abgeordnetenhaus regierenden Parteien, deren Sprachrohr der 
Freiherr von Zedlitz ist, wäre ebenso wenig dafür begeistert, die preußi- 
schen Bahnen, deren Üeberschüsse das Rückgrat des preußischen 
Budgets bilden, dem Reiche zu übergeben, wie andererseits das Zen- 
trum in der bayerischen Kammer, das nicht nur das Postregal, sondem 
selbst das Symbol der bayerischen Postmarke hartnäckig gegen das 
Reich verteidigt, je bereit wäre, ein weiteres und so ausschlaggeben- 
‘des Reservatrecht wie das Bahnwesen an das Reich übergehen zu 
lassen; zumal da im deutschen Süden in breiteren Schichten das Reich 
irrtümlich mit Preußen identifiziert wird und Reichsinstitutionen 
als preußische gelten. In der bayerischen Kammersitzung vom 7. Juli 
1916 hat ja das Reichseisenbahnprojekt bereits eine fast einhellige 
Ablehnung erfahren. Und nicht ganz mit Unrecht; eine wirkliche 
Benachteiligung Bayerns wäre es, wenn, : wie Kirchhoff vorschlägt, 
die zu schaffende Reichseisenbahnverwaltung, lediglich von der vor- 
handenen Rentabilität ausgehend, in verkehrsreichen Gegenden 
die Bahnen verdichten, in verkehrsarmen verringern wollte. Nach 
solchen einseitig verkehrstechnischen Rentabilitätsrücksichtigen be- 
handelt würde das verkehrsschwache Bayern mit seinen kostspieligen 
Alpenbahnen recht schlecht wegkommen. 

Was Autor sonst an wichtigen Verkehrsreformen einer zentralen 
Reichseisenbahnverwaltung zuschieben will, könnten auch die Ver- 


24. Finanz- und Steuerwesen. 095 


waltungen der Einzelstaaten nach gemeinsamer Verabredung durch- 
führen, so die nur zu billigende Einführung des Zweiklassensystems 
statt der vier norddeutschen und drei süddeutschen Bahnklassen, 
während der Vorschlag Kirchhoffs, die durchgehenden Schnellzüge 
mit Schlafwagenverkehr als unnötig-kostspielige Streckenbelastung 
einzuschränken, doch auf lebhaften Widerspruch stoßen dürfte. 
Gerade unser Durchgangsverkehr muß nicht bloß vom Ressortstand- 
punkt größtmöglichster unmittelbar zu realisierender Einnahmen 
eingerichtet, sondern als Produktionsmittel betrachtet werden, dessen 
Aufwendungen sich vielleicht später einmal in ganz anderen Sparten, 
z. B. im Steuerwesen, bezahlt machen werden. (R. Leonhard.) 


20. Privatwirtschaftsiehre (Handelswissenschaft). 


21. Handels- und Kolonialpolitik. 


Balkan und naher Orient. 14 Vorträge der Freien Vereini- 
gung für staatswissenschaftliche Fortbildung in Wien. Herausgegeb. 
von Cwiklinski, Wien und Leipzig 1916. Verlag Deuticke. M. 7.—. 

Das wirtschaftliche und politische Interesse Oesterreichs am Bal- 
kan, den es ein wenig als seine Interessensphäre betrachtet, recht- 
fertigt die Wahl des Themas. Von dem reichen Inhalt einen Begriff 
zu geben, ist kaum möglich, wir können auf die bedeutsame Publika-' 
tion nur empfehlend hinweisen, wollen aber vor allem auf die ausge- 
zeichnet die zerstreute Literatur zusammenfassende Darstellung der 

Wirtschaftszustände Rumäniens vor dem Kriege aus der Feder von 

Karl Grünberg und auf den Aufsatz von Alois Musil, dem verdienten 

Forscher und Entdecker in der Arabia Petraea »Araber und Arabien 

in der Weltgeschichte aufmerksam machen. In einem großartigen 

Parallelismus sieht Musil in Arabien wie in Germanien eine »vagina 

gentium«, deren periodisches Ueberfließen unter allmählicher Durch- 

dringung der umliegenden Landschaften mit der eigenen Nationalität 
den Anstoß zu welthistorischen Umwälzungen gibt. 
(R. Leonhard.) 


22. Geld-, Bank- und Börsenwesen. 
23. Genossenschaftswesen. 


24. Finanz- und Steuerwesen. 


Eheberg, Prof, Dr, Theodor v.: Die Kriegsfinanzen. 
Kriegskosten, Kriegsschulden, Kriegssteuern. Zugleich Nachtrag 
zur Finanzwissenschaft. 13. Aufl. Leipzig 1916. A. Deichertsche 
Verlagsbuchhandlung Werner Scholl. VIII und 116 S. M. 2.— 

Das Bändchen löst die in der Finanzwissenschaft (Anzeige s. 

42. Bd., Heft ı, S. 278 dieses Archivs) gegebene Zusage, auf Veröffent- 

lichung, eines die Kriegsfinanzen behandelnden Nachtrags ein. Trotz- 

dem die literarischen Hilfsmittel für internationale Studien jetzt be- 
grenzt sind und das veröffentlichte Material sehr kritisch anzusehen 


0996 Literatur-Anzeiger. 


ist, scheint es doch zweckmäßig schon jetzt einen Ueberblick über die 
wesentlichsten Tatsachen zu geben. Der Verfasser weist selbst auf 
die von ihm empfundenen Mängel hin, hofft aber dennoch, daß dieser 
erste literarische Versuch die Masse der finanziellen Geschehnisse 
des Weltkrieges systematisch zu verarbeiten, dem Leser Nutzen bringen 
möge. Die gewohnte klare Darstellungsart des Verfassers und die 
übersichtliche Anordnung machen die Schrift trotz der genannten 
Vorbehalte wertvoll. Der Inhalt ist folgendermaßen gegliedert. 
I. Die Kriegsausgaben: Allgemeines, Die Kosten früherer 
Kriege, Die Kosten des heutigen Krieges. 2. Die Deckung des 
Kriegsbedarfsimallgemeinen. 3. Schuldenhöhe 
und Kreditgebahrung im heutigen Kriege: Das 
Deutsche Reich, Oesterreich-Ungarm, England, Frankreich, Rußland, 
Italien. 4. Die Kriegssteuern: Vorbemerkung, Das Deutsche 
Reich, Oesterreich-Ungarn, England, Frankreich, Italien, Rußland, 
Schluß. Literaturübersicht. Die Spezialliteratur über diese Fragen 
mehrt sich ja von Tag zu Tag. Einen wichtigen Beitrag zur Unter- 
suchung der Kosten des Krieges stellt das 1. Bulletin der Kopenhagener 
Studiengesellschaft für soziale Folgen des Krieges dar, das dem Ver- 
fasser wohl noch nicht in deutscher Ausgabe vorgelegen hat. — Für 
spätere ja sicher bald notwendig werdende Neuauflagen wären einige 
Angaben über die »Kriegsfinanzen« der durch den Krieg schwer betrof- 
fenen neutralen Staaten als Ergänzung dankbar zu begrüßen. 
(S. P. Altmann.) 


25. Städtewesen und Kommunalpolitik. 





26. Wohnungsfrage. 


27. Unterrichts- und Bildungswesen. 


Hildebrandt, Dr. Else, DieschwedischeVolkskoch 
schule. Ihre politischen und sozialen Grundlagen. Berlin 1916. 
Carl Heymanns Verlag. XVI und 155 S. | 

Dieselbe, Arbeiterbildungs/fragen im neuen 
Deutschland. Tat-Flugschriften 16. Jena 1916. Eugen 
Diederichs. 30. S 

Das Bildungswesen gehört zu den nationalen Lebensäußerungen, 
die tief im Boden der nationalen Kultur wurzeln und in engster Be- 
ziehung zu der allgemeinen geistigen, sozialen und wirtschaftlichen 

Entwicklungsstufe eines Volkes stehen müssen, wenn sich ihre Wirk- 

samkeit auf seine weitesten Kreise erstrecken soll. Die Uebertragung 

von Bildungseinrichtungen von einem Lande zum andern wird daher, 
wenn es sich um mehr als um Experimente handeln soll, stets nur ın 
begrenztem Umfange und unter sorgfältiger Berücksichtigung der 
in den jeweiligen kulturellen Verhältnissen gegebenen Voraussetzungen 
möglich sein. In dieser Beschränkung können jedoch dem Bildungs- 
wesen des Auslandes bedeutsame Anregungen entnommen werden, 
namentlich hinsichtlich der angestrebten Ziele, auch wenn der zweck- 
mäßigste Weg zu ihnen in den einzelnen Ländern verschieden sein 
sollte. 

In diesem Sinne liefert die Arbeit von Else Hildebrandt über 

»Die schwedische Volkshochschule« nicht nur einen wertvollen Beitrag 

zu unserer Kenntnis des ausländischen Unterrichtswesens, sondern 


ee 


28. Jugendfürsorge, Armenwesen und Wohlfahrtspflege. 997 


wird auch in hohem Maße anregend und befruchtend auf unser eigenes 
Volksbildungswesen wirken können, mag man auch der unmittel- 
baren Uebertragbarkeit dieser den skandinavischen Ländern eigen- 
tümlichen Bildungsstätte nach Deutschland Zweifel entgegensetzen. 
Die Verfasserin hat das Verständnis für die von ihr geschilderte 
Einrichtung wesentlich erleichtert, indem sie ihr Wesen und Wirken 
in engem Zusammenhang mit der geistigen, wirtschaftlichen und 
politischen Entwicklung der Volksschicht betrachtet, die bis auf den 
heutigen Tag der Träger des Volkshochschulgedankens gewesen ist, 
der schwedischen Bauernschaft. Ein wirtschaftlich und sozial ge- 
festigter, politisch unabhängiger Bauernstand, der seit Jahrhunderten 
tätigen Anteil an der Leitung des engeren und weiteren Gemeinwesens 
genommen hatte, war die wichtigste Voraussetzung für Entstehung 
und Gedeihen der schwedischen Volkshochschule. Sie ist, das ist 
grundlegend zur Erkenntnis ihres Wesens, keine Berufsschule, sondern 
eine freie Bildungsanstalt für die männliche und weibliche Jugend. 
Ihr Ziel ist die Vermittlung von Allgemeinbildung, »aber nicht nur 
die Aneignung von Wissen, sondern Charakter- und Willensbildung, 
die zum Endziel die Persönlichkeitsgestaltung hate. (S. 50). Sie dient 
der staatsbürgerlichen Erziehung im weitesten und höchsten Sinne 
des Wortes. »Der einzelne soll imstande sein, sich von seiner, wenn 
auch noch so engen Lebenssphäre aus eine einheitliche Anschauung 
über die natürliche und die geschichtliche Welt, in der er lebt, zu bilden. 
Er soll fähig sein, die Vielgestaltigkeit der Meinungen, die ihm im Leben 
entgegentreten, mit einer gewissen Festigkeit des Urteils entgegenzu- 
nehmen« (S. 51). Neben dem Unterricht liegt ein wichtiger Erziehungs- 
faktor in der Lebensgemeinschaft der Schüler während des 3—8 Mo- 
nate währenden Kursus, da hierdurch Gemeinsinn und soziales Ver- 
ständnis in ihnen erweckt wird. (Charlotte Leubuscher.) 


28. Jugendfürsorge, Armenwesen und Wohlfahrtspflege. 


Baum, Dr. Marie: Die Wohlfahrtspflege, ihre 
einheitliche Organisation und ihr Verhälinis 
zur Armenpflege. Korreferat für nichtgroßstädtische Ver- 
hältnisse. Schriften des Deutschen Vereins für Armenpflege und 
Wohltätigkeit. 104. Heft. München und Leipzig 1916, Duncker 
und Humblot. 23 S. M. 1.—. 

Die vorliegende Schrift will in erster Linie der Wohlfahrtspflege 
eine selbständigere, unabhängigere Stellung gegenüber dem Armen- 
wesen, als es bis jetzt der Fall gewesen ist, zuweisen, bei dem großen 
Aufgabenkreis, den die erstere in immer steigendem Maße in den letzten 
Jahren erhalten hat, eine durchaus berechtigte Forderung. Gerade bei 
den überaus großen Aufgaben, welche die Wohlfahrtspflege nach dem 
Kriege zu erfüllen haben wird, ist es schon heute besonders wichtig 
und am Platze, allgemeinere Grundsätze über deren Handhabung 
und Ausgestaltung aufzustellen, wie es die Verfasserin aus einer so 
reichen persönlichen Erfahrung heraus, in dieser Schrift tut. Was 
sie hier über die Heranziehung und den Gegensatz zwischen dem 
lebendigen« und dem s»erstarrten« (bureaukratischen) Teile der dabei 
zu leistenden Arbeit sagt, ist überaus beachtenswert. »Menschen 
brauchen wir, die aus innerer Wärme, aus innerem Zwange heraus 
hier lebendiges Gestalten vollbringen.« 








998 Literatus-Anzeiger. 


Die Darlegungen sind vor allem den Verhältnissen in den kleineren 
Städten und auf dem flachen -Lande gewidmet. Gerade hier ist bis 
jetzt noch relativ wenig hinsichtich der Wohlfahrtspflege geschehen 
und erst die allerletzten Jahre haben hier zu einer stärkeren Tätigkeit 
derselben geführt. Wie viel aber gerade hier noch zu tun ist, haben 
ja neuere Untersuchungen (z. B. Kaup, Ernährung und Lebenskraft 
der ländlichen Bevölkerung 1910) auf das deutlichste gezeigt. 

(P. Mombert.) 


29. Kriminologie, Strafrecht. 


30. Soziale Hygiene. 


Fischer, Dr., Aljons: Gesundheitispolitik und Ge- 
sundheitsgesetzgebung. Sammlung Goeschen. Berlin 
und Leipzig 1914. G. J. Goeschen. 146 S. M. —.90. 

Verfasser bringt im ersten Abschnitte »Gesundheitsstatistikı 
die wichtigsten statistischen Daten dieses Gebietes. Ganz besonders 
wertvoll ist der 2. Abschnitt »Gesundheitspolitik«. Verfasser be- 
spricht hier die wichtigsten auf dem Gebiete der öffentlichen Gesund- 
heitspflege tätigen Organisationen, jene die sich auf mehreren Gebieten 
betätigen, die sich einem besonderen Gebiete widmen und die sozial- 
politischen Organisationen. In kurzen aber klaren Worten gibt er 
eine Geschichte der einzelnen Vereine, gibt ein Bild ihrer Tätigkeit 
und ihrer Erfolge. Im letzten Abschnitt »Gesundheitsgesetzgebungs 
wird vor allem eine Darstellung der deutschen Gesetzgebung gegeben, 
aber auch aus der Gesetzgebung der andern Länder alles Bemerkens- 
werte oder Eigenartige hervorgehoben. 

Es ist dem Referenten kein Werk bekannt, das eine derartige 
rasche Orientierung über die genannten Gebiete ermöglichen würde — 
aber darüber hinaus bringt der 2. Abschnitt Angaben, die, wenigstens 
soweit Referent es weiß, bisher nirgends in gleicher Vollständigkeit 
und Zusammenfassung veröffentlicht wurden. So ist das kleine Buch 
ein wertvolles Werkchen. (L. Teleky.) 


Neisser, Prof., Dr., Albert: Die Geschlechiskrank- 
heiten und ihre Bekämpfung. Vorschläge und Forde- 
rungen für Aerzte, Juristen und Soziologen. Berlin 1916. Julius 
Springer. XII und 331 S. M. 8.—. 

Eine unerschöpfliche Fundgrube für jeden, der sich mit der Frage 
der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten zu befassen hat, nennt 
Blaschko, der langjährige Mitarbeiter und Freund des Verstorbenen, 
das hinterlassene Werk Neissers. Es ist zugleich Ausgangspunkt, 
Markstein und Wegweiser im Kampf gegen die Geschlechtskrank- 
heiten. Ein Wegweiser, den aufzurichten niemand befugter gewesen. 

Von der Erwägung ausgehend, daß die bisherigen Methoden der 
Bekämpfung sich als unzureichend erwiesen haben, fordert Neisser 
den Erlaß eines dem Reichsseuchengesetz einzugliedernden Gesetzes 
zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. »Es soll ein Sonder- 
gesetz geschaffen werden, in welchem alle bisherigen, in verschiedenen 
Gesetzbüchern, Verordnungen, Erlassen zerstreuten Einzelbestim- 


ER — mf - — er 


BT 1m 


30. Soziale Hygiene. 999 


mungen, die zur Bekämpfung der Gefahren der Geschlechtskrankheiten 
und der Prostitution dienen sollen, wie die neu zu schaffenden Gesetzes- 
bestimmungen vereinigt werden.« Neisser verlangthier statt polizei- 
licher Strafbestimmungen hygienische, im Gesundheitsinteresse not- 
wendige Vorsichtsmaßregeln. »Insbesondere mußsich die sanitäre Ueber- 
wachung so lange wie möglich fern halten, auch nur vondem Verdacht 
— und dieser ist ja leider jetzt noch berechtigt — daß die sanitäre 
Ueberwachung bürgerliche entehrende Folgen habe.« 
Neisser ist sich klar darüber, daß weder Heilkunde noch Strafgesetz zur 
Bekämpfung der venerischen Volksgefahr ausreichend sind, wenn ihnen 
nicht soziale und moralische Umwertungen zu Hilfe kommen. So 
ist nicht Zwang und Strafe, sondern Vorsicht und Fürsorge das Ge- 
gebene und zur Durchführung der sondergesetzlichen Maßnahmen 
ein Gesundheitsamt, »zusammengesetzt aus Männern und, 
worauf ich, wenn es sich um weibliche Vorgeführte handelt, besonderes 
Gewicht lege, aus Frauen, die durch ihre besondere Tätigkeit in der 
Jugendfürsorge, Armenpflege, als Aerzte, Geistliche usw. sich mit 
den Problemen der Prostitutionsbekämpfung beschäftigt haben 
und die einschlägigen Verhältnisse aus eigener Erfahrung kennen«. 

Das Gesundheitsamt ist einerseits als Zwischeninstanz gedacht, 
um die der Allgemeinheit drohenden Gefahren durch vorbeugende 
und heilende Maßnahmen zu verringern und zu beseitigen. Anderer- 
seits will es etwaige Zwangsvorschriften so milde wie möglich ge- 
stalten. 

Bei der Frage der Anzeigepflicht wünscht Neisser die Beibehal- 
. tung des die Schweigepflicht des Arztes statuierenden $ 300 St.G.B., 

tritt aber dennoch für ein Anzeigerecht der Aerzte an das 
Gesundheitsamt ein, gegenüber sdurch ihr Verhalten gemeingefähr- 
lichen Geschlechtskranken«. Er ist der Ansicht, daß das allgemeine 
hygienische Interesse die Aufhebung der Schweigepflicht in allen ent- 
sprechend gelagerten Fällen fordere und daß ein »strenges gesetzliches 
Kurpfuschereiverbot« die Aerzte genügend vor dem unlauteren Wett- 
bewerb unverantwortlicher Personenkreise schützen könne. 

Um sein Ziel ganz zu erreichen, hätte Neisser getrost einen Schritt 
weiter gehen und in den von ihm bezeichneten Fällen statt des An- 
zeigerechts die Anzeigepflicht fordern sollen. Die wahr- 
scheinliche Folge eines bloßen Anzeigerechtes wäre das Abwandern 
vieler Patienten zu solchen Aerzten, von denen eine Meldung nicht 
zu befürchten wäre. Gibt es aber eine Anzeigepflicht, so macht 
deren Verletzung Arzt und Patienten in gleicher Weise strafbar. 

Ferner ist eine ersprießliche Wirksamkeit der auch von Neisser 
warm begrüßten und empfohlenen Beratungsstellen nur dann denkbar, 
wenn der festgelegten Meldepflicht der Behörden und Kassen sich auch 
die der Privatärzte in allen bezüglichen Fällen gesellt. 

Ganz besonders bedeutungsvoll ist das Kapitel; Geschlechts- 
krankheiten, Ehe und Nachkommenschaft. Die Gefahren, mit denen 
Gonorrhöe und Syphilis Ehe, Nachkommenschaft und Familie ge- 
sundheitlich, wirtschaftlich und rassebiologisch bedrohen, führen 
Neisser dazu, auch seinerseits für die alte Forderung der abolitionisti- 
schen Föderation und der Frauenvereine einzutreten, daß das Ge- 
sundheitszeugnis in die Reihe der obligatorischen Heiratspapiere auf- 
zunehmen sei. Er fordert: »einen gesetzlich eingeführten Zwang 
für beide Parteien, ein ärztliches Attest über den Gesundheitszustand 
auf einem von der Behörde vorgeschriebenen Formular vorzulegen, 


1000 Literatur-Anzeiger. 


welches’ spätestens bei der Anmeldung zum Standesamt vorgelegt 
und beiden Parteien ausgehändigt wird. ....... 

Alle weiteren Schritte bleiben der freien Entschließung beider 
Parteien überlassen.« 

Ist eine wesentliche Erkrankung oder Behandlung verschwiegen 
worden, so kann die Ehe für nichtig erklärt werden, auch wenn keine 
Ansteckung erfolgt ist. 

Besonders wohltuend berührt bei diesem Vorschlag Neissers, 
daß das Gesundheitsattest nicht zur Grundlage eines von manchen 

Seiten im Krankheitsfalle geforderten Eheverbotes gemacht wird. 
Ein solches Verbot, das ja nur den Abschluß einer legalen Geschlechts- 
verbindung, aber nicht den irregulären Geschlechtsverkehr hindern 
würde,wäre zugleich ein unzulässiger Eingriff in das Selbstbestimmung- 
recht der Eheschließenden. Wer wissend in eine solche Sache hineim 
geht, hat sich die Folgen selbst zuzuschreiben. Außerdem stellen sich 
der Entscheidung, ob und wann ein solches Verbot aus rassebiologi- 
schen Gründen zu erlassen sein würde, wie Neisser ausführt, so un- 
überwindliche, diagnostische Schwierigkeiten entgegen, daß der ge- 
wissenhafte Arzt zu abschließenden Entscheidungen über Zulässig- 
keit oder Verbot einer Eheschließung nur in einer verschwindenden 
Zahl von Krankheitsfällen gelangen könnte. 

Dagegen wäre meines Erachtens der Neissersche Vorschlag 
der Nichtigkeitserklärung einer Ehe dahin zu verstärken, daß eine 
wissentliche Verschweigung neben der familienrechtlichen auch eine 
strenge strafrechtliche Ahndung zur Folge haben müsste. 
Auf der anderen Seite würde auf diese Weise aber auch die smißbräuch- 
liche Heranziehung einer vorausgegangenen Geschlechtskrankhat 
als Ausrede für die durch die Anfechtungsklage angestrebte Ehetren- 
nung beseitigt werden«. | 

Zwei wichtigste Abschnitte des Buches sind den Fragen der Ver- 
hütung und Heilung der Geschlechtskrankheiten gewidmet. 

An erster Stelle wird hier Wert und Notwendigkeit sexualpäda- 
gogischer Unterweisung und Beeinflussung hervorgehoben. Sie sol 
durch entsprechende Vorbildung der Lehrer auf den Seminaren 
und Universitäten vorbereitet und im Rahmen allgemeiner hygien- 
scher Kurse in den Schulen durchgeführt werden. Noch mehr Wert 
legt Neisser auf eine allgemeine Erziehung und Kultur des Willens. 
Für die psychisch minderwertigen Mädchen verlangt er eine besondere 
erziehliche Fürsorge. 

Bei Behandlung der Frage der sexuellen Abstinenz weist Neisser 
eindringlich auf das schwere Geschick jener hin, die durch den Krieg 
um jede Aussicht auf Ehe gekommen sind. | 

Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Bekämpfung. 
der Geschlechtskrankheiten ist die Gestaltung der Schutzmittelfrage. 
Neisser entscheidet die nur für den einseitig orientierten Fanatiker 
großer Bevölkerungszahlen strittige Frage dahin, daß die Verbreitung 
der Schutzmittel gestattet sein müsse. Es sei aber Vorsorge zu treffen: 

I. daß die Öffentliche Ankündigung nicht in anstoßerregender 
Form vor sich gehe. 

2. Ist zu verlangen, daß der Hausierhandel strengstens verboten 
wird. 

3. Daß alle die Frauen gesundheitlich schädigenden Methoden 
und Instrumente strengstens verboten und 4. dad die Hebammen 
überwacht werden. 


— ——af — 


32. Staats- und Verwaltungsrecht. 1001 


Neisser verkennt nicht den antikonzeptionellen Charakter der 
meisten Schutzmittel. Ihm erscheint aber mit Recht die durch die 
Geschlechtskrankheiten drohende Gefahr der Geburtenminderung 
von so ausschlaggebender Bedeutung, daß davor alle anderen Be- 
denken einschließlich, der sittlichen zurücktreten müssen. 

Die medizinische Prophylaxe bzw. gründliche Dauerheilung der 
venerischen Erkrankungen soll durch eine möglichst frühzeitig einge- 
leitete und lange genug durchgeführte Spezialbehandlung gesichert 
werden. Die zum Teil bereits zur Durchführung gelangten und in 
weitem Maßstab vorgesehenen Beratungsstellen werden als eine 
wichtige Etappe zur Erreichung dieses Zieles gekennzeichnet. 

In prophylaktischem Sinne wollen auch die Neisserschen Vor- 
schläge zur Sanierung und Ueberwachung der Prostitution wirken. 
Aus dem Reglementaristen Neisser ist im Laufe der Jahre der Vertreter 
einer Auffassung geworden, der, unter Zurückführung der Zwangs- 
maßnahmen auf ein unentbehrliches Mindestmaß, das Schwergewicht 
seiner Forderungen auf die Sicherung einer möglichst vollkommenen 
gesundheitlichen Ueberwachung der Prostituierten legt. Unter Bei- 
behaltung der Präventivkontrolle soll »die sanitäre Aufsicht rein ärzt- 
lich und so milde als möglich gestaltet werden, um möglichst viele Per- 
sonen dieser sanitären Kontrolle zu unterwerfen«. 

Wir konnten den reichen Inhalt des Neisserschen Vermächt- 
niswerkes nur andeutend umgrenzen. Das wird aber auch darum 
genügen, weil selbst eine eingehendere Würdigung nichts weiter sein 
könnte als eine Aufforderung zum Selbststudium. Wer in irgend einem 
Zusammenhang an der Frage der Bekämpfung der Geschlechtskrank- 
heiten interessiert ist, wird genötigt sein, sich die reichen Inhalte 
des Buches in persönlicher Durcharbeitung zu eigen zu machen. 

Für die aber, die mit der praktischen, amtlichen oder wissenschaft- 
lichen Bearbeitung der einschlägigen Fragen befaßt sind, wird es das 
Handbuch sein, das sie immer wieder zu Rate ziehen müssen. 

(Henriette Fürth.) 


31. Frauenfrage, Sexualethik. 


32. Staats- und Verwaltungsrecht. 


Barneti: The Operation of the Initiative, Refe- 
rendum, and Recall in Oregon. New York ıg15. 

Verfasser erörtert seinen Gegenstand mit so enger Beschränkung 
auf den Staat Oregon, daß er sogar bei der allgemeinen politischen 
Würdigung fast ausschließlich Zitate aus Broschüren und anonymen 
Artikeln der in Oregon wirkenden Politiker und Zeitungen wiedergibt. 
Darüber, in welchem Verhältnis diese Dinge zu der allgemeinen nord- 
amerikanischen Verfassungsentwicklung stehen und aus weichen 
ideengeschichtlichen, sozialpolitischen und psychologischen Zusammen- 
hängen sie zu begreifen sind, muß man anderwärts Belehrung suchen. 
Der deutsche Leser findet sie in der lehrreichen Abhandlung über 
»Die neuere Verfassungsentwicklung in den Vereinigten Staaten« 
die W. Hasbacn vor 2 Jahren in der Zeitschr. f. Politik (VII. S. 49 ff.) 
veröffentlicht hat, und in Th. Curtis Aufsatz »Der Weltgang des 
Referendums« (Arch. f. öff. Recht 28, S. ıff.). Es zeigt sich, daß 


a rn Se mar ne Er re er 2 A 


1002 Literatur-Anzeiger. 

eine in den oer Jahren von S. W. Sullivan entfachte Be auf 
en des amerikanischen Verfassungswesens in der Richtung 
der unmittelbaren Demokratie, die seit geraumer Zeit vornehmlich 
von der »Peoples Power League« getragen wird, im Staate Oregon 
zwar nicht die frühesten, aber die bedeutendsten Erfolge gehabt 
hat. Hier ist der unermüdliche W. S. U’Ren (vgl. das Verzeichnis 
seiner Schriften S. 226 f. des hier besprochenen Buches) für diese und 
manche andere Reformen tätig. Er ist der Vater des »Oregon Systeme 
(S. 17, 267). Seine Anhängerschaft setzt sich (nach Hasbach) hier, 
wie überall in Amerika, wo die »Populisten«e am Werke sind, aus Ar- 
beitern und Landwirten zusammen, d.h. aus kleinen Leuten, denen 
es darauf ankommt, in Staat und Gemeinde das so vielfältig korrapte 
oder selbstsüchtige Regiment der gewählten Legislativen und Magıst- 
rate zu brechen. Von der Art seiner Gegner scheint das S. 271 ff. 
abgedruckte Argument der »Taxpayers League« einen Begriff zu geben. 

Das Volk von Oregon — es waren IQIG gegen 700 000 Einwohner 
auf einer Fläche, die mehr als dreimal so groß ist, als das Königreich 
Bayern — hat sich im Jahre 1902 das Referendum in der Weise vorbe- 
halten, daß entweder durch Beschluß der ae oder auf Petition 
von wenigstens 5 % aller Wähler ein von der Legislative angenommener 
Gesetzentwurf, oder, auf Initiative von wenigstens 8 % aller Wähler 
ein von irgendwelchen Bürgern vorgelegter Gesetzentwurf der Volks- 
abstimmung unterbreitet wird und daß der Governor solchen Abstim- 
mungen gegenüber kein Veto hat. Seit I906 kann auch jeder einzelne 
Abschnitt oder Paragraph eines Gesetzes dem Referendum unter- 
worfen werden. In demselben Jahre sind Gemeindereferendum und 
Gemeindeinitiative eingeführt worden und rọrọ wurde ausscnließlich 
den Gemeindebürgern das Recht vorbehalten, über ihre Gemeindever- 
fassung zu beschließen, unter Ausschaltung der Legislative. Der 
Recall, d.h. die Abberufung öffentlicher Beamter durch Volksab- 
stimmung vor Ablauf derAmtszeit ist für alle öffentlichenFunktionäre 
in Staat und Gemeinde im Jahre 1908 eingeführt worden. Indes 
ee es des Antrags von wenigstens 25 % der in Betracht kommenden 

er. 

Unser Buch unterrichtet nun vertrayenerweckend, wohldispo- 
niert, ausführlich und unter Mitteilung der verschiedenen Beurtei- 
lungen, welche diese Institute und ihre Nebenwirkungen erfahren haben, 
darüber, wie das alles im einzelnen eingerichtet ist und welchen Ge- 
brauch das Volk von Oregon von seinen neuen Rechten gemacht hat. 

Da kommt denn nun freilich heraus, daß dieser Gebrauch bisher 
allzu oft ein Mißbrauch war. Besonders beim Recall. Gleich die erste 
Anwendung beseitigt den Mayor einer Stadt angeblich weil er sich 
sunfähig, unsittlich, unwahrhaftig und willkürlich« gezeiet habe, 
in Wahrheit — behauptet B. S. 194 —, weil er einige einflußreiche 
Gutsbesitzer genötigt hatte, einen widerrechtlich gesperrten Weg 
freizugeben. Ein andermal (S. 198) fallen zwei sdirectors« eines Schul- 
distrikts, weil sie sich weigern, einen Lehrer zu entlassen, der angeblich 
den Schülern sozialistische Lehren vorgetragen habe. Oder die »saloon 
keepers« sind erzürnt, weil ein outsider einen Schanklizenz erhalten 
hat. Im ganzen haben in 7 Jahren 17 Recalls stattgefunden; davon 
waren II Sen de und haben 34Beamten das Amt gekostet. Es scheint 
aber, daß dabei meistens Intriguen und Niederträchtigkeit gesiegt 
haben. Trotzdem will B. (S. 218) den Recall nicht verdammen we 
seines sdemokratic character« und es ist ja wohl wahr, daß er in den 


32. Staats- und Verwaltungsrecht. 1003 


amerikanischen Verhältnissen durch seine bloße Möglichkeit reinigend 
und zügelnd wirkt. Ä 

Besser urteilt der Verfasser über die Volksgesetzgebung, deren 
Ergebnisse im allgemeinen gut seien (z. B. S. 124, 167, andererseits 
21 ff.). Indes ist das Gesamtbild, das er entwirft, nicht eben erfreulich. 
Es scheint, daß in Oregon dasGesetzemachen eine beliebte Unterhaltung 
geworden ist. In 13 Jahren 95 Initiativ- und 41 Referendumsanträge, 
darunter allein 61 Verfassungsabänderungen, von denen 23 Gesetz 
geworden sind, das ist auch für amerikanische Verhältnisse ein bischen 
viell Die Stetigkeit der Verfassung kommt in Gefahr (S. 182). Dabei 
haben sich die nach der Zahl der ergatterten Unterschriften bezahlten 
Stimmensammler zu einer wahren Landplage entwickelt. Mancher 
gibt ihnen die Unterschrift zu der Petition, für die sie werben, nur 
um sie los zu werden, oder um den armen Teufel zu unterstützen, und 
an betrügerischen Kniffen scheint kein Mangel zu sein. Den Bürgern 
selbst wird vorgeworfen, daß nur die wenigsten willens oder imstande 
seien, sich über die Bedeutung der Gesetze, über die sie abstimmen, 
einigermaßen zureichend zu unterrichten. Darüber tröstet sich nun 
allerdings U’Ren (vgl. S. 92 und ı) mit der Erwägung, der einzelne 
Stimmberechtigte frage sich allemal nur »who is back of it ?« und stim- 
men ja oder nein je nachdem, ob die Leute, die sich für die Sache ein- 
setzen, sein Vertrauen verdienen oder nicht; und darüber habe der 

emeine Mann ein gutes Urteil. So ist es ja wohl und insofern läuft die 

olksgesetzgebung, wie in einem Zeitungsartikel (S. 89 f.) recht fein 
ausgeführt wird, politisch auf ein zweites Repräsentativsystem hinaus: 
Neben den erwählten werfen sich kleine Gruppen von Politikern zu 
freien Gesetzgebern auf, sammeln Unterschriften für die von ihnen 

emachten Entwürfe und lassen, wenn sie die 8 % Stimmen für eine 

nitiative zusammenbekommen (wozu es freilich Geld braucht, S. 60 ff.), 
das Volk darüber abstimmen. 

Interessant sind auch die verfassungsrechtlichen Einzelheiten, 
auf die ich an dieser Stelle aber nicht eingehen will. Die Gegenstände 
der Volksgesetzgebung sind sehr mannigfaltig (vgl. S. 21 ff., 185 ff.). 
Neben Verfassungsfragen scheinen Steuerrecht und Staatshaushalts- 
angelegenheiten im Vordergrund des Interesses zu stehen. Daneben 
sozialpolitische Maßregeln. Zu ihnen verhält sich die Mehrheit aber 
nicht eindeutig; einem Haftpflichtgesetz und dem Achtstundentag bei 
öffentlichen Arbeiten z. B. hat die Volksabstimmung zum Leben verhol- 
fen, der allgemeine Achtstundentag ist durchgefallen (S. 120 und S. 36). 

Im ganzen erzeugt das lehrreiche Buch den Eindruck, daß Ini- 
tiative, Referendum und Recall in Oregon, wie wohl auch sonst 
in Amerika, ihren Wert haben als das kleinere Uebel gegenüber dem 
sonst drohenden großen Uebel der Herrschaft der »Bosse«, des »selfish 
intereste und des »money interest«; daß diese Surrogate der Volks- 
versammlung für sich allein betrachtet aber die Verpflanzung aus 
der bedächtigen Schweiz in fremdes Erdreich eigentlich nicht vertragen 
und alle die bekannten Bedenken gegen ihren Wert (vgl. z. B. Hasbach 

oder Esmein) durch die in Oregon gesammelten Erfahrungen einst- 
weilen bestätigt werden. (Richard Thoma.) 


Frank, Reinhard: Das Seekriegsrechtin gemein- 
verständlichen Vorträgen. Tübingen 1916. J. C. B. 
Mohr (Paul Siebeck.) 

Die Veröffentlichung dieser Vorträge ist dankbar zu begrüßen 


1004 Literatur-Anzeiger. 


In der Auswahl des Stoffes, der Klarheit und Richtigkeit der Dar- 
stellung, der Schönheit eines durch reine Sachlichkeit wirkenden Stils 
zeigt sich der bewährte Meister juristischer Didaktik. 

(Richard Thoma.) 


Triepel: Die Zukunft des Völkerrechis. 
Eltzbacher: Totes und lebendes Völkerrecht. 
Im deutschen Publikum ist die Meinung weit verbreitet, das ganz 
Völkerrecht sei unter den Stürmen des Weltkriegs elend zusammen- 
gebrochen und in Zukunft vermöchten nur noch Heuchler oder Phan- 
tasten sich mit Lehre und Ausbau dieses papierenen »Rechts« beschäf- 
tigen wollen. Diesem Irrtum, gegen den sich schon zahlreiche belehrend 
Aufsätze gerichtet haben, tritt jetzt auch Triepel entgegen in einem 
durch Klarheit, Ueberzeugungskraft und Feinheit des abwägenden 
Urteils ausgezeichneten Vortrag. Hier spricht ein weltkluger Skep- 
tiker, der deshalb das, was er gelten läßt, um so fester auf die Beine 
stellt. — Das Interesse regiert die Welt und so wird nach Wiederkehr 
des Friedens der Ausbau des internationalen Friedensrechts, da er 
im Interesse aller Mächte liegt, in alten Bahnen weiterschteiten; 
das Haager Schiedsgericht wird Arbeit genug bekommen (S. 13 ff.) - 
es ist ja so bequem, kleinere Streitfragen, die man friedlich lösen 
will, vom Schiedsgericht entwirren zu lassen — vielleicht wird sıch 
sogar »das Bedürfnis nach gegenseitiger Ergänzung der getrennten 
volkswirtschaftlichen Systeme stärker zeigen, als der gegenseitige 
Haß der Völker« (S. ı2.). Anders im Kriegsrecht! »Das Vertrauen 
in die Kraft papierener Abmachungen ist an dieser Stelle so tief ge- 
sunken wie nur denkbar« (S. 17.). Und doch ist der papierene Vertrag, 
selbst wenn er zerrissen wird, nicht ohne Wert. »Würde die Londoner 
Seerechtserklärung, deren Ratifikation bekanntlich durch englische 
Schuld vereitelt worden ist, formell in Geltung gestanden haben, 
so würde sie zwar .... von England ebenso vergewaltigt worden 
sein, wie die Pariser Seerechtserklärung und anderes. Aber wir hätten, 
namentlich in unseren Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten, 
eine Stütze besessen, deren Mangel wir bitter haben empfinden müssen‘ 
(S. 18 f.). So wäre es denn doch möglicn, daß nach dem Kriege neue 
Versuche zu konventionellen Kodifikationen des Kriegsrechts gemacht 
werden. Dann wird freilich auf Grund der Erfahrungen des Welt- 
kriegs vielerlei neu zu ordnen und zu verbessern sein. Die Jurisprudenz 
wird anstelle der fatalen »Allbeteiligungsklausel« und der Durchlöche- 
rung der Vereinbarungen durch »Vorbehalte« bessere Methoden er- 
finden müssen (S. 21 ff.). Vor allem wird der Tatsache Rechnung 
zu tragen sein, daß die Ansichten darüber, inwieweit sich Kriegs 
maßregeln gegen die friedliche Bevölkerung richten dürfen, eine ge- 
wisse Rückbildung erfahren haben. Leider bedient sich Triepel bei 
dieser Auseinandersetzung der auch sonst verbreiteten, übertriebenen 
Formulierung, als handle es sich hier um Wandlungen der »Grund- 
auffassung vom Wesen des Krieges« von einem angeblichen Grundsatz, 
Krieg sei Kampf von Staat gegen Staat zu dem Grundsatz, er se 
Kampf von »Volk gegen Volk«. Davon ist denn doch keine Rede 
bei aller Grausamkeit des modernen Krieges. Tatsache ist ner, daß 
die gegenwärtige Kriegführung einen Zustand aufweist, der vom bisher 
anerkannten Völkerrecht abweicht, innerlich indes nicht in allen 
Stücken ungerechtfertigt ist. Die englisch-russischen Methoden 
haben sich gewiß den barbarischen Ungeheuerlichkeiten, die darin 


tn duge 32. Staats- und Verwaltungsrecht. 1005 


he”, lägen, wenn man mit dem Schlagwort, Krieg sei ein Kampf der »Völ- 
er E a kerę, folgerichtigen Ernst machen wollte, erschreckend angenähert 
und sind Verbrechen auch vor dem Forum des zukünftigen Völker- 


rechts, aber auf der andern Seite haben auch die bisherigen Lehren 
und Formeln der Völkerrechtswissenschaft und der Kriegsrechtsver- 
träge dem, wenn man es ernst nimmt, nicht minder wirklichkeits- 


ae fremden und unmöglichen Postulat, der Krieg dürfe sich überhaupt 
E nur gegen die bewaffnete Macht richten, einige zu weitgehende Ein- 
ea: er gemacht, über die der Krieg alsbald hinweggeschritten ist. 
Bene Br Aufgabe der Zukunft wird es sein, neue Grenzziehungen zu finden 
N und (S. 29) sin gemeingültigen Regelungen das Interesse 
a einer zum Siege drängenden Kriegführung gegen das Schutzbedürfnis 
a des friedlichen Bürgers abzuwägen«e — Wenn die Zeit dazu reif ist 
Waa wird Triepel uns die genauere Belehrung darüber nicht vorenthalten 
a dürfen, welche Rechtssätze er für abgetan, welche für neu entstanden, 
g Ber ar welche für satzungsreif hält. 
E nanan Einstweilen wird man mit Begierde zu der Abhandlung Eltz- 
SET bachers greifen, der es wagt, schon heute den Umriß des neuen, 
omaia Re slebenden« Völkerrechts zu zeichnen, und wird es nicht ohne fruchtbare 
HE Ne Anregung, ja eigentlich Aufregung aus der Hand legen. Eltzbacher 
AUT g LET! behauptet nämlich, daß ein neues Kriegsrecht schon in Geltung stehe 
srein, GR ET und inhaltlich nichts Geringeres bedeute, als die Anerkennung seiner 
u ET neuen Kriegführung, bei welcher der Krieg nicht mehr gegen die feind- 
EE iiche Waffenmacht allein, sondern gegen das ganze feindliche Volk 
er eg, BET geht« (S. 53.). Denmach sei der alte Grundsatz, daß der Krieg nicht 
sakr t gegen das feindliche Volk gefünrt werden dürfe, mit seinen Folgesätzen 
org g die außer Geltung getreten! Auch der »neue schrecklichere Krieg der Völ- 
BEER a ker« sei nicht zügellos, aber er werde von anderen, neuen Sätzen be- 
-re eroale herrscht, von denen nicht wenige schon jetzt feststehen (S. 58 ff.). 
D Dieser Lehre gibt Eltzbacher eine beachtenswerte theoretische Un- 


Ins 
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termauerung. Er zeigt, daß alles Recht nicht nur durch langsam wir- 
kende Gewohnheit, sondern auch durch Katastrophen, die »revolu- 
tionär« (S. 13) wirken, umgestaltet werden kann. Also vermag auch 
im Gebiete des Völkerrechts ein gewaltiger Krieg zur normentötenden 
und normenschaffenden Katastrophe zu werden. Durch die Erfassung 
und scharfe Betonung dieser Einsicht hat sich der Verfasser ein Ver- 
dienst um die der Mitarbeit rechtstheoretisch geschulter Köpfe so ìrin- 
gend bedürftige Völkerrechtswissenschaft erworben. 


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s de prira Eine andere Frage ist, ob der Theoretiker im Reiche des Em- 
pon — pirischen Das, was ist, richtig erkannt und bewertet hat. Und das kann 
- pagel me- = ich nun allerdings nicht finden. Gewiß ist jetzt nicht mehr alles, 
i aee bes 47. was die Kriegführenden über die bisheriger Lehren hinaus den fried- 
wird der TESH, lichen Bevölkerungen zufügen, einfach als Völkerrechtsverletzung 
viren me, zu bezeichnen, sondern in Manchem (z. B. Internierung von Wehr- 
ung nR fähigen, Zahlungssperren, gewissen Unvermeidbarkeiten des Laft- 
‚der iE E krieges, gewissen Erweiterungen des Konterbandebegriffes) tritt 
e yerta , ein consensus, eine neue opinio juris zutage. Aber man muß da sehr 
ya Wair E, vorsichtig sein. Es ist nicht zulässig, schon dann einen »Umschwung 
ep ange s der allgemeinen Rechtsüberzeugung» zu konstatieren, wenn die Rechts- 
y m den WEY nn sich häufen und schließlich »so zahlreich und allgemeine 

jsp denn I 7 werden, daB sdadurch der verletzte Rechtssatz die Geltung verliert« 
uns, Jaa (S. 44.). Es müssen doch — und das ist im Grunde auch die Meinung 
ne des Verfassers — noch andere Kriterien hinzutreten, deren Aufzeigı 
ch IE und Erläuterung der Verfasser uns aber gänzlich schuldig bleibt. 

pa 

! | gerlici 

© 


1006 Literatur-Anzeiger. 


Mindestens, scheint mir, muß der »Umschwung der Rechtsüberzen. 
gung« bei beiden Kriegsparteien eingetreten sein. Deshalb ist 
es mir unverständlich, wie Verfasser behaupten kann, es sei völker- 
rechtlich zulässig, Luftbomben in die Wohnstätten der friedlichen 
Bevölkerung zu werfen zu keinem andern Zweck, als um durch Tötungen 
und Zerstörungen von Privateigentum die »Seelenkraft« des feindlichen 
Volkes zu brechen (S. 51, 68.). Verfasser gehört ja vielleicht zu den 
Heimstrategen, welche glauben, das unterschiedslose Wüten mit 
Zeppelinbomben könne uns dem Siege näher bringen. Aber das hätte 
ihn nicht verhindern dürfen, schon aus den Tagesberichten zu ersehen, 
daß die deutsche oberste Heeresleitung auf dem entgegengesetzten 
Standpunkt steht. Die deutschen Luftschiffe haben bis Jetzt zu anderen 
Zwecken, als um militärische Anlagen, Eisenbahnen und andere öffent- 
liche Anstalten, Munitionsfabriken, Kriegsbedarfslager, Werften und 
dergl. zu zerstören, nur dann Bomben geworfen, wenn sie im Einzelfall 
den Auftrag hatten, einen Akt der Vergeltung oder der Repressalie 
durchzuführen. Was aber eine Kriegspartei als Vergeltung oder Re- 
ressalie tut, das erklärt sie damit nur in concreto als rechtmäßig, 
in abstracto aber gerade als völkerrechtswidrig. In diesem Punkte 
hat also ein allgemeiner Umschwung der Rechtsüberzeugung nicht 
stattgefunden; ebensowenig als etwa die von England durchgeführte 
Pseudoblokade neues Recht gechaffen hat. Die französischen Bom- 
benwürfe auf Stadt und Schloß Karlsruhe bleiben ein Verbrechen 
gegen Recht und Menschlichkeit. 
In vielen anderen Punkten scheint mir Verfasser »totes« und 
slebendes« Völkerrecht zutreffend umrissen zu haben. 
Ausführlich aber möchte ich protestieren — und dassind Einwen- 
dungen die sich, wie oben bemerkt, auch gegen gewisse, allerdings viel 
vorsichtigere Formulierungen Triepels richten — gegen die Haupt- 
these des ganzen Buches, daß das Kriegsrecht von Grund aus revo- 
lutioniert und aus einem Kriege der Staaten zu einem Kriege der Völker 
eworden sei. DaB dies wahr wäre,ist,solange man noch denWorten ihren 
en und ihren Ernst läßt und sie nicht bloß zu einem Spiel rethorischer 
Antithesen braucht, ganz unausdenkbar und findet in den eigenen Sät- 
zen des Verfassers die bündigste Widerlegung. Das» Kriegszielk (S. yi 
61, vgl. 53) ist und bleibt auch bei Eltzbacher die Brechung der feind- 
lichen Staatskraft. Diese ist allerdings heutzutage zu tiefst ver- 
ankert in den geistigen und wirtschaftlichen Kräften der Bevölke- 
rung und das Völkerrecht hat deshalb den Kriegführenden von jeher 
gestattet, auch diese und damit die »friedliche Bevölkerung« mit 
mancherlei Maßregeln hart zu treffen, und hat schon immer dem Sieger 
erlaubt, eroberte Länder und Bevölkerungen sich einzuverleiben. 
oder dem besiegten Staate (und damit Volke) Bedingungen aufzuer- 
legen, die Wohlstand und Wachstum seiner friedlichen Bewohner 
erdrücken. Aber deswegen bleiben Krieg und Friedensbedingungen 
doch nur gegen die feindliche Staatskraft gerichtet. Diese soll 
äußersten Falls vernichtet werden. Aber doch nicht das Volk! Was 
ein auf die Zerstörung des Volkes gerichteter Krieg heißen dürfte, kann 
man im Alten Testament nachlesen, wenn der fanatische Sieger alles 
Lebendige mit der Schärfe des Schwertes schlägt. Derartiges hat es 
zwischen den zivilisierten Staaten der Neuzeit seit den Religions- 
kriegen nicht mehr gegeben. Ich weiß wohl, daß das deutsche Volk, 
wenn seine Heere geschlagen worden wären, von erbarmungslosen 
und barbarischen Feinden das Schlimmste hätte erdulden müssen. 


2m nn nr - 


32. Staats- und Verwaltungsreeht. 1007 
re Ne A Aber das hat mit dem Völkerrechte, über das uns Verfasser 
a. belehren will, nichts zu schaffen. Er meint es ja auch gar nicht so. 
Sie ens Aber deshalb hätte er uns auch mit seinem paradoxen Begritfe des 
ee re »Völkerkrieges« verschonen sollen. Der Krieg ist erschreckend viel 
en er härter geworden für die Völker, aber eine »Revolutionierung« seines 
REINER DENE Grundprinzips hat das Kriegsrecht nicht erfahren (vgl. S. 6r). Man 

Jering 3 nr soll den Teufel nicht an die Wand malen and es gehört eigentlich ein 
sa in we unbeschwerter Sinn und ein Mangel an Phantasie daza, um in unseren 
ee von den Furien des Nationalhasses regierten Tagen den Satz gelassen 
ee en hinzuschreiben, der Krieg sei von Rechts wegen aus einem 
een Kriege gegen Staaten zu einem Kriege gegen Völker geworden. 
rn P Soviel zur wissenschaftlichen Kritik. Ich habe aber noch etwas 
a auf dem Herzen: War es richtig, daß ein deutscher Gelehrter in bedeu- 
Be tender Stellung diese Ansichten schon jetzt, mitten im Kriege, ver- 
u un en öffentlicht hat? Sein Motiv dazu war ja unverkennbar nicht nur ein 
a wissenschaftliches, sondern auch ein patriotisches, denn seine Lehre 
Be A ist geeignet, der Nation das juristisch-ethische Gewissen für das, was 
Den nun einmal im Kriege geschehen muß, zu stärken. Aber das ist eine 
ee zweischneidige Sache! Man könnte befürchten, daß seine Lehre 
er der Ententepresse Material liefert, zu Scheinbeweisen gegen die Völ- 
ng der Re kerrechtsgemäßheit der deutschen Kriegführung; daß mit Berufung 
ae ER auf seine Prinzipien unsere Feinde noch ganz andere Dinge für gerecht- 
ea eas fertigt erklären könnten, als er ihnen (S. 73 und S. I) zugestehen will; 
Re daß er seine Ausführungen allzuwenig gesichert und versteift hat gegen 

die Verzerrungskünste gewisser »neutraler« Sittenrichter. 
oa N REEF So scheint mir denn das Ganze zwar ein flott geschriebenes, 
ee N. gehaltvolles, im rechtstheoretischen Grundgedanken ins Schwarze 
‚ug PEER treffendes, aber in der Ausführung übers Ziel schießendes und viel- 
Enge HT leicht zur Unzeit veröffentlichtes Buch zu sein. l 

EARE a N (Richard Thoma.) 

gen N N 
o Zitelmann, E.: Die Möglichkeit eines Welt- 
o rechts. Unveränderter Abdruck der 1888 erschienenen Abhand- 
ee lung mit einem Nachwort. München und Leipzig 1916. 
| ee Der seinerzeit in der Wiener jur. Gesellschaft gehaltene Vortrag 
eng a de 


erörtert die Voraussetzungen der Möglichkeit und die Grenzen der 
Wünschbarkeit einer internationalen Vereinheitlichung der Rechts- 
a m regeln, insbesondere des Privatrechts. Es ist eine scharfsinnige und 
er durch manche sehr feine Bemerkung gewürzte un die der 
en Ne Juristenwelt durch diesen Neudruck nun erst recht zugänglich wird. 


Zn Are Von Zitelmanns Forderung der Vereinheitlichung des eigentlichen 
oaii Ke. »Verkehrsrechts« ist inzwischen nicht Weniges verwirklicht worden. 
a, Der Ausklang der Rede, die schon damals engste Rechtsgemeinschaft 
u ET zwischen Deutschland und Oesterreich forderte, ist heute des freudigen 
pige BER, Widerhalls sicher. Im übrigen hat sich mir bei der Lektüre manche 
genet E a Kritik geregt, sie wurde aber entwaffnet durch das Nachwort, in dem 
ERN Frei. der Verfasser selber Kritik übt. Er betont jetzt selbst, daß jede Ver- 
‚je unt ©. einheitlichung nur die Grundzüge gleich machen kann, nicht auch die 
Ach mcht 6E 7, feinere Ausgestaltung; schon wegen der Sprache und wegen der 
„ehe, Schwierigkeit, eine einheitliche oberste Rechtsprechung zu schaffen. 
der feat, Im ganzen ist, wie ich glaube, ganz abgesehen von der weltpoli- 
E [ei tischen Lage, der neueste »Geist der Gesetzgebung« den praktisch- 
age E i nützlichen Wünschen internationaler Rechtsvereinheitlichung nicht 
GT günstig. Denn je umfassender das staatliche Recht, auch das Privat- 
er vn Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 3. 65 

hage 





1008 Literatur-Anzeiger. 


recht, » Jus publicum« der in politischer Gesetzgebung bewußt und 
frei sich gestaltenden Volksgemeinschaft wird, desto mehr wird jede 
nationale Rechtsordnung ein unlöslich ineinandergreifendes soziales 
Gefüge eigentümlich historisch-politischer Prägung und desto ferner 
rückt der Gedanke des »Weltrechts«. (Richard Thoma. 


33. Gewerbe-, Vereins- und Privatrecht. 





34. Politik. 


Fullerton, George Stwari: The truth abou! ike 
Ger 2 an nation. München und Berlin 1915, R. Oldenbour;. 
II 

er angesehene Philosoph an der Columbia-Universität in New 
York, der durch häufige Besuche mit dem deutschen Lande und der 
deutschen Wissenschaft vertraut ist, unternimmt als neutraler Be- 
obachter dasselbe, was wir in dem Kulturkampf, der den Weltkrieg 
begleitet, selber zur Abwehr und Rechtfertigung (nur häufig mit 
unzureichenden und falschgewählten Mitteln) den Fremden zu sagen 
genötigt waren: wie wir eigentlich sind, unser Staat und unsere Gesell- 
schaft, unser Volk und die Grundlagen unserer geistigen Gemeinschaft. 
Und wenn Fullerton naturgemäß nicht in erster Linie den Deutschen viel 
neues zu sagen hat, so lehrt er uns doch vorbildlich, von welchen Punk- 
ten jede »Aufklärung« fremder Nationen auszugehen hat: sie mub de 
herauszustellende Eigenart an den dem Fremden geläufigen Vorstel 
lungen und Vorurteilen entwickeln, nicht mit rechthaberischer Be 
hauptung, sondern mit Tatsachen und ihrer lebendigen Diskussion 
arbeiten, sie muß weder »amtlich« noch professoral noch, journalistisch 
wirken, sondern von allem etwas in sich aufnehmen können, sie mu 
außer dem Beweisthema auch die geistig-politische Struktur des frem- 
den Volkes, an das sie sich wendet, feinfühlig verstehen. Unverken- 
bar liegt schon das Beweisthema: der deutsche Staat und die deutsche 

Geistigkeit, nichts weniger als einfach. Das Gleichgewicht der Kräfte, 

der monarchischen, arıstokratischen und demokratischen, der zentralen 

und föderalistischen, in unserem politischen Leben, läßt sich nicht 
leicht auf eine beherrschende Formel bringen und bleibt daher dem 

Ausländer, der allzuoft an gewissen Außenseiten haften bleibt, 

in der Regel verschlossen. Die in allenVölkern verschieden abgegrenzten 

Sphären der Autorität und der Freiheit stehen in Deutschland ın 

cinem besonders komplizierten Verhältnis, das der formale westeuro- 

päische Freiheitsbegriff nicht fassen kann; die individuellen einzel- 
staatlichen und provinziellen Bereiche mit ihrer Vielfältigkeit der 

Kräfteverteilung und dem Reichtum ihres Sonderlebens werden nicht 

cinmal von dem Durchschnittsdeutschen in einem zureichenden Ueber- 

blick beherrscht. Es kommt hinzu, daß unsere Oppositionsparteien viel 
zu sehr mit Schlagwörtern arbeiteten, deren innere Zugehörigkeit 
zu einem fremden oder feindlichen Arsenal sie während des Krieges 
mit Ueberraschung kennen lernten; auch ein großer Teil unserer In- 
tellektuellen ließ sich in der Beurteilung deutscher Verhältnisse viel 
zu sehr durch eine nach dem westeuropäischen demokratischen Frei- 
heitsbegriff hin orientierte Denkweise und ihre feststehenden und 
cinfachen Formulierungen binden, statt sich auf die deutsche Wirk- 


-rű nm... 


34. Politik. 1009 


lichkeit und die ihr innewohnende Idealität einzustellen. Das noch 
vor dem Krieg erschienene Buch von W. Hasbach über die Demokratie 
(über das sowie über manche anschließende Literatur vor dem Kriege 
und während des Krieges ich in einem der nächsten Hefte eine Studie 
veröffentlichen werde) hätte, auch wenn man sich keineswegs alle 
seine Werturteile aneignet, uns und anderen längst zeigen können, . 
wie sich in den Demokratien der Gegenwart Worte und Realitäten zu 
einander verhalten. 

Mit lebendiger Wärme zeigt Fullerton in seiner Schrift den Ameri- 
kanern vor allem die positiven Seiten deutschen Wesens. Man er- 
kennt, über wie viel Anfangsgründe eine Belehrung nötig ist, und 
freut sich, wenn F. mit trockenem Sarkasmus dem landläufigen Ge- 
schrei über den preußischen Militarismus, der wie ein Joch auf den 
Deutschen laste, die Worte entgegenhält, »that military service in 
Germany is by no means as unpopular as is the payment of taxes 
in America«. Er hätte weiter auch zeigen können, daß selbst diese 
Steuerpraxis in Amerika, was die Besteuerung großer Vermögen und 
Einkommen angeht, unendlich viel undemokratischer wirkt als die 
deutsche Steuerpolitik, oder er hätte aus den Reden Woodrow Wilsons 
(bevor er Präsident wurde) den Nachweis führen können, daß diese 
Demokratie gegenüber ihren sozialen Aufgaben völlig versagt habe 
und daher als rückständig gegenüber europäischen und in erster Linie 
deutschen Verhältnissen beurteilt werden müsse. 

Es ist Fullerton besonders hoch anzurechnen, daß er das volle 
Verständnis für die besondere Lage Deutschlands in der Welt und die 
sich daraus ergebenden Pflichten und Strukturmerkmale besitzt, 
daß er danach auch die Anwendungen des Schlagwortes Imperialis- 
mus zutreffend würdigt (das besondere Ziel der deutschen weltpoli- 
tischen Aufgabe hätte noch bestimmter klargelegt werden können) 
— das alles geht der durchschnittlichen Denkweise seiner Landsleute 
nur schwer ein. Wie er den Amerikanern die deutsche Forderung 
von der Freiheit der Meere an einer als Fall gesetzten inneramerikani- 
schen Analogie klar zu machen sucht, möge man selber nachlesen. 
So schließt denn das Buch auch mit der festen Ueberzeugung von der 
Unüberwindlichkeit der inneren Stärke Deutschlands (»Germany’s 
strength is from within, and such strength is the most indestructible)«, 
mit dem Glauben an das Recht einer großen Nation, die wertvolle Kul- 
turgüter für die Allgemeinheit geschaffen hat, für alle Zukunft einen 
bedeutenden Platz in der Welt zu behaupten: »her voice will be li- 
stened to in the future as it has not been listened to in the past«. 
Wir Deutsche aber, die wir durch Verständnis bei den Neutralen 
in diesem Kriege nicht verwöhnt worden sind, wollen den wenigen 
Aufrechten unter ihnen nicht vergessen, daß sie ein von uns nur als 
wahrhaft und gerecht empfundenes Bekenntnis abzulegen gewagt 
haben. (Hermann Oncken.) 


Thimme, Friedrich: Vom inneren Frieden des 
deutschen Volkes. 2Bände. Leipzig 1916. S. Hirzel M. 5 geb. 7. 
Beim ersten flüchtigen Durchlesen kann man von diesem Buche 
begeistert sein: von allen Gebieten des gemeinschaftlichen Kultur- 
lebens, auf denen es sich um Lebens- und Weltanschauung handelt, 
treten Vertreter, zumeist zwei von entgegengesetzter Richtung auf 
und suchen mit einander zu einer Verständigung zu gelangen. Man 
fühlt sich dann wie im goldenen Zeitalter oder man glaubt einen 
65* 


IOIO Literatur-Anzeiger. 


Ausblick in die herrliche Zukunft des deutschen Volkes zu tun. Liest 
man noch einmal, dann gewahrt man doch allerlei, was einen stutzis 
macht: es ist manches zu schön, als daß es wahr sein könnte. Man be- 
merkt, wie oft das Ideal statt der Wirklichkeit geschildert, wie der 
Wunsch für die Erfüllung genommen, wie der Ton bei der Schilderung 
der eignen Stellung gesteigert, bei der des Gegners gemildert wird. 
So findet man viele Wunschurteile, Affektgedanken, wie ein gutes 
Teil von dem überhaupt, was wir jetzt alle sagen und schreiben, diesen 
psychologischen Zug an sich trägt. Das was eben gesagt war, gilt 
z. B. von dem Beitrag Euckens, der die Einheit der deutschen Welt- 
anschauung in einem Idealismus findet, als dessen begeisterten Ver- 
kündiger wir ihn ja kennen. Aehnliches kann man auch von den Bei- 
trägen der katholischen Autoren sagen; man versteht nicht mehr, 
warum der Rückschlag der Reformation und im heutigen Protestan- 
tismus überhaupt nötig ist. Auch die fremden Nationalitäten im Reich 
zeigen sich von ihrer schönsten Seite,so daß man ganz irr würde in seinem 
Urteil, wenn man nicht bedächte, daß sich hier die ideale Seite dar- 
stellt, während Kritik und Kampf der tatsächlichen gilt. — Aber ıst 
das doch schon einmal ein Gewinn, wenn man sich gegenseitig, gleich- 
sam mit einem festlichen Angesicht sieht, statt im staubgeschwärzten 
der Arena, so bietet sich in vielen Beiträgen eine so volle Sachlichkeit 
des Urteils und der Darstellung, daß man das Buch immer mehr schät- 
zen lernt. Es ist den Lesern dieser Zeitschrift nicht unwillkommen 
zu hören, daß an diesem Lob vor allem die Vertreter einer sozialen 
Reform teilnehmen. Was Fendrich und Peus über da 
Verhältnis zwischen Sozialdemokratie und Religion sagen, leidet nur 
wenig an dem Fehler, daß Unterschiede verschleiert werden, wie etwa, 
wenn jener den weltproletarischen Idealismus als eine Art von Re 
ligion bezeichnet. Beider Sinn und Wille geht so energisch darauf 
aus, idealistische Kräfte neben den materialistischen und politischen gel- 
tend zu machen, daß man seine Freude haben muß. So wird es leichter 
für beide Parteien, wie Fendrich fordert, Ehrfurcht vor einander m 
haben. Liebster stimmt wohl etwas zu nachgiebig in einigen 
Punkten ein, aber er arbeitet heraus, was der Sinn des Buches selber 
ist: Synthese statt Antithese. Indem wir die ergreifende Bemerkung 
von Peus verzeichnen, wie wenig inneres Glück in der Sozialdemokratie 
zu finden sei, führen wir noch einige Beispiele jener synthetischen 
Absicht an. Hugo Heinemann spricht für die positive Mit- 
arbeit an dem staatlichen Leben des Volkes um all seiner schweren 
Lebensfragen willen; das sei besser als die revolutionäre Phrase und 
als Prinzipienreiterei, die vorher ihre Bedingungen stellen möchte: 
natürlich darf dabei die Masse nicht als Objekt behandelt werden. 
Hugo Thiel und Martin Faßbender suchen die Syn- 
these zwischen Stadt und Land, Fritz Rössler und Walther 
Waldschmidt, Max Schippel und Adam Steger 
wald suchen sie zwischen Unternehmer und Arbeiter anzubahnen; 
viele wird es überraschen, wie weit sich dabei die eine Partei im Ver- 
ständnis und Entgegenkommen der andern genähert hat; der Ge- 
sichtspunkt dieser Beiträge, unter denen der von Stegerwald ohne 
Zweifel der bedeutendste ist, bildet immer wieder der Wunsch, zuerst 
moralisch und dann rechtlich beide Seiten, vor allem natürlich die 
bisher fernstehende, dem Ganzen einzuordnen und ihre besondere 
Gabe und Aufgabe in seinen Dienst zu stellen. Nicht anders stellen 
sich die politischen Parteien dar; man kann z. B. wirklich nicht mehr 


EI —y  —- . 


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35. Kriegswirtschaft. IOII 


von der konservativen verlangen, als was Diedrich von Oert- 
zen und Otto Dewitz in ihrem Namen versprechen: ein neues 
Arbeitsrecht für die, die auch ihre Interessen wahren dürfen, neues 
Vertrauen statt des historischen Mißtrauens, natürlich volle Anerken- 
nung der Gewerkschaften, Erhöhung der Rente oder Herabsetzung 
des Beitrags nach der Höhe des Gewinns; im ganzen also ein recht- 
zeitiges Erfassen neuer Lebensformen im Rahmen des alten Reichs- 
gedankens. Der Eingliederung der Arbeiterwelt in den Staat dienen 
die vortrefflichen Beiträge von Wolfgang Heine und Wil- 
helm Kolb, die aus umfassender geschichtlicher und grundsätz- 
licher Besinnung heraus, auf dem Boden der Wirklichkeit, und doch 
mit dem Sinn auf das Ziel, alte und neue Gedanken zu diesem Gegen- 
stand aussprechen. Ohne auf einige auch nicht wertlose Artikel einzuge- 
hen, fassen wir unser Urteil dahin zusammen : Dieses Buch der Synthesen 
ist von Bedeutung. Der Krieg freilich bringt nur zur Erscheinung, 
was sich schon vorher zeigte: immer in späteren Stufen der Entwick- 
lung stumpfen sich die Gegensätze ab und das Wort junger Parteien 
»Nur wir« macht dem Verständnis für die Gesamtheit als einem Or- 
ganismus Platz, der aus verschiedenen Gliedern bestehen muß. Diese 
Glieder müssen bleiben und zwar unterschieden und das heißt auch 
im Kampf miteinander, wenn es nötig ist. Aber dieses Buch schärft 
jedem das Gewissen, selbst auf die Gefahr hin die Wucht der Leiden- 
schaft etwas abzuschwächen, sachlich und nicht aus Grundsätzen 
oder gar aus Affekten über den Gegner zu denken. Aus den Verschie- 
denheiten macht der Geist der Geschichte schon ein Ganzes, aber mit 
ihrer Unwahrhaftigkeit und ihrem Haß verpfuschen die Menschen 
leicht sein Werk. (F. Niebergall.) 


35. Kriegswirtschaft. 


Jünger, H.: Kriegsgesetze. Nachschlage- und Handbuch 
unter besonderer Rücksicht auf die Gerichte, Verwaltungsbehörden, 
Grundbesitz, Banken und kaufmännischen Verkehr. Hannover IQI6, 
Helwingsche Verlagsbuchhandlung. 934 S. M. 9.50. 

Die vorliegende 2. Auflage des Buches von Jünger, welche im 
Umfang die erste Auflage ungefähr um das Vierfache übersteigt, 
enthält den Abdruck sämtlicher wichtiger Kriegsgesetze und Verord- 
nungen. Die Brauchbarkeit der Publikation ist dadurch wesentlich 
erhöht, daß im ersten Teil des Buches sämtliche Gesetze und Be- 
kanntmachungen in der Reihenfolge ihres Erlasses aufgezählt sind, 
woran sıch dann eine nach Materien geordnete Aufführung derselben 
Gesetze und Verordnungen, z. T. ein wörtlicher Abdruck derselben, 
anschließt. 

Ein alphabetisches Register ermöglicht überaus leicht die Orien- 
tierung in dem ungeheuren Material, welches ja nicht nur die Regelung 
der gesamten Volkswirtschaft durch den Staat im Kriege, sondern 
darüber hinaus die zahllosen privat- und öffentlich-rechtlichen Aende- 
rungen mit umfaßt. Von der einzelstaatlichen Gesetzgebung sind ledig- 
lich die preußischen Erlasse aufgeführt bzw. abgedruckt. Die hier 
wiedergegebenen Vorschriften reichen bis r. Juli 1916. (—) 
Systematische Uebersicht der Wirtschaftsge- 

setizgebung Desterreichsseit Kriegsbeginn. Her- 
ausgegeben von der Handels- und Gewerbekammer in Wien. II. Aufl. 
Wien 1916, Wilh. Braumüller. Io S. K. 3.—. 


1012 Literatur-Anzeiger. 35. Kriegswirtschaft. 


Die vorliegende Publikation ist ein Verzeichnis sämtlicher kriegs- 
wirtschaftlicher Verordnungen, das sich nach folgenden Materien 
gliedert: I. Volksernährung und Landwirtschaft. II. Handel und 
Gewerbe, Rohstoffversorgung. III. Außenhandel und Wirtschafts- 
krieg. IV. Verkehrswesen. V. Militärverwaltung und Kriegsleistun- 
gen. VI. Staatsfinanzen, Geld und Währung, Kredit. VII. Rechts 
pflege. VIII. Soziale Fürsorge. — Jede dieser Unterabteilungen ist 
weiter gegliedert und enthält ein Verzeichnis sämtlicher behördlicher 
Erlasse und Vorschriften in chronologischer Reihenfolge. In manchen 
wichtigen Fällen sind auch Hinweise auf den näheren Inhalt der Ver- 
ordnungen, soweit er nicht schon durch ihren Titel erkennbar ist, ge- 
geben (z.B. ein Verzeichnis aller Waren, für welche der Transport- 
scheinzwang verfügt wurde.) Das Verzeichnis ist ergänzt durch eine 
Uebersicht über die seit Kriegsbeginn verlautbarten und die noch 
wirksamen Festsetzungen über Höchstpreise, Uebernahmspreise und 
Vergütungssätze für Lebensmittel, Rohstoffe und gewerbliche Erzew- 
nisse im Groß- und Kleinhandel nach dem Stand vom x. Oktober 1916. 
Eine weitere dankenswerte Ergänzung dieser Uebersicht bietet ein 
Anhang über die wirtschaftlichen Kriegsorganisationen Oesterreichs, 
welche hier zum ersten Male in einer für breitere Kreise zugänglichen 
Publikation zusammengestellt sind. Dieser Ueberblick enthält je 
weils eine kurze Darstellung des Zwecks und der inneren Einrichtung 
dieser Organisationen, ebenso wie auch Angaben über das Geschäfts 
kapital und manchmal auch über die finanziellen Ergebnisse dieser 
Organisationen. — Die Publikation ist in der Bibliothek der Wiener 
Handels- und Gewerbekammer von dem Bibliothekar derselben, 
Wilhelm Knappich, zusammengestellt. (—?) 





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1013 


SOZIALPOLITISCHE CHRONIK. 


Die Unternehmerorganisationen. 


Allgemeines S. 1013; Streikversicherungs- und -enischädigungsgesellschaften S. 1015; 
Zur Frage des Arbeitsnachweis S. 1020; Tarifverträge S. 1022; die Kriegsbeschädigten 
S. 1027; die gelben Gewerkschaften S. 1030; Angestelltenfragen S. 1032; Ideologien 
S. 1033; Oesterreich S. 1041. 


Als im Rahmen der Chronik das 'letztemal über die Entwicklung 
der Unternehmerorganisationen berichtet wurde !), flossen die Quellen 
zur Beurteilung der Tätigkeit dieser Verbände außerordentlich spär- 
lich. Es ist hierin inzwischen nicht viel geändert. Immerhin aber wird 
sich schon ein gewisses Bild darüber gewinnen lassen, mit welcher 
organisatorischen Kraft die Unternehmerverbände in den Frieden ein- 
treten dürften und unter welchen Gesichtspunkten sie ihre Tätigkeit 
zu gestalten gedenken. 

Am wenigsten klar vermögen wir auch heute noch über die nume- 
rische Entwicklung der Arbeitgeberverbände und die Entwicklung 
ihrer finanziellen Kraft zu urteilen. Allerdings liegt bereits eine Sta- 
tistik auch für die Kriegszeit vor; sie bietet jedoch nicht nach jeder 
Richtung ein vollständiges und mit den früheren Jahren vergleich- 
bares Bild 2): 

Bei der Erhebung über die Arbeitgeberverbände (wobei das Ma- 
terial von den Verbänden selbst an das Kaiserlich Statistische Amt 
geliefert wird) werden nach Möglichkeit bloß die sArbeitgeberverbände« 
im engeren Sinne ?) registriert, wobei sich natürlich dieser Gesichts- 
punkt nicht durchaus festhalten läßt; zumal ja mehrfach Verbände 
nur nebenbei sich als Arbeitgeberverbände betätigen, aber auch in 
dieser Nebenfunktion außerordentlich Wichtiges zu leisten vermögen. 

Die Statistik des Reichsarbeitsblatts kommt zu folgendem Re- 
sultat ®): 





*, Abgeschlossen Ende Dezember 1916. 

1) Vgl. Archiv Bd. 41, S. 277 ff. 

2) 13. Sonderheft zum Reichsarbeitsblatt. Berlin C. Heymann, 1916. 

3) »Verbände, welche sich mit der Wahrung der besonderen Interessen der 
Unternehmer gegenüber den Arbeitern, mit der Regelung der einzelnen Arbeits- 
verhältnisse, insbesondere der Arbeitslöhne und Arbeitszeiten, befassen.« 

3) a. a. O. S. r10. 


1014 Sozialpolitische Chronik, 
Verbände Es machten Angaben über Zahl der hierbei ermittelten 
insgesamt Mitglieder Arbeiter Mitglieder Arbeiter 
Verbände in 1000 
Anfang ıgıo 2013 1923 ° 1414 115 3554 
» 1911 2928 1929 1351 127 4027 
> 19I2 3085 2019 1547 132 4379 
» 1913 3431 2303 1822 145 4641 
» 1914 3070 2361 1888 167 4841 
è 1015 3083 1920 1366 156 4281 


Die Zahl der berichtenden Verbände hat sich also gerade für 
Anfang 1915 wesentlich verringert. Während in den früheren Jahren 
zwar auch nur ein Teil der Organisationen berichtete, aber in über- 
wiegendem Umfang nur solche Verbände fehlten, deren Angaben 
(um Doppelzählungen zu vermeiden) bei der Zusammenstellung 
ohnedies nicht hätten berücksichtigt werden können, so fehlt jetzt 
auch eine größere Anzahl von sselbständigen« Verbänden. Daher ist 
die Gesamtziffer für Anfang 1915 mit den früheren Angaben nicht 
vergleichbar. Trotzdem die Ziffern für Ende 1914 für die Höhe des 
Mitgliederbestandes und die Zahl der erfaßten Arbeiter offenbar 
hinter der Wirklichkeit zurückbleiben, zeigt sich bei den erfaßten 
Arbeitern nur ein Rückgang um 600 000 = 4 = 12% % des Bestandes 
zu Ende 1913. In der Anzahl der organisierten Unternehmer 
ist der Rückgang noch geringer. Ferner ist ja zu berücksichtigen, dad 
die hier erfaßten Unternehmer zum Teil weniger Arbeiter beschäftigten 
als Ende 1913, sodaß ein Teil des Rückgangs auf den verminderten 
Beschäftigungsgrad der Industrie zurückzuführen ist. Berücksichtigt 
man diese beiden Umstände, so wird die im Frühjahr hier ausgespro- 
chene, übrigens auch vom Reichsarbeitsblatt ®) akzeptierte Vermutung, 
daß die Arbeitgeberverbände durch den Krieg kaum in Mitleidenschatt 
gezogen seien, voll bestätigt ®). 

Zur gleichen Zeit ging die Mitgliederanzahl der Gewerkschaften 
weit schneller zurück. Die freien Gewerkschaften zählten Mitglieder '): 

1913 2 548 763 
1914 °) 2 438 661 
1914) I 645 IBI 

Inzwischen hat sich die Mitgliederanzahl infolge weiterer Ein 
ziehungen und schwerer Organisierbarkeit der neuen weiblichen Ar- 
beitskräfte erheblich weiter verringert. Wenngleich durch den Mit- 
gliederrückgang die momentane Macht der Gewerkschaften nicht un- 


5) a. a. O. S. 7*. 

6, Neuere Ziffern waren nicht zu erlangen. Es gibt z. B. die Vereinigung 
deutscher Arbeitgeberverbände, ein großer, gemischter Verband, die Anzahl 
der Verbände und der von der Organisation erfaßten Arbeiter im Jahre 1910 
ebenso hoch an als für Ende 1914 (73 Verbände mit 2 077 000 erfaßten Ar- 
beitern). Der Arbeitgeber, r. IV. 1916. 

?) Korrespondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutsch- 
lands, 13. XI. 1915. 

8, Durchschnitt des ersten Halbjahres. 

», Durchschnitt des zweiten Halbjahres. 


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Die Unternehmerorganisationen. IOI5 


günstig beeinflußt wurde, so wird es sich in Zukunft wohl doch geltend 
machen, daß die Arbeitgeberverbände nahezu mit demselben Bestand 
in den Frieden eintreten, den sie vor dem Kriege besessen haben, wäh- 
rend die Gewerkschaften schon im ersten Kriegshalbjahr 1, ihres Be- 
standes einbüßten. | 

Die Annahme, daß die erwähnten Veränderungen nicht einen 
Rückschluß auf den Umfang und die Festigkeit der Organisation zu- 
lassen, wird noch durch die Einzelangaben gestützt !°). So hat sich 
die Zahl der hier erfaßten Arbeiter gesteigert im Bergbau 
(von 520 auf 640 000), und nur unwesentlich vermindert im Textil- 
gewerbe (von 500 auf 446 000). Hingegen ist sie wesentlich gesunken 
im Baugewerbe (von 516 auf 197 000), in der chemischen Industrie 
von 24 auf 6000, in der Industrie der Steine und Erden von 234 auf 
120 000. Sie ist — nach dieser Statistik — zum Teil auch in solchen 
Industrien stärker zurückgegangen, in welchen der Beschäftigungs- 
grad offenbar nicht stark abgenommen haben kann (chemische In- 
dustrie). Das alles berechtigt zu dem Schluß, daß hier eine andere 
Berichterstattung vorliegt, so daß wir jedenfalls die Daten mit denen 
der früheren Jahre nicht vergleichen können. 


Streikversicherungs- und -entschädigungsgesellschaften. 


Trotzdem die Entwicklung der Arbeitsverhältnisse während des 
Krieges für die Tätigkeit der Streikversicherungs- und -entschädi- 
gungsgesellschaften keinen Raum bot, hat die Ausgestaltung dieser 
Organisationen ihren weiteren Gang genommen. Folgende Ziffern 
seien vermerkt: 

Zahl der an Streik- Zahl der bei den Versicherte Jahreslohnsumme 
entschädigungsgesellschaften Mitgliedern be- in Millionen Mark: 


angeschlossenen Mitglieder: schäftigten Arbeiter: 
Ende des Jahres 


1912 32 082 1 394 900 I 222 
1913 34 333 1 654 218 I 2068 
1914 30 67I I 29I 527 I 297 


Bei einigen Verbänden liegen auch noch Angaben über Einnahmen 
und Aufwendungen im Jahre 1914 vor, welche sich wohl größtenteils‘ 
auf das erste Halbjahr 1914 beziehen. Wir ersehen daraus, daß die 
Vermögen, welche nicht erheblich sind, während des Jahres 1914 eine 
kleine Erhöhung erfahren haben (so im Arbeitgeberverband Unter- 
elbe von 42 auf 56 000; in der Entschädigungsgesellschaft süddeut- 
scher Arbeitgeber, München, von 33 auf 42 000, in der Entschädigungs- 
kasse des Arbeitgeberverbandes für das Schneidergewerbe von 2IO 
auf 212 000 usw.). Die Vermögen der Arbeitgeberverbände, bzw. 
der Entschädigungsgesellschaften sind niemals erheblich gewesen; 
eine Ansammlung großer Geldmittel ist nicht notwendig, da die Aus- 
gaben bei Streiks, bzw. Aussperrungen durch Umlage gedeckt werden 
können. 

20) a. a. O. S. ıı *. 


1016 Sozialpolitische Chronik, 


Das Bestehen der größeren Organisationen weist schon daraufhin, 
daß in diesem Zusammenschluß zu Entschädigungszwecken auch wäh- 
rend des Krieges keinerlei Aenderung eingetreten ist; denn eine große 
Organisation besteht schon durch die Schwerkraft ihrer Einrichtung 
weiter, auch wenn sich vorübergehend für sie keinerlei Betätigungs- 
möglichkeit bietet. — Uebrigens reicht die Einrichtung der Streik- 
entschädigung viel weiter, als nach den eben angeführten Ziffern zu 
schließen wäre: denn nicht nur in besonderen Gesellschaften, sondern 
oft auch direkt durch die Arbeitgeberverbände erfolgt die Entschädi- 
gung bei Streikfällen. Nach Ausschaltung von Doppelzählungen 
erstreckte sich die Vorsorge gegen Schäden und Arbeitseinstellungen aut 


Arbeitgeber Arbeiter 
1912 62 000 2 873 000 
1913 72 000 3 081 000 
1914 54 000 2 413 000 


Der Rückgang in der Zahl der erfaßten Arbeiter ist hier '/,, am 
größten ist er auch hier wieder im Baugewerbe, im Bekleidungsgewerbe 
usw., so im Baugewerbe vom 310 000 in Jahre 1913 auf 96 000 m 
Ende des Jahres 1914; im Bekleidungsgewerbe von 153 000 auf 88 000. 
Dieser Rückgang aber hängt, was man am besten aus der ziemlich 
unverändert gebliebenen Zahl der Unternehmermitglieder ersieht, 
offenkundig in erster Linie mit dem Rückgang der Beschäftigten, 
nicht aber mit einer Verringerung der Organisationsintensität zusam- 
men. Infolgedessen hat er nicht entfernt die Bedeutung, wie der zahlen- 
mäßige Rückgang in den Gewerkschaften. In diesen muß bei Wieder- 
aufleben der Konjunktur, nach der Rückkehr der Kriegsteilnehmer 
durch Agitationsarbeit der alte Stand wieder erreicht werden. Hin- 
gegen wird der größte Teil der neu einzustellenden Arbeiter auto- 
matisch von der Arbeitgeberorganisation wieder erfaßt. 

Durch das erwähnte Sonderheft des Reichsarbeitsblattes sind 
einige neue Einrichtungen zum Zwecke der Entschädigung bei Ar- 
beitseinstellungen bekannt geworden: so die Streikentschädigungs- 
kassa des Arbeitgeberschutzverbandes für das deutsche Holzgewerbe. 
Mitglieder dieser Einrichtung können nur die Bezirksverbände (bzw. 
die einzelnen Mitglieder der Organisation) werden; die Beiträge sind 
feste, und zwar 1,40 Mark jährlich für jeden beschäftigten Arbeiter. 
Entschädigungen werden nach den zur Verfügung stehenden Mitteln, 
und zwar bis zum Betrag von I Mark per Arbeitstag gewährt, eine 
Minimalentschädigung ist festgesetzt. Bei größeren Streiks oder Aus- 
sperrungen würde sich also die Entschädigung ziemlich niedrig stellen. 

Ferner sei erwähnt die Gründung der »Südwestdeutschen Streik- 
entschädigungsgesellschafte (Febr. 1914). Diese Gesellschaft ist nicht 
das Organ eines bestimmten Arbeitgeberverbandes, sondern erfaßt 
einzelne Mitglieder, die nur irgend einem Arbeitgeberverband ange- 
hören müssen oder beitreten. Die Mitglieder werden je nach der Höhe 
ihrer Beiträge (75 Pfg. bis 5 Mk. auf 1000 Mk. Lohnsumme) in 5 Klassen 
eingeteilt, sie haben jedoch keinen klagbaren Anspruch auf Entschädi- 
gung; diese soll nach Tunlichkeit zwischen 15 und 100 % des Tagesver- 


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Die Unternehmerorganisationen. 1017 


dienstes der streikenden Arbeiter betragen. Ebenso bei Aussperrungen ; 
nur wenn die Zahl der ausgesperrten Arbeiter 250 übersteigt, werden 
geringere Entschädigungen gewährt. Ueberschüsse sollen akkumuliert 
und zur Hälfte herangezogen werden, falls in einem Jahr die Entschä- 
digungen nicht voll geleistet werden können. 

Aus dieser neuen Gründung sieht man deutlich, wie sich die Tech- 
nik dieser Gesellschaften immer mehr verfeinert und eine Anpassung an 
die individuellen Betriebsverhältnisse versucht wird (ähnlich wie 
früher schon beim deutschen Industrieschutzverband) "). — Auch 
über Zusammenlegung älterer Organisationen wird berichtet: so hat 
sich die Entschädigungsgesellschaft süddeutscher Arbeitgeberverbände 
in München mit Io 000 beschäftigten Arbeitern der Zentrale der deut- 
schen Arbeitgeberverbände für Streikversicherung angeschlossen 12). 

Während des Krieges ist in der Tätigkeit dieser Organisationen 
natürlich eine große Pause eingetreten. Infolgedessen haben sie sich 
zum großen Teil anderen Aufgaben gewidmet. So trachtete sich der 
deutsche Industrieschutzverband in der Weise zu betätigen, daß 
er die der Betriebsführung entgegenstehenden technischen Schwierig- 
keiten überwinden half. Der allgemeine deutsche Arbeitgeberver- 
band für das deutsche Schneidergewerbe hat einen Teil seines Ver- 
mögens für freiwillige Kriegshilfe verwendet. 

Hingegen hat der Ausbau der zweiten Haupteinrichtung moderner 
Arbeitergeberverbände, nämlich der Arbeitsnachweise, auch 
während des Krieges eine Ausgestaltung erfahren. Die Vermittlungs- 
ergebnisse der Arbeitsnachweise sind zwar etwas zurückgegangen 
(1914 gegenüber 1913), das hängt aber wohl auch mit dem Rückgang 
des Beschäftigungsgrades und der mangelhaften Berichterstattung 
zusammen. (Von größerer Wichtigkeit als für die Versorgung des 
Arbeitsmarktes sind im weiteren Verlauf des Krieges die Arbeitsnach- 
weise für die Frage der Kriegsbeschädigten geworden. Darauf muß 
noch weiter unten eingegangen werden.) 

Auch über Neugründungen von Arbeitsnachweisen wird berichtet. 
So hat der Arbeitgeberverband für die Provinz Sachsen einen Nachweis 
gegründet !?). In einer anderen Organisation wieder, im Schutzver- 
band der deutschen Steindruckereibesitzer, wurde der Wunsch der 
Gewerkschaft nach einem paritätischen Nachweis mit Hinblick darauf 
abgelehnt, daß in grundsätzlichen Fragen während des Burgfriedens 
keine Neuregelung eintreten dürfe 1%). Nach andern Meldungen hat der 
»Schutzverbands dieser Organisation (also offenbar die zur Entschädi- 
gung bei Arbeitseinstellungen begründete Sektion) einen Arbeitsnach- 
weis mit zahlreichen Unterstellen begründet 25). 

Im Vergleich mit den Arbeitgeberorganisationen des Auslands 
stellt die deutsche Organisationsform mit all ihren Einrichtungen gegen- 


11) Siehe Archiv Bd. 39, S. 304 ff. 
12) Der Arbeitgeber, I. I. 1916. 

13) Der Arbeitgeber, 15. VIII. 1916. 
14) Der Arbeitgeber, ı. XI. 1915. 
15) Der Arbeitgeber, 1. VI. 1916. 


1018 Sozialpolitische Chronik 


wärtig wohl den entwickeltsten Typus dar. Das nehmen auch die 
Arbeitgeberverbände selbst an !6)}. Für die Zeit nach dem Kriege 
kann man miteiner weiteren Ausdehnung der Arbeitgeberorganisationen 
rechnen, zumal die Syndizierungstendenz sich noch stärker durchge- 
setzt hat. Syndizierte Unternehmungen aber sind für eine Organi- 
sation als Arbeitgeber natürlich besonders leicht zu gewinnen. In 
ähnlicher Weise wie Verkaufskartelle wirken dann wohl die Ausfuhr- 
verbände, welche in erheblichem Umfang, namentlich in der Eisen-, 
auch der Kleineisenindustrie, gegründet wurden 27). 

In derselben Richtung, auf Stärkung und Vereinheitlichung der 
Arbeitgeberorganisation, dürfte die Gründung des deutschen 
Industrierates wirken). Das ist eine Organisation, zu wel- 
cher sich der Zentralverband und der Bund der Industriellen zusam- 
mengeschlossen haben, um in Zukunft alle Streitpunkte innerhalb 
der Industrie auszuschalten. Diese Organisation soll in den Zoll- 
und Wirtschaftskämpfen den »mittleren Wege suchen, und die alten 
Gegensätze zwischen schwerer und weiterverarbeitender Industrie 
überbrücken. Man geht wohl nicht fehl, in diesem Zusammenschluß 
ein Anzeichen für den immer mehr überwiegenden Einfluß der 
schweren Industrie zu erblicken, auch eine der wesentlichsten 
Nachwirkungen des Krieges auf die soziale Lage in Deutschland 9). 
Wenngleich die Arbeitgeberorganisationen von diesem Gegensatz 
innerhalb der Industrie bisher wenig oder gar nicht ergriffen waren, 
so bedeutet dieser Zusammenschluß doch für sie eine weitere Festi- 
gung und Bestärkung im gemeinsamen Vorgehen. Dies wird um so 
eher erfolgen, als sich ja auch Tendenzen zum Zusammenschluß bei 
den Gewerkschaftsrichtungen finden, die möglicherweise, besonders 
in praktischen Fragen, auch den Krieg überdauern könnten ?9). Wie 
im Verhältnis zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften 
würde auch in diesem Fall die Arbeitgeberorganisation einen etwaigen 
Vorsprung der Gewerkschaften sehr rasch und völlig einholen können. 

Eine Ausdehnung der Tätigkeit der Arbeitgeberverbände 
scheint hie und da geplant zu sein. So wenn der Arbeitgeberverband 
für die Provinz Sachsen davon berichtet, daß er Jugendpflege, Be- 
schaffung von Spargelegenheit, Errichtung von Werkpensionskassen, 
Beschaffung billiger Nahrungsmittel usw. in den Kreis seiner Aufgaben 
einzubeziehen plane ?!). Damit würden Arbeitgeberverbände zu Trä- 
gern kollektiver Wohlfahrtseinrichtungen. Diese Andeutungen sind 
mit Hinblick auf die starke Aufmerksamkeit, welche die Arbeitgeber- 

16) Der Arbeitgeber, I. X. 1915. 

17) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 26. XI. 1916. 

18) Mitteilungen des Kriegsausschusses für die deutsche Industrie, 28. X. 
1916. 

19) Der Wahlspruch der neuen Organisation ist: in necessariis unitas, in 
dubiis libertas, in omnibus caritas. 

20) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 3. IX. 1916. 

21) Der Arbeitgeber, 15. VIII. 1916. Vgl. auch: Arbeitgeber, r. VII. 1916, 
wo gleichfalls die stärkere Beteiligung der Arbeitgeberverbände an \WVohlfahrts- 
einrichtungen hervorgehoben wird. 


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Die Unternehmetorganisationen. 10I9 


verbände neuerdings den gelben Gewerkschaften zuwenden, nicht 
ohne Interesse. 
Von den Arbeitgeberverbänden werden wiederholt die großen Auf- 
wendungen hervorgehoben, welche industrielle Unternehmungen 
für die Kriegsunterstützungen an Angehörige ihrer einberufenen Ar- 
beiter machen. Solche Daten wurden schon im Vorjahr mitgeteilt, 
und auch das Reichsarbeitsblatt registriert in dem erwähnten Sonder- 
heft u. a. die Tatsache, daß nach einer Umfrage des Kriegsausschus- 
ses der deutschen Industrie, in 54 industriellen Verbänden und I7 
Einzelfirmen, an Unterstützungen ein Betrag von 152 Millionen Mark 
gewährt worden sei und zwar in den ersten I4 bzw. 12 Kriegsmonaten. 
Dieselbe Organisation nimmt bei vorsichtiger Schätzung Aufwen- 
dungen im Gesamtbetrage von 300—320 Millionen Mark in der deut- 
schen Industrie im ganzen an 22). Diese Aufwendungen werden von 
den Arbeitgeberverbänden stets in einem gewissen Sinn als Dokument 
des Wohlwollens gegenüber den Arbeitern, und als Beweis dessen 
angeführt, daß die Organisationen der Arbeitgeber wesentlich mehr 
als die der Gewerkschaften für derlei Zwecke aufbringen. Es ist 
dann nicht zu verwundern, wenn von gewerkschaftlicher Seite darauf 
hingewiesen wird, daß diese Aufwendungen von den Arbeitgebern 
persönlich für ihre Betriebe, nicht aber von den Verbänden 
geleistet werden, und weiterhin, daß die Arbeitgeber diese Unterstüt- 
zungen auf Konto Werbekosten buchen, also sehr wohl er- 
kennen lassen, daß sie nur aus eigenem, wohl verstandenem Interesse 
so erhebliche Summen für ihre Arbeiter und deren Angehörige auf- 
wenden 2). Ohne zu leugnen, daß vielfach bei diesen Unterstützun- - 
gen das Gefühl für die einzelnen Arbeiter und deren Angehörige 
mitspricht, kann doch andererseits kaum bestritten werden, daß die 
Erhaltung des Arbeiterstammes hierbei das entscheidende Motiv ist, 
insbesondere dort, wo es sich um so lang andauernde Unterstützungen 
handelt. In diesem Sinn haben wir es dann mit einer — allerdings für 
die Unternehmer sehr kostspieligen und etwas riskanten — »Wohl- 
fahrtseinrichtung« zu tun. Daß sie in solchem Umfang ins Leben ge- 
rufen wurde und nunmehr weitergeführt werden muß, hängt u. a. 
auch mit der falschen Einschätzung der Kriegsdauer zusammen, 
z. T. vielleicht auch mit einer sich nicht ganz realisierenden Einschät- 
zung der Konjunktur und Produktionsmöglichkeiten. Neben den 
Unternehmungen, welche durch besonders hohe Unterstützungssum- 
men auffallen, stehen diejenigen an erster Stelle, welche die Gunst 
einer besonders gesteigerten Kriegskonjunktur genießen ?®). 


22) Mitteilungen des Kriegsausschusses der deutschen Industrie, Nr. 104, 
1916, zitiert im Reichsarbeitsblatt, a. a. O. S. 1ı7*. Diese Unterstützungen 
bestehen in der Fortzahlung der Gehälter, in Bar-Unterstützungen der Ange- 
hörigen einberufener Angestellter und Arbeiter sowie in Naturalleistungen. 

23) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 5. III. 1916. 

24) So nach einer Umfrage im Verein deutscher Eisen- und Stahlindustrieller: 
in den ersten 12 Kriegsmonaten in 244 Mitgliederwerken Unterstützungen von 


ca. 50 Millionen Mark. Der Arbeitgeber, r. XII. 1915. 


1020 Sozialpolitische Chronik. 


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Zur Frage des Arbeitsnachweises. 


Schon oben wurde an die Arbeitsnachweiseinrichtungen ganz 
im allgemeinen erinnert. Ihre Zahl hat sich während des Krieges 
zumindest nicht verringert. Die Unternehmer halten auch daran 
fest, daß die Verwaltung des Nachweises durch die Organe ihrer Ver- 
bände für den Betrieb unentbehrlich sei. Insbesondere wird betont, 
daß der Unternehmer in der Lage sein müsse, die für seinen Betrieb 
geeignetsten Arbeiter auszuwählen. Damit sei auch den Interessen 
der Arbeitnehmer am besten gedient 2°). Der Erlaß einer Bundesrats- 
verordnung in dieser Frage wurde demgemäß skeptisch beurteilt. 
Darnach können die Landeszentralbehörden den Gemeinden oder 
Gemeindeverbänden zur Pflicht machen, einen Arbeitsnachweis 
zu’errichten. Die Nachweise sollen öffentlich und unparteiisch sein. 
Diese Nachweise sind als behördlich geleitete Institutionen gedacht, 
ohne paritätische Verwaltungsausschüsse 2%). Sie sollen insgesamt 
ein lückenloses, engmaschiges Netz öffentlicher, unparteiischer Ar- 
beitsnachweise bilden. Dadurch würde natürlich der Geltungsbereich 
und die Möglichkeit freier Betätigung für viele Arbeitgebernachweise 
sehr stark eingeschränkt. 

Trotzdem hat, wie schon oben erwähnt, die Gründung neuer 
Arbeitgebernachweise nicht ganz aufgehört. So wurde vom Arbeit- 
geberschutzverband für das deutsche Steindruckgewerbe nach län- 
geren Vorbereitungen ein Arbeitsnachweis eingerichtet. Dieser wurde 
zunächst von der Gewerkschaft (dem Senefelderbund) als tarf- 
widrig bekämpft. Dieser Vorwurf wurde mit der Begründung abge- 
lehnt, daß der Nachweis lediglich Arbeiter vermittle, daß keinerlei 
Zwang gegeben sei, ihn zu benützen ?”), und daß keineswegs Angehörge 
bestimmter Organisationen (z. B. gelbe oder unorganisierte) bevor- 
zugt würden, da nach der Organisationszugehörigkeit gar nicht, auch 
nicht indirekt gefragt würde 282). Wie immer bei der Begründung 
solcher Einrichtungen also auch hier die Betonung des bloß stech- 
nischen«, instrumentalen Charakters der geplanten Einrichtung. 
Der Nachweis, welcher dann auch errichtet wurde 2%), soll neben der 
Regelung des Arbeitsmarktes insbesondere auch für Kriegsbeschö- 
digte sorgen. — Durch die Schwierigkeiten der Unterbringung von 
Kriegsbeschädigten dürfte ja die Einrichtung der Unternehmemach- 
weise besondere Bedeutung erlangen. 

Die Lohntrage beschäftigt direkt gegenwärtig die 
Arbeitgeberorganisationen nur in geringem Umfang, da Lohnbewegun- 
gen nicht vorkommen. Doch verfolgen sie begreiflicherweise die Ent- 
wicklung der Löhne während der Kriegszeit. Diese Entwick- 


25) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 16. I. 1916. 

26) Arbeitgeberzeitung, 16. VII. 1916 und Mitteilungen des Kriegsaus- 
schusses der deutschen Industrie, 24. VI. 1916. | 

27) Deutsches Steindruckgewerbe, 15. VIII. 1916. 

28) Ebenda, 15. VI. 1916. 

29) Deutsches Steindruckgewerbe, 15. IX. 1916. 





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Die Unternehmerorganisationen. 1021 


lung ist, wie sich auch in den Aeußerungen der Ärbeitgeberverbände 
spiegelt, eine ganz abnorme. Soweit leistungsfähige Arbeiterkate- 
gorien (also Jugendliche in erster Linie) noch außerhalb des Heeres- 
mechanismus stehen, wirkt die Leere des Arbeitsmarktes so stark, 
daß alle hergebrachten Vorstellungen von der Bewertung der einzelnen 
Arbeiterkategorien völlig ins Wanken kommen. Darum sind Stoß- 
seufzer über die »schamlosen Forderungent der Jugendlichen nicht 
selten 3%). Nicht einmal Entlassung sei ein wirksames Gegenmittel, 
da die jugendlichen Arbeiter an einer anderen Arbeitsstelle wirklich 
einen höheren Lohn erhalten könnten und sie sich dann überdies noch 
den Spaß machen, den Arbeitgeber vor das Gewerbegericht zu zitieren. 
Das forsche und wohl auch vielfach übermütige Benehmen der Jugendli- 
chen entspringt gewiß nicht lediglich einem edlen Selbstbewußtsein und 
kühnem Freimut, ebensowenig aber ist die Entrüstung der deutschen 
Arbeitgeberzeitung etwas anderes als Ideologie, wenn sie klagt, es sei 
»höchste Zeit, daß der böse, materialistische und utilitaristische Geist 
auf deutschem Boden wieder durch eine höhere Lebensauffassung 
überwunden werde« 31). 

Von solchen gelegentlichen Aeußerungen gegenüber der Lohnbe- 
wegung für jugendliche Arbeiter abgesehen, finden wir eine grund- 
sätzliche Diskussion des Lohnproblems im Kriege nicht. Und 
doch würde eine solche gerade vom theoretischen Standpunkt, der 
de:n Unternehmer naheliegt, nämlich dem der Lohnfondstheorie 
jetzt besonders interessant und vielleicht auch fruchtbar sein, da ja 
die ökonomische Lage, wie sie der Lohnfondstheorie zugrunde liegt 
(namentlich der »Konsumtionsfondse), in der Kriegswirtschaft Deutsch- 
lands tatsächlich vorhanden ist. Gelegentlich finden wir nun theoreti- 
sche Auseinandersetzungen, welche nicht gerade von Unternehmern 
oder deren Organisationen ausgehen, aber doch offenbar von ihnen 
vertreten werden, und die eine Lohnhöhe bzw. eine Entwicklung für 
angemessen halten, in der (soweit diese Ausführungen überhaupt einen 
Sinn haben und verständlich sind) auf der einen Seite die Leistung, 
aber auf der anderen Seite auch der Bedarf (soll wohl heißen »die 
Lebensansprüche«) maßgebend sind; beides als Obergrenze des Lohnes 
verstanden, so daß der Lohn zwar durchaus »gerechter« Weise (bei 
geringerem »Bedarf«) unter den Wert der Leistung sinken kann, 
aber ein höherer »Bedarf« keinen zureichenden Grund für ein Steigen 
des Lohnes über seinen Leistungswert bildet ®%). So werden die niedri- 
gen Arbeitslöhne der Frau erklärte und »gerechtfertigt« aus der Tat- 
sache, daß die Frau nicht die »hauswirtschaftliche Leistung« zu kaufen 
brauche, wie der Mann usw. 

Mit der Frage der Lohnentwicklung, insbesondere auch der Lohn- 
3%) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 29. XII. 1915. 

31) a. a. O. 19. XII. 1915. 

82) Möglicherweise gibt diese Charakteristik die Meinung des Autors nicht 
ganz zutreffend wieder (Amtsgerichtsrat Frhr. v. Ketelhodt in der Deutschen 
Arbeitgeberzeitung, 9. I. und 18. VI. 1916). Ein anderer Sinn aber war mir 
schlechterdings aus den sehr umfangreichen und an leitender Seite publizierten 
Ausführungen nicht zu erschließen. 





1022 Sozialpolitische Chronik, 


entwicklung nach dem Kriege, hängt eng zusammen die Frage der 


Frauenarbeit, sowie der Verwendung ausländischer Arbeiter. — In ' 


diesem Zusammenhang kann der Umfang der Frauenar- 
beit nicht erörtert werden ®). Es kommt vielmehr hauptsächlich 
auf die prinzipielle Haltung an. Diese ist seitens der Unternehmer 
gegenüber der Frauenarbeit eine außerordentlich freundliche. Das Ge- 
biet der Frauenarbeit könne noch außerordentlich erweitert werden. 
Zwar seien gewisse Arbeitsarten wahrscheinlich für immer ausgeschlos- 
sen (z. B. Schlosser- oder Schmiedearbeiten), hingegen sei Arbeit 
an den Maschinen möglich. Bei vielen Tätigkeiten leisten die Frauen 
ebensoviel, namentlich sei ihr Arbeitstempo vielfach ein rascheres 9). 
Die Lohnbemessung erfolgt dann in solchen Fällen nicht nach 
der bisherigen Entlohnung derselben Arbeit (also nicht nach der Lei- 
stung), sondern mit einem niedrigeren Satz, da sich eben zeige, daß 
die Männerarbeit in allen Fällen, in denen die Frau ebensoviel leiste, 
zu hoch bezahlt worden sei 35). 


Tarifverträge. 


Die Fragen der Lohnentwicklung während des Krieges gelangten 
meist in Verbindung mit der problematischen Lage zur Besprechung, 
die sich für die Tarifverträge herausgebildet hatte. Die Tarifverträge 
wurden ja größtenteils zu Kriegsbeginn aufrechterhalten; sie waren 
damals für eine große Anzahl von Arbeitern ein Schutz gegen Lohn- 
senkung, die sonst bei der Deroute des Arbeitsmarktes unvermeidlich 
gewesen wäre. Während des Krieges wendet sich dann das Blatt; die 
Lage auf dem Arbeitsmarkte gestaltete sich zum Vorteil der Arbeter- 
schaft, und waren die Tarifverträge ehedem ein Schutz, so wurden sie 
nunmehr zu einer Fessel der Lohnentwicklung, die ohne Verträge sich 
— namentlich für männliche Arbeiter — steil nach aufwärts hätte 
bewegen müssen. Diese Entwicklung hat wieder das Prinzip des 
Tarifvertrages zur Diskussion gestellt. 

In normalen Friedenszeiten sichert der Tariflohn vielfach den 
Arbeitern eine Bezahlung, die bei freiem Spiel von Angebot und Nach- 
frage auf dem Arbeitsmarkt nicht erzielt werden könnte. Infolge 
dessen kommt normalerweise höchstens eine Sicherung des Tani 
38) N ur nebenbei sei erwähnt, daß nach den Ausweisen der berichtender 


Krankenkassen von je 100 Beschäftigten waren: 
männlich weiblich 


1914: 63.7 36.3 
1915: 57.8 42.2 
IgI6: 52.5 47-5 


Mitteilungen des Kriegsausschusses der deutschen Industrie, 26. VIII. 1916. 

34) Süddeutsche Industrie, 6. VIII. 1916. 

3) Ueber diese Frage gab es eine ausführliche Kontroverse, zu deren Ab- 
schluß die deutsche Arbeitgeberzeitung (13. II. 1916) erklärte, diese Herabsetzung 
der Frauenlöhne (gegenüber den männlichen) habe nur dort stattgefunden, 
wo »Männer beschäftigt wurden, trotzdem die Arbeit für sie zu leicht warte. 
Das Kriterium hierfür ist doch aber wohl dieselbe Leistung durch die Frau. 


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Die Unternehmerorganisationen. 1023 


gegenüber den Unternehmern in Frage. Die Tarifvertragsparteien 


der wichtigeren Gewerbe haben solche Sicherungsmittel entwickelt, 
und es ist auch im Grunde gegenüber den Unternehmern (von einzelnen 
Fällen, die manchmal recht häufig gewesen sein mögen, abgesehen) die 
Einhaltung der Tarifverträge selbst in Zeiten schlechterer Konjunktur 
durchgesetzt worden. So haben z. B. das Tarifamt der Buchdrucker, 
die Schlichtungsinstanzen innerhalb der Baugewerbe usw. stets die 
Durchführung der Tarifverträge, die Einhaltung der tariflichen Löhne 
zu erreichen gesucht. Auch zu Beginn des Krieges sind trotz größter 
Arbeitslosigkeit die meisten Tarifverträge und Tariflöhne aufrechter- 
halten worden. 

Die Lage auf dem Arbeitsmarkte änderte sich allerdings sehr 
bald erheblich durch die steigenden militärischen Einziehungen. Die 
Arbeiter wären ohne Verträge in der Lage gewesen, weitaus höhere 
Löhne zu erzielen, und wollten sich durch den Tarifvertrag nicht um 
diese Chance bringen lassen. In manchen Gewerben war es möglich 
(siehe Abschnitt über Gewerkschaften) beim Abschluß neuer Verträge 
der geänderten Lage (Arbeitermangel und Teuerung) Rechnung zu 
tragen. In einigen anderen Gewerben war das nicht der Fall. So lief 
z. B. im Baugewerbe ein Tarifvertrag vom I. IV. x13 bis 31. III. 16, 
welcher — auf die ganze Vertragsdauer verteilt — eine Erhöhung der 
Stundenlöhne um 5 Pfg. brachte. Die Arbeiter verlangten im Herbst 
1915, als die Teuerung immer größer wurde, eine besondere Zulage, 
die aber mit dem Hinweis auf den Vertrag abgelehnt wurde 38). Der 
»Grundsteins erblickte darin seine Zerstörung der Grundlage der 
Verträge; denn es sei völlig ausgeschlossen, daß die Arbeiter jemals 
darein willigen werden, daß man aus einem Mittel zur Sicherung ihrer 
Existenz eine Fessel macht, mit der man sie in Zeiten, wie der jetzigen, 
knebeln und als Wehrlose wirtschaftlich erwürgen kann. Sollte das 
der Sinn der Tarifverträge sein, dann müßten die Arbeiter in Zukunft 
auf den Abschluß solcher Verträge verzichtene. Demgegenüber 
stellen die Arbeitgeber fest, daß also nach der Meinung der Arbeiter 
solche Verträge nur eine Garantie gegen Lohnsenkung, aber nicht 
eine Garantie gegen Lohnsteigerung sein sollen. Auf dieser Basis hätten 
natürlich die Arbeitgeber kein Interesse am Abschluß der Verträge. 

Konflikte derselben Art wiederholten sich dann noch öfters wäh- 
rend des Krieges. So berichtet das Zentralblatt für das deutsche 
Baugewerbe ?°) von einem Fall, in welchem die Bauarbeiter für Sonn- 
tagsarbeit Zuschläge von 50% seitens der bauführenden Firma und 
50% seitens der Bauherrschaft, zusammen 100% forderten und 
außerdem verlangten, daß ıo Stunden bezahlt, hingegen nur 6 Stun- 
den gearbeitet würden. Darnach hätte sich (immer nach dieser Quelle) 
ein Stundenlohn von 2,80 ergeben. 

In anderen, weniger krassen Fällen wird von den Unternehmern 
die gewaltige Veränderung aller wirtschaftlichen Verhältnisse aner- 
kannt, aber in diesen Fällen sei es besser, wenn der einzelne Arbeitgeber 

se) Der Arbeitgeber, 15. XI. 1915. 

37) a. a. O. 2ı. I. 1916. 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 3. 66 


1024 Sozilapolitische Chronik. 


für sich Lohnerhöhungen gewähre, der einzelne Arbeiter für sich 
Lohnerhöhung fordere, als daß der Tarifvertrag während seiner Lauf- 
zeit geändert werde 2). Ferner müsse an denjenigen Lohnsätzen un- 
bedingt festgehalten werden, welche während des Krieges festgelegt 
worden seien. 

So finden wir, daß bei neuen während des Krieges abgeschlos- 
senen Tarifverträgen beiderseits Erklärungen abgegeben werden, 
welche die Löhne mit den Zuschlägen für die ganze Kriegsdauer 
als festverbindlich erklären. Auch werden bei dieser Gelegenheit 
Abmachungen getroffen, daß etwaige höhere Löhne auf die Tarif- 
löhne binnen einer angemessenen Uebergangsfrist reduziert werden 
müßten, und daß weder direkt noch indirekt höhere Stunden- 
löhne bezahlt werden dürften. Auch seien — außerhalb der Tarifver- 
träge — selbständige Unterhandlungen mit den Arbeiterorganisationen 
nicht zulässig *). Alle diese Sicherungsmaßnahmen deuten darauf hin, 
daß die Tariflöhne doch nicht gehalten werden können und daß sie 
vielfach von den Unternehmern selbst durchbrochen werden. 

Wenn man sich auf den Wortlaut des Vertrages stellt, so ist der 
Standpunkt der Arbeitgeberverbände zweifelsohne berechtigt. Denn 
jeder Vertragsteil will wenigstens die Möglichkeit haben, 
vom Vertrag Nutzen zu ziehen, und die oben angeführte Interpretation 
der Gewerkschaften, der Tarifvertrag solle nur eine Sicherung der Ar- 
beiter sein und dürfe nicht zur Fessel werden, gibt gewiß nicht den 
Willen der beiden Vertragsteile wieder. Die Gewerkschaften anderer- 
seits können für sich anführen, daß z. Z. des Abschlusses der meisten 
Verträge niemand an den Krieg gedacht habe, und daß selbst zu Anfang 
des Krieges weder seine Dauer noch seine Einwirkungen auf den Ar- 
beitsmarkt und die Preisbildung übersehen werden konnten. Die 
Tarifverträge kamen gleichsam in einer ganz andern ökonomischen 
Atmosphäre zustande und die grundstürzende Aenderung aller wirt- 
schaftlichen Werte hob die Bindung auf. Tatsächlich ist häufig bei 
dieser Sachlage eine Erhöhung der Löhne gewährt worden. Ueberall 
dort jedoch, wo schon während des Krieges eine Erneuerur‘ 
der Tarifverträge erfolgte *°) ergibt sich dieselbe, in diesem Fall no. 
größere Schwierigkeit. Deshalb muß es wundernehmen, daß die Ve: 
träge nicht, den sich rasch ändernden Verhältnissen entsprechen: 
beweglich gestaltet wurden — einen festen und veränderlichen Lohr 
teil vorsahen, der bei Erreichung oder Ueberschreitung eines bestimn. 
ten Preisniveaus erzielt, bei dessen Senkung ermäßigt wird oder ii 
Wegfall kommt. Diese Vertragsform, welche bei österreichi 
schen Tarifverträgen der letzten Monate manchmal in Anwendung 
kam 4), findet sich bisher in Deutschland nicht; offenbar reicht hier- 
für dieMacht der Gewerkschaften nicht aus, und die Unternehmer 


38) Zentralblatt für das deutsche Baugewerbe, 31. III. 1916. 

3%) Zentralblatt für das deutsche Baugewerbe, 21r. IV. 1916. 

40) Vgl. hierzu Archiv Bd. 42, S. 304 ff. 

4) Sozialpolitische Chronik über österreichische Gewerkschaften, Archiv 
Bd. 42, S. 682 ff. 


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Die Unternehmerorganisationen. 1025 


nehmen lieber einen etwas höheren, aber stabilen, als einen veränder- 
lichen und daher für die Kalkulation nicht eindeutigen Lohn in Kauf. 

Die Situation hat sich also gründlich geändert: das Interesse 
der Unternehmer am Tarifvertrag ist das überwiegende. Das ist auch 
daraus zu ersehen, daß in Fällen, in denen die Erneuerung eines Tarif- 
vertrages zweifelhaft erschien, die Unternehmer von sich aus Arbeits- 
bedingungen stellten, die sie ihren Mitgliedern einzuhalten empfahlen, 
und zwar im Anschluß an die letzten Bestimmungen des Tarifvertrages 

mit entsprechenden Teuerungszuschlägen. Diese Tatsache zeigt, daß 
die Tarifverträge sich schon völlig eingebürgert haben 43). Es wird 
in der Zukunft nun wahrscheinlich das Streben der Gewerkschaften 
darauf gerichtet sein, nicht nur den Inhalt der Tarifverträge mit den 
geänderten Preisen in Einklang zu bringen 43), sondern auch grund- 
sätzliche Bestimmungen in die Verträge einzuführen, welche der 
Labilität der ökonomischen Verhältnisse Rechnung tragen. Das könnte 
allerdings nur in der Weise geschehen, daß bei einem Rückgang des 
Preisniveaus auch eine entsprechende Verminderung der Löhne 
in Kauf genommen wird. 

Nicht nur die Hauptbestimmungen der Tarifverträge, sondern 
auch die Stellung des einzelnen innerhalb des Vertrages ist 
problematisch geworden. Es ist fraglich, ob der einzelne Arbeiter, 
der Mitglied einer tarifvertragschließenden Gewerkschaft ist, noch 
das Recnt hat, einen Sondervertrag für sich zu schließen, sich in diesem 
günstigere Bedingungen auszuwirken. Die gegenwärtige Rechtslage 
gestattet dies ohne weiteres, umsomehr als sich ja auch der Arbeiter 
jederzeit der etwa angenommenen moralischen Verpflichtung durch 
Austritt aus der Gewerkschaft entziehen kann, die ihm gegenüber 
gar keinerlei Handhabe besitzt. So wird durch diese schwierige Lage 
der vertragschließenden Teile (die Gewerkschaft besitzt ihren Mit- 
gliedern gegenüber keinerlei gesetzliche Zwangsmittel) das Rechtsver- 
hältnis der gewerkschaftlichen Organisationen überhaupt als Problem 
wieder aufgeworfen, und es ist nicht ausgeschlossen, daß bei dieser neuen, 
wirtschaftlichen Lage, besonders wenn sie in einzelnen Industrien 
auch nach dem Kriege noch andauern sollte, das Verhältnis von Unter- 
nehmern und Arbeitern zum Tarifvertrag sich auch grundsätzlich wan- 
delt. — Denn auch bei dieser Haltung für oder wider den Vertrag geht 
es ja nicht um Prinzipien, sondern um Interessen, nach welchen der 
Standpunkt gewählt wird. 

Diese veränderte Haltung gegenüber dem Problem des Tarif- 
vertrages müßte dann auch die Stellungnahme der Unternehmer- 
organisationen zur Frage der Einigungsämter beeinflussen. Allerdings 
ist hiervon bisher nichts zu sehen; bisher lehnen alle Unternehmer- 
organisationen Einigungsämter ab 1), Was von den Tarifverträgen, 
~ 3 Zentralblatt für das deutsche Baugewerbe, r10. III. 1916. 

43) Nach der Ansicht der Unternehmer sei der Teuerung in den Teuerungs- 
zuschlägen schon hinreichend Rechnung getragen. (Deutsche Arbeitgeberzeitung, 
ıg. XII. 1915). Dieselbe Anschauung auch späterhin. 

“) Der Arbeitgeber, r. I. 1916. (Anknüpfend an die Arbeit von Dr. Jung- 
hann). Be 


1026 Sozialpolitische Chronik, 


gilt dann auch von den übrigen sozialpolitischen Einrichtungen und 
Forderungen. Insofern sie darauf ausgehen, die Arbeitsverhältnisse 
stabil zu gestalten, liegen sie (wenigstens gegenwärtig) mehr im Inter- 
esse der Unternehmer als in dem der Arbeiter. Daher ist vielfach die 
Haltung der Unternehmer etwas reserviert, zurückhaltend. Von der 
Gestaltung des Arbeitsmarktes nach dem Kriege erst wird es abhängen, 
inwieweit hier eine grundsätzliche Aenderung eingetreten ist. 

Aus dieser veränderten Sachlage könnte man die Konsequenz 
ziehen, daß die Arbeitgeberverbände überhaupt gegenüber den Ge- 
werkschaften und der Sozialpolitik eine andereHaltung einnehmen woll- 
ten. Das wäre vielleicht auch der Fall, wenn man annehmen könnte, 
daß sich die ökonomischen Verhältnisse nach dem Kriege ähnlich 
wie gegenwärtig gestalteten. Dann würde nämlich soziale Politik 
eine Schutzmaßnahme und Sicherung für die Unternehmer. In falscher 
Einschätzung der Entwicklung sehen wir daher, daß hie und da von 
gewerkschaftlicher Seite die gegenwärtige Arbeitsmarktlage in die 
Zukunft projiziert und daraus voreilige Schlüsse gezogen werden. 
So sei hingewiesen auf eine Artikelserie von gewerkschaftlicher Seite, 
welche von den (23) meist gewerblichen Arbeitsgemeinschaften aus- 
geht. Diese Arbeitsgemeinschaften, deren Tätigkeitsgebiet die Für- 
sorge für Kriegsbeschädigte, die Berufsberatung, Arbeitsvermittlung 
und Entlohnung aieser Arbeitskräfte und damit zusammenhängende 
wirtschaftliche Fragen bilden (siehe hierüber auch unten) sollten 
— so wird angeregt — ihren Wirkungskreis auf Gebiete erweitern, in 
welchen die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusam- 
mengehen. Als solche werden bezeichnet: Uebergangswirtschaft, 
Rohstoffversorgung, Lebensmittelbeschaffung, Valutaverbesserung, 
Handelsverträge, Monopole, Berufsbildung, Lehrlingsausbildung — 
also so ziemlich das ganze Gebiet der Wirtschafts- und ein guter Teil 
der Sozialpolitik. »Wie mit ehernem Hammer sollten sie (Unternehmer 
und Arbeiter) an die Tore ihres Verständnisses pochen (?) — wörtlich 
so wird gesagt, vielleicht unter der Einwirkung der Kriegspoesie, 
mit deren Vertretern die Gewerkschaftsführer jetzt vielfach in den- 
selben Zeitschriften und Aufsatzsammlungen publizieren) und ihnen 
klarmachen, daß nur im feurigen Bewegen auf gemeinsamer Bahn 
alle Kräfte kund werden und der zukünftige Wettbewerb Deutsch- 
lands auf dem Weltmarkt sichergestellt werden kann.« 

Allerdings haben die Unternehmer über die Voraussetzungen 
eines erfolgreichen Wettbewerbs andere Vorstellungen *5). Ihrer 
Meinung nach bedürfe es nicht einer besondern »Arbeitsgemeinschaft«, 
da jeder Betrieb eine solche darstelle. Viele dieser Punkte, meinen sie, 
sgehören offenbar in das besondere Verwaltungsgebiet der Arbeit- 
geber; eine Arbeitsgemeinschaft sei gewiß wünschenswert, aber eine 
Gemeinschaft der Arbeit, welche nicht dem unmöglichen Grundsatz 
allgemeiner Gleichheit und Vielherrschaft huldigt, sondern die jedem 
das Seine gibt, jeden an seinen Platz stellt, die einen zum Führen, 
die andern zum Folgen, eine Gemeinschaft, in der sich alle Glieder willig 


43) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 7. I. 1917. 


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‚Die Unternehmerorgarisationen. 1027 


dem Ganzen einordnen und in welcher allein das Gesamtwohl entschei- 
deta — (dessen Bedingungen, kann man wohl ergänzend hinzudenken, 
in erster Linie von den Führern, nicht aber von den im Wirtschafts- 
prozeß Geführten, beurteilt werden können). 

Hier sehen wir also den Standpunkt, daß der Unternehmer Herr 
in seinem Betrieb bleiben muß, neuerdings betont und auf die Ange- 
legenheiten allgemeinerer Wirtschaftspolitik übertragen. Seitens 
der Gewerkschaften ist es die Annahme der theoretischen Position, 
welche die gelben Gewerkschaften und auch die Unternehmer im 
Prinzip vertreten. Doch zeigt sich in dieser kleinen Kontroverse 
deutlich, wie sehr die Anerkennung seitens der Unternehmer nur im 
Prinzip erfolgte, da zwar eine Gemeinsamkeit der Interessen, nicht aber 
eine Gemeinsamkeit ihrer Vertretung zugegeben wird. 

In ähnlicher Weise ist die Haltung der Arbeitgeber gegenüber 
den andern sozialpolitischen Problemen bisher nicht verändert, wie 
man allerdings nur aus gelegentlichen Aeußerungen ersieht, da ja alle 
diesen Frage jetzt nicht im Mittelpunkt der Debatte stehen. So in der 
Haltung gegenüber der Vereinsgesetznovelle 46), in der Frage der 
Lehrlingsausbildung ?°), in der Frage der Herabsetzung der Altersgrenze 
für die Gewährung von Altersrenten ®®), in der Haltung für indirekte 
Steuern (welche jetzt »Genußsteuerne genannt werden) usw. 

Auch in der Frage der Organisation hat sich — soweit es sich um 
die Organisation der Arbeitnehmer handelt — nichts geändert. Hier 
wird — in einer Kontroverse mit Ph. Lotmar — die Verbindlichkeit 
des Solidaritätsgedankens höchstens für die organisierten, aber nicht 
für die außenstehenden Arbeiter zugegeben *°). Infolgedessen sei auch 
Verweigerung von Streikarbeit durchaus nicht in allen Fällen als 
Konsequenz „einer berechtigten Solidaritätspflicht anzuerkennen. 


Die Kriegsbeschädigten. 


Weit mehr als diese sozialpolitischen Fragen steht gegenwärtig 
das Problem der Kriegsbeschädigten im Vordergrund. 
Der große Arbeitermangel und das Bestreben, einen alten eingeübten 
Stock von Arbeitern in den Betrieben zu erhalten, hat die Industrie 
recht frühzeitig (von humanitären Erwägungen ganz abgesehen) dazu 
veranlaßt, sich mit der Wiederbeschäftigung der Kriegsbeschädigten 
zu befassen. So wurden schon im ersten Kriegsjahr eigene Vermittlungs- 
einrichtungen zur Rückführung der Kriegsbeschädigten in die alten 
Arbeitsstellen gegründet, und diese Bemühungen wurden durch die 
militärischen Behörden unterstützt. Seitens des 7. Armeekorps 
wurde angeordnet, daß die in Lazarettbehandlung stehenden Kriegs- 





46), Der Arbeitgeber, ı. VI. 1916. 

47) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 12. XII. 1915. 

48) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 26. XII. 1915. Namentlich die Durch- 
führung mitten im Krieg wird bedauert, da infolgedessen im Frieden noch größere 
Forderungen gestellt werden würden. 

19) Der Arbeitgeber, 15. IV. 1916. 


1028 Sozialpolitische Chronik. 


beschädigten auf Antrag einer industriellen Vermittlungsstelle in die 
Nähe des Werkes verlegt werden sollten, in dem sie früherin Beschäfti- 
gung standen 5°). Dieser Grundsatz ist späterhin auch allgemein 
in Uebung gekommen, ja es wurden besondere Industrielaza- 
rette geschaffen; in Verbindung mit diesen Industrielazaretten 
wurden Werkstätten eingerichtet, in denen die Kriegsbeschädigten 
womöglich wieder in ihre alte Beschäftigung eingeübt wurden 5!). Die 
Einschulung der Arbeiter erfolgt in Anpassung an ihre körperlichen Be- 
schädigungen, vielfach nach dem Taylorsystem. Bei diesen, z. T. 

kostspieligen Maßnahmen ist das Bestreben, sich den Arbeiterstamm 

zu erhalten, eines der wichtigsten Motive. Die Ausbildung selbst 

erfolgt in sehr vielen Berufen — so in den vom Verein der Metallin- 

dustriellen in Hannover geschaffenen Einrichtungen für: Metallbe- 

arbeitung, Feinmechanik, Bandage und künstliche Glieder, Klempne- 

rei, Tischlerei, Schuhmacherei, Schneiderei, Sattlerei, Tapeziererei, 

Malerei, Kunstglaserei, Korbflechterei, Bau von Telephonapparaten, 

Buchbinderei, Buchdruckerei, Photographier- und Lichtpauseverfah- 

ren. Theoretische Ausbildung wird möglichst vermieden, auf prak- 

tische Arbeitsausbildung der Hauptwert gelegt. 

Die Ueberführung der Kriegsbeschädigten in die praktische Ar- 
beit ist zweifelsohne auch im Interesse der Beschädigten selbst gelegen. 
Sie wurde immer systematischer von den militärischen Behörden 
gefördert. So ist für die Lazarette im Bereich des 7. Armeekorps eine 
eigene Arbeitsbehandlung eingeführt und veranlaßt worden, daß sich 
die Aerzte mit den speziellen Arbeitsnachweisen zum Zwecke der Un- 
terbringung der Kriegsbeschädigten in Verbindung setzen. Die Polizei- 
unteroffiziere und Rechnungsführer können zu Hilfsarbeitsvermitt- 
lungsstellen bestimmt werden. Die Arbeiter sollen dann in erster 
Linie in den Ort der früheren Arbeit verlegt werden, aber sie gehen 
damit die Verpflichtung ein, dort Arbeit anzunehmen. 

Diese Anfänge der Regelung scheinen nicht überall zu befriedigen- 
den Ergebnissen geführt zu haben. Es muß immer wieder darauf 
hingewiesen werden, daß die Sorge der Kriegsbeschädigten um ihre 
Rente nicht begründet sei, auch bei demselben Verdienste wie früher 
trete eine Kürzung der Rente nicht ein 52). Darüber hinaus wird — 
so wurde berichtet 5) — von Kriegsbeschädigten gefordert, daß sie 
soviel verdienen müßten, wie vor dem Kriege, damit ihnen die Rente 
als Mehreinkommen, als Vergütung für ihre Beschädigung rein verblei- 
be. Auch das Bestreben, eine festbesoldete Stellung zu erhalten, mache 
sich störend bemerkbar. Da die Arbeitgeber in erster Linie ein Inter- 
esse an der Ueberführung in den alten Beruf, und insbesondere in die 
alte Arbeitsstelle haben (sei es auch als Teilarbeiter), so ent- 
stehen daraus nicht selten Interessenkollisionen, die schwer über- ' 


50) Der Arbeitgeber, 15. III. 1916. 

&) Der Arbeitgeber, ı. VI. 1916. 

s2) Die Entlohnung soll nach der Leistung erfolgen, ohne Rücksicht auf die 
Rente. (Deutsche Arbeitgeberzeitung, 26. XII. 1915.) 

#3) Der Arbeitgeber, 15. VIII. 1916. 





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Die Unternehmerorganisationen. 1029 


brückbar sind, zumal ja das Interesse der Unternehmer an einer Ein- 
stellung der Kriegsbeschädigten klar zutage liegt und gerade des- 
halb manche Arbeiter mißtrauisch werden mögen. 

Hie und da ergeben sich auch Differenzen mit den von den Gewerk- 
schaften vertretenen Anschauungen, z. B. wenn diese anregen, A r- 
beitsgemeinschaften zur Regelung aller das Arbeitsver- 
hältnis der Kriegsbeschädigten berührenden Fragen zu bilden 5$). 

Mit den wachsenden, in der Sache und dem Auseinandergehen der 
Interessen begründeten Schwierigkeiten dieser Frage erklärt sich ein 
hie und da auftauchender Vorschlag, einen gesetzlichen Zwang zur 
Einstellung von Kriegsinvaliden (in bestimmtem Prozentsatz zur 
Arbeiteranzahl) auszuüben. Dieser wurde von der Arbeitgeberschaft 
einmütig abgelehnt #5), und tatsächlich würden sich in Verfolgung 
dieses Prinzips so schwerwiegende Konsequenzen ergeben, daß die 
ganze Arbeitsverfassung in Frage gestellt wäre 58). 

Nicht unwesentlich in der Frage der Kriegsbeschädigten ist an- 
scheinend der Umstand, daß die Arbeitgeber eine Regelung der Ar- 
beitsverhältnisse für die Kriegsbeschädigten unter Ausschließung je- 
der Intervention (sei es behördlich oder gewerkschattlich) anstre- 
ben 5). Es wird noch nicht weiter deutlich gesagt, ob die Kriegs- 
beschädigten auch außerhalb der Tarifverträge stehen sollen, aber 
es ist zu vermuten, daß die Unternehmer diesen Wunsch haben. Denn 
sie sagen ausdrücklich, daß gemeinsame Beratungen über die Frage 
der Kriegsbeschädigten überflüssig seien, da deren Leistungstähig- 
keit nur vom Unternehmer beurteilt werden könne. Auch für die Ak- 
kordarbeit könnten nicht die allgemeinen Entlohnungsgrundsätze 
maßgebend sein, da ja die Kriegsbeschädigten längere Zeit für die- 
selbe Arbeit brauchen und infolgedessen auf ihrer Arbeit höhere 
Regien lasten, sodaß für sie nicht derselbe Lohnsatz maßgebend sein 
könne 52), Bei der großen Anzahl der Kriegsbeschädigten und ihrer 
Abhängigkeit vom Unternehmer (besonders bei verminderter Arbeits- 
fähigkeit) könnten dadurch die bereits halb überwundenen Fragen der 
Organisation, ihrer Berechtigung und Stellung dem Betrieb gegenüber 

wieder akut werden. 


51) Das wurde auf dem Kongreß für die Kriegsbeschädigtenfürsorge in Köln 
von den christlichen und Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften als wünschens- 
wert bezeichnet. (Der Arbeitgeber, 15. IX. 1916.) 

55) Der Arbeitgeber, ı. XI. 1916. 

5) Jedenfalls müßte dem Arbeitgeber überlassen bleiben, welche Leute 
er anstellt; die Verhältnisziffer der zu entlassenden Kriegsbeschädigten bei 
Arbeitseinschränkung müßte festgesetzt werden; Prüfung der Entlassungsgründe 
wäre vorzusehen; ebenso müßte das Recht der Kriegsinvaliden, den Arbeits- 
vertrag zu lösen (wenn man Rechtsgleichheit einführen wolle) genau umgrenzt 
werden. AuchderZwang an sich wird abgelehnt. »Freiwillig tut es na- 
türlich jeder Industrielle als Ehrenpflicht; wenn es aber Zwang werden soll, 
dann bäumt sich natürlich jeder dagegen auf.« (Ein Beitrag zur Ideo- 
logie, die den erwünschten Zwang für den Anderen als hehre Pflicht preist.) 

8) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 26. XII. 1916. 

58) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 12. XII. 1915 





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1030 Sozialpolitische Chronik. 
Die gelben Gewerkschaften. 


Das führt dann zu der Organisationsgruppe der gelben Ge- 
werkschaften, welchen die Unternehmer neuerdings ihre be- 
sondere Aufmerksamkeit zuzuwenden beginnen. Die gelben Gewerk- 
schaften haben während des Krieges einen ähnlichen Rückgang ihrer 
Mitgliederziffern erfahren, wie die übrigen gewerkschaftlichen Organi- 
sationen. So ist aus mehreren Stichproben zu ersehen, daß im Jahre 
1914 (gegenüber 1913) die Zahl der Mitglieder ungefähr um 35—40 % 
zurückging. Es wird berichtet, daß zu Ende 1913: 1130 berichtende 
Orts- und Werkvereine: 273 000 Mitglieder zählten; zu Ende 1914 
berichteten 1185 Organisationen über einen Mitgliederbestand von 
162 000. Hiervon entfallen ca. 100 000 auf den Hauptausschuß natio- 
naler Arbeiter- und Berufsverbände, davon wieder ca. % auf den Bund 
deutscher Werkvereine. Ob und inwieweit Doppelzählungen in den 
eben erwähnten Sammelziffern vorhanden sind, ist nicht festzustellen. 
Schon aus diesen Angaben folgt, daß die wirtschaftsfriedlichen Ar- 
beitervereine an Zahl zunehmen, und die Bemühungen der Unterneh- 
mer, diese Entwicklung zu begünstigen, dauern auch während des 
Krieges weiter an. = 

Die wirtschaftsfriedliche Arbeiterbewegung erblickt in den Er- 
eignissen des Krieges eine Bestätigung ihrer Theorie 5°). — Sie hofft 
infolgedessen auf den »vollen und endgültigen Frieden« auf dem Ar- 
beitsmarkt und erklärt, die »zahlreichen Dogmen hätten sich als leere 
Phantasiegebilde und Seifenblasen erwiesen 0%«. Die ganze Arbeiter- 
bewegung muß sich nach ihrer Vorstellung zu einer großen, nationalen, 
wirtschattsfriedlichen Bewegung ausgestalten. Jetzt, während des 
Krieges »wehe der rechte, frische, befreiende Winde. 

Nunmehr wird — so z.B. auf der Versammlung des Hauptaus- 
schusses nationaler Arbeiter und Berufsverbände in Berlin — die Zu- 
sammenfassung der nationalen Arbeiter nicht bloß als eine besondere 
Arbeiterangelegneheit angesehen, sondern auch als ein Gebot natio- 
naler Wohlfahrt bezeichnet. Vielfach, so wird ausgeführt, wollen sich 
die Unternehmer von der Bewegung etwas zurückhalten, um ihr nicht 
zu Schaden. Dieses Bedenken müsse jetzt überwunden werden, und 
daher wird den Unternehmern eine stärkere Förderung dieser Organi- 
sation empfohlen 9). 

Diese Parole wurde vermutlich von den meisten Unternehmer- 


5) Der Bund, 21. I. 1916. »Die Gedanken der Werkvereine haben sich (im 
Unterschied zum Sozialismus) in dieser größten aller modernen Katastrophen 
als die einzig richtige Lehre und Ueberzeugung erwiesene — oder eine Artikel- 
reihe im »Bunde« (19. 21. 28. I. und 4. II. 1916): »Die Lehren des Weltkrieges 
für den deutschen Arbeitere, mit denselben Schlußfolgerungen (»Die Arbeiter 
und Unternehmer, welche von dem blutigen Schlachtfelde zurückkehren, wo 
sie für die Freiheit der Nation und ihre gemeinsame Existenz gekämpft haben, 
werden sicherlich keine Lust haben, sich nachher im Frieden auf dem unblutigen 
Arbeitsfelde wirtschaftlicher Güterproduktion zu bekämpfen«.) 

60) Der Arbeitgeber, r. XI. 1915. 

#) Der Arbeitgeber, r. XI. 1915. : 


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Die Unternehmerorganisationen. 1031 


verbänden zustimmend aufgenommen. In einer Kundgebung des 
Deutschen Braunkohlenindustrie-Vereins z.B. 
wird über die wahrscheinlichen Schwierigkeiten nach dem Kriege 
geklagt, und die Förderung der nationalen Arbeiterbewegung als not- 
wendig bezeichnet, da von ihr seineSchwächung derGegensätze erwartet 
werden dürfe %)«. Insbesondere nimmt diese Organisation an, daß 
der Standpunkt der Industriellen, Herr im eigenen Betrieb sein zu 
wollen, von den nationalen Organisationen verstanden würde. 

Bereits vor dem Kriege, und noch mehr während desselben hat sich, 
einigermaßen im Gegensatz zur älteren gelben Bewegung der »Kar- 
tellverband deutscher Werkvereine« (mit dem Organ: »Der Bunde) 
gefestigt, und sich prinzipiellere Richtlinien gegeben. Seine wichtig- 
sten Programmpunkte bestehen darin, daß er jede religiöse und poli- 
tische Beteiligung ablehnt, und auf das gesetzlich zustehende Streik- 
recht nicht verzichtet. Außerdem dürfen Werkbeamte und Vorgesetzte 
in den Organisationen keine leitenden Stellen einnehmen. 
(Mitgliedschaft können sie demnach erwerben). Der Mitgliederbe- 
stand wird auf ca. 45 000 geschätzt ®). Diese vorwiegend in Nord- 
deutschland verbreitete Bewegung versucht man nun auch nach Süd- 
deutschland zu verpflanzen %). 

Vielleicht wird die Bedeutung dieser gelben Organisationen — 
relativ wenigstens — zunehmen. Sie werden wahrscheinlich den Krieg 
rascher überwinden als die freien Gewerkschaften, da die Mit- 
gliederbeiträge bei ihnen nicht so hoch sind, und sie von den 
Unternehmern in Hinkunft noch größere Förderung erfahren dürften, 
so daß sie für die Beiträge höhere Leistungen zu bieten imstande sein 
werden. Das wachsende Schwergewicht der großen und größten Be- 
triebe, welche die Heimstätte der Werkvereine sind, wirkt nach der- 
selben Richtung, ebenso wie die große Zahl der Kriegsbeschädigten, 
welche sich dem psychologischen Druck, in die Werkvereine einzu- 
treten, schwerer entziehen können, und die auch — vielleicht — in 
höherem Maße für deren Ideologie und Programm zu gewinnen sein 
werden, ganz abgesehen davon, daß sie ihre größere Abhängigkeit 
vom Unternehmer in der Wahl der Organisation nicht ganz frei be- 
stimmen läßt ®). 





#3) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 8. X. 1916. 

63) »Der Bund«, 31. III. 1916. 

€$) »Der Bund«, 29. XII. 1916. 

€) Doch wird zugleich von Tatsachen berichtet, aus denen geschlossen werden 
könnte, daß die Bedeutung und Aktivität der gelben Organisationen auch wäh- 
rend des Krieges nicht ins Gewicht fällt. So wurde den gelben Organisationen 
kein Vertreter im allgemeinen Kongreßausschuß für die Metallbetriebe Groß- 
berlins zugestanden, obwohl gerade in diesen zahlreiche Mitglieder von Werk- 
vereinen beschäftigt sind. Deshalb wurde auf Verlangen der Werkvereine ein 
besonderer Kriegsausschuß geschaffen, der von den Mitgliedern der Werkvereine 
angerufen werden kann. Das sei nun bisher bloß 3—4 mal geschehen, während 
der allgemeine Kriegsausschuß ca. 3000 Streitfälle zu entscheiden hatte. Die Mit- 
glieder der gelben Organisationen haben also offenbar zum allgemeinen Kriegs- 
ausschuß volles Vertrauen, und es ist darnachjedenfalls ein empfindliches Orga- 


1032 Sozialpolitische Chronik. 


Soweit man solche Möglichkeiten im voraus beurteilen kann, 
mag auch die Entwicklung innerhalb der Gewerkschaften (der freien 
noch mehr als innerhalb der christlichen Gewerkschaften) die Stel- 
lung der »Wirtschaftstriedlichene verstärken. Es dürfte nicht ohne 
Bedeutung sein, daß nunmehr beinahe 3 Jahre hindurch die Gegen- 
sätze zwischen Unternehmern und Arbeitern zu selbständigen Aktionen 
nicht geführt haben, und daß diese Situation nicht bloß als eine erzwun- 
gene, unnatürliche als eine Knebelung der freien Entschließ- 
ung behandelt wurde, sondern daß sich an die erzwungene 
Ruhe des Krieges positive Hoffnungen für die Neugestaltung des 
Arbeitsverhältnisses geknüpft haben. So gut diese Haltung (die nur 
festgestellt, nicht irgendwie bewertet werden soll) einerseits die op- 
positionelle, radikale Strömung in der Arbeiterschaft noch weiter 
nach links treibt, ebenso sehr drängt sie die opportunistischen, die 
srealpolitischene, die stets zu einem Kompromiß neigenden Personen 
nach rechts, veranlaßt sie zu Aussprüchen, die sich von den Anschau- 
ungen der gelben Organisationen nur mehr wenig unterscheiden (vgl. 
oben: Ausführungen zum »Ausbau der Arbeitsgemeinschalte). Da- 
durch wird deren Einfluß gestärkt. Je mehr man annehmen muß, 
daß der Krieg eine scharf ausgeprägte, wirtschaftliche Situation, mit 
stärkeren Konturen bedingt, die Uebergangserscheinungen der Ent- 
wicklung auslöscht, um so mehr muß er auch die Wirkung haben, 
die inkonsequenten, auf ein Kompromiß zusteuernden Gedanken 
und Richtungen zu beseitigen. Und insofern als die gelben Organi- 
sationen ein reines Prinzip vertreten (daß sie es tun, zeigt sich in 
ihrer ganzen Ideologie, die ebenso geschlossen, wie die der Sozialisten, 
da sie sich mit der Unternehmerideologie und deren Theorien deckt — 
bis auf die restlose Akzeptierung der Lohntondstheorie, selbst als 
Unterlage für die Tagesprobleme ®*) haben auch sie Aussicht auf ein 
Wachstum der Bewegung, das durch die oben erwähnten Tatsachen 
sehr unterstützt werden dürfte. 


Angestelltenfragen. 


Mit Angestelltenfragen haben sich die Arbeitgeberverbände in 
den letzten Jahren wiederholt und eingehend befaßt. Die modernen, 
nisationsbewußtsein bei den Mitgliedern der Werkvereine nicht anzunehmen. 
(Vorwärts, 24. I. 1916.) 

s, Um nur einiges herauszugreifen: Die Wirkung des Krieges wird aus 
privatwirtschaftlichem Gesichtspunkt heraus beurteilt: Die Kapitalbildung gehe 
im Kriege rascher vor sich; zwar sei die Verteuerung der Lebenshaltung bedenk- 
lich, doch bleibe der neugeschaffene, hohe Wert der Ernte dafür im Lande 
(Der Bund, 11. II. 1916). In sozialpolitischen Fragen herrscht der Unternehmer- 
standpunkt: so sind sie für zentrale Auskunftsstellen anstelle von neuen 
Arbeitsnachweisen (Der Bund, 5, V. 1916), um nicht die bewährten Ein- 
richtungen+ (Unternehmernachweise) zu gefährden. Der Gedanke des Sparzwangs 
wird gebilligt (Der Bund, 26. V. 1916). Die Bildung von »Arbeitsgemeinschaften« 
als sneue Form des Koalitionszwangs zugunsten der Kampforganisationen« wird 
L.dauert (Ebenda, 15. IX. 1916) usw. 


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Die Unternehmerorganisationen. 1033 


auf gewerkschaftlichem Boden stehenden Organisationen der Ange- 
stellten sind in ihren Bestrebungen wiederholt auf den Widerstand 
der Arbeitgeberverbände gestoßen, und das ist auch jetzt während des 
Krieges der Fall. isiner der meist diskutierten Punkte betrifft die 
Frage der Wiedereinstellung solcher Angestellter, die nach Rückkehr 
aus dem Kriege ihre Stelle besetzt finden. Die österreichische Re- 
gelung, welche eine etwa erfolgte Kündigung eingerückter Angestell- 
ter als nichtig erklärt,wird von den Unternehmern als unmögliche Lösung 
abgelehnt ù). Auch die Garantie der Einstellung an irgend einer an- 
deren Stelle des Betriebes wird abgelehnt 68). 

Es ist ganz konsequent, wenn die Unternehmer die neueren Ange- 
stelltenorganisationen ebenso ablehnen, wie die freien Gewerkschaften, 
und wenn sie daher ebenso die Gründung gelber Angestelltenverbän- 
de propagieren. So wird gelegentlich davon berichtet, daß sich in den 
Kruppschen Werken Werkvereine von Angestellten gebildet haben. 
Als deren Programm wird vorgeschlagen: anstatt Kampf — Verständi- 
gung; anstatt Mißtrauen — Vertrauen; anstatt Prinzipienstarrheit 
— Wirklichkeitssinn. Organisation nach Betrieben, nicht nach Beru- 
ten 9), 


Ideologien. 


Die Auffassungen der Arbeitgeber in der Form grundsätzlicher 
Stellungnahme finden wir in der Besprechung aller Tatsachen und Fra- 
gen der Gegenwart. Sie ist zur Zeit des Krieges, und je länger dieser 
dauert, um so deutlicher ausgeprägt, da ja im Kriege die Rolle des 
Unternehmers außerordentlich viel diskutiert wird. Alle sozialen 
Schichten haben ja durch den Krieg, soweit sie als soziale Schichten 
bereits organisiert waren, eine wesentliche Steigerung in ihrem Selbst- 
bewußtsein erfahren, da sie im Kriege zu Organen der Kriegführung 
wurden. Eine polemische Haltung zum Kriege kam nirgends in Frage 
(am wenigsten in den Organisationen der Unternehmer). Deshalb konn- 
te auch die Frage der Autonomie, der größeren oder geringeren Selb- 
ständigkeit der sozialen Aktion, der etwaigen Hemmung durch den 
Krieg nicht aufgeworfen werden. Vollends die Unternehmer, welche 
in den Kriegsausschüssen die Kriegswirtschaft vielfach leiteten, die 
Kartelle, welche sich zu Organen der Kriegswirtschaft umbildeten, 
sind von einer polemischen Haltung gegenüber der Kriegswirtschaft 
(soweit sie de Organisation der Industrie betrifft) 
weit entfernt. Dies um so mehr, als sie ja aus der Betätigung der Unter- 
nehmer in der Kriegswirtschaft in reichlichstem Maße neue Argumente 
für die Bedeutung des selbständigen Unternehmertums schöpfen; 
da werden die großen Leistungen der Unternehmer für die Krieg- 

©) Der Arbeitgeber, 15. IV. 1916. 

6) Näheres hierüber in einem nächsten Abschnitt der Chronik über die 
Angestellten- und Beamtenbewegung während des Krieges. 

*) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 16. IV. 1916. 


1034 Sozialpolitische Chronik. 


führung betont 7°), es wird hervorgehoben, daß die Gewinne nur in 
seltenen Fällen sübermäßige« seien ”'), sondern eben der Leistung 
des Unternehmers entsprechen. So wird auch auf die weitaus gerin- 
geren Leistungen der englischen Unternehmer hingewiesen ?). Erst 
eingehende Untersuchungen werden zu zeigen vermögen welche 
Rolle in der wirtschaftlichen Entwicklung während der ersten, Kriegs- 
periode die Initiative der Unternehmer gespielt hat. 

. Durch den Krieg ist die Grundlage der Argumentation für alle 
Forderungen der Unternehmer eine breitere geworden. Unternehmer- 
interesse deckt sich jetzt in der Auffassung der Unternehmer nicht nur 
mit wirtschaftlichem Allgemeininteresse, sondern mit nationalem 
Interesse. Die Argumentation erfolgt jetzt aus dem nationalen Ge- 
sichtspunkt, ähnlich wie das ehedem schon bei den agrarischen Ideo- 
logien der Fall war. Denn die Industrie hat sich als Grundlage der 
erfolgreichen Kriegsführung erwiesen und muß demgemäß in ihren 
Interessen eine entsprechende Berücksichtigung erfahren. Aus diesem 
Aspekt heraus werden alle Fragen beurteilt: z. B. auch das Eingreifen 
des Staates in die Wirtschaftskämpfe 78). In dem Verhalten zu sozial- 
politischen Fragen hat sich im einzelnen nicht viel geändert: die Unter- 
nehmer lehnen die Reform der Tarifverträge, die Verallgemeinerung 
der öffentlichen Arbeitsnachweise, die Arbeitervertretungen, die 
Reform des Arbeitsrechtes ab, betonen die Notwendigkeit fachlicher 
Ausbildung, bezeichnen die Jugendpflege als Aufgabe der Zeit °$); 
die Unternehmer wollen weiters insbesondere die Frage der Kriegs- 
beschädigten (wie schon oben gezeigt) frei, ungehemmt von gewerk- 
schaftlichen Instanzen lösen; sie betonen denselben Standpunkt des 
nationalen Interesses in der Frage der ausländischen Arbeiter, welche 
für die Industrie nach dem Kriege notwendiger sein würden denn je 75). 
Diese Notwendigkeit wird mit dem nationalen Interesse begründet; 
dadurch ist ein Vorrang gegenüber allen andern Interessen gegeben, 
und wenn sich diese auch als nationale bezeichnen, so liegt ein 
Mißverständnis vor. Zumal die Konkurrenz ausländischer Arbeiter 
ist (in der Ideologie der Unternehmer) niemals als wirkliche Gefähr- 
dung wesentlicher nationaler Interessen aufzufassen 78). Im Gegen- 


10) Arbeitgeberzeitung, 9. XII. 1915. ® 

n) Arbeitgeberzeitung, 2. I. 1916. 

12) Der Arbeitgeber, ı. I. 1916. 

13) Der Arbeitgeber, 1. XI. 1915. Ein solcher Vergleich ist allerdings nicht 
ohne weiteres möglich. Denn die englische Kriegswirtschaft beruhte ja, zumal in 
der ersten, sehr langen Phase des Krieges auf durchaus anderen Voraussetzungen 
und hatte andere Ziele. (insbesondere: Aufrechterhaltung der gewohnten 
Wirtschaftsformen, Bezahlung der Kriegslieferungen durch Export). 

74) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 26. XII. 1915. 

15) Der Arbeitgeber, r. II. 1916. 

7°) Für die Zeit nach dem Kriege wird Erleichterung des Legitimations- 
zwangs, Erleichterung der ärztlichen Untersuchung, Aufhebung des Rückwan- 
derungszwangs für ländliche Arbeiter usw. vorgeschlagen. Die Bestimmung, 
daß nur einzelstehende Arbeiter oder Arbeiterinnen, nicht aber Familien ein- 
wandern dürften, sollte auch wegfallen usw. Gegenüber den neuerdings auftau- 








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Die Unternehmerorganisationen. 1035 


teil ist für die Zeit nach dem Kriege die Erleichterung in der Zuwande- 
rung fremder Arbeiter national unbedenklich, ja gefordert, weil Pro- 
duktionsinteresse. 

Die Bedeutung der industriellen Produktion für die Kriegfüh- 
rung hat allmählich in den Vorstellungen der Unternehmer (wenn man 
die Aeußerungen ihrer Organe als Reflex der Anschauungen in Unter- 
nehmerkreisen auffassen darf) eine derartige Wandlung hervorgebracht, 
daß sie die Tätigkeit in einem industriellen Unternehmen als Kriegs- 
dienst, zum mindesten als militärischen Dienst betrachten. Dies nicht 
nur in dem Sinn, daß Arbeit im industriellen Unternehmen dem Ar- 
beitenden das Bewußtsein einer mit der militärischen Dienstleistung 
gleichwertigen Tätigkeit geben könne, sondern auch derart verstanden, 


. daß sich der Arbeiter im Unternehmen unter militärischem Kommando 


fühlen und dieselbe innere Verpflichtung gegenüber dem Unter- 
nehmen in sich fühlen müsse, welche er gegenüber seinen mili- 
tärischen Vorgesetzten hat. So wird der Unternehmerdienst zum 
Kriegsdienst gestempelt; eine Auffassung, welche ja durch das Hilfs- 
dienstgesetz neue Nahrung bekommen hat. Infolgedessen begrüßt 
auch namentlich die schwere Industrie das Gesetz, welches allerdings 
der Exportindustrie (z. B. der sächsichen) nicht so ganz willkommen 
ist 77), da sie hiervon eine Gefährdung ihrer Existenz befürchtet. 
Da die Industrie eine nationale Notwendigkeit, so werden alle 
Forderungen, welche das ungehemmte Fortbestehen und die Renta- 
bilität der Industrie auf privatkapitalistischer Basis in Frage stellen, 
abgelehnt: Gütererzeugung ohne Gewinn, gleichsam als Kriegsdienst, 
wird als Unmöglichkeit bezeichnet, da viele Industrielle erst während 
des Krieges sich auf Heereslieferungen einrichten, und daher bei ge- 
winnloser Erzeugung nach dem Kriege mittellos dastünden. — Auch 
eine Erhaltung der industriellen Steuerkraft sei ein eminentes staat- 
liches Interesse 78). Diese Einwendung kehrt auch allen Steuerplänen 
gegenüber wieder, welche in höherem Maße Heranziehung der Unter- 
nehmer zur Kriegskostendeckung in sich schließen. Wird die hohe 


chenden Bemühungen der Gewerkschaften, für eine Erschwerung der Einwande- 
rung Stimmung zu machen, heißt es: »Schließlich sind auch wir der Auffassung, 
daß die nationale Arbeit geschützt werden soll, wenn sie eines besonderen Schutzes 
bedarf. Wir halten aber denn doch das deutsche Erwerbsleben für so widerstands- 
fähig, daß es durch die Mitarbeit einiger Hunderttausende Fremdlinge nicht ge- 
stört wird. Die Gefahren, die manche als die Folgen der Ausländerarbeit an die 
Wand zu malen belieben, sind nur zu oft der Ausfluß entweder eigennütziger 
Auffassung oder eines überempfindlichen völkischen Bewußtseins«. (Der Ar- 
beigeber, ı. II. 1916). Es wirkt die Naivität immer überraschend, mit der die 
Interessen der andern Schichten als seigennützig« gestempelt, die Wahr- 
nehmung der eigenen als nationale Pflicht aufgefaßt wird. 

. 77) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 24. XII. 1916. Die sächsische und süd- 
westdeutsche Industrie tritt demgemäß für Aufbebung der Gesetzesbestim- 
mungen nach Friedensschluß ein. Die Aufhebung der Bestimmungen, welche die 
obligatorischen ständigen Arbeiterausschüsse und Schlichtungsstellen betreffen, 
wird auch von den Verbänden der schweren Industrie befürwortet. 

189) Arbeiterzeitung, 5. III. 1916. 


1035 Sozialpolitische Chronik. 


Rentabilität der Industrie auf diese Weise als Staatsnotwen- 
digkeit verteidigt, so wird andererseits das analoge Bemühen an- 
derer Gesellschaftsschichten, die Kriegskonjunktur auszunützen, als 
sIrrsinne bezeichnet 79). 

Mit diesen Anschauungen stimmt es dann überein, wenn die In- 
dustrie in allen Fragen der industriellen Organisation (zumal auch 
für die Zeit nach dem Kriege) jedes weitere Steigen des Staatsein- 
flusses ablehnt. Die Organisation in Kartellen wird befürwortet, die in 
Zwangssyndikaten abgelehnt 8°). Allerdings ist diese Ablehnung nicht 
ganz einheitlich. In manchen Industriezweigen finden sich auch be- 
reits Freunde des Zwangssyndikats, welches ja die Sorge vor neuen 
Outsiders beseitigen könnte. Die Gegnerschaft gegen das Zwangs- 
syndikat beruht auch in erster Linie auf der Angst vor fiskalischer 
Ausnützung desselben. — Aus demselben Grunde sind die Unternehmer 
natürlich auch gegen neue Staatsmonopole, welche eine »Einbuße 
an lebendiger Volkskrafte bedeuten würden 9). Gelegentlich der 
Diskussion über die Eingriffe des Staates in die Wirtschaftsverfassung 
fehlt es auch nicht an prinzipiellen Aeußerungen über die »Grenzen 
der Wirksamkeit eines Staatess (anknüpfend an Humboldt) und auch 
nicht an Hinweisen auf den Wert der Persönlichkeit — allerdings im- 
mer nur mit der Wendung ins Interessenmäßige, und ohne Anwendung 
des Prinzips auf den Organisationszwang innerhalb der Industrie 8). 
Gerade die Arbeitgeberblätter lieben es sehr, ihren Auffassungen ein 
staatsphilosophisches Gepräge zu geben, doch verrät die Anwendung 
dieser Prinzipien, daß sie nur Bestandstücke einer Ideologie sind. 

Im Rahmen dieser Ideologie werden alle energischeren Ein 
des States in das Wirtschaftsleben abgelehnt %), immer mit dem Hin- 

79) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 27. II. 1916. Es wird von einem baum- 
langen 4ojährigen Scherenschleifer erzählt, von dem man übrigens nicht wisse, 
warum er nicht an der Front seie — der anstatt 50 Pfg. 2.50 Mark für das Schlei- 
fen einiger Scheren verlangte und die Forderung mit dem Hinweis auf die Kriegs- 
teuerung begründete. 

80) Der Arbeitgeber, ı. VII. 1916. 

81) Arbeitgeberzeitung, 5. XII. 1915. 

82?) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 18. I. 1916. 

83) Im Unternehmer solle sich das Prinzip der freien Persönlichkeit reali- 
sieren; hingegen: »sgegenüber dem Geschwätz und den Phrasentrompeten jener 
Parlamente (gemeint sind die Parlamente der Ententestaaten) ist das »Ich be- 
fehlee des deutschen kommandierenden Generals eine wahre Wohltate Und 
weiter: »Ueberall ist ein kräftiges »Ich befehle« die größte Wohltat, die 
der Gesellsch: ft zuteil werden kann.« (Deutsche Arbeitgeberzeitung, 6. II. 1916). 
— Und damit übereinstimmend: »Soweit sind wir gekommen, daß die schönen 
prachtvollen Worte Diener und dienen verpönt und sogar amtlich vermieden 
werden, damit nur ja nicht das dreimal geheiligte Ideal allgemeiner Gleichheit 
in Gefahr geratee.. (Ebenda, 30. I. 1916.) Also: Persönlichkeit und Freiheit 
nur in bestimmten sozialen Sphären. Es fehlt im Rahmen dieser Ideologie urch- 
aus das Gefühl dafür, daß Dienst im alten ursprünglichen Sinne des Wortes 
einem Menschen gegenüber nicht vorkommt. 

%1) So gegen die Höchstpreise, welche die Einfuhr oft hemmen, gegen die 
Pläne schärferer direkter Besteuerung. (Mitteilungen des Kriegsausschusses, 
7. X. 1916.) 


Die Unternehmerorganisationen. 1037 


weis auf die Notwendigkeit großer, starker Unternehmungen, welche 
nach dem Kriege als Stütze der Staatsfinanzen unentbehrlich seien. 
Immer laufen die Betrachtungen über Finanzfragen in die Erwägung 
aus, daß schon im Interesse der Allgemeinheit erhebliche Gewinne er- 
wünscht seien, da sonst jadie Steuern nicht bezahlt werden könnten 
(als ob nicht die Steuern um den Betrag der Gewinne ermäßigt wer- 
den könnten, wenn die Preise für Heereslieferungen niedriger gestellt 
würden). — Aus diesem Gesichtspunkt wird auch mehr oder weniger 
eindringlich für indirekte Steuern Propaganda gemacht — mit den 
ältesten merkantilistischen Argumenten für die »Produktivität der 
großen Einkommen ®5)e. Ja, was in der populären Diskussion das 
Hauptargument gegen hohe direkte Steuern bildet: daß eine immer 
kleiner werdende Schicht Vermögen und Einkommen in ihrem Be- 
sitz konzentriert, das wird hier zum Argument gegen überwiegend 
direkte Steuern, da es ja ungerecht sei, eine so kleine Gruppe von 
Staatsbürgern mit der Hauptsteuerlast zu beschweren, zumal diese 
ja in den »weitaus meisten Fällene ihr großes Einkommen: ihrer per- 
sönlichen Tüchtigkeit und wirtschaftlichen Tätigkeit zu verdanken 
haben %), Die bisherigen Formen des kapitalistischen Systems sollen 
also nach Möglichkeit erhalten bleiben. Für die Friedenswirtschaft 
könne der Krieg nichts beweisen 8) — daher wird jede Aenderung, 
besonders in der Position der Arbeitgeber, abgelehnt 88). Denn der 
Unternehmer, der Kapitalismus hat den Krieg getragen, alle übrigen 
Gesellschaftsschichten — die Arbeiter insbesondere — haben nur ihre 
selbstverständliche Pflicht erfüllt und daher keine Rechte daraus 
abzuleiten. 

In diese Auffassung. ordnet es sich völlig ein, wenn d Unter- 
nehmer gegenüber der »Neuorientierung® im Sozialismus skeptisch 
sind und jedenfalls eine Wandlung im Verhalten zur Arbeiterschaft, 
ein anderes System des Arbeitsverhältnisses im Betriebe, ablehnen. 
Der 4. August bedeutet im günstigsten Falle für die Arbeiter eine 
Bekehrung zur Vernunft und Pflichterfüllung, bedeutet, daß sie den 

85) Auf den reichen Leuten ruhen neben den Steuern: soziale Verpflichtun- 
gen. »Sie sind es, die Literatur, Kunst und Wissenschaft zum größten Teil unter- 
halten müssen, die ein Heer von Gewerbetätigen, von Angestellten und Dienern 
nebst deren Angehörigen ernähren; sie beschäftigen insbesondere die Baukunst 
und sonstige bildende Kunst, sowie die Kunstgewerbe. Sie unterhalten Muster- 
güter, Gestüte, Rennställe, sowie vielfach große Gartenanlagen, deren Baum- 
und Blumenschmuck nicht nur ihnen, sondern den weitesten Volkskreisen zur 
Augenweide und zur Belebung des ästhetischen Gefühls gereicht. Sie üben na- 
mentlich auch Wohltätigkeit im großen Stile aus, und werden für die gemein- 
nützigen Zwecke stärker in Anspruch genommen. Ihre Kreise liefern eine große 
Anzahl höherer Staatsbeamten, mit kostspieliger Laufbahn und stellen nament- 





ich auch dem Heere viele Offiziere, die höherer Zuschüsse zur Erhaltung ihrer 


Jevorzugten gesellschaftlichen Stellung bedürfen.« (Arbeitgeberzeitung, 23. 
VII. 1916.) 

se) Arbeitgeberzeitung, 3. IX. 1916. 

87) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 24. IX. 1916. Der Krieg lehrt nur für den 
Krieg, aber nicht für den Frieden. 

88) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 8. X. 1916. 


1038 Sozialpolitische Chronik. 


richtigen Weg zu der ihnen gesetzlichen Pflicht gefunden haben, wo- 
für eine besondere Belohnung zu gewähren falsch wäre. 

Die Anforderungen, welche sie an die Arbeiterschaft, im beson- 
deren an die freien Gewerkschaften hinsichtlich eines Wandels in 
ihrer Stellungnahme erheben, greifen völlig“durch. Sie bedeuten nicht 
viel weniger, als die Forderung, die Gewerkschaften mögen die Poli- 
tik und Ideologie der gelben Gewerkschaften akzeptieren. So beschei- 
nigen sie z.B. Peus ihre Zufriedenheit darüber, daß er den Klas- 
senkampf ablehne und die Einrichtung der Monarchie respektiere®). 
Das genüge aber nicht, ebensowenig die Feststellung, daß Profit unent- 
behrlich für den Betrieb der Unternehmungen. »Er mag nun fortfahren 
und den Arbeitern auseinandersetzen, daß auch die übrigen wirtschaft- 
lichen und sozialen Unterschiede in der Stellung des Arbeitgebers 
und Arbeitnehmers ganz ebenso durch die Natur der Dinge, 
durch die Eigenart des ganzen Arbeitsprozesses, durch die Scheidung 
zwischen geistiger und körperlicher Arbeit hervorgerufen sind, und daß 
es demnach sinnlos ist, sich gegen diese selbstverständlichen und not- 
wendigen Verschiedenheiten auflehnen zu wollen.« Allerdings ist das 
konsequent gedacht — daim Rahmen der privatkapitalistischen Unter- 
nehmungen alle diese Unterschiede snatürlich« sind °°). Diese Forde- 
rungen sind vom Gesichtspunkt der Arbeitgeber aus um so verständ- 
licher, ja man könnte sagen, ganz selbstverständlich, da ja die Gewerk- 
schaftsorgane, welche in ihren grundsätzlichen Auffassungen sich so 
stark gewandelt haben, selbst manchmal die Konsequenzen ihrer völ- 
ligen Neueinstellung ziehen. So wenn das Korrespondenzblatt der 
Generalkommission die Frage aufwirft, ob die ungeheuren Opfer von 
Streiks und Aussperrungen notwendig seien? Hierbei wird die Hoff- 
nung ausgesprochen, daß die Gewerkschaften auch in Hinkunft nicht 
mehr als Störenfriede betrachtet werden mögen — dann werde vielleicht 
ein Ausgleich der Gegensätze in anderer Form erzielt werden können *). 

Nur eine solche grundsätzliche Wandlung in der Frage der Wirt- 
schaftsverfassung könnte die Unternehmer in ihrer Haltung gegenüber 
den Gewerkschaften und gegenüber dem Sozialismus (beide sind ihnen 
gleichbedeutend) zu einer Aenderung bestimmen. Hingegen wäre 
den Unternehmern natürlich mit einem snationalen« Sozialismus 
nicht gedient. Denn der internationale Gedanke sei kein unerläß- 
licher Bestandteil des ganzen sozialdemokratischen marxistischen 

8°) Arbeitgeberzeitung, 20. II. 1916. 

®0) Vgl. ganz analog die Kritik an dem Buch von Haenisch: »Die deutsche 
Sozialdemokratie in und nach dem Weltkrieges— das dem Rezensenten im »Um- 
lernene immer noch nicht weit genug geht. (Arbeitgeberzeitung, 16. IV. 1916). 

sı) Das grundsätzlich Neue dieser Auffassung ist nicht darin zu erblicken, 
daß hier das Bestreben zutage tritt, Streiks und Aussperrungen nach Möglichkeit 
zu vermeiden. Das haben immer auch die radikalsten Gewerkschaften getan. 
Auch ür sie war der Streik immer nur letzter Ausweg. Neu ist nur die Einstellung, 
als ob es von der Einsicht und einem Entschluß abhinge, die gesellschaftlichen 
Gegensätze gütlich auszugleichen. (Die Aeußerung des Korrespondenzblattes, 
zitiert in den Mitteilungen des Kriegsausschusses der deutschen Industrie, 
26. II. 1916). 


Die Unternehmerorganisationen. 1039 


Lehrgebäudes. »Einer der peinlichsten und abschreckendsten Züge 
aus der Physiognomie des sozialdemokratischen Charakterbildes 
verschwände, wenn die internationalistische Utopie einmal ausgetilgt 
wäre. Aber trotzdem könne vollkommen unberührt bleiben eine ganze 
Reihe von echt sozialistischen Ideen und Gesichtspunkten, so daß 
sich letzten Endes am Gesamtbild des sozialistischen Charakters 
und seiner Weltanschauung nur wenig geändert haben würde. Insbe- 
sondere könnte erhalten bleiben: der Materialismus, die ökonomische 
Auffassung des geschichtlichen Werdegangs, die Gleichheitslehre, der 
Klassenkampf. Nationaler Sozialismus sei ebensogut wie internatio- 
naler möglich ®%). Letzterer ist nur eine »besondere geistige Ver- 
irrung«. 

Diese Auffassung deckt sich mit der der konservativen Partei- 
männer, welche z. B. erklären, man könne die Sozialdemokratie seit 
dem 4. August nicht mehr antinational nennen, aber ihre Bestrebungen 
seien doch jedenfalls antimonarchisch, auf Herbeiführung einer Herr- 
schaft der Masse gerichtet. Damit sei ein unüberbrückbarer und unver- 
wischbarer Gegensatz zur konservativen Partei gegeben ®). Die 
Aeußerungen sind als deutlicher Beleg dafür wertvoll, daß die grund- 
sätzliche Haltung gegen die Gewerkschaften nicht geändert werden 
soll, selbst bei weitestgehenden Wandlungen der sozialistischen Partei 
und der Gewerkschaften gegenüber dem Staat und seiner auswärtigen 
‘Politik 99) 95), 

Daß die Prinzipien in allen Argumentationen der Arbeitgeber 
lediglich Bestandteile der Ideologie bilden, tritt in dieser, wenn 
auch zumeist nur verschleierten Polemik gegen die »Neuorientierung« 
im Sozialismus und ihren möglichen Konsequenzen deutlich zutage. 
Was von den Arbeitern gefordert wird, ist in dieseı Auffassung der Aus- 
tluß eines krassen, mit dem deutschen Wesen nicht vereinbarten Ma- 
terialismus. Hingegen sind die Handlungen der Unternenmer nach dem 

sa) Arbeitgeberzeitung, 9. I. 1910. 

93) Arbeitgeberzeitung, 27. VIII. 1916. 

%) So wird z. B. gelegentlich das Wort »national« sehr weit interpretiert, 
Dem deutschen Nationalcharakter, wird ausgeführt, widerspreche der Materialis- 
mus, seine Vorstellungen über Freiheit, Gleichheit, über Religion, Menschentum 
und Familie. Daher könne man in diesem Sinne gar nicht, wird gesagt, von einem 
snationalen Sozialismus« sprechen. Ohne auf diese Selbstwidersprüche zu frü- 
heren Aeußerungen Gewicht zu legen, mag die Aeußerung als Symptom der oben 
charakterisiertten Haltung erwähnt werden. (Deutsche Arbeitgeberzeitung, 
27. VIII. 1916.) 

%) Die Arbeitgeber scheinen auch gar nicht die Anerkennung einer prin- 
zipiellen Wandlung zu wünschen: »Zu wiederholten Malen haben wir nachge- 
wiesen, daß im Kern der Sache, vornehmlich in bezug auf alle Fragen der inneren 
Politik, das sozialdemokratische und wirtschaftliche Programm keinerlei wesent- 
liche Aenderungen erfahren hat und erfahren kanne.. woraus dann ge- 
folgert wird, daß die Arbeiterschaft bei wirklicher Wandlung in ihren 
Anschauungen sich auch politisch anders orientieren müsse. (Deutsche Arbeit- 
geberzeitung, 14. I. 1917.) Insbesondere wird, im Anschluß an eine Abhandlung 

Grabowskys, den Arbeitern der Anschluß an die konservative und national- 
liberale Partei empfohlen. 

Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. 42. 3. 67 


1040 Sozialpolitische Chronik. 


»Geist* zu beurteilen, in welchem sie gemeint sind. Kapitalismus 
ist — so wird ausgeführt — nur ein »Mittele.. Nicht der Kapi- 
talismus bildet den Menschen, sondern der Mensch ist es, durch den 
die kapitalistische Wirtschaft diese oder jene, eine nutzbringende oder 
verderbliche Richtung erhält. — Der »Amerikanismus« (der aller- 
dings in Deutschland schon tiefer Wurzel geschlagen hat als in Ame- 
rika) sei die Gefahr, welche Deutschland drohe, aber dieser liege 
nicht in der kapitalistischen Methode. Demnach wohl im Ziel, das 
mit der Wirtschaft verfolgt wird, in einem letzten Wert, der mit ihr 
realisiert werden soll ®®) — worüber allerdings nicht eine unparteiische 
Instanz, sondern dieses »Mittele selbst, nämlich die Kapitalisten 
als Verkörperung der Kategorie Kapital zu entscheiden haben. — So 
blickt der ideologische Charakter aller Argumentationen aus jeder 
Zeile ihres Gedankenganges hervor. 

Aus derselben Haltung erwachsen die Forderungen für die sinneren 
Kriegszielee. Jede Demokratisierung wird abgelehnt; hierfür sei auch, 
da alle Volksklassen die gleichen Opfer brächten, kein Anlaß vorhanden. 
Die Verbrüderung gelte nur nach außen 9”): und der Kampf werde ja 
gerade für die bewährte innere Form Deutschlands geführt. Daher 
wird auch vor jeder Ueberspannung des Grundsatzes: »Freie Bahn 
dem Tüchtigene gewarnt °$) — ein ganz naiver Ausdruck der Ideo- 
logie, welche ja zugleich gerade dem Sozialismus gegenüber die Mög- 
lichkeit der persönlichen Bewährung als prinzipiellen Wert der kapi- 
talistischen Ordnung bezeichnet. 

Nur mittelbar mit der Interessenlage der Unternehmer hängen 
ihre Kriegszielforderungen zusammen. Auch sind in dieser Hinsicht 
die Arbeitgeberblätter nicht als Wortführer aller Unternehmer anzu- 
sehen. Sie vertreten nämlich durchaus den extrem-annexionistischen 
Standpunkt der konservativen und nationalliberalen Partei. So wird 
der Aufruf »Für einen deutschen Frieden« (Unterzeichnete fast aus- 
schließlich Großindustrielle) zum Abdruck gebracht ®), es wird vor 
einem »faulen Friedens gewarnt 100) und wiederholt das Revier von 

9) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 30. IV. 1916. 

9) So heißt es ganz unverblümt: »Nach außen sind wir durchaus ein 
Volk von Brüdern und der deutsche Demos kennt nach außen keine Spaltung, keine 
Gegensätze, ist nur von dem Willen beseelt, das Vaterland zu schützen. Aber diese 
Tatsache zwingt nicht dazu, die innere Politik auf den Boden einer sozialdemo- 
kratischen Gleichheit zu stellen. Natürlich und geschichtlich gewordene Unter- 
schiede werden nach wie vor ihr Recht behaupten müssen. Sollte man sie in 
Uebereilung beseitigen, so würde man gerade diejenigen Werte vernichten, 
für deren Erhaltung Deutschland so ungeheure Opfer gebracht hat.+ (Deutsche 
Arbeitgeberzeitung, 15. X. 1916). Also: Der Weltkrieg muß vor der konkreten 
Machtverteilung Halt machen. Dieser gegenüber ist er keine »geschichtliche 
Tatsache — da er ja nur eine Angelegenheit der äußeren Politik. Nur in dieser 
gibt es einen sehernen Schritt« und die »Gewalt der Tatsachen« Die sozialen 
Machtverhältnisse zu ändern, wäre sunhistorisch gedacht«. 

#8) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 15. X. 1916. Die geistige Tätigkeit dürfe 
in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden. 

°) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 3. IX. 1916. 

100) Deutsche Arbeitgeberzeitung, 19. XII. 1915. 


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Die Unternehmerorganisationen. 1041 


- Briey als Notwendigkeit für die deutsche Industrie verlangt. — So 
ziemlich die ganzen belgischen und französichen Gebiete, insbesondere 
soweit sie Kohle enthalten, werden als Sicherstellung gefordert 19), 
Vielleicht allzu offenherzig sind noch weitergehende Aeußerungen, | 
welche auf die Bedeutung dieser Gebiete sin einem künftigen Krieges 
hinweisen 1%). Gelegentlich nur verwahrt sich dann die Industrie 
dagegen, daß sie die Kriegsziele des alldeutschen Verbandes vertrete 
und so im Ausland Schaden stifte 1%), eine Verwahrung, die angesichts 
aller Aeußerungen der Unternehmerblätter zur Frage der Kriegsziele 
ganz gegenstandslos ist. 

So bieten die Aeußerungen während des Krieges, trotzdem sie 
weniger als sonst an praktische Probleme anknüpfen können, eine 
reiche Ausbeute für das ideologische System der Unternehmerver- 
bände. Wenn es in seiner Gesamtheit überblickt wird, so unterscheidet 
es sich von der Ideologie der Gewerkschaften jedenfalls durch die größ- 
ere Konsequenz: Die Unternehmer haben nicht »umgelernt«, und alle 
Tatsachen des Krieges, von seinen Ursachen angefangen bis zu seinen 
letzten Konsequenzen — ebenso wie alle Tatsachen während des 
Krieges werden aus dem Interessenstandpunkt der Unternehmer 
heraus interpretiert. Und insoweit dieser eben ein Interesse und nicht 
eine »Ideee ist, haben wir es in allen Aeußerungen nicht mit einer 
Sozialphilosophie zu tun, als welche die prinzipiellen Aeußerungen 
der Unternehmer sich so gerne geben, sondern mit den Bestandstücken 
einer recht durchsichtigen Ideologie. 


Oesterreich. 


Ueber die Entwicklung und die Tätigkeit der österreichischen 
Arbeitgeberverbände während des Krieges zu berichten ıst mangels 
geeigneten Materials nahezu unmöglich. Als Symptom mag dienen, 
daß die Arbeitgeberzeitung«, die als Beilage der »Industrie« in Frie- 
denszeiten wöchentlich erschien und, wenngleich in sehr knapper 
Weise doch über vieles Wesentliche berichtete, seit Kriegsbeginn ihr 
Erscheinen eingestellt hat. Bloß das Hauptorgan des Zentralverbandes 
der Industriellen, die erwähnte »Industrie«a erscheint, wenngleich un- 
regelmäßig, weiter — enthält jedoch nur Material über den Fortgang 
des Wirtschaftslebens. Die sozialpolitischen Fragen und Angelegen- 
heiten der Arbeitgeberverbände gelangen darin nur höchst selten 
und flüchtig zur Erörterung. Dieser scheinbare Stillstand des Organi- 
sationslebens ist u. a. darauf zurückzuführen, daß die Gewerkschaften 
durch den Krieg in eine ganz hoffnungslose Lage versetzt wurden. 
Sie haben massenhaft Mitglieder — weit über die Zahl der Einberufenen 

191) Ebenda; ferner: Mitteilungen des Kriegsausschusses der deutschen 
Industrie, 11. XII. 1915. 

108) Mitteilungen des Kriegsausschusses der deutschen Industrie, 25. III.1916. 

103) Vgl. Mitteilungen des Kriegsausschusses der deutschen Industrie, 18. 


XI. 1916. 
67 * 


1042 Sozialpolitische Chronik, 


hinaus — verloren!) und leiden noch immer an den nationalen Schwie- 
rigkeiten; hingegen hat sich die wirtschaftliche Organisation der In- 
dustrie während des Krieges außerordentlich gekräftigt, Kartelle und 
Syndizierungen haben sich, wie in Deutschland, während des Krieges 
rasch entwickelt, und damit sind die Vorbedingungen einer kräftigen 
Unterehmerorganisation,die Möglichkeiten sofortigen Zusammenschlus- 
ses im Falle der Notwendigkeit von selbst gegeben und brauchen nicht 
immer wieder von neuem durch Organisationstätigkeit gesichert und 
geschaffen zu werden. So undurchdringlich die wirtschaftliche Lage 
nach dem Kriege sein mag, das eine Moment steht fest: die Organi- 
sationen der Arbeitgeber werden unter weitaus günstigeren Bedingun- 
gen als vor dem Kriege dastehen. Die Lage des Arbeitsmarktes kann 
sich gar nicht so radikal ändern, daß von den Arbeitern der Vorsprung 
eingeholt werden könnte, den die Unternehmer automatisch durch die 
Schwächung der Gewerkschaften erreicht haben. 

Da überdies seit Kriegsausbruch die Arbeiterschaft, soweit es 
Rüstungsindustrie betrifft, auf Grund des Kriegsleistungsgesetzes 
herangezogen wurde und die Möglichkeit von Arbeitskonflikten über- 
haupt nicht gegeben war, konnte auch die praktische Tätigkeit der 
Arbeitgeberverbände ruhen. Ueber die industriellen Arbeit- 
geberorganisationen kann daher überhaupt nichts berichtet werden. 

Etwas mehr hingegen machen die gewerblichen Arbeit- 
geberorganisationen von sich reden: diese sind in Oesterreich von 
den industriellen Arbeitgeberorganisationen ziemlich deutlich getrennt, 
wie ja auch die Schicht des mittleren Gewerbes und der noch hand- 
werksmäßigen Industrie (insbesondere Baugewerbe und Holzgewerbe) 
zu besonderen freien Interessenverbänden sich zusammengefunden 
haben (in freien Genossenschaften, Gewerbevereinen usw.), da ihre 
Interessen mit denen der Industrie durchaus nicht in allen Stücken 
parallel laufen. Diesen Gegensatz zur Großindustrie spürt man wäh- 
rend des Krieges besonders deutlich: die starke Konzentration, die 
übermächtige Konkurrenz des Großbetriebs, die schlechte Kon- 
junktur für viele Gewerbe, die Furcht vor einer ungünstigen Gestal- 
tung der Zollverhältnisse (auf Agrarprodukte und Halbfabrikate) wirkt 
stark auf die gewerblichen Organisationen ein. Sie werden wieder 
etwas radikaler in der Tonart, die alte kleinbürgerliche Kritik des 
»Kapitalismus« taucht wieder auf, der Interessengegensatz zur Ar- 
beiterschaft wird schon weniger stark empfunden, tritt jedenfalls nicht 
in besonderen Aktionen zutage. Denn auch für den mittleren gewerbli- 
chen und industriellen Betrieb gilt der »wirtschaftliche Burgfriedes, 
und die größere Bedrohung kommt für diese ökonomische Schicht 
nicht von der Arbeiterschaft, sondern von unmittelbaren und von wei- 
teren Folgewirkungen der Kriegswirtschaft. 

Daher gehen mitunter Arbeiter und Gewerbetreibende zusammen. 
So schließt sich die »Bäckerzeitung« in der Gegnerschaft gegenüber 
den großkapitalistischen Brotfabriken der »Arbeiterzeitunge an, 
bemängelt es, daß ein bekannter großer Wiener Brotfabrikant zugleich 
2108) Vgl. Archiv Bd. 42, S. 667 ff. 


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Dig Unternehmerorganisationen. 1043 


Heereslieferungen übernommen habe und als Vorstandsmitglied der 
Kriegsgetreideverkehrsanstalt sowie der Futtermittelzentrale das 
Mehl bekomme, wie er es brauche 1%). Diese Hypertrophie des Groß- 
betriebs zwinge die meisten kleinen Betriebe ganz ohne Gehilfen oder 
mit wesentlichster Einschränkung zu arbeiten 1%), z. T. scheinen auch 
die Bäckereibetriebe in wirtschaftliche Abhängigkeit von den Groß- 
betrieben geraten zu sein und müssen für sie arbeiten. Hier bildet sich 
(auch in Deutschland ein häufiger Fall) eine neue Abhängigkeit des 
Kleinbetriebs vom Großbetrieb heraus, eine neue Form der Konzentra- 
tion, begründet durch die leichtere Rohstoffversorgung großer Unter- 
nehmungen 1%). 

Auch sonst sind die »großen Kriegsgewinne der Industries (welche 
von dieser selbst mit Hinweis auf die hohe Kriegsgewinnsteuer aller- 
dings in Abrede gestellt werden) häufig das Objekt der gewerblichen 
Angriffe. Die Solidarität aller Unternehmer ist hier durch die rasche 
ökonomische Entkräftung breiter gewerblicher Schichten wieder 
durchbrochen. Bald sind es die hohen Dividenden der Mühlen, die 
ins Auge fallen 10), bald die Ergebnisse der schweren Industrie 19), 
die allerdings erheblich niedriger sind, als die höchsten, zur Verteilung 
gelangenden Dividenden in Deutschland. Da wird nun von den Ge- 
werbetreibenden die üble Einwirkung der Konzentration beklagt, 
auf die große Anzahl selbständiger, gefährdeter Existenzen hingewiesen 
usw.110). Es wird eine »demokratische«e Wirtschaftspolitik gefordert an 
Stelle der »Kartellaristokratie«. In Verfolgung dieser Gedankengänge 
nimmt man im voraus Stellung gegenüber Rohstoff- und Halbfabri- 
katezoll 11). Diese Wendung darf aber in ihrer Bedeutung nicht über- 


schätzt werden. Großindustrie und Gewerbe werden trotz dieser 


Interessengegensätze den gemeinsamen Boden finden, auf dem sie 
in den Jahren vor dem Kriege schon gegen Konsumenten- und 
Arbeiterforderungen gemeinsam Stellung genommen haben. Das 
stärkere Wiederaufleben der lange begrabenen Gegensätze ist nur ein 
Symptom‘ für die abnorme Lage des Gewerbes und ebenso des 
Arbeitsmarktes. 

Die Entblößung des Arbeitsmarktes, der Mangel an gelernten, 
brauchbaren Kräften hat die Stellung der Gehilfen so gesteigert, daß 
(wie schon früher berichtet) erhebliche Lohnerhöhungen während des 
Krieges erzielt werden konnten und es auch zur Bildung von Allianzen 
kam. Zwar wird immer wieder auf die schwere Zeit, welche nach dem 
Kriege bevorstehe, hingewiesen 42). Die Gewerkschaften hätten 
außerordentlich viele Mitglieder verloren und müßten den Verlust 
nachholen, was ohne Agitation nicht möglich sei. Starke Agitation 
106) Oesterreichische gewerbliche Arbeitgeberzeitung, 22. IX. 1915. 

108) Oesterreichische gewerbliche Arbeitgeberzeitung, 7. X. 1915. 
107) Oesterreichische gewerbliche Arbeitgeberzeitung, 8. VI. 1916. 
108) Oesterreichische gewerbliche Arbeitgeberzeitung, 8. II. 1910. 
109) Oesterreichische gewerbliche Arbeitgeberzeitung, 24. III. 1916. 
110) Oesterreichische gewerbliche Arbeitgeberzeitung, 20. IV. 1916. 
111) Oesterreichische gewerbliche Arbeitgeberzeitung, 16. V. 1916. 
312) Oesterreichische gewerbliche Arbeitgeberzeitung, 16. V. 1916. 


10441 Sozialpolitische Chronik, 


aber sei gleichbedeutend mit starker Streikbewegung. Neben dieser 
Verkündigung späterer Kämpfe aber hört man ebenso oft Aeußerungen 
einer hoffnungsvollen Stimmung; man erwartet als Ergebnis des Krie- 
ges ein Weiterbestehen der zeitweisen Zusammenarbeit und Interessen- 
solidarität 13), Diese versöhnlichen Bemerkungen (um mehr handelt 
es sich nicht) sind aber nicht als eine prinzipielle Schwenkung zu be- 
trachten. Sie deuten auf eine schwächere Position; tatsächlich sind 
diegewerblichen Arbeitgeberverbände während des 
Krieges etwas zurückgedrängt. Nicht die Arbeiterschaft hat sie in 
ihrer Kraft geknickt, sondern die ökonomische Entwicklung. Sie leiden 
ebenso unter dem Kriege wie die Gewerkschaften, verlieren Mitglieder, 
erhalten wenig Beiträge 11%) und sind auf öffentliche Subventionen an- 
gewiesen 115), haben kein rechtes Feld der Tätigkeit und werden daher 
vermutlich von den kleineren Gewerbetreibenden im Stich gelassen, 
welche während des Krieges jede nicht unbedingt notwendige Ausgabe 
scheuen. — Dieser Mangel an innerer Kraft ist es, der dann wieder- zu 
einer versönlicheren Haltung gegenüber den Gehilfen führt. Das 
spürt man deutlich bei der Besprechung der sozialpolitischen Fragen. 


Sozialpolitik. 


Während des Krieges wurden, wie in einem der letzten Chronikab- 
schnitte berichtet wurde, durch Abänderung des allgemeinen Bürger- 
lichen Gesetzbuches, welche durch Kaiserliche Verordnung erfolgte, 
einige sozialpolitisch wichtige Neuerungen geschaffen 11%). Sie be- 
trafen u. a. die Ansprüche des Arbeiters bei Krankheitsfällen. Dar- 
nach behält ($ 1154 b) der Dienstnehmer den Anspruch auf das Ent- 
gelt, wenn er nach mindestens I4tägiger Dienstleistung durch Krank- 
keits- oder Unglücksfall auf eine verhältnismäßig kurze, jedoch eine 
Woche nicht übersteigende Zeit an der Dienstleistung verhindert wird. 
Ebenso auch bei anderen unverschuldeten Verhinderungen infolge 
wichtiger, seine Person betreffender Gründe. Versicherungsbeiträge 
dürfen nur soweit in Anrechnung gebracht werden, als es der 
tatsächlichen Beitragsleistung des Arbeitgebers entspricht. — Diese Be- 
stimmungen sind aber nicht zwingenden Rechts, und daher propa- 
gierten die Arbeitgeberverbände den Ausschluß dieser Bestimmungen 
aus den Arbeitsverträgen 117). Die Lage des Arbeitsmarktes scheint 
aber diesem Bemühen im Wege gestanden zu sein, und ohne ernsthafte 
Konflikte hätten die Unternehmer diese Forderung kaum durchsetzen 
können. Verhandlungen der Arbeitgeberverbände und gewerkschaft- 
lichen Organisationen in der sozialpolitischen Abteilung des Handels- _ 
113) Oesterreichische gewerbliche Arbeitgeberzeitung, 30. VI. 1916. 

114) Oesterreichische gewerbliche Arbeitgeberzeitung, 22. XI. 1916. 

116) Der gewerbliche Arbeitgeber-Hauptverband wird zur Zeit von der Ge- 
meinde Wien, dem niederösterreichischen Landesausschuß, und der Handels- 
und Gewerbekammer Wien mit je 500 K. jährlich subventioniert. Oesterreichi- 
sche gewerbliche Arbeitgeberzeitung, 19. I. und 8. VI. 1916. 

116) Vgl. Archiv Bd. 42, S. 674 ff. 

117) Oesterreichische gewerbliche Arbeitgeberzeitung, 25. VII. r916. 








Die Unternehmerorganisationen. 1045 


ministeriums führten daher zu einem Kompromiß, das für die Dauer 
des Krieges und noch 6 Monate nach demselben Gültigkeit besitzt. 
Darnach gebührt die Fortzahlung des Lohnes dem Arbeiter erst vom 
dritten Tage der Krankheit angefangen und höchstens für die Dauer 
einer Woche !18), — Die Regelung ist also nur eine vorläufige. Doch 
dürfte sie auch in der Zeit nach dem Kriege beibehalten werden, wenn 
die Gesetzesbestimmung bei der noch notwendigen Verhandlung im 
Reichsrat keine Veränderung erfahren sollte. 

Ebenso erfolgte während des Krieges eine Erweiterung der Kran- 
kenversicherung durch Kaiserliche Verordnung ($ 14) 19). Die wesent- 
lichsten Bestimmungen bestehen in einer Neueinteilung, Vermehrung 
und Erweiterung der Lohnklassen (Wochenlohn von 7,50—45 K.); 
das Krankengeld wurde auf 60 Heller —5 K. täglich festgesetzt, so daß 
die Beiträge entsprechend erhöht werden mußten. Maßgebend für die 
Einteilung ist nicht mehr der ortsübliche Durchschnitt, sondern der 
tatsächlich erzielte Arbeitslohn, von dem das Krankengeld 60 % 
beträgt. Durch weitere Beiträge kann ein Krankengeld bis zu 75 % des 
Durchschnittslohnes gewährt werden. Familienversicherung ist als 
freiwillige Versicherung vorgesehen, kann jedoch durch den Minister 
des Innern für obligatorisch erklärt werden. Diese Mehrleistungen 
haben Beitragserhöhungen zur Folge; die Beiträge betrugen bisher 
ca. 4% % des Lohnes und werden in Hinkunft ca. 6% % ausmachen. 
Stillprämien werden neu eingeführt. Am wichtigsten jedoch ist die 
Berücksichtigung spezieller Verhältnisse: Es können Fonds für beson- 
dere Zwecke(Bekämpfung von Tuberkulose, Alkoholismus, Geschlechts- 
krankheiten) gebildet werden, mit besonderen Beiträgen, denen je- 
doch die Vertretungen der Arbeitgeber mit Mehrheit zustimmen 
müssen. — Bei Betrieben, welche den hygienischen Vorschriften nicht 
entsprechen, kann (auf Wunsch des Vorstandes, in welchem die Ar- 
beiter die Mehrheit haben) eine Erhöhung der Beiträge bis zu 50 % 
Platz greifen, die der Betriebsinhaber® allein zu tragen hat. 

Endlich ist für die Kassen die Möglichkeit vorgesehen, unterein- 
ander zur Realisierung größerer Pläne in Verbindung zu treten (z.B. 
zum Abschluß gemeinsamer Verträge mit Aerzten, Apotheken und 
Krankenkassen; zur Beschaffung von Heilbehelfen, zur Anlage von 
Heil- und Rekonvaleszentenanstalten, zur Anstellung gemeinsamer 
Beamter usw.). Von den Arbeitgebern werden weniger die neuen 
materiellen Leistungen bekämpft, als die Form der Organisation, wel- 
che den Vertretern der Gehilfen nach wie vor die Verwaltung der 
Kassen beläßt. 

Die sozialpolitischen Fragen wurden von den Arbeitgeberverbän- 
den, wie erwähnt, nicht zum Gegenstand prinzipieller Auseinander- 
setzungen gemacht. Das wird erst nach dem Kriege wieder einsetzen. 
Soweit die Gewerbetreibenden in Frage kommen, haben 
sie vielfach außerordentlich stark »umgelernte. Sie fassen sozialpoli- 

118) Oesterreichische gewerbliche Arbeitgeberzeitung, 31. I. 1917. 

119) Oesterreichische gewerbliche Arbeitgeberzeitung 31. I. 1917 und »Die 
Industrie«, 10. X. 1916. 


1046 Sozialpolitische Chronik. Die Unternehmerorganisationen. 


tische Forderungen mitunter als Mittel auf, um die Konkurrenz gegen 
den Großbetrieb besser führen zu können. So wenn z.B. die Bäcker- 
meister sich für das Verbot der Nachtarbeit erwärmen; der Meister 
habe die bessere Kontrolle der Arbeit während des Tages; er brauche 
den Gehilfen keine Schlafgelegenheit in seinem Hause zu geben; er 
spare an Licht und Kraft, er gewinne eine bessere Arbeitsqualität, 
erspare den Ersatzruhetag, könne leichter Lehrlinge heranziehen!?®). 
Eine solche Haltung schwächt natürlich die Gegnerschaft gegenüber 
den Gehilfen ab, darf aber, wie erwähnt, in der Bedeutung für die 
Zukunft nicht überschätzt werden. 

Von der ‚Tätigkeit der gewerblichen Arbeitgeberorganisa- 
tionen ist wenig zu berichten. Der Arbeitsnachweis, der in Wien ein- 
gerichtet ist, funktioniert außerordentlich spärlich 131) (das mag mit 
an der guten Arbeitsmarktkonjunktur liegen, bei welcher es eines Nach- 
weises für die Arbeiter nicht bedarf) und wird während des Krieges 
kaum zu größerer Tätigkeit gelangen. Alle diese Symptome der Schwä- 
che aber schließen nicht aus, daß die Organisationen unter günstigeren 
Bedingungen, d.h. bei einer kritischen Lage des Arbeitsmarktes und 
bei Erstarkung der Gewerkschaften nach dem Kriege wieder in die 
alten Bahnen einlenken und sich sehr rasch wieder auf die Interessen- 
solidarität mit der Industrie besinnen. Als Symptom für den inneren 
Zustand Oesterreichs im Kriege aber sollte jedenfalls auf diese Tat- 
sachen hingewiesen werden. 


120) „Die Industrie«, 5. IX. 1916. 
121) Er hat 1915 und bis 1. Februar 1916 im ganzen ca. 1500 Vermittlungen 
aufzuweisen! (Oesterreichische gewerbliche Arbeitgeberzeitung, 12. XI. 1915.) 


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