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Full text of "Archiv f die holldischen Beitre zur Natur- und Heilkunde"

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UCOMPARATIVE ZOOLOGY, 


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Library of tbe Museum 
AT HARVARD COLLEGE, CAMBRIDGE, MASS, 


Foundev bp private subscription, in 1861. 


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AS MHLN 


für die 


Hollängischen Beiträge 


NATUR- UND HEILKUNDE 


HERAUSGEGEBEN . 
F. @. DONDERS, W. BERLIN, 
Band II, 


—— —  ———ı yI———— 


Utrecht. 
KEMINK & ZOON. 
“” 1860. 


Paris: Leipzig: London: 
FR. KLINCKSIECK. T. 0. WEIGEL. WILLIAMS & NORGATE, 


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INHALTSVERZEICHNISS. 


Zum Wesen von Aadison’s Krankheit der Beinieren, nach Ver- 
anlassung einiger in dem städtischen Krankenhause in Rotter- 


dam beobachteten Krankheitsfälle, von Dr. F. J. J. Schmidt, 


früherem Assistenzarzte an diesem Krankenhause. 


Ueber eine Modifieation der Elementär-Analyse, von G. J. Mulder. 


Die Peptone, von G. J. Mulder. Sl 
* Notiz über die Bestimmung des Schmelzpunktes der Fette, von 
G. J. Mulder. . 42. 
Indigo als Reagens auf Trauben- und Fruchtzucker, von Dr. E. 
Mulder. ln AA. 
Anatomisches und Physiologisches über den Musculus Frontalıs , 
von H. J. Halbertsma. . Faylen= IS 
Gangrän als Indication zur Amputation, vonL.C.v.Goudoever. „ 9». 
Ueber ein Instrument zur Zerstörung der galvanischen Polarisation 
bei der Untersuchung thierischer Gewebe, nach H. Beins. TIER 
Spontane Evolution einer Vaccine-Pustel während des Verlaufes 
von Varioloiden, nach Dr. Merkus Doornik. 80. 
Einige Untersuchungen zum Beweise, dass Entzündung nur von 
dem arteriellen Systeme nn von J. L. C. Schroeder 
van der Kolk. ; ELOpL, all 
. Ueber die Structur der Wozlinge. von J. L. C. Schroeder 
van der Kolk. 92% 
Zur Kenntniss der einfachen Eierstockseysten und ihrer Behandlung , 
von Profr. A. E. Simon Thomas. 2,190. 
Ueber einige ausgestorbene riesenhafte Vögelarten von den Maca- 
renhas-Inseln, von H. Schlegel. N 
Ueber den Haarwechsel, von Dr. J. A. Moll. „149. 


„ 166. 
. 186. 


IV 


Eine kleine Modification in dem Gas-Ofen zur Erhitzung der 
Röhren bei Elementär-Analysen u. s. w., von G. J. Mulder. 


Ueber die Mirkung: der Musculi intercostales, von A. H. Schoe- 
maker. 


Beitrag zur Toxico-dynamischen Kenntniss des Santonins, von 
v. Hasselt und Rienderhofl.... 


Ueber Imbibition thierischer Membrane, von Dr. J. W. Gunning. 

Beiträge zur Physiologie des Acidum Uricum, nach Dr. B. J. 
Stokvis. 

Ueber die Weise worauf das schief-verengte Becken mit Ankylose 
eines ileo-sacral Gelenkes entsteht, von A. E. Simon Thomas, 
o. ö. Professor der Mediein in Leyden. . 

Ueber Eiweissdiffusion, von A. Heynsius. . . 2.2... 

Ueber den Tonus der willkührlichen Muskeln. von Dr. P. Q. 
Brondgeest. s : 

Ueber das Auffinden von Eon bei  Verete von Dr. E. 
Mulder. 

Natürliches und künstliches Phosphoreseiren von Fischen, von 
Dr. E. Mulder. 


Ueber die Wirkung der Respirationsmuskeln, namentlich der M. 
intercostales, von Dr. W. Koster, zweitem Proseetor an der 
Universität ın Leiden 


Ueber die Periodicität der Lebenserscheinungen, von A. Heynsius. 


Paralytische Symptome nach Diphteritis faucium, von F, C. Don- 


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Die Pepitone. 


G. J. MULDER. 


me na — 


In einem physiologisch-chemischen Lehreursus musste ich 
bei der Behandlung der Verdauung die Lehre der Peptone 
auseinandersetzen, welche noch nicht vollkommen entwickelt 
heissen kann. Bei dieser Gelegenheit machte ich einige Un- 
tersuchungen über dieselbe und entlehnte diesen Unter- 
suchungen folgende Notizen. 

In Nachfolgung von Lehmann nennt man diejenigen Sub- 
stanzen Peptone, welche bei der Verdauung aus den Spei- 
sen, die man zu sich genommen hat, entstehen. Ich will 
hier nur von den eiweissartigen sprechen.’ 
1°. Die einem Thiere als Nahrung zugeführten Eiweiss- 
körper sind in Wasser löslich oder unauflöslich. 

"Die in Wasser löslichen Eiweisskörper (nicht ceoagulirtes 
Eiweiss, Legumin, Käsestoff) werden bei der Digestion erst 
in unauflöslichen Zustand versetzt, um später wieder aufge- 
löst zu werden. Das Eiweiss wird nur, dann unauflöslich , 
wenn eine hinreichende Menge Salzsäure in dem Magen- 
safte vorhanden ist. 

Die unauflöslichen Eiweisskörper, welche zur Ernährung 
eines Thieres dienen können (Blut-Faserstoff, die Bestand- 
theile des Fleisches zum grossen Theile, eoagulirtes Eiweiss, 
' Beccaria’s Gluten) werden während der Verdauung in dem 


Magen oder dem Darmkanale aufgelöst. 
I. l 


Diejenigen, welche unaufgelöst bleiben (z. B. die Hornge- 
webe), sind keine Nahrungsmittel. 

2°. Auflösung ist nur Vorbereitung zur Verdauung; Ver- 
dauung ist die nach der Auflösung stattfindende Verwandlung, 
Peptonbildung. Auflösung geschieht mit Beibehaltung aller 
Eigenschaften mit Ausnahme des Aggregatzustandes; bei 
der Umsetzung dagegen gehen wenigstens einige dieser Ei- 
genschaften verloren, während neue an ihre Stelle kommen. 

Auflösung eines Eiweisskörpers in verdünnter Salzsäure 
beruht auf einer chemischen Verbindung dieses Körpers 
mit der Säure. Diese Verbindung ist unauflöslich in wenig 
Wasser; darum präeipitirt z. B. Salzsäure das Eiweiss. In 
einer grossen Menge Wassers ist sie dagegen auflöslich ; 
ein Präeipitat durch Salzsäure in Eiweiss verursacht, wird 
durcli Hinzufügung von vielem Wasser wiederum gelöst 1). 

Wenn man einen in Wasser auflöslichen Eiweisskörper 
mit verdünnter Salzsäure digerirt, so wird erst eine chemi- 
sche Verbindung mit Salzsäure gebildet, die in wenig Was- 
ser auch unauflöslich ist, aber in dem vielen Wasser der 
verdünnten Salzsäure zur Lösung kommen kann. 

Wenn dies nicht alsbald geschieht, so ist die Lösung, 
welche später zu Stande kommt, keine einfache Lösung mehr, 
sondern auch Verdauung, d. h. das Ganze ist umgesetzt durch 
eine Verschiebung der Molekeln eines gewissen Theiles des 
Eiweisskörpers, der als Verdauungsstoff auf den übrigen 
Theil einwirkt und ihn mit Verlust einer grösseren oder ge- 
ringeren Menge der ursprünglichen Eigenschaften dieses Ei- 
weisskörpers zur Lösung. bringt. 

Einfache Auflösung findet nur dann statt, wenn sie schnell, 
d. h. sogleich geschieht, wenn nämlich der Eiweisskörper 
fein vertheilt wird. 

Was in Salzsäure erst nach einigen Stunden aufgelöst 
wird, ist stets mehr oder weniger chemisch verändert. Es 
sind nicht mehr alle ursprünglichen Eigenschaften, oder einige 
wenigstens nicht mehr so deutlich vorhanden. 


1) Natuur- en Scheik. Archief, Deel 5, p. 221. Bulletin 1839, p. 21. 


3 


Die Auflösung wird bei allen unauflöslichen Eiweisskör- 
pern — auch wenn sie in einer verdünnten Säure (Salzsäure) 
gelöst werden können — sehr befördert durch eine sich in 
Bewegung befindende- Mischung (Pepsin); aber — obgleich 
hierbei stets chemische Veränderung stattfindet, so ist diese 
Veränderung unmittelbar nach der Auflösung doch nur sehr 
unvollkommen entwickelt. 

Ein nur aufgelöster Eiweisskörper ist ihn kein wahres 
Pepton, auch wenn die Lösung in Magensaft statt gefunden 
hat; man findet in dem nur aufgelösten Körper viele Eigen- 
sähaften des ursprünglichen Körpers zurück. 

3°. Man muss wohl unterscheiden zwischen dem, was das 
Studium der in dem Magen und dem Darmkanale gebildeten 
Stoffe, und dem, was das Studium der kunstmässig (möge 
dies nun durch natürlichen oder artifieiellen Magensaft ge- 
schehen sein) verdauten Stoffe über die Peptone lehrt. 

Die Substanzen, welche in dem Magen und dem Darmka- 
nale in Peptone übergeführt werden, werden nur theilweise 
verändert, während sie einem fortwährenden Ortswechsel 
ausgesetzt sind. Darum sind diese Substanzen nicht einfach, 
sondern sehr gemischt, sogar bis zum Augenblicke, dass ihr 
letzter Rest verdaut, d. h. in Pepton übergeführt ist. Ihre 
Untersuchung ist mithin vom chemischen Standpunkte aus 
unvollkommen und muss stets zur Erhaltung eines unvollkom- 
menen Bildes führen, das aus Rigenschaften von nur einfach 
gelösten, mit Eigenschaften von chemisch veränderten, in Peptone 
übergeführten Bestandtheilen gemischt ist. 

Nur die mit natürlichem oder kunstmässig bereitetem Ma- 
gensafte gut ausgeführten Versuche können zur Kenntniss 
der wahren Peptone leiten, weil man dieselbe chemischen, 
zu verdauenden Substanzen, unter bekannten Verhältnissen , 
in jeder Phase ihrer Veränderung bis zum Ende verfolgen 
kann. Kunstmässig kann man reine Peptone erhalten; aus 
dem Magen und dem Darmkanale erhält man sie nie. 

Eine grosse Schwierigkeit ist aber auch hierbei in dem Um- 
stande gelegen, dass man nämlich genau zu bestimmen hat, 
wie weit die chemische Veränderung bei kunstmässigen Ver- 

1* 


4 


suchen vorschreiten darf, um mit der in dem Darmkanale 
stattfindenden gleich gesetzt werden zu können. — Man kann 
bei diesen Versuchen die chemische Veränderung leicht zu 
weit vorschreiten lassen, und ohne eine Spur von faulender 
Zersetzung hervorzurufen, die Verschiebung der Theilchen 
srösser werden lassen, als sie im Darmkanale ist. 

Es scheint, dass die genaue Kenntniss von dem Maass der 
chemischen Veränderung in dem Darmkanale nicht erhalten 
werden kann. In dem Magen selbst geschieht meistens keine 
völlige Auflösung der Eiweisskörper, und daher nur eine sehr 
beschränkte Veränderung in Peptone. Der Mageninhalt, oder 
die Substanzen, welche man bei Versuchen mit natürlichem 
Magensafte in dem Magen selbst erhält, können nur über 
Auflösung und beginnende Peptonbildung Aufschluss geben. 
Erst in dem Darmkanale kommt die Peptonbildung vollends 
zu Stande; was aber in absorptionsfähigen Zustand versetzt 
ist, verschwindet schnell aus dem Darmkanale, und lässt 
dasjenige zurück, was noch weitere Veränderungen erfahren 
muss. 

Darum glaube ich, dass man berechtigt ist, durch kunst- 
mässige Peptonbildung Substanzen hervorzubringen, welche 
das Maximum der chemischen Veränderung erfahren haben, 
das man an den natürlich verdauten Substanzen kennen ge- 
lernt hat, jedoch mit Erhaltung der vollkommenen Frisch- 
heit dieser Substanzen. | | 

Die Weise, worauf eine Substanz osmosirt, kann vielleicht 
als Diagnosticum dienen für die Peptonbildung. Was Pepton 
geworden ist, geht leicht durch die Membranen hindurch, 
was noch nicht so weit in der chemischen Veränderung vor- 
geschritten ist, dringt dagegen nicht so leicht durch. Daher 
findet man in den Magen mit Magenfisteln so wenig wahre 
Peptone, denn was hinreichend verändert ist, verschwindet 
aus dem Magen mit Hinterlassung der noch zu verändernden 
Theile. 

4°. Die Peptone sind noch nicht genau charakterisirt, 
und werden auch vorerst bei der höchst ungenauen Kennt- 
niss dieser Körper nicht näher charakterisirt werden. 


5 


Ein Eiweisskörper kann bei der Verdauung anfangs eine 
Eigenschaft, bei fortgesetzter Verdauung eine zweite, eine 
dritte verlieren, durch welche er als Eiweisskörper charakte- 
risirt wird. Je nachdem die Verdauung fortschreitet, gehen 
die Eigenschaften der gewöhnlich sogenannten Eiweisskörper 
verloren. 

Die Eigenschaften, welche bei der Verdauung eingebüsst 
werden, folgen bei den verschiedenen Arten von Eiweisskör- 
pern, welche wir kennen, nicht stets in derselben Reihen- 
folge. Auch die Zeit, welche erfordert wird, um eine oder 
mehrere Eigenschaften während der Verdauung zu verlieren, 
ist von sehr verschiedener Dauer. 

Legumin (von grauen Erbsen, ungekocht) verliert sie am 
leichtesten von allen folgenden zu vermeldenden Körpern, und 
zwar schon vollkommen durch eine verdünnte Säure (Salz- 
säure), Käsestoff gleichfalls; coagulirtes Hühnereiweiss und 
Beecaria’s Gluten am schwersten ; zwischen beiden genannten 
Stoffen befindet sich das Blutfibrin und der Eiweisskörper 
im Muskel. Die Körper der zweiten Reihe erfordern viel- 
leicht zur Bildung von wahren Peptonen ausser der verdünn- 
ten Säure noch eine Gruppe in Bewegung; die der dritten 
Reihe können auch durch Säure allein in Peptone überge- 
führt werden, aber jedenfalls sehr langsam. 

Die nähere Aufklärung des hier Vermeldeten folgt unten 
bei der Mittheilung der Versuche. 

5°. Alle verdauten Körper, welehe zu wahren Peptonen 
umgebildet sind, werden aus ihrer verdünnten Säurelösung 
nicht niedergeschlagen durch: 

Kochen. 

Alkohol. 

Salpetersäure. 

Carbonas ammoniae. 
Acetas plumbi neuter. 
Gelbes Blutlaugensalz !). 
Sulphas sodae. 


1) Wenn man die Salzsäure durch Acetas potassae neutralisirt, und 
B 


6 


Zum besseren Verständnisse sei folgende Regel angenom- 
men: 

So lange eines der genannten Reagentien noch einen Nie- 
derschlag hervorruft, ist die Peptonbildung noch nicht 
völlig abgelaufen. (Wir hätten noch mehr Reagentien an- 
führen können, haben uns aber auf diejenigen beschränken 
zu müssen geglaubt, welche den Unterschied zwischen einfach 
gelösten und chemisch veränderten Eiweisskörpern angeben. 

Die angenommene Regel ist aber keine willkührliche, denn 
bei fortgesetzten aber keineswegs zu weit getriebenen Ver- 
dauungsversuchen können alle verdaulichen Eiweisskörper alle 
genannten Eigenschaften eingebüsst haben. 

Die Spuren eines Präeipitates, welches dennoch mitunter 
in Lösungen von wahren Peptonen durch Alkohol, Carbonas 
ammoniae, Acetas plumbi hervorgerufen werden, kommen 
auf Rechnung von anorganischen Salzen, z. B. von phos- 
phorsaurem, schwefelsaurem oder kohlensaurem Kalke. 

6°. Die. durch Säuren einfach gelösten Eiweisskörper, wel- 
che z. B. durch Salzsäure bei der Digestions-Temperatur ge- 
löst worden sind, werden niedergeschlagen durch: 

Salpetersäure. 

Carbonas ammoniae. 

Acetas plumbi neuter. 

Gelbes Blutlaugensalz. 

‚ Sublimat. 

Sulphas sodae. 
Hierbei kommen aber Verschiedenheiten vor, je nach der 
Art des ursprünglichen Eiweisskörpers (Siehe weiter unten). 

Alkohol kann hier keinen Niederschlag verursachen; die 
salzsaure Eiweissverbindung ist in verdünntem Alkohol auf- 
löslich. 

7°. Die Eigenschaften der Auflösungen von Eiweisskörpern 

»in verdünnter Salzsäure, zeigen Verschiedenheiten: 1°. je 
nachdem die ganze zum Versuche verwendete Menge anfgelöst 


etwas Essigsäure frei gemacht hat, so fehlt dem gelben Blutlaugen- 
salz noch die Eigenschaft, um wahre Peptone zu präeipitiren. 


7 


und die Lösung noeh einige Zeit darauf digerirt ist oder 2°. je 
nachdem man die Masse während der Lösung auf das Fillrum 
bringt, und dasjenige, was durchfiltrirt, der Untersuchung un- 
terwirft. 

Wichtiger ist, dass nur wenige Peptone (d. h. nicht nur 
aufgelöste, sondern auch chemisch veränderte Substanzen) , 
alle Eigenschaften in sich vereinigen, welche Peptone haben 
können (negative, im Gegensatze zu den ursprünglichen Ei- 
weisskörpern,, aus denen sie entstanden sind) so lange von 
dem ursprünglichen Eiweisskörper noch elwas unaufgelöst ge- 
blieben ist. 

Ja bei vollkommener Lösung sind den Peptonen noch ur- 
sprüngliche Substanzen beigemischt, welche erst chemisch 
verändert werden müssen, ehe man wahre Peptone erhält. 

Daher rühren die abweichenden Angaben über die Eigen- 
schaften der Peptone bei den verschiedenen Beobachtern, 
welche mehr übereinstimmend gewesen sein würden, wenn 
die Versuche lange genug fortgesetzt worden wären. Daher, 
kommt es auch, dass man nie ganz reine Peptone im Darm- 
kanale antrifft, sondern nur gemischte Substanzen, worunter 
vorzüglich nur aufgelöste, weil die chemisch veränderten als- 
bald durch Osmose aus dem Darmkanale_ verschwinden, die 
zur weiteren Veränderung geschickten nur aufgelösten Sub- 
stanzen hinterlassend. 

8°. Die durch artificiellen Magensaft gut gebildeten Peptone 
werden alle niedergeschlagen — ebenso wie die ursprüngli- 
chen nur in Salzsäure gelösten Eiweisskörper — durch: 

Chlorwasser im Ueberschuss. 
Acidum tannicum. 
Zu diesen zwei Reactionen, welche nie bei wahren Peptonen 
fehlen, gesellen sich noch drei andere: 
Das Rothwerden durch Millon’s Reagens (nitras pro- 
todeutox. hydrargyri); 
‚Das Orangewerden durch concentrirte Salpetersäure 
und Ammonia : 
und Das Präcipirtwerden durch Sublimat. 
Die dritte und vierte Reaction werden, was die Intensität 


8 


der Farbe anbetrifft, bei der fortschreitenden Veränderung 
zu Peptonen schwächer; da ich sie jedoch in ganz frischen 
chemisch veränderten Substanzen nie fehlen sah, und da es 
unbekannt ist, wie weit die chemische Veränderung der 
Eiweisskörper in Darmkanale geht, so lasse ich es unent- 
schieden, ob es zu den Kennzeichen von Peptonen gehört, 
dass sie auf diese beiden Reagentien kräftig oder schwach rea- 
siren; ich nehme diese beiden Reactionen aber unter die 
Kennzeichen von wahren Peptonen auf, d. h. meine Versu- 
che sind nur so lange fortgesetzt worden, dass sie mir stets 
die beiden Reactionen deutlich zeigten; Millon’s Reagens 
rief aber mehr als einmal keine Farbenveränderung her- 
vor, ohne dass eine Spur von Fäulniss vorhanden war. 
Endlich Sublimat. Bei den weiter unten folgenden Versu- 
chen sind die Reactionen angegeben, welche in den gleieh- 
mässig einfach mit Salzsäure oder mit künstlichem Magen- 
safte behandelten Eiweisskörpern auftraten. Mitunter blieb 
die Reaction auf Sublimat aus. Wo das geschah, ist es 
zur Vergleichung der bloss gelösten mit den in Peptone ver- 
änderten Körpern ausdrücklich vermeldet.: Wenn man aber 
eine solche Flüssigkeit mit Kali sättigt, und sie dann mit 
etwas Essigsäure schwach ansäuert, so werden alle wahren 
Peptone durch Sublimat präcipitirt. Die Salzsäure kann mit- 
hin das Ausbleiben dieser Reaction bewirken. | 
Darum glaube ich als Eigenschaften der Eiweiss-Peptone 
vorerst aufzählen zu müssen: eine orange Farbe durch Ein- 
wirkung von Salpetersäure und Ammoniaizu erhalten; durch 
Nitras proto-dentox. hydrargyri roth gefärbt zu werden; Prä- 
cipitation durch Chlor und Ac. tannicum, auch wenn die 
Lösung nur schwach sauer ist; Präeipitation durch Sublimat 
aus neutraler oder mit Essigsäure schwach angesäuerter 
Lösung. 
Keine Fällung durch gelbes Blutlaugensalz aus einer mit 
Essigsäure schwach angesäuerten Lösung; keine Fällung aus 
der schwach sauren Lösung von Salzsäure durch Acetas 
plumbi neuter, Salpetersäure, Sulphas sodae, Carb. ammoniae. 
Soviel über einige einfachen Kennzeichen; weiter unten las- 


Re) 


sen wir mehr Details über das Verhalten von wahren Peptonen 
folgen; bei dem Studium der Veränderungen, welche die 
verdaulichen Eiweisskörper während der Digestion erleiden, 
fühlt man das Bedürfniss an einigen allgemeinen uud einfa- 
chen Kennzeichen, um zu unterscheiden, ob sie alle diesen 
Kennzeichen gehorchen oder nicht. 


Nach diesen allgemeinen Bemerkungen mögen besondere 
folgen. 

Die Versuche mit natürlichem und künstlichem Magensaft 
haben ergeben, dass man bei der Bereitung von Peptonen 
letzteren ohne Nachtheil benutzen kann. Ich habe zu dem 
Zwecke frische Schweinemagen mit Wasser ausgespült, die 
Labdrüsen mit ihrem Inhalte abgekratzt, und das so von 
einem Magen Erhaltene in 1,5 Liter destillirtes Wasser 
sethan, worin 1,5 C.C. reine Salzsäure war, und diese 
Masse endlich 5 Stunden lang bei 15° C. digerirt. So 
erkielt ich eine klare farblose Flüssigkeit, in welcher Chlor 
und Ac. tannieum nichts niederfällten; nach Erwärmung 
mit concentrirter Salpetersäure, und darauf erfolgter Hinzu- 
fügung von Ammonia entstand keine Spur von einer gelben 
Farbe; Erwärmung mit proto-deutox. hydrargyri rief nur 
mitunter eine sehr schwache Spur einer röthlichen Färbung 
in einer solchen Flüssigkeit hervor. 

Als verdünnte Säure wurde 1C.C. Salzsäure auf 1000 0.C. 
Wasser benutzt; wo wir hiervon abwichen, ist es besonders 
vermeldet worden. Bei den künstlichen Verdauungsversuchen 
wurde eine grosse Menge Flüssigkeit, Säure oder Verdau- 
ungsflüssigkeit genommen, wodurch sowohl die Auflösung 
als die chemische Veränderung zu Peptonen sehr befördert 
werden. 

Bei den meisten Versuchen erwärmten wir bis auf unge- 
fähr 40° C. Mitunter habe ich mich nicht gescheut die Ver- 
suche lange fortzusetzen; denn auch in dem Darmkanale werden 
sie lange fortgesetzt. — Ich habe es aber stets vermieden , 


10 


mit einer Flüssigkeit zu experimentiren, welehe durch ihren 
Geruch auch nur die geringste Spur von Fäulniss verrieth. 
Innerhalb vier Tage hat man letztere aber noch nicht zu er- 
warten, und länger dauerten die Versuche gewöhnlich nicht. 
Nur 8 von den 24 Stunden betrug die Temperatur, der die 
Verdauungsflüssigkeit ausgesetzt war, 40° C., sodass im 
Ganzen die Eiweisskörper nur während 32 Stunden dieser 
Temperatur ausgesetzt waren. 

Man könnte hiergegen einwenden, dass die so erhaltenen 
Resultate nicht mit dem Vorgange in dem Darmkanale gleich- 
gestellt werden können; man bedenke aber, dass die bei 
den Versuchen benutzten Substanzen frisch und geruchlos 
blieben, und dass in dem Darmkanale die chemische Verän- 
derung nothwendigerweise schneller vor sich gehen muss, 
wegen der steten Veränderung und Erneuerung der verschie- 
denen wirksamen Agentien. Die Unmöglichkeit, bei den 
Versuchen das Verdaute in dem Grade zu entfernen, als es 
gebildet wird, lässt den Process langsamer vor sich gehen; 
denn die bereits veränderten Substanzen werden die noch 
zu verändernden und die auf die Veränderung einwirkenden 
umhüllen. Darum ist es zur Erhaltung von wahren Peptonen 
‚am besten, das Gelöste von dem noch Ungelösten von Zeit 
zu Zeit zu trennen, und beide der weiteren Umsetzung zu 
unterwerfen. 

Ausserdem aber wird die Lösung und die chemische Wir- 
kung in dem Darmkanale noch durch die dem Ganzen mit- 
getheilte fortwährende Bewegung und auch schon durch das 
mechanische Kneten befördert; dies wird man bei Versuchen 
nicht leicht nachahmen können. 

Hiermit ist hinreichend erklärt, dass die künstlichen Ver- 
suche, welche mitunter eine sehr lange Zeit zur völligen 
chemischen Veränderung in Anspruch nehmen, nieht zu dem 
Sehlusse berechtigen, dass viele Substanzen in dem Darm- 
kanale unverdaut (d. h. nicht in wahre Peptone übergeführt) 
bleiben; dass weiterhin das Resultat der künstlichen Verdau- 
ungsversuche nicht wesentlich von dem Vorgange in dem 
Darmkanale abweicht. 


79 


Ich kann, was die Zeit für künstliche Verdauungsversu- 
che betrifft, noch an die Versuche von Wehsarg und Marcet!) 
erinnern, nach welchen Fleisch und Fett in 48 Stunden den 
Darmkanal zu durehwandern scheinen, während Trauben- 
kerne 3—4 Tage, Beeren 68 dazu bedürfen; wir glauben 
mithin, dass bei unseren Versuchen, welche nur während 52 
Stunden bei 40°C. und während der übrigen 64 Stunden 
bei 10—15° C. gemacht wurden, die Gefahr, um die chemi- 
sche Veränderung weiter fortzusetzen als sie in dem Orga- 
nismus geschieht, nicht zu befürchten war. 

Beccaria’s Gluten. Das Vorkommen von 4°/, Gluten und 
96°,, Elastin in dem Gluten (von Weizen) ?), muss mit ei- 
ner von Cnoop Koopmans?) gemachten Beobachtung in 
Zusammenhang gebracht werden. 
 Kochender Alkohol löst 4°/, Glutin aus dem rohen Gluten. 
Wenn man aber rohes Gluten bei 40°C. nur mit Salzsäure 
& "ıooo digerirt, so sieht man, wie das rohe Gluten schon nach 
einigen Stunden weniger fest zusammenhängt; die 4°/, Gluten, 
welche das Ganze fest vereinigte, sind in der Säure gelöst, 
während das Elastin vorerst unaufgelöst zurückgeblieben ist. 
Es macht die Flüssigkeit trübe. 

Der in Alkohol leichtlösliche Bestandtheil des Glutens, das 
Glutin, wird mithin auch in einer verdünnten Säure leicht 
aufgelöst. 

Zur schnellen Vertheilung des Elastins reicht mithin die 
verdünnte Säure des Magensaftes hin, welche die 4°/, Gluten 
auflöst. Zur Lösung desselben sind andere Momente erfor- 
derlich. 

Es wird indessen bei längerer -Digestion auch einfach 
durch verdünnte Salzsäure & !/ın eine grosse Menge Elastin 
aufgelöst. Rohes Gluten von Weizen, das durch wiederholte 
und lange Behandlung mil kochendem Alkohol von seinem Gluten 
befreil war, fing alsbald an in verdünnter Salzsäure anzu- 


1) Donders, Physiologie des Menschen, I, 8. 265. 
2) Scheik. Verh. en Onderz. I. Het bier, p. 65. 
3) Archiv f. d. holl. Beitr. S. 1 u. folgende 1857. 


12 


schwellen, und zeigte in der klaren Flüssigkeit nach einigen 
Tagen die sub 6°. genannten Reactionen in sehr reichlichem 
Maasse. . 

Hier weicht meine Beobachtung von derjenigen ab, welche 
Cnoop Koopmans mitgetheilt hat. Das Gluten doch war 
. während einiger Tage und zu wiederholten Malen mit ko- 
chendem Alkohol behandelt. 

Die klare Lösung verrieth Eigenschaften, welehe anderen 
Eiweisskörpern, die durch Digestion mit verdünnter Salz- 
säure gelöst sind, abgehen. So entsteht durch eine geringe 
Menge Carb. ammoniae ein reichlicher Niederschlag, der im 
Uebermaass des Fällungsmittels nieht wieder aufgelöst wird. — 
Ebenso verhält sich Sulphas sodae; eine geringe Menge ver- 
ursacht ein bedeutendes Präeipitat, das nicht aufgelöst wird, 
wenn man mehr Sulph. sodae hinzufügt. 

Ich darf aber hierbei nicht unerwähnt lassen, dass noch 
eine sehr grosse Menge Elastin unaufgelöst geblieben war, 
welche in der Flüssigkeit, worauf reagirt wurde, als gelati- 
nöse, schwammige, sehr geschwollene Theile vorhanden war. 
Hier gilt natürlich, was sub 7°. ausdrücklich bemerkt wurde. 

Wenn auch die grösste Masse des rohen Glutens — das 
Elastin — träge, darum aber doch nicht gerade in geringer 
Menge in verdünnter Salzsäure aufgelöst wird, wenn auch 
für ihre Lösung ‚das in Bewegung verkehrende Gemisch 
(Pepsin) nicht gerade nöthig ist, so wird doch wohl ohne 
dieses Gemisch kein wahres Pepton aus demselben ge- 
bildet }). 

Unter denselben Umständen, worunter der vorige Versuch 
genommen war, und zu derselben Zeit wurde ein zweiter 
Theil des mit Alcohol gekochten Glutens mit Verdauungsflüs- 
sigkeit digerirt. | 

Nach wenigen Stunden fiel die ganze Menge als eine feine 
Masse aus einander, und gab nach längerer Digestion, die 
oben sub 5°. und 8°. erwähnten Reaetionen von Peptonen 


1) Ich sage vielleicht, denn ich habe den Versuch nicht so lange fort- 
gesetzt. 


13 


und zwar in der klaren filtrirten Flüssigkeit. Gelbes Blut- 
laugensalz präcipitirte die Flüssigkeit nicht, auch nicht nach 
Hinzufügung von Acetas potassae; Sublimat dagegen wohl, 
und zwar nach der Neutralisation der Flüssigkeit (S. 3). 

- Gekochtes Gluten von Weizen kann daher in dem Magen ge- 
löst werden; die Lösung aber erfordert so viel Zeit, dass sie 
wahrscheinlich nicht völlig in dem Magen zu Stande kommt. 
Das Glutin wird gewiss in dem Magen gelöst, während Elastin 
auseinanderfällt; diese auseinandergefallenen Theilchen werden 
ausgedehnt, gelatinös, zum Theile gelöst, während das Uebrige 
wahrscheinlich erst im Darmkanal in Pepton verwandelt wird. 

Mit Bezug auf die grosse Länge des Darmkanals bei den 
Herbivoren, habe ich die daran beantwortende Function, um 
das Eiweiss aus der Pflanzennahrung auszuziehen !), schon 
früher hervorgehoben; ich füge jetzt noch die Function hin- 
zu, um das schwer verdauliche Elastin aufzulösen und in 
Pepton zu verwandeln. 

Wer Versuche über die Löslichkeit des Hauptbestandthei- 
les im rohen Gluten in verdünnter Salzsäure nehmen will, 
wird wohl daran thun, das Gluten erst in Alkohol zw ko- 
chen; man bekommt dann klare Flüssigkeiten bei der Anwen- 
dung von Salzsäure (sowie von Salzsäure und Pepsin); Gluten, 
das nicht vorher in Alkohol ausgekocht ist, giebt dagegen mit 
Salzsäure behandelt, keine klare Flüssigkeit, auch nicht wenn 
sie filtrirt wird. Liebig, Frerichs und Koopmans haben 
dies schon angegeben; ich fand die Flüssigkeit noch trübe, 
nachdem sie viele Tage lang digerirt worden war. Bei der 
Anwendung von Verdauungsflüssigkeit kann man dagegen, 
nachdem das rohe Gluten während einiger Zeit digerirt 
worden, durch Filtration eine klare Flüssigkeit erhalten. 

Wie et dies zu deuten? Wir haben schon Gelegenheit 
gehabt zu bemerken, dass bei den Versuchen, welche mit in 
Alkohol ausgekochtem und von Glulin befreitem Gluten genom- 
men werden, wobei es einige Tage lang bei der Digestions- 
temperatur der Einwirkung der künstlichen Verdauungsflüs- 


1) Phys. Chem. S. 1076. 


14 


sigkeit ausgesetzt war — dass bei diesen Versuchen ein 
grosser Theil des Elastins unaufgelöst geblieben ist. Dasselbe 
nun findet bei den Versuchen statt, welche mit frischem 
rohen Gluten genommen wurden. | 

In den Versuchen mit in Alkohol ausgekochtem Gluten ist 
aber das Gluten, dieser klebrige Bestandtheil, entfernt; die 
unaufgelösten Elastintheilchen können mithin sinken oder 
durch Filtration abgetrennt werden. 

Wenn aber dieses klebrige Glutin nicht entfernt worden 
ist, wie dies der Fall ist bei den Versuchen mit frischem 
Gluten, so wird es wohl zuerst in Salzsäure gelöst, aber 
dabei noch nicht in Pepton verwandelt, und dann macht die- 
ses glutinöse Glutin die Flüssigkeit mit den darin enthalte- 
nen Elastintheilchen trübe, gerade so wie Leim, Gummi u.s. w. 
feine Theilchen in Flüssigkeiten suspendirt erhalten. Glutin 
hat nicht allein den Namen Pilanzenleim, sondern :ıst es auch 
wirklich. Gummi suspendirt gerbsaures Eisenoxyd in Dinte; 
gummihaltende trübe Flüssigkeiten werden nicht klar durch 
Filtration. | 

Je nachdem man nun das Glutin, das zu 4°/, in dem 
Gluten enthalten ist, durch Auskochen des rohen Glutens mit 
Alkohol entfernt hat oder nicht, wird man eine klare oder 
trübe Flüssigkeit unter den obenerwähnten Umständen erhalten. 

Eine gewisse Menge Beecaria’s Gluten ward mit Wasser 
und "oo Salzsäure, eine andere Menge mit künstlicher Ver- 
dauungsflüssigkeit bei 40°C. digerirt. Bei diesen beiden Ver- 
suchen sahen wir das Gluten in feine Theilchen zerfallen und 
zwar am schnellsten bei dem letzten, die Flüssigkeit wurde 
trübe und auf dem Boden war ein Niederschlag. Nach 4 
Tagen war die Flüssigkeit in dem zweiten Versuche zum 
grossen Theile gelöst, sodass eine ganz brauchbare klare 
Flüssigkeit abfiltrirt werden konnte; die Flüssigkeit des er- 
sten Versuches dagegen, in welcher der Bodensatz bedeutend 
geblieben war, blieb, nachdem sie durch das Filtrum hin- 
durch getreten war, milchweiss. 


DELAMS: 


15 


% 


Daher wird sowohl Glutin als Elastin in verdünnter Salz- 
säure, wie in künstlicher Verdauungsflüssigkeit träge gelöst, 
und kann daher in diesen Flüssigkeiten nur langsam in 
Pepton verwandelt werden, welcher Verwandlung doch die 
Lösung vorhergehen muss. 

Das Glutin scheint nur sehr langsam in Pepton verwan- 
delt zu werden, da die Flüssigkeit lange trübe bleibt. 

Cnoop Koopmans hat den Vorgang der Digestion von 
frischem rohen Gluten in verdünnter Salzsäure sehr richtig 
beobachtet, und wiewohl er nieht daran gedacht hat, dass 
mehr als ein Eiweisskörper in diesem rohen Gluten vorkommt, 
so ist das von ihm Beobachtete doch sehr genau beschrie- 
ben !). — Nach Digestion mit verdünnter Salzsäure fällt die 
Masse auseinander, unter dem Mikroskope zeigen die kleinen 
Molekeln keine genau bestimmbaren Formen, aber nach Hin- 
zufügung von Ammonia „wurden (unter dem Mikroskope) 
„die nebeligen Formen gewissermaassen fixirt; es entstanden 
„ziemlich regelmässige, gut begrenzte, äusserst kleine Kü- 
„gelehen; am Rande des hinzugefügten Tropfens war der 
„Uebergang von nebeligen zu begrenzten Molekülen ganz 
„deutlich; darauf folgte die Lage scharf umschriebener Kü- 
„gelehen und endlich die alkalische Flüssigkeit, worin das 
„Gluten nun ohne irgend eine Trübung aufgelöst war.” Deut- 
licher könnte wohl kaum gesagt sein, dass die saure Flüssig- 
keit die festen Theilchen schwammig ausgedehnt hatte, dass 
an der Stelle, wo die Säure durch Ammonia neutralisirt 
wurde, die ausgedehnten Molekeln zusammengezogen, und dass 
diese alsbald aufgelöst wurden, wenn das Alkali vorherrschte ?). 


DIE LACNSENE, 

2) Wenn es in unserer Absicht läge, der Verwandlung der Eiweiss- 
körper im Darmkanale Schritt für Schritt zu folgen, so hätten wir 
hier die Wirkung der alkalischen Galle, der alkalischen Pancres- 
flüssigkeit, des alkalischen Dickdarmsecretes zu besprechen; diese 
alkalischen Flüssigkeiten lösen die halberwege gelösten, schwammig 
angeschwollenen Molekülen der zu verdauenden Eiweisskörper leicht, 
während sie in dieser Lösung nun durch andere Gemische in Be- 
wegung verwandelt werden. 


16 | 


Koopmans hat die sichtbare Anschwellung der ganzen 
„Masse des Glutens wie bei dem Fibrin’” nicht beobachten 
können, weil er sich bei seinen Versuchen von frischem 
rohen Gluten bediente. Ist das Gluten aber erst in Alkohol 
ausgekocht worden, so bekommt man diese Anschwellung bei 
Anwendung von Salzsäure sehr schön; während das Fibrin 
aber unter den Augen anschwillt, bedarf das Elastin dazu 
einiger Zeit. | 

Frisches rohes Gluten fällt mithin in verdünnter Salzsäure 
und in Verdauungsflüssigkeit auseinander; Gluten, das durch 
Kochen in Alkohol von seinem Glutin befreit worden ist, 
schwillt in verdünnter Salzsäure zu einer gelatinösen Masse, 
an, und fällt in Verdauungsflüssigkeit ebenfalls auseinander. 

Koopmans konnte, ebenso wie Andere vor ihm, kein ’rei- 
nes Pepton von Gluten (und Eiweiss) erhalten; uns ist dies 
jedoch gelungen; es kommt hierbei bloss auf die Zeit an, 
während welcher das Gluten digerirt wird. 

Rohes Gluten wurde mit künstlicher Verdauungsflüssigkeit 
bei 40°C. digerirt; nach einigen Tagen wurde eine neue Menge 
Verdauungfllüssigkeit hinzugefügt, was noch einmal wieder- 
holt wurde — welche Verfahrungsweise bei schwerverdauli- 
chen Körpern sehr zu empfehlen ist, da sie die Einwirkung 
sehr befördern hilft, denn die Mischung in Bewegung (Pepsin) 
kann erschöpft oder verbraucht werden, wenn viel zu ver- 
dauen ist, und dann wird die Wirkung durch eine neue 
Menge wieder aufgeweckt. | 

Das so erhaltene klare gelöste und chemisch veränderte 
rohe Gluten wurde durch Chlor und Acidum tannieum in be- 
deutendem Maasse präcipitirt, reagirte deutlich auf Millon’s 
Reagens und auf Salpetersäure plus Ammonia, während Carb. 
ammon., Sulphas sodae, Salpetersäure, elle Blutlaugensalz 
mit Acetas potassae oe S. 8) oder Acetas plumbi keine - 
Spur von Präeipitat bewirkten; Sublimat verursachte eine ge- 
ringe Fällung in der schwach sauren Flüssigkeit. 

Nachdem die Säure aber durch Alkali gesättigt und ein 
Tropfen Essigsäure hinzugefügt worden war, verursachte 
Sublimat ein reichliches Präeipitat. 


17 


Die Peptone von rohem Gluten und von Gluten, das erst 
mit kochendem Alkohol behandelt worden ist, verhalten sich 
mithin auf dieselbe Weise; sie sind beide wahre Peptone. 

Zwischen dem Keimen von Getreiden und ihrer Verände- 
rung bei der Verdauung besteht eine gewisse Uebereinstim- 
mung. Bei dem Keimen und bei der Digestion entstehen 
Dextrin und Zucker aus Amylum; überdiess aber — und 
dies steht in näherem Verhältnisse zu dem behandelten Ge- 
genstande — wird bei dem Keimen wie bei der Digestion 
Glutin und Elastin in eine lösliche Form übergeführt. 

In Gerstenmalz !) ist ein Eiweisskörper vorhanden, der 
wie die Peptone nicht durch Salpetersäure, gelbes Blutlaugen- 
salz, Säuren, wohl aber noch durch Sublimat niedergefällt 
wird. Dieser Eiweisskörper bleibt bei der verschiedenen 
Behandlung des Malzes zur Bereitung des Bieres erhalten und 
wird ein Bestandtheil des Bieres ?). 

Beim Keimen wird Elastin in einen peptonähnlichen Körper 

verwandelt (mithin auch beim Malzen); ebenso bei der Be- 
reitung des Beschlages, von Mehlteich. Der Terminus Pepton 
ist mithin nur ein zeitlicher. 
* Weizen wird von schwachen Magen nicht so leicht ertra- 
gen als Gerste und Hafer; die Glutinmenge, welche in Wei- 
zen’ vorkommt, scheint daran Schuld zu sein 3). Bei der 
Verdauung von Weizen muss erst das Glutin von Weizen 
gelöst werden, ehe die Lösung des Elastins anfangen kann, 
während diese Lösung von Elastin bei der Verdauung von 
Gerste und Hafer alsbald statt findet. 

In England hat man darum für Kinder nnd für schwache 
Magen Hafermehl in Gebrauch; bei uns reicht dazu der Zwie- 
back (panis bis coctus) hin; durch zweimaliges Backen ist 
das Elastin leichter löslich geworden. 

Legumin. In Beecaria’s Gluten sind zwei pflanzliche Ei- 
weisskörper in unauflöslichem Zustande vorhanden. Wir ken- 


1) Scheik. Verh. en Onderz. deel I, stuk 3, p. 161. 
DEP. 3417342; 

3).1-1..9:470. 

ol. 2 


18 


nen bis jetzt noch keine anderen pflanzlichen unauflöslichen 
Eiweisskörper in freiem Zustande. — Es giebt lösliche Ei- 
weisskörper, welehe ziemlich allgemein in dem Pflanzenreiche 
verbreitet sind, so z. B. in den Pflanzensäften, welehe beim 
Kochen getrübt werden. Diese können kaum zu Verdauungs- 
versuchen benutzt werden, da man stets mit Gemischen von 
verschiedenartigen Körpern zu thun haben würde. Ein Ana- 
logon von durch Wärme coagulirbarem löslichen Eiweiss, 
wie thierisches Eiweiss und serum sanguinis, wird man ver- 
gebens in dem Pilanzenreiche suchen. 

Es bleibt daher vorerst unentschieden, wie diese Form von 
pflanzlichem Eiweiss sich in Bezug auf die Pepton-Lehre verhält. 

Eine vierte Form, worin pflanzliches Eiweiss ziemlich ver- 
breitet vorkommt, ist das Legumm. Es verdient um so mehr 
unsere Aufmerksamkeit in Bezug auf die Peptonbildung, 
als einige seiner Eigenschaften sehr von den übrigen Eiweiss- 
körpern abweichen, und als seine Zusammensetzung viel ab- 
weichender ist, als die irgend eines für ächt gehaltenen Ei- 
weisskörpers. 

Legumin wird durch Säuren präeipitirt. Diese Eigenschaft 
ist zu hoeh angeschlagen worden, denn auch Hühnereiweiss ' 
wird durch Säuren (wenn auch nicht wie Legumin durch 
Essigsäure) fest. Salzsäure fällt beide nieder. Bei der Ver- 
dauung von Erbsen und Bohnen wirkt der Magensaft zuerst 
dadurch, dass sie das in ihnen enthaltene Legumin unauf- 
‘ löslich macht. 

Verdauungsflüssigkeit und Salzsäure von derselben Concen- 
tration verursachen einen gleich starken Niederschlag in dem 
klaren Wasser von grauen Erbsen. Dieser Niederschlag wird 
in: diesem Flüssigkeiten nur langsam gelöst, wenn man nicht 
noch mehr Säure und darauf noch mehr Wasser hinzufügt. 

Bei der Digestionstemperatur wird der Niederschlag in der 
klaren Flüssigkeit von grauen Erbsen in reiner Salzsäure 
von !aoo gelöst; dazu wird keine künstliche Verdauungstlüs- 
sigkeit verlangt !) 


1) Phys. Chemic. p. 1063. 


19 

In Verdauungsflüssigkeit mit Yo Salzsäure geschieht die 
Lösung aber geschwinder als in Salzsäure allein. 

Kann nun,von Legumin ein wahres Pepton erhalten wer- 
den? Wir vertheilten das mit kaltem Wasser bereitete fil- 
trirte Extract von grauen Erbsen in zwei Hälften; die eine 
Hälfte wurde mit Verdauungsflüssigkeit, deren Sulnsküre 200, 
die andere nur mit Salzsäure von I in einer grossen Menge 
Flüssigkeit bei 40° C. digerirt. Nach 3 Tagen wurden die 
beiden Flüssigkeiten, welche noch Spuren von ungelöster 
Substanz enthielten, filtrirt, und die filtrirten Flüssigkeiten 
darauf noch 8 Stunden digerirt. 

Da wir von dem abnormalen Legumm handeln, so wollen 
wir die Reactionen, welehe die salzsaure Flüssigkeit und 
die Verdauungsflüssigkeit zeigten, jede für sich anführen. 

Legumin mit "0 Salzsäure behandelt, wurde beim Kochen 
nicht trübe; dureh Alkohol, Carb. ammon., Salpetersäure, 
gelbes Blutlaugensalz, Sulphas sodae, Acetas plumbi neuter, 
(eine Spur von anorganischen Salzen ausgenommen) nicht 
niedergeschlagen. Dagegen wird es in der neutralen Flüs- 
sigkeit dureh Sublimat gefällt, und in der sauren durch Ac. 
tannicum und Chlor, und durch Millon’s Reagens schwach, 
durch Salpetersäure plus Ammonia deutlicher obgleich nicht 
intensiv gefärbt. 

Legumin wird daher schon durch Einwirkung einer Säure 
in Pepton verändert und als solches in der filtrirten Flüssig- 
keit leicht erkannt. 

Legumin mit Verdauungsflüssigkeit behandelt, deren Säure 
auf "ao verdünnt ist, verhält sich den erwähnten Reagentien 
gegenüber ganz auf sein Weise, wie Legumin, das bloss 
mit Säure behandelt worden ist. 

In beiden Flüssigkeiten war die Reaction auf Millon’s 
Flüssigkeit schwächer, alsich sie je bei einem anderen Pepton 
antraf; ebenso die auf Salpetersäure und Ammonia. 

Aus dem Mitgetheilten geht hervor, dass Säure allein im 
Stande ist aus dem Legumin ein wahres Pepton zu bilden, 
und dass — wenn nur genug saure Flüssigkeit vorhanden 


ist — ungekochtes Legumin zu den leicht verdaulichen Sub- 
Ix 


20 


stanzen gehört, deren Verdauung indessen durch eine in 
Bewegung befindliche Molekelngruppe noch befördert werden 
kann. 3 | 

Dieses Resultat streitet mit der Angabe von Koopmans, 
welcher Bohnen und Erbsen zu den schwerverdaulichen Sub- 
stanzen rechnet. Ich glaube dagegen, dass sie sehr leicht 
verdaut werden, wenn nur .die Secretion des Magensaftes 
nieht zu gering ist. 

Cnoop Koopmans!) fand einen Unterschied in der Re- 
action von Legumin, das nur in Säure, und von Legumin , 
das in künstlichem Magensafte aufgelöst worden war. Er 
sagt: „In dem einen Fall sind Peptone gebildet worden, 
„in dem anderen nicht. Der grösste Unterschied giebt sich 
„auch bei dem Legumin kund durch den Niederschlag bei 
„der Neutralisation; Säuren verursachen in beiden Lösungen 
„einen Niederschlag, je nach der Concentration, worin sie 
„angewandt worden; Kochhitze ist auf beide ohne Einwirkung; 
„Metallsalze bringen eine verschiedene Wirkung hervor. 
„ Ferroeyanuretum potassii verursacht in beiden ein schwaches 
„ Präcipitat; Sulphas eupri nicht in der Peptonlösung u. s. w.” 

Hier vermissen wir die Deutlichkeit, welche bei der Be- 
handlung des Glutens so sehr hervortrat. Wenn wir anders 
richtig lesen, so wird Legumin mit Verdauungsflüssigkeit 
behandelt, durch Carb. amm. z. B. nicht aus seiner Lösung 
niedergeschlagen, wohl aber Legumin, das mit Salzsäure 
behandelt worden ist. Säuren können in dem mit Verdau- 
ungsilüssigkeit behandelten Legumin einen Niederschlag ver- 
ursachen, wenn sie zu den starken Säuren gehören. Gelbes 
Blutlaugensaiz giebt einen schwachen Niederschlag in Legu- 
min, das der Wirkung einer Verdauungstlüssigkeit ausgesetzt 
war; Sulphas cupri thut dies nicht. Metallsalze schlagen, 
je nach dem angewendeten Salze, bald das schon veränder- 
te, bald das nur gelöste Salz nieder. . 

Es ist mithin nicht klar, ob Koopmans durch Einwir- 
kung von Verdauungsflüssigkeit auf Legumin eine Substanz 


1)-1. €. .8. 40. 


21 


erhielt, die mit dem Producte übereinstimmt, welches man 
von anderen Eiweisskörpern erhält, die der Einwirkung von 
Verdauungsflüssigkeit ausgesetzt werden. 

Bei einigen Versuchen habe ich gleiche Mengen von mit 
kaltem Wasser extrahirten grauen Erbsen 4 Tage lang bei 
40° C. digerirt, die eine aber mit der mehrerwähnten ver- 
dünnten Salzsäure in grosser Menge, die andere mit der 
Verdauungsflüssigkeit in ebenso reichlichem Maasse angewen- 
det. In beiden Flüssigkeiten war eine bedeutende Menge 
nach der Digestion unaufgelöst geblieben, in der letzteren 
aber am wenigsten. Die beiden Flüssigkeiten wurden zum 
Theile Ailtrirt. 

Die beiden Filtraten waren kaum von einander zu unter- 
scheiden, sodass Salzsäure auch ohne Fermentkörper ebenso 
chemisch ändernd einwirkte, als dies durch die Verdauungs- 
flüssigkeit mit Fermentkörper statt fand. 

Carb. Ammon., Natron sulph., Acid. nitrie., gelbes Blutlau- 
sensalz verursachten in keiner der beiden Flüssigkeiten eine 
Fällung, wogegen Sublimat, Acid. tannic. starke Nieder- 
schläge hervorbrachten. Auf Salpetersäure mit Ammonia, 
Millon’s Reagens, und Chlor reagirten beide Flüssigkeiten 
intensiv. 

Eine Verdauungsmischung (Pepsin) mag daher wohl die 
Auflösung von Legumin befördern, zur Peptonbildung wird 
sie aber nicht erfordert; sie wirkt nur in so ferne beschleu- 
nigend ein, als geschwindere Lösung auch reichlichere Pepton- 
bildung zur Folge hat. | 

Da man nun nicht berechtigt ist anzunehmen, dass die 
Wirkung der Salzsäure sich weiter erstrecke, als aufzulösen , 
so ist man zur Erklärung der Peptonbildung durch verdünnte 
Salzsäure auf die Hypothese hingewiesen, dass ein Theil 
des zu verändernden Körpers sein eigenes Pepsin werde, 
ebenso wie bei der Hefe-Bildung ohne Hinzufügung von Hefe, 
ein Theil der gebildeten Hefe zur Entstehung von mehr 
Hefe und Hefebildung Veranlassung giebt. 

Diese Betrachtung hat an und für sich genug Bedeutung , 
um noch einen Augenblick bei derselben stille zu stehen. 


22 


Eine sich in Bewegung befindliche organische Molekelngruppe 
kann in einer anderen Bewegung hervorrufen; eine ruhende 
organische Gruppe aber wird, sobald eine gewisse Menge 
derselben in Bewegung geräth, — auch wenn diese Menge 
sehr gering ist — eine Bewegung hervorrufende Ursache 
für den übrigen ruhenden Theil. Und dies wird sie nicht 
bloss für die übrigen Theile der gleichartigen Gruppe, son- 
dern auch für die von verwandten Arten. 

Wenn nun zu verdauendes Legumin wenig Pepsin in dem 
Magen antrifft, so kann darum die Verdauung desselben 
doch gut von Statten gehen, wie uns der Versuch mit Salz- 
säure lehrt. Ueberdiess lehrt uns dieser Versuch aber noch, 
dass Erbsen und Bohnen auch die Verdauung von anderen 
Eiweisskörpern befördern ; dass das Legumin, welches leicht in 
Umwandlung geräth, nicht nur das übrige Legumin zur Pep- 
tonbildung veranlasst, sondern auch, sobald es einmal ange- 
fangen hat verändert zu werden, auf andere Eiweisskörper 
ähnlich einwirkt. 

Was von dem Legumin gesagt ist, hat überhaupt mehr 
allgemeine Geltung; das Legumin hat aber eine bedeutende 
Verdauungswirkung. Ein Theil eines jeglichen in Pepton 
übergehenden Eiweisskörpers wirkt auf die übrigen Eiweiss- 
körper so zurück, dass sie ähnlich verwandelt werden. Das 
eigentlich sogenannte Pepsin leitet die Wirkung ein und regt 
sie kräftig an: sobald dies aber einmal geschehen ist, wirkt 
das in Umwandlung Verkehrende auf das noch Unveränderte 
so zurück, wie anfangs das Pepsin auf die ruhende Masse. 

Jeder Eiweisskörper mithin, der leicht in Umwandlung 
geräth, ist einmal in Bewegung gerathen das Pepsin für die 
übrigen Eiweisskörper. Darum muss das leicht verwandel- 
bare Legumin, das schon durch die Einwirkung von Salz- 
säure in Pepton übergeführt wird, auf die Verdauung von 
anderen Eiweisskörpern günstig zurückwirken; mithin ist 
der Gebrauch von Erbsen und Bohnen, wenn auch nur in 
geringer Menge, nützlich für die Verdauung von anderen 
gleichzeitig im Magen vorhandenen Eiweisskörpern. 

Fibrin. — Kein Eiweisskörper wird leichter in Salzsäure 


\ 23 


von "oo gelöst als Fibrin. Nur ein geringer Theil bleibt 
hierbei unaufgelöst; auch bei Anwendung von Verdauungs- 
füssigkeit. Bouchardat nannte denselben mit Unrecht Epi- 
dermose !). Es ist dies keine dem Fibrin eigenthümliche 
Erscheinung; man findet sie vielmehr bei allen Eiweisskör- 
pern auch bei Anwendung von Verdauungsflüssigkeit zurück. 

Diesen unauföslichen Körper haben wir nicht näher in 
seinen Eigenschaften studirt; wer aber alles, was bei der 
Verdauung der Eiweisskörper geschieht, chemisch verstehen 
und erklären will, wird diesen Körper näher zu berücksich- 
tigen haben ?). 

Fibrin wird nicht nur in verdünnter Salzsäure leicht auf- 
gelöst, sondern auch leichter als irgend ein anderer thieri- 
scher Körper durch artihieielle Verdauungsflüssigkeit in Pepton 
übergeführt. Das Gelatinöswerden von Fibrin in der Ver- 
dauungsflüssigkeit ist nicht durch die organische Gruppe in 
Bewegung bedingt, denn es kommt in Salzsäure gerade so 
zu Stande. In Verdauungsflüssigkeit fallen aber die ange- 
schwollenen Bündel bald darauf auseinander und bilden un- 
zusammenhängende Theile, welche melir und mehr in Lö- 
sung übergehen. 

Eine Lösung von Fibrin in Salzsäure, die während einiger 
Zeit bei 40° ©. digerirt war, wurde durch Salpetersäure, 
gelbes Blutlaugensalz und Chlor stark gefällt, nicht aber 
durch Sublimat oder Plumb. acetic. neuter. Wurde dagegen 
die Flüssigkeit neutralisirt, dann verursachte Sublimat eine 
Fällung (35. 8). Ammon cearb. gab in geringer Menge 
Veranlassung zur Bildung eines Präcipitates in der sauren 
Flüssigkeit, das aber in geringem Uebermaasse desselben 
Reagens wiederum aufgelöst wurde. Natron sulph. zur sau- 


ren Lösung gefügt bewirkte eine Fällung, welche durch 


1) Scheik. Onderz. 1842, p. 578. 

2) Bei der Verdauung im Speiserohre kann dieser unauflösliche Theil 
durch die weiter unten ım Darmkanale vorkommenden alkalischen 
Flüssigkeiten gelöst werden. — Er geht mithm nicht nothwendig 
für die Ernährung verloren. 


e 


24 


Hinzufügung einer neuen u desselben Reagens wiederum 
aufgehoben wurde. 

Wir haben also nach dem, was oben sub 7 gesagt ist, 
hier wiederum mit einem Uebergange zur Peptonbildung in 
Folge einfacher Anwendung von Salzsäure zu thun. Ein 
Theil der den Eiweisskörpern eigenthümlichen Eigenschaften 
war schon eingebüsst worden. 

Eine andere Menge desselben Fibrins war unter gleichen 
Umständen und während einer gleich langen Zeitdauer mit 
Verdauungsflüssigkeit behandelt worden; sie war in Pepton 
übergeführt worden, und zeigte demgemäss alle oben sub 5 
und 3 gemeldeten negativen und positiven Eigenschaften. 
Die neutralisirte Auflösung wurde durch Sublimat stark ge- 
fällt (S. 8). | 

Acid. tannicum gab in der Pepton-Flüssigkeit von Fibrin 
ein viel reichlicheres Präeipitat als in der salzsauren Lösung; 
dies habe ich auch bei den Peptonen und sauren Lösungen 
der übrigen Eiweisskörper häufig zu beobachten Gelegenheit 
gehabt. 

Die Ursache dafür muss in der Löslichkeit von gerbsaurem 
Eiweisskörper in Salzsäure gesucht werden. Wenn Pepton 
mehr Salzsäure neutralisirt als der ursprüngliche Eiweisskör- 
per, so ist dieser Unterschied in der Reactionsweise erklärt, 
denn die gebundene Salzsäure hat alsdann ihre lösende Wir- 
kung auf das durch Gerbsäure hervorgerufene Präeipitat ver- 
loren. 

Dieses Factum giebt Veranlassung zu der Annahme, dass 
die Peptone eine andere Sättigungs-Capacität für die Säure 
als für die unveränderten Körper haben. 

Ich glaube diese Betrachtungsweise um so eher für richtig 
halten zu müssen, als Gerbsäure in neutralen Lösungen 
. von theilweise oder gänzlich verwandelten Körpern ein viel 
reichlicheres Präeipitat giebt, als in schwachsauren Flüssig- 
keiten. 

bei einigen Versuchen mit Fibrin und Salzsäure, und mit 
Fibrin und Verdauungsfiüssigkeit, wurde die erhaltene Flüs- 
sigkeit schon zwei Tage nach geschehener Einwirkung filtrirt, 


25 


nnd die Digestion der beiden so erhaltenen klaren Flüssig- 
keiten noch zwei Tage fortgesetzt. 

Der Einfluss der Gruppe in Bewegung (Pepsin) war hier 
ganz klar. Das Fibrin, welches nur mit Säure behandelt 
worden war, wurde durch Salpetersäure und gelbes Blutlau- 
sensalz noch reichlich, durch Sublimat aber nur schwach 
gefällt; Natron sulph. und Ammon. carb. waren ohne Wir- 
kung. Das mit Verdauungstlüssigkeit behandelte Fibrin hatte 
dagegen alle Eigenschaften von gelöstem Fibrin eingebüsst. 
' Beide reagirten auf die sub 8 oben angegebenen Reagen- 
tien von Peptonen. Sublimat gab in der sauren Flüssigkeit 
keine Fällung, wohl aber in der neutralisirten (S. 8). 

Fleisch. — Wiewohl die artificiellen Verdauungsversuche 
mit Fleisch keine reinen Resultate versprechen konnten, so 
haben wir sie doch wegen ihrer praktischen Bedeutung nicht 
übergehen zu müssen geglaubt. Sie sind zu gleicher Zeit mit. 
den $.23 u. 24 vermeldeten Verdauungsversuchen mit Fibrin 
ausgeführt, und während derselben Zeitdauer fortgesetzt. 

Die salzsaure Lösung von Fleisch stimmte völlig mit der 
von Fibrin überein; nur gab Gerbsäure in der Fibrinlösung 
einen geringen, in der Fleischlösung gar keinen Niederschlag. 
Salpetersäure, gelbes Biutlaugensalz, Chlor geben reichliche 
Präeipitate, Sublimat und Plumb. acet. neuter gar keines, 
gerade wie von der Fibrinlösung erwähnt wurde; auch Am- 
mon earb. und Natron sulph. verhielten sich vollkommen wie 
bei der Fibrinlösung. — In der neutralisirten Flüssigkeit ent- 
stand nach Hinzufügung von Sublimat ein bedeutendes Prä- 
eipitat. 

Es ist mithin in diesem Falle, gerade wie bei der salz- 
sauren Lösung von Fibrin, ein Uebergang zur Peptonbildung 
vorhanden. 

Ein anderer Theil desselben Rindfleisches, zu gleicher Zeit 
mit artificieller Verdauungsfiüssigkeit digerirt, zeigte alle ne- 
‚gativen und positiven, oben sub 5 und 8 angegebenen Ei- 
gsenschaften von Peptonen. Auch Gerbsäure gab ein reichli- 
ches Präcipitat. 

Das Fleisch, welches mit Salzsäure, und dasjenige, wel- 


26 


ches mit Verdauungsflüssigkeit behandelt worden war, war 
in relativ grosser Menge und in grösseren Stückchen ange- 
wendet worden. Daher war in beiden Flüssigkeiten ein grosser 
Theil unverändert zurückgeblieben ; der Bildung von wahren 
Peptonen wurde aber dadurch in der Verdauungsflüssigkeit 
kein Hinderniss geboten. Siehe oben sub 7. 

Eiweiss von Hühnereiern. Das durch Wärme hervorge- 
brachte Coagulum wird durch einfache Einwirkung von Salz- 
säure nicht gelöst. Das mit Verdauungsflüssigkeit digerirte 
Coagulum zeigte alle oben sub 5 und 3 vermeldeten Eigen- 
schaften von Peptonen. 

Eiweiss, das nicht coagulirt ist, wird sowohl durch Salz- 
säure als durch Verdauungsflüssigkeit niedergeschlagen ; der 
Niederschlag wird aber in beiden Fällen bei der Digestion 
wiederum gelöst. 

In der salzsauren Lösung, welche vier Tage lang digerirt 
worden ist, erhält man durch Anwendung von Gerbsäure ein 
reichliches Präcipitat, was nicht übereinstimmt mit dem 
Verhalten von Fibrin, Fleisch und in Alkohol gekochtem 
Gluten. Sublimat gab auch ein Präeipitat; Plumb acet. neu- 
ter schlug aber bloss anorganische Salze nieder. Ammon. 
carb. und Natron sulph. gaben Präeipitate, welche im Ueber- 
maasse des Reagens löslich waren. Gelbes Blutlaugensalz 
und Salpetersäure gaben reichliche Fällungen. 

Diese Lösung war unter denselben Umständen und wäh- 
rend derselben Zeitdauer zu Stande gekommen als die des 
Fleisches, des Fibrins und des mit Alkohol gekochten 
Glutens (Siehe oben). — Auch hier bemerken wir einen 
Uebergang zu den Peptonen; gelbes Blutlaugensalz giebt 
aber noch ein Präcipitat und Ammon. carb. sowie Salpeter- 
säure verursachen noch vorübergehend Fällungen. Ein wahres 
Pepton war mithin noch nicht gebildet. Die Eigenschaften 
aber, welche schon eingebüsst waren, sind auch hier wie- 
derum in Folge der Einwirkung von Salzsäure allein ver- 
schwunden. i 

Uncoagulirtes Eiweiss, das zu gleicher Zeit mit Ver- 
dauungsflüssigkeit behandelt worden war, zeigte alle den 


27 


Peptonen eigenthümlichen negativen und positiven Reac- 
tionen. 

Coagulirtes Eiweiss giebt daher mit künstlicher Verdau- 
ungsflüssigkeit behandelt, ebenso wie nieht coagulirtes, wahre 
‚Peptone, die sowohl untereinander, als mit den Peptonen der 
übrigen Eiweisskörper übereinstimmen; völliges Ausbleiben von 
Präcipitaten bei Anwendung der oben sub 5 erwähnten Rea- 
gentien, stetiges Eintreten der sub 8 vermeldeten Reactionen. 

Mit nicht coagulirtem Eiweiss habe ich die Versuche noch 
einmal wiederholt, aber nicht so lange fortgesetzt, sodass 
die Einwirkung der Salzsäure, wie der Verdauungsfüssigkeit 
nicht so vollständig sein konnte. | 

Plumb. acet. neuter und gelbes. Blutlaugensalz bewirkten 
durchaus keinen Niederschlag. Sublimat gab ebenso wie Dai- 
petersäure in beiden Flüssigkeiten zu reichlichen Fällungen 
Veranlassung. 

In diesem Falle war die Verwandlung mithin nicht ganz 
dieselbe als bei dem vorigen Versuche, wo gelbes Blutlau- 
gensalz noch präeipitirte. 

Es war kein wesentlicher Unterschied zwischen der durch 
Salzsäure und der durch Verdauungsflüssigkeit bewirkten Ver- 
wandlung vorhanden. Es wäre hier nur zu erwähnen, dass 
der durch Salpetersäure in dem mit Verdauungsflüssigkeit be- 
handelten Eiweiss bewirkte Niederschlag durch die Einwir- 
kung von Wärme leichter gelöst wurde. Weder Millon’s Rea- 
gens, noch Chlor oder Gerbsäure, oder Salpetersäure und 
Ammonia waren im Stande irgend einen anderen Unterschied 
anzuweisen. | Ä 

Die verdünnte Säure ist also von bedeutendem Einfluss 
auf die Verwandlung von nicht coagulirtem Eiweiss zu Pep- 
ton; die sich in Bewegung befindliche organische Gruppe 
(Pepsin) unterstützt diese Wirkung, vermag sie aber nicht 
allein ohne Säure zu Stande zu bringen. Was schon früher 
erwähnt wurde, wiederholt sich mithin auch in diesem Fal- 
le, dass nämlich ein Theil der Eiweisskörper in der sauren 
Lösung als Pepsin wirkt. 

Da nun so viele Eigenschaften der Eiweisskörper bloss 


28 


durch eine saure Lösung verändert werden, so ist die Ver- 
muthung gestattet, dass die in Bewegung befindliche Gruppe 
(Pepsin) zur Bildung von wahren Peptonen nieht nothwendig 
erforderlich sei, sondern dass jeder Eiweisskörper, in einer 
verdünnten Säure digerirt, bei Anwendung eines gewissen 
Wärmegrades ebenso in Pepton übergeführt werden könne 
als die Eiweisskörper der Cerealien beim Keimen ohne 
Hinzutritt irgend eines fremden Bestandtheiles in wahre 
Peptone verwandelt werden. 

Käsestoff. — Der Käsestoff der Milch wird gerade so wie 
das Legumin und das nicht coagulirte Eiweiss. z. B. von 
Hühnereiern, sowohl durch verdünnte Salzsäure, als durch 
künstliche Verdauungsflüssigkeit erst niedergeschlagen und 
später aufgelöst. Diese Auflösung erfordert aber bei dem 
Käsestoffe eine grosse Menge Flüssigkeit. Wenn diese vor- 
handen ist, so ist die Löslichkeit des Käsestoffes sehr gross, 
wie er denn auch leicht verdaulich ist, wenn er einmal ge- 
löst ist, wenn nur das Gelöste nicht mit dem noch zu Lö- 
senden in Berührung bleibt. 

Die ersten Versuche mit Fibrin, Fleisch, Eiweiss und mit 
in Alkohol gekochtem Gluten: wurden zu gleicher Zeit mit 
Digestionsversuchen von Milch mit künstlicher Verdauungs- 
flüssigkeit verrichtet; sie dauerten alle gleich lange. — Nur 
ein geringer Theil war gelöst worden, und dieser zeigte so 
gemischte Eigenschaften von Pepton und Käsestoff, dass 
sie hier vermeldet zu werden verdienen. 

Salpetersäure gab kein Präcipitat, gelbes Blutlaugensalz 
nur Spuren. Sublimat, Gerbsäure, Plumbum acet. neuter, 
Chlor gaben reichliche Fällungen. Ebenso Ammon. carb. 
und Natron. sulph.; die Fällungen waren nicht im Ueber- 
schusse auflöslich. 

Einige Eigenschaften des ursprünglichen unveränderten 
Körpers waren mithin noch vorhanden, während andere ver- 
loren gegangen waren. Eine Vergleichung mit anderen nur 
theilweise verwandelten Körpern ergiebt, dass die Eigen- 
schaften, welche eingebüsst waren, nicht ganz übereinstim- 
men. So schlug z. B. Salpetersäure den halb verwandelten 


29 


Käsestoff nicht nieder, während gelbes Blutlaugensalz nur 
Spuren einer Fällung verursachte. 

Bei theilweiser Verwandlung der Eiweisskörper in Peptone 
ist daher keine grosse Beständigkeit in ihrem Verhalten 
‚gegen verschiedene Reagentien zu erwarten. 

Es entstand nun die Frage, ob ein wahres Pepton von 
Käsestoff zu erhalten sei. 

Zur Beantwortung dieser Frage wurde Milch mit künst- 
licher Verdauungstlüssigkeit, und eine zweite gleich grosse 
Menge mit verdünnter Salzsäure gemischt. Darauf wurde der 
Säuregehalt dieser beiden Flüssigkeiten auf !/,o gebracht und 
dann wurden sie bei 40° C. digerirt. Nachdem die Digestion 
vier Tage lang gedauert hatte, wurden die Flüssigkeiten 
filtrirt, und die erhaltenen klaren Flüssigkeiten darauf noch 
während 8 Stunden bei 40° C. digerirt, eauale wie beim 
Legumin. 

Wir wollen auch hier wegen des anomalen Verhaltens des 
Käsestoffes die Reactionen einzeln vermelden. 

In dem Käsestoff, der nur mit Säure digerirt worden ist, 
wird kein Niederschlag erhalten mit Salpetersäure, Ammon. 
carb., Natron sulph., gelbem Biutlaugensalz; Plumbum acet. 
neuter giebt Spuren eines Präcipitates; Sublimat verursacht 
in der neutralen Flüssigkeit eine reichliche Fällung. In 
Salzsäure hat mithin eine theilweise Verdauung statt gefun- 
den. Gerbsäure und Chlor fällen die Flüssigkeit stark ; Sal- 
petersäure und Ammonia färben sie intensiv orange; Mil- 
lon’s Reagens färbt sie roth. Das durch Plumbum acet. 
neuter entstandene Präcipitat verschwindet bei Verdünnung 
der Flüssigkeit mit Wasser; es ist Chlorblei aus der mehr 
Salzsäure enthaltenden Flüssigkeit niedergeschlagen. 

Auch hier ist mithin wie beim Legumin durch Salzsäure 
ein wahres Pepton gebildet. Man hüte sich aber aus dieser 
Uebereinstimmung die Folge zu ziehen, dass Käsestoff und 
Legumin, die eine so verschiedene en haben, 
identisch seien, ünd gleich zusammengesetzt wären. 

Käsestoff wird indessen durch eine eigene Verschiebung 
seiner Molekeln zu einem Pepton. 


) 


Se 


Der mit Verdauungsflüssigkeit behandelte Käsestoff gab kein 
Präeipitat mit Salpetersäure, Ammon. carb., Natron sulph., 
gelhem Blutlaugensalz ; Plumbum acet. neuter verursacht Spu- 
ren einer Fällung, die bei Verdünnung der Flüssigkeit wie- 
derum verschwinden ; Sublimat fällt die neutralisirte Flüssig- 
keit sehr stark. Gerbsäure und Chlor geben reichliche 
Niederschläge; Salpetersäure und Ammonia färben die Flüs- 
sigkeit orange, Nitras prot.-deutox. hydrargyri dagegen roth. 

Wir finden mithin alle positiven und negativen Pepton- 
Reactionen in dem mit Verdauungsflüssigkeit behandelten 
Käsestoff zurück. , 

Leimgebendes Gewebe. — Es erregt wirklich einiges Stau- 
nen bei manchen ausgezeichneten Forschern angegeben zu 
finden, dass die Peptone von leimgebenden Geweben mit 
denen der Eiweisskörper sehr übereinstimmen oder gar iden- 
tisch sein sollen. Es würde wirklich ein. Räthsel sein, wenn 
zwei in Eigenschaften und Zusammensetzung so verschie- 
dene Gruppen bei der Digestion einen und denselben Kör- 
per lieferten. Wenn die Sache sich so verhielte, so müsste 
der Leim alsbald unter den Nahrungsmitteln ersten Ranges 
seinen Platz finden. 

Der Verlust vieler charakteristischen Eigenschaften, wel- 
ehen die Eiweisskörper bei der Peptonbildung erleiden, scheint 
diesen Irrthum veranlasst zu haben. Das Factum ist riehtig, 
der daraus gezogene Schluss aber ganz falsch. 

Die Leim-Peptone theilen mit den Eiweiss-Peptonen die 
Eigenschaft, dureh Gerbsäure und Chlor niedergesehlagen 
zu werden. Die Leim-Peptone werden aber nieht dürch 
Sublimat gefällt, und reagiren nicht auf Millon’s Reagens, 
oder auf Salpeterkafue und Ammonia. 

Ich stellte nur mit sutem Fischleim einige Verstice an 
und fand dabei keinen Unterschied in der Geschwindigkeit 
der Lösung durch Digestion mit Salzsäure oder mit künst- 
licher Verdauungsfüssigkeit. Eben so wenig Unterschied 
war in den Producten der Lösung zu bemerken. Möglicher- 
weise verhalten sich andere leimgebenden @ewebe hierbei 
anders. / 


sl 


So weit meine Erfahrung geht, ist mit Verdauungstlüssig- 
keit digerirter Leim in Leim verändert, der lange gekocht 
ist, der namentlich nicht mehr gelatinirt und ein Hydrat von 
gelatinirendem Leime geworden ist }). 

Ich hätte die Leim-Peptone unangerührt gelassen, wenn 
es nicht nothwendig gewesen wäre darzuthun, dass Eiweiss- 
Peptone und Leim-Peptone nichts Widsehtliehes gemein ha- 
ben, als einige negativen Kennzeichen. 


Die mitgetheilten Versuche erhärten genugsam das, was 
wir im Anfange in allgemeinerer Form über die Peptone 
vorausschickten. | 

Zum Schluss möge noch eine kurze historische Uebersicht 
folgen. 

Dass Eberle im Jahre 1834 zuerst unsere Kennniss über 
die Peptone angebahnt hat, dass Schwann und Wasmann, 
Bidder und Schmidt, Blondlot und Andere diese Kennt- 
niss weiter ausgebildet haben, ist hinreichend bekannt. Bei 
den Resultaten von zwei Physiologen Mialhe und Lehmann 
müssen wir etwas länger stille stehen. 

Fibrin, Gluten, Eiweiss sollten, wie Mialhe °) behauptet, 
durch Einwirkung von Salzsäure allein die Eigenschaft von 
Casein erhalten, um durch Lab coagulirt zu werden, was 
Koopmans3) schon widerlegt hat. Fibrin, Gluten, Eiweiss, 
Casein, mit Verdauungstlüssigkeit behandelt „se rapprochent 
„meme plus de la gelatine modifiee par la chaleur que de 
„toute autre matiere alimentaire azotee” nach Mialhe, 
denn die so entstandenen Körper werden nicht durch Wärme 
eoagulirt, und durch Alkalien, Salzsäure, Salpetersäure, Lab 
nicht niedergeschlagen. Er nennt: die gelöste Substanz Al- 
buminose, was denn identisch sein muss mit der von 


1) Scheik. Onderz. Deel I, p. 522, 1842. 

2) Chemie appl. ä la phys. et & la therap., p. 113. Auch m Journ. 
de Pharm. 3° Serie, Tom. 10, p. 161. 

Sylter 


32 


Lehmann !) Pepton genannten, mit dem Underschiede 
jedoch, dass Lehmann bei der Verdauung eines jeden 
Eiweisskörpers ein Pepton mit der Zusammensetzung des 
ursprünglichen Körpers annimmt, während Mialhe eine all- 
gemeine Albuminose als Product der Verwandlung aller Ei- 
weisskörper vertheidigt: „bien que probablement elle ait une 
„eomposition un peu differente, suivant qu'eile provient de 
„tel ou tel compos& albumineux.” Um die Kenntniss dieser 
„eomposition un peu difierente”” bewegt sich aber vorerst die 
ganze Frage. 

Er nimmt die Albuminose von Fibrin als Beispiel, und 
nennt ihre Lösung eine farblose Flüssigkeit mit einem Fleisch- 
Geruche und Geschmacke. Wenn man diese Lösung ver- 
dampft, so erhält man ein etwas gelbliches Residuum „ offrant 
„assez de ressemblance avec l’albumine de l’oeuf dessechee ,” 
in Wasser löslich, in Alkohol unlöslich; die wässerige Lö- 
sung wird weder durch Wärme, noch durch Alkalien, noch 
durch Säuren, noch durch Pepsin niedergeschlagen. Dage- 
gen wird sie durch eine grosse Menge Metallsalze, wie die 
von Blei, Silber, Quecksilber, und durch Chlor und Gerb- 
säure gefällt. 

Diese Eigenschaften des Fibrin-Peptones erwähnt er als Type 
aller Peptone, ohne sie näher zu beschreiben; und gerade 
dagegen ist man aufgetreten, denn man fand Peptone mit 
verschiedenen Eigenschaften, so dass man sich mit der All- 
gemeinheit von Mialhe nicht vereinigen konnte. 

Mialhe findet seine Albuminose in dem Biute, in der 
Milch, in dem Speichel, in dem Schweisse, in dem Urin; 
„nous ajouterons m@me que l’albuminose existe en propor- 
„tions marquees dans le suc exprime d’un grand nombre 
„de plantes.” — Mithin ziemlich allgemein. | 

Zur Erhaltung der Albuminose aus dem Blute verdünnt 
er es erst mit etwas Wasser, und erwärmt es dann auf 
100° C.; hierauf wird filtrirt, das noch gelöste Eiweiss mit 
Salpetersäure niedergeschlagen und darauf wiederum filtrirt. 


1) Phys. Chem. 


BB) 


„Le produit filtr& contient l’albuminose, ainsi quil est aise 
„de s’en convaincre ä Yaide du tannin de V’aleool ete.’ 

Hier identifieirt Mialhe seine Albuminose mit dem Kör- 
per, den ich vor vielen Jahren als Oxyprotein bezeichnet 
habe, und den Ludwig in dem Blute nachgewiesen hat ). 
Der vollkommene Unterschied dieses Körpers mit den jetzt 
bekannten Eigenschaften der Peptone‘habe ich aber schon 
im Jahre 1842 angewiesen ?). 

Mialhe vereinigt zweifelsohne sehr verschiedene Körper un- 
ter einem Namen und hat eigentlich nur über das Pepion 
von Fibrin gehandelt. | 

Eine solche Vorstellung konnte nicht unangefochten bleiben. 

Von keinem einzigen Pepton ist bis jetzt die Zusammense- 
tzung bekannt. Zur Zeit als man noch Verdauen und Lösen 
identifieirte, habe ich 2) die Zusammensetzung von Käsestolf, 
Fibrin und coagulirtem Eiweiss untersucht; die beiden er- 
sten wurden durch verdünnte Salzsäure, letzteres durch 
Salzsäure und Lab gelöst, dann filtrirt und alle darauf durch 
Ammon. carb. niedergeschlagen. Die Zusammensetzung die- 
ser drei Niederschläge wich nicht von der ursprünglichen ab. 

Diese Erfahrung hat aber keinen Werth für die Kenntniss 
der Peptone. Denn Casein wird wohl ebenso wie Fibrin 
durch Salzsäure allein geschwinde gelöst, ist aber darum 
noch nicht in Pepton verwandelt; -auf der anderen Seite ist 
coagulirtes Eiweiss in Salzsäure und Lab gelöst, so lange 
es noch durch Ammon. carb. gefällt wird, kein Pepton, son- 
dern noch Eiweiss. — So nun waren die oben erwähnten 
Körper bereitet. 

Keiner dieser drei Körper war mithin ein Pepton, son- 
dern es waren Oasein Fibrin und Eiweiss in Lösung ge- 
bracht, durch Säure oder Säure mit Lab. 

Die Identität der niedergeschlagenen mit den ursprüngl- 
chen Körpern lehrt uns mithin nur, dass in der ersten Pe- 


1) Annalen der Ch.und Pharm., Bd. 56, 595, und Phys. Chem. p. 458. 
2) Scheik. Onderz. Deel I, p. 573. 
3) Phys. Chem., p. 1063 und £. 
LU. 


34 


riode der Digestion, so lange nur die Lösung zu Stande 
kommt, die Eigenschaft der genannten Körper fest zu sein, 
nicht aber ihre Zusammensetzung verändert wird. — Bei 
der Verwandlung zu Peptonen werden ihre Eigenschaften 
sehr modifieirt, ja die für Eiweisskörper so charakteris- 
tischen Reactionen mit Salpetersäure, gelbem Blutlaugensalze 
u. s. w. gehen verloren. Es ist nun bis jetzt ebenso wenig 
bekannt, ob ihre Zusammensetzung Veränderung erleidet, 
als ob eine und dieselbe organische Gruppe aus allen ge- 
bildet wird. 

Lehmann!) hat einige Eigenschaften von Peptonen, sowie 
ihre Bereitungsweise angegeben, die — wie gross anders 
auch Lehmann’s Verdienste um die Peptone sind — nicht 
ganz richtig sind. So sollte z. B. gelbes Blutlaugensalz in 
den Lösungen von Peptonen schwache Niederschläge verur- 
sachen. 

Schwache Niederschläge durch Reagentien, welche in den 
ursprünglichen Körpern starke Fällungen veranlassen, wei- 
sen alsbald auf eine Beimischung eines Theiles des ursprüng- 
lichen Körpers. 

Ein Körper kann bei Veränderung Eigenschaften einbüssen 
und andere erhalten; eine Halbheit von Eigenschaften ist aber 
ein entscheidendes Zeichen für Halbheit von Reinheit. 

Gut bereitete Peptone geben — wir haben dies schon ge- 
sagt — mit gelbem Blutlaugensalz keine Spur eines Nieder- 
schlages, gleichviel aus welchem Eiweisskörper sie gebildet 
sind. 

Lehmann’s Bereitungsweise konnte aber unmöglich reine 
Körper liefern. Er hat die Eiweisskörper so lange mit der 
Verdauungsflüssigkeit in Berührung gelassen, „bis der grösste 
„Theil der zu verdauenden Substanz in Lösung übergegan- 
„gen war; hierauf wird das Gemisch gekocht und filtrirt,’’ 
u.s4W.?). | 

Daraus geht hervor (Siehe oben sub 7), dass Lehmann 


1) Phys. Chem., Bd. 2, S. 52. 
DI<T.C. 8.53. 


35 


neben den Peptonen unveränderte ursprüngliche Eiweisskörper 
in seiner Lösung erhielt. Und wenn Lehmann sagt, dass 
er den Gehalt an S, C, H und N in allen von ihm un- 
tersuchten Peptonen dem der ursprünglichen Eiweisskörper 
gleich fand, so entsteht die Frage, ob er wohl viel weiter 
gekommen ist, als ich bei meinen so eben erwähnten schon 
älteren Versuchen, indem er wohl gelöste, darum aber noch 
nicht ganz und gar verwandelte Körper erhielt. 

Zur Zeit als ich Casein, Fibrin, Eiweiss in Salzsäure oder 
Salzsäure mit Lab auilöste und das Filtrat mit Ammon. 
carb. niederschlug, und dies der Analyse unterwarf, stellte 
man die künstliche Lösung mit der künstlichen Verdauung 
gleich. Jetzt wissen wir, dass Eiweisskörper noch keine 
Peptone geworden sind, so lange sie bei Digestionsversuchen 
durch Ammon. carb. aus ihren Lösungen niedergeschlagen 
werden; dass aber das durch dieses Salz Niedergeschlagene 
ganz gewiss kein Pepton sein kann. 

Wir wissen aber auch, dass wenn ein nur zum Theile 
 verwandelter Körper mit verdünnter Salzsäure gekocht wird, 
wie dies Lehmann ausführte, ein Theil der in Wasser lös- 
lichen Salzsäureverbindung mit dem ursprünglichen Körper 
in die Lösung aufgenommen werden muss. 

Daher nun fand Lehmann seine Peptone zum Theile 
 dürch Subacetas plumbi und gelbes Blutlaugensalz fällbar. 
Wegen derselben Ursache ist das Resultat der Elementarana- 
lysen von Lehmann’s Peptonen nicht beweisend, wenn er 
findet dass C., H., N. und S. vollkommen gleich sind mit 
dem ursprünglichen Körper. 

Es ist hinreichend bekannt, dass es sich hier um Bruch- 
theile von Procenten handelt, und dass der oben mitgetheil- 
ten heactionsweise gemäss die Eiweiss-Peptone nicht auf- 
hören zu den Eiweisskörpern zu gehören. Darum muss die 
‚Elementaranalyse der Peptone die Frage beantworten, ob 
die kleinen Unterschiede in der Zusammensetzung der ver- 
schiedenen Eiweisskörper durch ihre Verwandlung in Peptone 
verloren gehen oder nicht. Diese delicate Frage kann nur 
mit gut gebildeten Peptonen entschieden werden. 

z4 


96 


Der von Lehmann für die Identität der Zusammense- 
tzung von Eiweiss und Eiweiss-Peptonen angeführte Beweis, 
wenn er sagt, dass Eiweiss-Pepton gerade wie Eiweiss 
1,6°/, S. enthält, verliert wegen der Unreinheit der von 
Lehmann analysirten Peptone seinen Werth. Dasselbe gilt 
von der Weise wie der Schwefel in dem. Eiweiss-Pepton 
enthalten sein soll; er schliesst nämlich aus der schwarzen 
Färbung der-Bleisalze und des Silbers, wenn Eiweiss-Pep- 
tone in der Wärme mit Alkalien behandelt werden, dass 
der Schwefel in dem Eiweiss-Pepton auf dieselbe Weise 
enthalten ist, wie in dem Eiweiss. Diese Reaction muss 
von dem dem Pepton beigemischten ursprünglichen Eiweisse 
herrühren; das reine Pepton vermag sie vielleicht nicht zu 
geben. 

Ich glaube daher, dass die Verwandlung von Eiweiss in 
Eiweiss-Pepton nicht der von Amylum in Dextrin an die 
Seite gestellt werden kann, wie Lehmann angiebt, so 
lange unsere Kenntniss auf dem jetzigen Standpunkte sich 
befindet, und man die Peptone noch nicht ffrei von der ur- 
sprünglichen Substanz erhalten hat; die Verwandlung von 
Amylum in Dextrin ist eine sogenannte moleculäre Verschie- 
bung, ohne Hinzutritt oder Abgabe irgend eines Theiles, 
ohne Spaltung. 

Die Unterschiede der natürlichen Eiweisskörper in Form 
und Wesen, Löslichkeit und Unlöslichkeit, im Präeipitirt- 
werden oder nicht Präeipitirt-werden, in der Coagulation durch 
dieses oder jenes Agens, fallen bei den Peptonen weg; sie 
haben alle eine grosse Identität in ihren Eigenschaften, eine 
Identität, von der sich ein Ieder leicht überzeugen kann, 
wenn er nur die künstlichen Verdauungsversuche lange ge- 
nug fortsetzt und gut regelt. 

Diese Identität verdient unsere besondere Aufmerksamkeit, 
wenn auch gründlichere Forschung lehrt, dass sie nicht ab- 
solut ist. E 

Lehmann, der die nicht reinen Peptone ebenso zusam- 
mengesetzt vorstellt, wie die ursprünglichen Eiweisskörper , 
hat aber nicht Alles untersucht, was von dem ursprüngli- 


37 


chen Körper in Lösung überging; denn er sagt!), dass seine 
Peptone noch Feuchtigkeit aus der Luft anzogen, nachdem 
sie bereits auf eine gewisse Weise bearbeitet worden wa- 
ren, so dass er sie darum mit Alkohol auskochte. Er hat 
somit ungleichartige Bestandtheile von dem Gelösten und 
Verwandelten geschieden, und daraus folgen zwei Schlüsse: 

1°. dass von einer Verwandlung eines Eiweisskörpers in 
ein Pepton, ohne Veränderung dabei zu erleiden, _—_ Rede 
mehr sein kann; 

2°, dass er durch seine Reinigungsmittel die eigentlichen 
Peptone wohl entfernt haben kann, und nur das von seinem 
für reines Pepton gehaltenen Gemische übrig behalten und 
analysirt hat, was gerade kein Pepton war, sondern der 
Theil des unveränderten ursprünglichen Körpers, welcher 
wegen nicht lange genug fortgesetzter eblonbL uns noch 
beigemischt war. 

Wenn man z. B. Eiweiss zur Peptonbildung bearbeitet, 
so kann man nicht sagen, dass Eiweiss-Pepton dieselbe Zu- 
- sammensetzung hat als Eiweiss, sobald durch das eine oder 
andere Solvens etwas entfernt ist, um das Pepton rein zu er- 
halten, und man alsdann die Zusammensetzung des Zurück- 
gebliebenen der des Eiweiss gleich findet. Und wenn man 
die Peptonbildung nicht lange genug fortzetzt, so hat man 
für das durch Solventia und Agentia Gereinigte nichts be- 
wiesen, wenn man seine Zusammensetzung der des Eiweiss 
gleich findet. 

Von der Zusammensetzung der Peptone wissen wir daher 
bis jetzt noch nichts. Dass bei Peptonbildung eine Tren- 
nung der Eiweisskörper vorkommt, ist aus den Versuchen 
von Lehmann herzuleiten und noch näher durch Folgendes 
angewiesen. 

Wahre Peptone von rohem Gluten, Elastin, Legumin, Fi- 
brin, nieht eoagulirtem Eiweiss und Käsestoff, alle in ver- 
dünnter Salzsäure ohne irgend eine Trübung gelöst, wurden 
mit Ammonia ein wenig übersättist, um die Salzsäure zu 


1), 1:6. 58253. 


38 


binden, und dann auf einem Wasserbade verdampft. Die 
Rückstände waren einigermaassen gefärbte Körper, welche 
mit kochendem Alkohol behandelt wurden, und in diesem 
Alkohol von 32° Pharm. belg. zum grossen Theile löslich 
waren. Sie wurden alle zähe und klebrig in dem Alkohol 
und hart nach der Entfernung des Alkohols und der Be- 
kühlung. Sie zogen aber alsbald Feuchtigkeit aus der Luft 
an und wurden dann wiederum weich, auch wenn sie zu 
wiederholten Malen mit Alkohol ausgekocht worden waren. — 
Der kochende und klar abgegossene Alkohol wurde in allen 
Fällen bei der Bekühlung trübe, enthielt aber nach der Be- 
kühlung noch einen grossen Theil gelöst. Das aus dem 
bekühlten Alkohol Niedergesunkene war hellweiss und in 
Wasser vollkommen und leicht löslich. | 

Was in kochendem Alkohol nicht gelöst war, wurde auch 
in Wasser nicht alles zu einer klaren Flüssigkeit aufgenom- 
men, sondern blieb zum Theile ungelöst zurück. 

Die wahren Peptone sind mithin dreifach zusammengesetzt, 
wie aus diesem einfachen Trennungsmittel hervorgeht; in 
Wasser unauflöslich, in kaltem Alkohol löslich; in kochen- 
den Alkohol unauflöslich. 

Lehmann hat nur das Letzte analysirt, das, wie wir ge- 
zeigt haben, noch ursprüngliche unveränderte Körper beige- 
mischt enthielt. 

Wir können daher wohl sagen, dass wir von der Zusam- 
mensetzung der Peptone nichts wissen, dass sie aber in un- 
gleichartige Bestandtheile getrennt werden, und ihre Zusam- 
mensetzung nicht mit dem ursprünglichen Körper identifieirt 
werden darf. 

Ich muss daran erinnern, dass vor der Verdampfung der 
Flüssigkeiten etwas Ammonia zur Bindung der Salzsäure 
hinzugefügt worden war, sodass alle Flüssigkeiten deutlich 
alkalisch reagirten, welche Reaction bei der Verdampfung 
durch das Flüchtigwerden der Ammonia verschwand. — Wenn 
auch die Ammonia die Eigenschaften der nach der Verdam- 
pfung zurückgebliebenen Körper etwas modifieirt hätte, so 
kann dieser Einfluss doch nicht so weit gehen, dass dadurch 


ein in kaltem Wasser unlöslicher, ein anderer in kochendem 
Alkohol unlöslicher, wiederum ein anderer der darin auflöst 
und endlich ein Körper entstände, der darin nur bis zur 
Bekühlung gelöst bleibt. 

Es scheint mir daher bewiesen, dass wahre Deine Ge- 
mische sind von ungleichartigen Körpern, in welche die 
 Eiweisskörper bei der Verdauung zerfallen. 

Am wenigsten blieb vom Käsestoff und rohen eORreRN in 
Alkohol unaufgelöst, während bei beiden aus dem kühlenden 
Alkohol viel niedersank. 

Eine Trennung der Eiweisskörper in ungleichartige Be- 
standtheile bei der Verdauung steht daher fest. 

Die Eiweisskörper des Blutes werden aus diesen in Was- 
ser theils löslichen theils unauflöslichen (und durch kochen- 
den Alkohol trennbaren) Körpern recomponirt, die in den 
ersten Wegen der Thiere aus den eingenommenen Eiweiss- 
körpern gebildet werden. Werden nun alle diese drei (durch 
die einfachen erwähnten Mittel) trennbaren Bestandtheile 
der Peptone wiederum zu Blut-Eiweisskörpern umgebildet ? 
Dies ist sehr unwahrscheinlich; es scheint, dass in dem 
tractus intestinalis andere Blutbestandtheile daraus ‚gebildet 
werden. 

Die als Nahrungsmittel eingenommenen Eiweisskörper wer- 
den mithin in dem Darmkanale nieht zu dem Fibrin oder 
Albumin des Blutes umgebildet, sondern in Peptone verän- 
dert, so dass sie nicht als Eiweisskörper absorbirt werden 
können, deren Eigenschaften sie zum grossen Theile einbüs- 
sen, so dass sie vielmehr als diejenigen Bestandtheile in das 
Blut übergehen, in welche die Peptone trennbar sind, um 
dann einen oder mehrere ihrer Glieder wiederum zu wahren 
Eiweisskörpern werden zu lassen. 

Die Verdauung, die Peptonbildung ist mithin nicht so 
ganz einfach, als man jetzt annimmt; wir legen der Pepton- 
bildung noch zu vorwiegend die Bedeutung bei löslich und 
zur Resorption fähig zu werden: diese Bedeutung muss mo- 
difieirtt werden; Trennung tritt auch ein und die Bildung 
von solchen Blutbestandtheilen, welche zu sehr vernachlässigt 


40 


worden sind, weil sie nieht als Fibrin, Albumin oder Glo- 
bulin auftreten. | 

Wir finden doch bei der Peptonbildung Körper, welche 
in z. B. Alkohol löslich sind, und diese Körper müssen in 
den Bestandtheilen des Blutes zurückgefunden werden, wel- 
che in Alkohol aufgelöst werden. | 

Da es aber nicht in meiner Absicht liegt, mich in phy- 
siologische Betrachtungen zu vertiefen, so will ich hier nur 
zwei Bemerkungen folgen lassen: > 

1°. die Lehre vom einfachen Uebergange der eingenon- 
menen Eiweisskörper in Blutbestandtheile, wie sie in den 
letzten Jahren vorgetragen ist, muss aufgegeben werden; 

2°. bei der Verdauung werden die Eiweisskörper nicht nur 
gelöst und verwandelt, sondern auch gespalten; eine Recompo- 
sition der Peptone allein zu Blut-Eiweisskörpern ist unwahr- 
scheinlich. 

Die Peptone sind durch die Chemiker zu sehr vernachläs- 
sigt worden; sie gehören nicht allein zu dem Gebiete der 
physiologischen Chemie, sondern ganz bestimmt zu dem der 
Chemie. — Und die physiologische Chemie glaubte bis jetzt, 
dass Verdauung von Eiweisskörpern ohne Spaltung vor sich ging. 

Die Untersuchung der Peptone bietet, wie mir scheint, ein 
geräumiges Feld, für die Kenntniss von dem Wesen der ei- 
weissartigen Körper, welche eine Hauptrolle in dem orga- 
nischen Reiche spielen. 

Die Peptone sind darum von so grossem Werthe für diese 
Kenntniss, weil sie aus physikalisch und in mancher Hin- 
sicht auch chemisch verschiedenen Körpern entstanden sind, 
die alle ihre eigenthümlichen Eigenschaften verloren haben, 
um sie alsbald für einen Theil dieser Stoffe, sobald er in 
das Blut übergegangen ist, wieder zu erhalten. 

Dass Peptone Gemische sind, d. h. dass Spaltung bei der 
Verdauung der Eiweisskörper vorkommt, macht ihre Unter- 
suchung nicht weniger interessant, vielleicht wirft die Un- 
tersuchung dieser Gemische einiges Licht auf „die Verschie- 
denheit und die Uebereinstimmung” wodurch alle Eiweiskörper 
- charakterisirt sind. 


41 


‚ Ich wünsche durch das Mitgetheilte Andere zu einer Un- 
 tersuchung der Peptone anzuregen; auf die Untersuchung 
der Eiweisskörper habe ich viel Zeit verwendet; über diese 
Zeit habe ich mich nicht zu beklagen, glaube aber Jetzt 
andere Theile-der Wissenschaft , die ich weniger kenne, be- 
arbeiten zu müssen. 


ee 


Notiz über die Bestimmung des Schmelzpunktes 
der Fette. 


von 


G. J. MULDER. 


—,—— 


Da ich bei einer Untersuchung über das Fuselöl im Rum 
mit geringen Mengen von Fetten zu arbeiten hatte, so bediente 
ich mich folgender Methode, um ihren Schmelzpunkt zu be- 
stimmen, welche mich recht gut befriedigt hat. 

Ein wenig fette Säure wurde geschmolzen und eine läng- 
liche Thermometerkugel von geringer Ausdehnung in die ge- 
schmolzene Fettsäure gethan, so dass die Kugel mit einer dün- 
nen, wohl unterscheidbaren Lage derselben überzogen wurde. 

Diese Thermometerkugel wurde nun mitten in ein Becher- 
glas gestellt, das übrigens geschlossen und von unten einer 
sanft steigenden Wärmequelle ausgesetzt war, so dass die 
Thermometerkugel in einem kleinen Luftbade erwärmt wurde. 
Sobald man der Schmelztemperatur des Fettes nahe gekom- 
men war, was man an dem Schmelzen des Fettes auf der 
unteren Seite der Thermometerkugel bemerkte, wurde die 
Wärmequelle entfernt, wodurch eine sehr langsam steigende 
Temperaturerhöhung erhalten wurde. Während das Queck- 
silber leise in der Thermometerröhre stieg, schmolz das Fett 
auf der Kugel immer mehr, und die Temperatur, bei der der 
letzte Fettring auf der Kugel verschwand, wurde nun aufge- 
zeichnet. Das Quecksilber hatte alsdann doch wohl sehr nahe 
dieselbe Temperatur angenommen von dem Glase der Thermo- 
meterkugel, und die Temperatur der Kugel konnte doch wohl 
wenig verschieden sein von der des Fettes auf seiner Oberfläche. 


45 


Bei einer Thermometerkugel von 10 mm. Länge kann 
zwischen dem Anfange und dem Ende des Schmelzens ein 
Temperaturunterschied von 1°C. vorkommen. Bei sphärischen 
Thermometerkugeln ist dieser Unterscheid geringer; auch ist 
er geringer, wenn man das Becherglas höher wählt, um die 
Kugel mehr von der Wärmequelle zu entfernen, sodass nur 
die bewegte erwärmte Luft sie affieirt; auch ist er geringer, 
wenn das Becherglas oben gut geschlossen ist, so dass keine 
bedeutenden Luftströme entstehen können, und die Lufttem- 
peratur im Becherglas so gleichartig wie nögkch vertheilt ist. 

Wie man den Schmelzpunkt bis auf Unterabtheilungen von 
Graden bestimmen kann, wenn Fett in einer Röhre geschmol- 
zen wird, worin ein Thermometer angebracht ist, ist mir 
nicht recht klar. Die Wärme kann das ungeschmolzene Fett 
nicht leicht durchwandern, und wie kann nun das Thermo- 
meter die Temperatur, worauf das Fett anfängt zu schmelzen, 
genau angeben, wenn dies auf einer gewissen Entfernung 
von dem Thermometer geschieht. In jedem Falle muss das 
Fett, welches anfängt zu schmelzen, mit der Thermometer- 
kugel in Berührung sein, was man am besten auf die oben 
beschriebene Weise erreicht. | 

Diese Methode ist auch recht geeignet, die Temperatur 
zu bestimmen, wobei das Fett fest wird. Man sorge dafür 
dass ein Tropfen des geschmolzenen Fettes an der Thermo- 
meterkugel hängen bleibt, und lasse alles in dem geschlos- 
senen Becherglase langsam bekühlen. Wenn die Oberfläche 
des Glases auf der unteren Seite der Kugel einen Beschlag 
erhält, so notire man den Stand des Quecksilbers in der Röhre, 
dessen Bewegungen man übrigens genau folgen muss. 

Man kann leicht jede Bestimmung so oft wiederholen, als 
dies wünschenswerth erscheint, und im gläsernen Luftbade 
kann man das Verhalten der Kugel leicht beobachten, wäh- 
rend der Theil der 'Thermometerröhre, auf dem man die 
Temperatur abliest, am besten aus dem Deckel des Becher- 

glases hervorragt, 


Indigo als Reagens auf Trauben- und Frucht- 
zucker. 


von 


Dr. EE MULDER. u. 


—— Ir 


TV ranben- und Fruchtzucker besitzen die Eigenschaft Indig- 
blau bei Gegenwart von Alkalien zu Indigweiss zu redueiren. 
Wenn man eine dieser beiden Zuckerarten in Wasser löst, 
und zu der Lösung Indigo und darauf Kali oder Natron hinzu- 
fügt, so wird der Indigo, bei Erhitzung geschwinder als bei 
der gewöhnlichen Temperatur, zu Indigweiss redueirt, das in 
Alkalien löslich ist. Dasselbe findet Statt wenn man Alko- 
hol anstatt des Wassers benutzt; in diesem Falle wird das 
reducirte Indig nicht in amorphem, sondern in kristallini- 
schem Zustande (Fritsche) abgesetzt, wobei die Reduction 
selbst aber geschwinder stattfindet. | 
Wenn man eine Indigolösung (Verbindung von Indigo mit - 
Schwefelsäure) und nicht Indigo in Pulverform anwendet, 
so hat man darin ein Mittel, um die geringsten Spuren von 
Trauben- und Fruchtzucker ausfindig zu machen. Wenn 
doch der Indigo in gelöster Form in Anwendung kommt, 
geschieht die Reduction leichter, überdiess ist aber der an 
und für sich ziemlich beständige Indigo durch die Verbin- 
dung mit Schwefelsäure in einen leichter veränderlichen Kör- 
per übergeführt. 

Bei der Reduction von he aan Indigo durch Trau- 
ben- und Fruchtzucker ist eine Bedingung nnumgänglich zu 


45 


erfüllen, d. h. die Lösung muss alkalisch sein. Allein die 
Indigo-Lösung wird nicht nur leicht redueirt, sondern auch 
der Indigo oxydirt; durch kaustisches Kali oder Natron wird 
er ganz oder theilweise zerlegt. In ersterem Falle bekommt 
die Lösung eine gelbe Farbe, welche nach Sättigung mit 
einer Säure wiederum in eine blaue übergeht, wenn die 
Lösung nicht zuvor erwärmt wurde; im zweiten Falle ist die 
Farbe der Lösung grün und wird wenig verändert beim Ko- 
chen, falls es nicht zu lange fortgesetzt wird. Wenn man 
zur Indigolösung einen Ueberschuss von kohlensaurem Kali 
oder Natron fügt, so bleibt die blaue Farbe, auch nach dem 
Kochen, nahezu unverändert. 

Sowohl die grüne als die blaue Lösung geben eine äu- 
sserst empfindliche Reaction auf Trauben- und Fruchtzucker. 

Die erste ist empfindlicher als die zweite, und doch geben 
wir der letzteren den Vorzug. 

Beim Aufsuchen von Trauben- oder Fruchtzucker verlangt 
man kein Reagens, das so leicht wie möglich andere orga- 
nischen Körper zerlegt. Es ist nun gerade eine Eigenschaft 
der grünen Lösung andere organischen Körper zu zerlegen, 
und darum verdient sie nicht als Reagens auf Trauben- und 
Fruchtzucker empfohlen zu werden. 

Dass dies nicht für die blaue oben erwähnte Lösung gilt, 
wird z. B. dadurch bewiesen, dass sie nicht im Stande ist 
Rohrzucker zu zerlegen, auch wenn sie während einiger 
Stunden mit demseiben gekocht wird; sobald man aber eine 
Spur von Traubenzucker in die Lösung bringt, findet die 
Zerlegung unmittelbar Statt. Dagegen wird die grüne Lösung 
wohl durch Rohrzucker zerlegt. 

Die Zerlegung einer durch kohlensaure (oder kaustische) 
Alkalien alkalisch gemachte Indigolösung durch Trauben- oder 
Fruchtzucker, bietet soviel Eigenthümliches dar, dass wir 
etwas länger über stille stehen müssen. Zuerst inaden wir 
erforschen, was in der Indigolösung in Schwefelsäure !) nach 


1) Zur Anfertigung dieser Lösung kann man gewöhnlichen Indigo be- 
nutzen. Man filtrire die Lösung nach Verdünnung mit Wasser, 


46 


Hinzufügung von kohlensauren Alkalien z. B. kohlensaurem 
Kali geschieht. Es entsteht Indig-schwefelsaures und Indig- 
unterschwefelsaures Kali, während der Ueberschuss von 
Schwefelsäure mit Kali in Verbindung tritt; daneben ist die 
Lösung alkalisch gemacht durch das kohlensaure Alkali. 


Indigschwefelsaures Kali ist bei der gewöhnlichen Tempe- ' 
ratur weder in Schwefelsäure noch in kohlensaurem Kali lös- 


lich; bei Erhitzung wird es aber gelöst oder wenigstens so 


fein in der Flüssigkeit vertheilt, dass es so gut wie gelöst 
heissen kann. Indig-unterschwefelsaures Kali bleibt aber bei 


hen 2: Me 


en ee 


der gewöhnlichen Temperatur gelöst, sodass es durch Fil- 
tration von dem Indig-schwefelsauren Kali getrennt werden 


kann. 


so muss man letztere nehmen. Man wird dann wohl daran 
thun, den Indigo in rauchende nicht aber in englische Schwe- 


Verlangt man aber wirklich eine alkalische Indigolösung, | 


felsäure aufzulösen, wobei namentlich saurer unterschwefel- 


saurer Indigo entsteht. Nothwendig ist es aber nicht, da 
Indig-schwefelsaures Kali ein ebenso empfindliches Reagens auf 
Trauben- und Fruchtzucker ist als unterschwefelsaures Kali. 

Man hat mithin in der Lösung : Indig-unterschwefelsaures 
Kali, und in der Lösung vertheilt Indig-schwefelsaures Kali, 
das bei Erhitzung noch theilweise gelöst wird. Man thue hier- 
von etwas in ein Reagirgläschen, füge soviel Wasser hinzu, 
als erfordert wird, um eine hellblaue Lösung zu erhalten, 
und koche darauf. Dabei bleibt die Farbe der Lösung bei- 
nahe unverändert, wie wir schon früher erwähnten, was 
‘“ eine sehr erwünschte Eigenschaft ist. Wenn man nun nach 
dem Kochen eine äusserst geringe Menge Trauben- oder 
Fruchtzucker hinzufügt, so wird die Farbe erst grün und 
dann purpurroth; wenn die Zuckermenge grösser genommen 
wird, so geht das purpurroth nach und nach in roth und 
endlich in gelb über. Schüttelt man die purpurrothe Flüs- 
sigkeit, so wird sie grün und darauf blau; wenn sie aber 


wodurch ausser dem Indigpurper alle Verunremungen abgesondert 
werden. 


47 


gelb war, so durchläuft sie die obenerwähnten Farben von 
gelb bis. zu grünblau oder grün. 

Derselbe Versuch kann so oft wiederholt werden, als noch 
Zucker in der Lösung vorhanden ist, und wie wir bald sehen 
werden, so lange noch Indigo in der Lösung sich befindet. 

Gerne hätten wir alle die Farbennuancen in chemischen 
Formeln ausgedrückt und damit eine hinreichende Erklärung 
gegeben von den vielen Verwandlungen, welche bei dieser Reac- 
tion stattfinden. Wir glauben aber, dass folgender Versuch 
zur Erklärung nicht weit von der Wahrheit entfernt bleibt. 

Von der Voraussetzung ausgehend, dass eine grosse Ueber- 
einstimmung herrscht zwischen den verschiedenen gefärbten 
Produkten, welche Berzelius durch Einwirkung von Kalk- 
wasser auf Indig-schwefelsaures Kali erhielt und denjenigen , 
welche wir bei der Indig-Zuckerreaction beobachteten, haben 
wir unsere Untersuchung danach eingerichtet und ein Resultat 
erhalten, das wirklich mit unserer Vermuthung übereinstimmt. 
Indig-schwefelsaures Kali kann ohne merkbare Farbenverän- 
derung mit kohlensaurem Kali gekocht werden; wenn aber 
das Kochen lange fortgesetzt wird, so erhält man eine gelbe 
Farbe, wie bei der Zuckerreaction. Diese gelbe Farbe ver- 
dankt ihr Entstehen einem Zersetzungsproduckte im Indigo, 
das ganz mit dem übereinstimmt, welches Berzelius er- 
hielt, wenn er Kalkwasser auf Indig-schwefelsaures Kali ein- 
wirken liess (flavin-schwefelsäure). Wir kommen näher auf 
diesen Körper zurück; für die Reaction selbst genügt es, 
dass er ohne Zucker durch Einwirkung von kohlensaurem 
Kalı auf Indig-schwefelsaures Kali entsteht. Bei der Zucker- 
probe muss die Lösung daher am Ende gelb!) werden, und 
schliesslich aller Indigo zerlegt werden. 

Aus dem Indig-schwefelsauren Kali kann aber noch ein 
anderes Zersetzungsprodukt mit einer rothen Farbe (rufin- 


1) Wir müssen hier vermelden, dass durch Einwirkung von kohlen- 
saurem Kalı auf Zucker auch gelbe Zersetzungsproducte erhalten 
werden; diese kommen aber bei der Indigo-Probe nur dann in Be- 
tracht, wenn der Zucker im Uebermaasse vorhanden ist. 


48 


schwefelsäure Berzelius) gebildet werden. Die rothe Farbe 
entsteht vor der gelben, sodass die letztere aus der ersteren 


hervorgeht. 

Wenn wir. diese Facta auf die Reaction übertragen, so 
geht daraus Folgendes hervor. Beim Kochen der blauen Lö- 
sung wird durch Einwirkung des kohlensauren Kali auf das 
Indigblau alsbald ein rother, und wahrscheinlich aus diesem 
zum Theile schon ein gelber Körper gebildet; die Farbe 
wird dabei aber wegen der sehr geringen Mengen wenig 
verändert. Wenn man nun Traubenzucker zur Lösung fügt, 
so wird das Indigblau zu Indigweiss redueirt, wobei die 
rothe Farbe zum Vorscheine tritt. Letztere hat daher mit 


der Zuckerreaction nichts zu machen. Wenn man nun die 


Flüssigkeit schüttelt, so wird das Indigweiss in Indigblau 


verwandelt, und die Farbe scheint wenig verändert zurück- 
zukehren, indessen ist sie schon vermischt mit etwas roth 


und wahrscheinlich auch mit etwas gelb. Bei Wiederholung 
des Versuches bekommt man endlich eine gelbe Lösung, 
der rothe Körper wird in den gelben verwandelt. Wenn 
nun geschüttelt wird, so fängt die Flüssigkeit an eine rothe, 
blaugrüne Farbe zu erhalten, da sie in demselben Augen- 
blicke, dass ein Theil des Indigoweiss in Indigblau übergeht, 
zum anderen Theile durch das ‘kohlensaure Alkali in den 
rothen Körper übergeht. Die Lösung muss jetzt eine grüne 
Farbe haben, denn was einmal gelb ist, bleibt gelb, und 
blau mit gelb geben grün; der rothe Körper geht wiederum 
in den gelben über. Die rothe_ und grüne Farbe an der Ober- 
fläche sind leicht aus dem Vorhergehenden zu erklären. 

Der Versuch würde daher bei der Gegenwart von Zucker 
in’s Unendliche fortgesetzt werden können, wenn nicht der 
Indigo durch kohlensaures Kali zersetzt würde. Für die 


Zuckerprobe hat diese Zersetzung keinen Einfluss, sie ertheilt 


der Reaction eine Farbe, welche auch für den Chemiker nicht 
gleichgültig sein kann. Wir wiederholen hier aber nochmals, 
dass die schöne Farbenreihe mit der Reduction von Indigo 
nichts gemein hat. 


— H—— 


Anatomisches und Physiologisches über den 
Musculus Frontalis 


H. J HALBERTSMA. 


m 


Von keinem ‚Muskel an dem menschlichen Körper sind so 
auseinanderlaufende Beschreibungen gegeben als von dem 
museulus frontalis. Es ist bekannt, dass er mit seinem obe- 
ren gekrümmten Rande in die galea aponeurotica übergeht, 
und dass er seit Albinus als der vordere Bauch des m. 
epieranius oder oceipito-frontalis betrachtet wird, während 
der m. oceipitalis als der hintere Bauch und die galea als 
die zwischen beiden befindliche natürlich sehr platte, breite 
und dünne Sehne aufgefasst wird. 

Der Streitpunkt bei dem m. frontalis betrifft allein die 
Anheftungsweise (gleichgültig ob man sie als Ursprung oder 
als Anheftung betrachte) seines unteren Randes oder Endes 
in der Supraorbitalgegend. Ich habe eine grosse Anzahl von 
anatomischen Arbeiten über die Insertion consultirt, und 
sehr wenig Uebereinstimmung zwischen den verschiedenen 
Autoren angetroffen. Als ich aber die Angaben dieser Ver- 
fasser mit meinem Befunde an der Leiche verglich, glanbte 
ich mich zur Behauptung berechtigt, dass keiner von ihnen 
das wahre Verhalten dieses Muskels beschrieben hatte. Es 
kam mir daher nicht unzweckmässig vor, die Resultate mei- 
ner Forschung in kurzen Zügen zu schildern. 


Das untere Ende des Stirnmuskels (ein deutlicher Rand 
II, 4 


50 


ist nicht vorhanden) ist an der äussern Seite und auf der 
Mitte an der Haut befestigt. Der innere Theil geht in den 
musc. procerus Santorini, den levator lab. sup. et alae nasi 
über, und ist-mit einer kleinen Portion seiner Muskelfasern 
an den Theil des os frontis befestigt, der unmittelbar über der 
Nath liegt, welche ihn mit dem Oberkieferknochen verbindet, 
mithin an dem processus angularis int. oss. frontis. Die Fa- 
sern des Stirnmuskels kreuzen sich constant mit denen des 
m. orbieularis und corrugator supereiliorum, während der 
Muskel an seiner vorderen Seite stets mehr oder weniger 
mit der Haut verwachsen ist. Diese Insertion findet daher 
vorzüglich an die Haut statt, da man eigentlich die Ueber- 
sänge in den procerus und levator lab. sup. et alae nasi auch 
als Haut-Insertion gelten lassen muss, weil ersterer in der 
Haut des Nasenrückens (oder der mit ihr verwachsenen Apo- 
neurose), letzterer in der Oberlippe und dem Nasenflügel en- 
det. Nur ein relativ kleiner Theil des Stirnmuskels ist mit 
einem festen knöchernen Theile in Verbindung. 

Um sich von der Wahrheit dieser Beschreibung zu über- 
zeugen, muss man es nicht bei der Präparation durch Ent- 
fernung der bedeckenden Haut bewenden lassen; denn so 
wird man bloss Gelegenheit haben die Insertion an den proe. 
ang. int. oss. frontis und den Uebergang in die zwei früher 
vermeldeten Muskeln zu beobachten, die zwei Drittheile des 
Stirnmuskels, welche nach aussen gelegen sind, mithin den 
grössten Theil, wird man so in Betreff seiner Insertion nicht 
richtig beurtheilen können. Man sieht wohl, dass der Muskel 
an seiner vorderen Fläche da, wo er sich mit dem m. orbi- 
eularis und corrugator kreuzt, nicht glatt ist, und mithin 
dass seine Bündel bei der Entfernung der Haut (seiner In- 
sertionsstelle) durchgeschnitten sind; dabei bleiht es aber 
immer zweifelhaft , ob nicht auch einige Bündel an der margo 
supraorbitalis und dem arcus supereiliaris endigen. Um hier- 
über Gewissheit zu erlangen, muss man Haut mit Muskel und 
Fascie (Fortsetzung der galea aponeurotieca), welche an ihrer 
hinteren Seite liegt, zu gleicher Zeit von dem Schädel ab- 
ziehen, gerade so wie man es gewöhnlich ausführt, wenn 


51 


. man bei Autopsien das Schädeldach blosslegt, um es zu ent- 
fernen. Wenn man jetzt die hintere Fläche des Stirnmuskels 
näher in Augenschein nimmt, so sieht man erstens, dass sie 
auf der Seite glatt ist, und zweitens, dass sie nirgends an 
irgend einer oberhalb der Augenhöhle gelegenen Stelle fest 
anheftet. 

Zur Vergleichung habe ich in der folgenden Tabelle die 
Angaben der verschiedenen Autoren, welche ich durchgelesen 
habe, mit meinem Befunde isairenee woraus man 

‘ sogleich ersehen wird, in wiefern meine Beschreibung von 
den früheren abweicht. 


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INSERTIONEN. UEBERGÄNGE. |suex. 
ggg | _ em I | 
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SSlasıscoı = |sa 8 a5la8 83: 82.8] E53 
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B. S. Albinus. 7 | || + = 
Er Arnold. wu...) = — ae | gi Pflu 
ac, | | + +? 
BEL Bock. - . . 7|r auge: | 
Brierre de Boismont. | | irs;;) lee 
H. Cloquet. ; Mr | 2 
De Courcelles. . . == a ggjgenn 
Ples.. er är + 
Halbertsma. i + er SuakluEy eu 
El... . E 7 + + 
C.J.M. Langenbeck +|+ =+ BRUT 
Beuth... .|+? .m 
d. F. Meckel.. . . ae BE | Ra e | 
Meyer. We a + | 
Petrequin } | 4 Run er 
Römer RR SUR ++ 
Rosenmüller. . . ..| + + 
E. Sandifort. . 4 ee 23 
Theile. . Ä Ar Fi -- 
E. H. Weber. + ai | er 
Men rt 


E. Wilson... 


4* 


52 


Wenn man diese Tabelle studirt, so wird man finden, dass 
meine Beschreibung am meisten übereinstimmt mit derjeni- 
gen, welche B. 5. Albinus und Ed. Saudifort geliefert 
haben; sie unterscheidet sich aber insofern von ihnen, als 
diese Herrn die Endigung in der Haut (der Augenbraune) 
nicht erwähnten, sondern nur von einer Verwachsung der 
Muskelfasern, in ihrer ganzen Verbreitung, mit der Haut, 
sprechen, wie deutlich aus folgenden Worten hervorgeht: 
caelerum omm amplitudıne sua culi, inlervenienle panmıculo 
adiposo perlinacıler frontales adnexi sunt. (B. S. Albinus, 
Historia musculorum, pag. 141; E. Sandifort, Deseriptio 
musculorum hominis, pag. 63.) Mehr finden wir nicht über 
das Verhalten der Muskeln zu der Haut angegeben. 

In der Beschreibung von Albinus ist nach unserem Da- 
fürhalten noch ein anderer Fehler vorhanden: er lässt nämlich 
den grössten Theil der äusseren und mittleren Fasern, dem 
margo supereiliaris entlang nach der festen knöchernen Inser- 
tion verlaufen, anstatt dass sie in der Haut der Augenbraunen 
endigen sollten. Die von Albinus gegebene Abbildung des 
Stirnmuskels, welche mit seiner Beschreibung vollkommen 
übereinstimmt und in seinen Tabulae musceulorum (Tab. XI. 
fig. 7) vorkommt, muss daher auch dahin verändert werden, 
dass die äusseren und mittleren Fasern alle als abgeschnit- 
. ten hätten endigen müssen, da die Insertionsstelle, die Au- 
senbraunenhaut, weggenommen ist. 

Beiläufig will ich hier bemerken, dass andere Haut-Mus- 
keln, welche auf derselben Tafel abgebildet sind, aus der- 
selben - Ursache fehlerhaft vorgestellt werden. Dies gilt na- 
mentlich vom .orbieularis oris, der in der Umgebung der 
Mundöffnung überall an der Haut befestigt ist, mithin nach 
ihrer Entfernung keine continuirlich verlaufenden, sondern 
überall abgeschnittenen Fasern zeigt. Das Vorkommen des 
orbieularis nach Albinus kommt nur an der hinteren Fläche 
vor, d.h. an derjenigen, welche nach der Mundhöhle zu ge- 
richtet ist; ich habe sie nach Ed. Weber’s Beispiel stets: 
von der Mundhöhle aus nach Entfernung der Schleimhaut und 
der reichlich vorhandenen Gl. labialis für die Demonstration 


98 


blossgelegt. Nach unserer Meinung wäre die Abbildung des 
äusseren und mittleren Theiles des m. frontalis, so wie die 
des m. orbie. naturgetreuer, wenn die auf derselben Tafel 
vorkommende Abbildung des levator menti als Beispiel dafür 
gedient hätte. 

Wenn man die übrigen in der obigen Tabelle vorkommen- 
den Angaben vergleicht, so wird man bemerken, dass die 
französischen Anatomen wie Bichat, Brierre de Boismont, 
H. Cloquet und Petrequin gar keine Insertion an irgend 
einem knöchernen Theile oder an der Schädelfläche erwähnen, 
was gewiss fehlerhaft ist. Sie sagen eigentlich nicht, wo 
der Muskel enden soll, ob der Uebergang in den procerus, 
orbieularis und eorrugator die Endigungsweise vorstellen soll; 
dies gilt doch nur für eine geringe Anzahl Muskelfasern,, 
und ist für die beiden letzten Muskeln nicht einmal bestän- 
dig. Cloquet’s Angabe, dass der frontalis mit der Stirn- 
haut verwächst, ist richtig; diese Verwachsung kann aber 
nicht als Insertion gelten. 

E. Wilsons Beschreibung bleibt nicht ferne von der vol- 
len Wahrheit, wenn er den Stirnmuskel theilweise in den 
procerus übergehen, theilweise an dem proc. ang. int. 088. 
frontis und an dem orbieularis sich inseriren lässt. Wenn 
die Insertion in dem M. orbieularis bedeuten soll, dass der 
Stirnmuskel da in der Haut endigt, so ist die Beschreibung 
sanz mit unserem Befunde in Uebereinstimmung. Diese 
Bedeutung kann jedoch seinen Worten nicht untergeschoben 
werden; die Fasern aber eines Muskels (ohne intermediäres 
Sehnengewebe) an denen eines anderen anheften zu lassen, 
ist ganz gewiss eine verkehrte Auffassung. 

Ich will in keine weitere Vergleichung meiner Beschrei- 
bung mit der treten, welche Andere gegeben haben, da 
die Meisten den Fehler begehen, dass sie den Stirnmuskel 
in ziemlich grosser Ausdehnung an Knochen wie dem margo 
supraorbitalis, areus superciliaris, glabella, ossa nasi, befes- 
tigt sein lassen, während sie das Verhalten dieses Muskels 
zu der Haut gar nicht erwähnen, was doch gar nicht mit der 
Bedeutung dieses Muskels als Hautmuskel im Einklange steht. 


54 


Ueber die Wirkung des Stirnmuskels, welche nothwendi- 
gerweise in Verband mit. der des Hinterhauptsmuskels betrach- 
tet werden muss, herrscht mehr Uebereinstimmung: bei den 
verschiedenen Autoren. Man findet gewöhnlich angegeben, 
dass der Stirnmuskel: 1°. die Stirnhaut sowie die Augen- 
braunen nach oben hin bewegt, wodurch die queren Runzeln 
entstehen, dies findet man sogar bei Autoren, die nur von 
Insertion an knöchernen Theilen handeln ; 2°. dass er die Haut 
des behaarten Kopfes nach vorne zieht; 3°. dass er in Ver- 
bindung mit dem Hinterhauptsmuskel die galea fester gegen 
das Schädeldach andrückt, während 4°. der Hinterhauptsmus- 
kel allein wirkend, die galea nach hinten bewegen soll. 

Eine genaue Untersuchung lehrt uns alsbald, dass bei der 
Wirkung des m. oceipito-frontalis Besonderheiten vorkommen, 
die ganz vorbeigesehen worden sind, während ihre sub 3°. 
so eben angegebene Wirkung sehr problematisch ist, da der 
Druck der galea gegen das Schädeldach keine Bedeutung 
hat, weil zwischen dem Schädeldach und der galea nichts 
gelegen ist, was zusammendrückbar wäre. 

Eine Reihe von Beobachtungen an Individuen von ver- 
schiedenem Alter, hat mich überzeugt, dass eine solche 
Verschiedenheit in der Wirkung des m. oceipito-frontalis 
herrscht, dass man hier mit einer allgemeinen Regel nicht 
ausreichen kann. Diese Verschiedenheit, welche wohl von der 
grösseren oder geringeren unbewussten Uebung dieses Mus- 
kels abhängt, ist so gross, dass man auf Leute stösst, wel- 
che auch nicht die geringste Bewegung mit ihrem epieranius 
auszuführen vermögen, während Andere jede Bewegung, 
weiche frontalis und oceipitalis zusammen oder jeder für sich 
zulassen, vornehmen können. Man kann die Individuen, der 
Bequemlichkeit zu Liebe, nach meinen Beobachtungen in 5 
Cathegorien unterbringen: | 

j° Cathegorie. Individuen, denen das Vermögen RAR, 
abgeht, den m. oceipito- ade zu bewegen. 

2e Bene! Die galea kann weder durch den frontalis 
nach vorne, noch durch den oceip. nach hinten bewegt wer- 
den, ist mithin unbeweglich. Der m. frontalis wirkt nur 


55 


dadurch, dass er die Augenbraunen in die Höhe zieht, wo- 
bei die bekannten queren Runzeln entstehen. 

3° Oathegorie. Die galea kann nur nach vorne bewegt 
werden, und nicht nach hinten, wenn nicht erstere Bewegung 
vorhergegangen ist. Wenn der frontalis wirkt, so werden zu 
gleicher Zeit die galea nach:vorne und die Augenbraunen in 
die Höhe gezogen, wobei natürlich auch die behaarte Kopfhaut 
mit nach vorne bewegt wird. Die Bewegung der Augenbrau- 
nen, wobei die queren Runzeln zu Stande kommen, und die 
der galea geschieht mithin hier synehronisch. Ebenso tritt 
bei diesen Individuen der Nachlass der beiden. erwähnten Be- 
wegungen in demselben Augenblicke ein, sodass die Erschlaf- 
fung des frontalis von gleichartiger Zusammenziehung des 
corrugator supereiliorum und oceipitalis begleitet wird. 

4°, Cathegorie. Bei den hierher gehörigen Individuen fin- 
det dasselbe Statt, wie bei den zuletzt erwähnten, nur mit 
dem Unterschiede, dass diese bei der Erschlaffung des frontalis 
den corrugator und oceipitalis jeden für sich, aber in der 
Reihenfolge, wie sie erwähnt sind (nicht umgekehrt), wirken 
lassen können. Bei diesen Leuten siebt man mithin erst die 
queren Runzeln verschwinden, und dann die Kopfhaare nach 
hinten bewegt werden, nachdem zuvor die galea nach vorne, 
und die Augenbraunen in die Höhe gezogen worden waren. 

5e Cathegorie. Hier ist die Wirkung des oceipito-frontalis 
am ergiebigsten. Die Leute vermögen neben den sub 3°. ge- 
nannten Bewegungen, auch die Kopfhaut nach hinten zu 
ziehen, ohne dass der frontalis zu gleicher Zeit oder schon 
vorher in Bewegung gebracht ist. Es kann mithin in diesem 
Falle die Kopfhaut nach hinten bewegt werden, ohne dass 
darum vorher quere Runzeln in der Stirne gebildet wären. 
Der frontalis bringt die Kopfhaut als Antagonist aus ihrer 
nach hinten gerückten Lage wiederum in den Ruhezustand 
zurück. 

Endlich muss ich noch eine seltener vorkommende Bewe- 
‚gung der galea vermelden, nämlich die durch den m. attolens 
auriculae ausgeführte seitliche, welche ich nur einmal deut- 
lich zu beobachten Gelegenheit hatte. Sie ist darum besonders 


56 


merkwürdig, weil sie für die Richtigkeit der Auffassung des 
- m. epieranius, als ein m. triceps, spricht; J. Müller trug 
diese Auffassung in seinem anatomischen Lehreursus, während 
meines Aufenthalts in Berlin vor, wie ich mich noch sehr 
gut erinnere. Demgemäss wäre der frontalis der vordere, der 
oceipitalis der hintere, der attollens auriculae der seitliche 
Kopf des epieranius, rähtend die galea als Seren MBARIEHE 
Insertion betrachtet werden müsste. 

Was endlich zu halten von dem Sträuben der Haare, dessen 
nicht nur Dichter, sondern auch Anatomen in ihren Hand- 
büchern gedenken? Einige glauben, dass es durch den will- 
kührlich zu bewegenden epicranius zu Stande kommen könne; 
Andere dagegen halten es für identisch mit der eutis anse- 
 rina, sodass die Bewegungsursache in den um die Haarsäck- 
chen gelegenen organischen Muskeln zu suchen wäre. Ich 
muss ehrlich gestehen dieses Sträuben nie gesehen zu haben; 
ich war auch nicht im Stande etwas der cutis anserina 
Analoges wahrzunehmen , wenn ich die beiden Pole einer 
Rotationsmachine auf die behaarte Kopfhaut applieirte. Es 
ist mir daher zweifelhaft geworden, ob die Kopfhaare beim 
Nenschen wirklich so aufgerichtet werden können, dass man 
von einem Sträuben derselben reden darf, sodass ich ge- 
neigt bin zu vermuthen, dass diese Erscheinung ihre Existenz 
nur einem gereizten Dichtergehirne verdankt. Ich gebe aber 
diese Meinung sogleich für Besseres, sobald man nachweisen 
wird, dass die direete Beobachtung die Existenz einer Ereetion 
der Kopfhaare beweist. | 


ARIIAnAnAAMITnAnANAaNAnaNenannanaananannannanannarnnanganannanaaaanAnAanananaannaAananannnarannnnnnnnnnne 


Gangrän als Indication zur Amputation. 


von 


L. C. VAN GOUDOEVER. 


ne OB 


Pisien wird es vielleicht überflüssig scheinen auf die schon 
so oft besprochene und discutirte Frage zurückzukommen, 
ob man bei oder lieber wegen des Gangräns amputiren muss, 
oder nicht. Da aber die Meinungen über diese Frage noch 
stets sehr vertheilt sind, so dass auf der einen Seite verur- 
theilt wird, was man auf der anderen als gebietende Pflicht 
vorgeschrieben findet, so muss jeder Beitrag, auch wenn er 
nicht entscheidend ist, erwünscht sein. 

Diese Erwägung gab mir Veranlassung, folgenden Fall, der 
vor einiger Zeit in unserer Klinik zur Behandlung kam, zu 
beschreiben. 


Historia morbr. 


J. A. Gr...., 46 Jahre alt, Schieferdecker, fiel am 1dten 
October 1856 von einer Leiter, die gegen das Dach lag, 50 
Fuss tief in einen Garten. Um 10 Uhr Morgens wurde er 
in das Nosocomium gebracht; man fand ihn bei vollem Be- 
wusstsein, ohne irgend eine Erscheinung von commotio cere- 
 bri, wiewohl er etwas betrübt war. Der im Spitale anwe- 
sende Chirurg constatirte einen einfachen Bruch am unteren 
Ende des radius, so wie einen Bruch der ulna dicht bei 
dem Carpalgelenke, wahrend ein Zoll höher eine längliche 


58 


Wunde von 14 Zollj Länge gesehen wurde, durch welche das 
obere Ende der ulna (nach der Aussage des Chirurgen) her- 
vortrat. Der Patient klagte sehr über Schmerzen in dem 
ganzen Arm und an der Schulter, die schon mehr oder we- 
niger angeschwollen waren; die Temperatur war erhöht, die 
Farbe unverändert, das Gefühl normal, an der Hand etwas 
weniger. Die Blutung war ganz unbedeutend gewesen. Es 
waren keine Arterien verletzt worden. Uebrigens war das Be- 
finden des Mannes auffallend wohl, wenn man die Höhe des 
Falles in Anmerkung nimmt; er war ganz ruhig, ging ganz 
sicher ohne Hülfe und war frei von jedem Schwindel oder 
Kopfweh. Der Bruch wurde reponirt, was nicht ohne Schmer- 
zen und Schwierigkeit gelingen wollte, und darauf wurde 
vorläuäig ein Verband angelegt. 

Nach Verlauf einer Stunde sah ich den Patienten selbst zum 
erstenmale und löste den Verband. Da der Arm gut gerich- 
tet war, so liess ich es der grossen Schmerzlichkeit wegen 
bei einem blossen Betasten bewenden, wobei ich den Bruch 
des radius und wie ich glaubte auch den der ulna fühlte; 
die Schwellung hatte indessen zugenommen. Der einfache 
Verband wurde darauf in meiner Gegenwart wiederum ange- 
legt, da der definitive Verband der zu erwartenden Zunahme 
der Schwellung wegen noch zu gewagt erschien. 

Ich nahm den Kranken darauf in die ehirurgische Klinik 
auf und sah ihn nach einigen Stunden zum zweiten Male. 
Ich fand alsdann den Arm sehr schmerzhaft, etwas mehr 
geschwollen, die Temperatur erhöht, den Puls ziemlich 
schnell, gross, scheinbar voll aber doch leicht wegzudrücken; 
die Zeichen der Reaction waren deutlich wahrzunehmen, so 
dass ich daran dachte eine Venaesection zu verordnen für 
den Fall, dass die Erscheinungen zunehmen würden. Kalte 
Umschläge wurden fleissig auf den Arm applieirt. 

Am Abende fanden wir den Puls geschwinder aber weni- 
ger gross, so dass die Venaesection durchaus nicht mehr in- 
dieirt war, welche wir um so eher hinterliessen, als) wir 
Grund hatten zu vermuthen, (was sich später bestätigte) dass 
der Mann ein Potator war. Der Arm, namentlich der obere 


59 


Theil, und die Schulter war mehr geschwollen und schmerz- 
haft. Die Hand war nicht geschwollen und von normaler 
Temperatur, ihr Gefühl hatte aber sehr abgenommen. 

Mit den kalten Umschlägen wurde fortgefahren und der 
Verband ruhig liegen gelassen, da es schon aus der Beobach- 
tung der Hand hervorging, dass er nicht zu fest anlag. Ein 
Julapium mit acidum sulphuricum dilutum war während des 
Tages eingenommen worden. Der Appetit fehlte beinahe 
gänzlich. 

14 October. — Die Nacht war unruhig, der Arm hatte 
sehr geschmerzt, der Puls war ziemlich geschwinde, leicht 
wegzudrücken, aber nicht klein. Um den ausbleibenden 
Stuhlgsang zu befördern wurde etwas electuarium lenitivum 
verordnet, worauf am Abende reichlicher und normaler Stuhl 
erfolgte; der Appetit war etwas besser als am vorigen Tage 
aber doeh noch unbedeutend. Der Verband wurde entfernt. 
Die Hand zeigte nichts Besonderes, aber das Gefühl war 
ganz verschwunden, obgleich die Temperatur nicht abgenom- 
men hatte. Der Vorderarm war nicht geschwollen, die 
Knochenstücke befanden sich in guter Lage, die Wunde war 
ziemlich trocken, der Verband war mit Biut getränkt, das 
schon zum grossen Theile trocken geworden war. Der Ober- 
arm bis zur Schulter und die Schulter selbst waren ange- 
schwollen,, ihre Temperatur erhöht, sehr empfindlich ; auf der 
Haut waren einige dunkelrothen Flecken. Es wurde ein ganz 
einfacher Verband mit einer Schiene von Pappe angelegt und 
verordnet, dass man die kalten Umschläge um den Oberarm 
Hleissig foadteı 

Am Abende war der Zustand des Kranken nicht verbes- 
sert; er litt viel an Schmerzen, befand sich übrigens ziemlich 
wohl; der Puls war unverändert geblieben. 

15 October. — Da der Kranke während der Nacht sehr 
unruhig gewesen war, und die Unruhe am Morgen noch fort- 
dauerte, so schrieb ich, ein delirium traumaticum befürchtend, 
l Grm. Morphium aceticum auf 6 Pulver vor, um wenn die 
Unruhe nicht nachlassen sollte, bis zum Abende 3 Pulver zu 
verabreichen. Der Puls blieb so ziemlich in demselben Zu- 


60 


stande, die Zunge feucht, der Geschmack ziemlich gut, die 
Esslust aber unbedeutend. Nach Entfernung des Verbandes 
(der Kranke hatte ihn während der Nacht abgenommen, 


worauf eine Bindelocker angelegt worden war) fanden wir die 
Hand empfindungslos wie zuvor, dabei aber Abnahme der 
Temperatur. Der Vorderarm war in dem nämlichen Zustande 
als an dem vorhergehenden Tage; eine Blase war entstanden, 
die ein helles Serum enthielt. Der Oberarm war dagegen 
noch mehr angeschwollen, seine Farbe dunkeler geröthet, 


die dunkelrothen Stellen erstreckten sich bis zur Schulter, die 
Temperatur war erhöht, die Schmerzhaftigkeit ziemlich be- 
deutend, das Gefühl noch vorhanden; über den ganzen Ober- 
arm waren Blasen verbreitet, die mit blutigem Serum gefüllt 
waren. Es waren alle Zeichen eines bevorstehenden Gangräns 
vorhanden. Aqua vulneraria wurden verordnet und fleissig 


angewendet. Am Abende fühlte sich der Kranke besser, der 
Puls war aber ziemlich unverändert, aber doch etwas EEE 
nach Anwendung eines Clysmas war Stuhlgang erfolgt; die 
Farbe des Oberarms war dunkeler geworden. 

16 October. — Die Nacht ist ruhig verlaufen; der Arm 
hatte aber eine Veränderung erlitten, die uns in Schrecken 
versetzte. Die Hand war eiskalt, zeigte hie und da mit 
Luft gefüllte Blasen, war aber nicht missfärbt oder gangränös. 
Der Vorderarm zeigte dasselbe Verhalten wie die Hand. Der 
sanze Oberarm war dagegen gangräneseirt; das Gangrän er- 


streckte sich bis auf eine Handbreite von der Schulterspitze, 


und an der inwendigen Seite beinahe bis zur Achselhöhle, 
mit Missfärbung und Verhärtung der Schulter und mit Em- 
physem unter der Haut der Schulter und der ganzen rechten 
Brusthälfte. Der Oberarm war eiskalt, bleifarbig; die Epi- 
dermis war gelockert und unter derselben sah man die dun- 
kelrothe missfarbige trockene Haut. Die Temperatur der 
Schulter war noch erhöht. 

Es fragte sich nun, ob der Kranke noch durch eine Am- 
putation zu retten sei. Sie kam uns aber zwecklos vor, 
weil das Gangrän Folge der heftigen Contusion zu sein schien, 
auf den Oberarm beschränkt war, sich von oben nach unten 


61 


verbreitete, und mit der Fraetur nichts gemein hatte; weil 
dazu die Haut auf der Schulter missfarbig war; weil Em- 
physem und verminderte Empfindlichkeit auf der rechten 
Brusthälfte und der Schulter vorhanden war, weil ich endlich 
keinen gesunden Hautlappen erhalten konnte. Ich schrieb 
daher nur lauwarme Umschläge mit Dee. salieis und Tinct. 
myrrhae vor und liess einen Breiumschlag darüber legen. 

- Während des Tages sanken die Kräfte allmählig, der 
Kranke klagte aber wiederum über einige Empfindlich- 
keit in dem Arme (ob die Schmerzempfindung excentrisch 
war, oder in den tieferen Lagen des Armes ihren Sitz hatte, 
war nicht auszumachen). Gegen den Abend war der Arm 
bis zur Schulterspitze kalt geworden, und die Farbe der 
Haut allda ganz weiss, an rothe missfarbige Haut gränzend. 
Während der Nacht wurde diese Stelle wie der Oberarm gan- 
sränös und bleifarbig; auch der Vorderarm war bis zur Hand 
gangränös geworden. 

17 Oetober. — Die Nacht wurde unruhig zugebracht; am 
Morgen fanden wir das Gangrän bis auf den Thorax vorge- 
schritten, facies hippoeratica, und den Puls beinahe ver- 
schwunden. Um 10 Uhr am Morgen verschied der Kranke. 


Leichenöffnung. 


Beinahe 24 Stunden nach dem Tode fanden wir die Leiche 
schon ungeheuer verändert und ausserordentlich angeschwol- 
len; Brust und Kopf waren ganz schwarz; Rücken und Bauch 
zeigten vielfache mit Serum gefüllte Blasen; überall waren 
bedeutende Leichenflecken und Luftanhäufung unter der Haut; 
das Serotum war zur Grösse eines Kopfes durch Luft ausge- 
dehnt; auch der Penis hatte sehr an Umfang zugenommen. 
Die unteren Extremitäten und der gesunde Arm waren nur 
mässig geschwollen und entfärbt. Der Geruch war unerträg- 
lich. Die Eingeweide der Brusthöhle waren gesund, insofern 
die schon weit vorgeschrittene Zersetzung ein Urtheil darüber 
zuliess; nur über den valvulae semilunares aortae waren 
einige kleinen atheromatösen Entartungen vorhanden. 


62 


Das Gangrän am Arme erstreckte sich nicht tiefer als bis 
zur dem Unterhautszeilgewebe; nur am Oberarme waren die. 
Muskeln ganz an der Oberfläche etwas affıcirt ; übrigens waren 
die Muskeln trocken und von normaler Farbe. Unter dem‘ 
Muse. deltoidens und zwischen den Muskeln des Oberarms 
‘wurde Extravasat gefunden, und zwar an letzterer Stelle in 
ziemlicher Menge; Arterien und Nerven verhielten sieh übri- 
gsens normal. Die ulna war nur luxirt, der radius in beinahe 
horizontaler Richtung dicht oberhalb des Gelenkes gebrochen; 
das untere Ende war in drei Stücke zerfallen. Es wurde nun 
klar, dass das obere Ende des radius aus der an der Ul- 
narseite vorhandenen Wunde hervorgeragt hatte, und bei der 
ersten Untersuchung in dem städtischen Krankenhause aus‘ 
leicht begreiflichen Gründen mit der ulna verwechselt wor- 
den war. | Ä al 


Wodurch war in dem obenerwähnten Falle das Gangrän 
verursacht? Das Extravasat? Es war nicht gross genug, 
um einen bedeutenden Druck auszuüben. — Die bedeutende 
Contusion mit Verletzung der vasomotorischen Nerven (der 
Hautgefässe) und der Hautnerven? Dies kommt mir am 
wahrscheinlichsten vor; dazu kam noch einiger von dem aus- 
getretenen Blute herrührende Druck, der aber nicht viel Ein- 
fluss haben konnte. Dabei darf aber die Cachexie nicht aus 
dem Auge verloren werden, denn der Patient war ein Lieb- 
haber von Branntwein; ob er ein grosser Potator gewesen, 
war nicht auszumachen. Ä 

Ich hätte die Amputation ausführen können. Die Ampu- 
tution des Vorderarms hätte aber wenig genützt. Wäre sie 
wohl notiwendig gewesen ? Die Handwurzel war nicht ver- 
letzt, die ulna nur luxirt, die lockeren Stücke hätten viel- 
leicht entfernt werden können, aber auch ohne diess wäre 
die Hand möglieherweise erhalten worden. Darum handelte | 
es sich aber eigentlich nicht. Am Oberarme entstand Gan- 
grän, das, wie es zu erwarten war, nicht auf diese Stelle 
beschränkt bleiben würde. 


63 


Hierbei werde ich an eine vor einigen Jahren gemachte 
Beobachtung erinnert. Ein 12 jähriger Knabe war vom hin- 
teren Theile eines Fuhrwerkes, auf das er gestiegen war, 
‚gefallen, so dass er mit dem linken Unterschenkel ischln 


Ir 


wei Speichen von einem der hinteren Räder serieth , nr ‚ob- 


‚und fibula an mehreren Stellen zerbrochen aka; mit eleich. 
eitiger bedeutender Verletzung der Weichtheile aber ohne 
Tossen Blutverlust. Auf dem Hinterkopf hatte er überdiess 
ine Hautwunde und an verschiedenen Stellen Contusionen 
erhalten. 

' Er wurde TRIER IS in das Krankenhaus gebracht, delirirte 
ker ‚ vermochte keine zusammenhängende Antwort zu geben, 
war blass mit kleinem frequentem Pulse. Die gebrochene 
Extremität war kait und beinahe empfindungslos. Unterhalb 
‚des Kniees war kein Puls fühlhbar, so dass trotz der mangeln- 
‚den Blutung die Möglichkeit vorhanden war, dass eine oder 
‚mehrere Arterien zerrissen und durch Torsion geschlossen 
waren. Die tibia war auf der Mitte, die fibula etwas höher 
an drei Stellen gebrochen; die Haut war zerfetzt und ver- 
‚schiedene Muskeln theilweise zerrissen. 

Während des Tages und der darauffolgenden Nacht ent- 
stand Gangrän oder lieber sphacelus an dem Fusse, das sich 
‚schnell verbreitete, sodass es 24 Stunden nach erhaltene Ver- 
undung das nid bis auf eine Handbreite erreicht hatte; 
dabei war das Bein kalt und unempfindlich bis oberhalb des 
Kniees; der Knabe delirirte fortwährend; sein Puls blieb 
Bein...» 

4 Die Amputation versprach in diesem Falle wenig Heil. 
‚Da sie aber in der städtischen Abtheilung des Krankenhauses 
jedenfalls vorgenommen worden wäre und die Uebernahme 
in das Clinieum chirurgieum nur unter der Bedingung ge- 
‚schehen konnte, dass die Operation statt fände, so war es 
ziemlich sletchsiiltie ‚ ob sie hier oder dort Kerala Am 
"Abende gegen 9 Uhr wurde das Bein amputirt. Das Gan- 
‚grän war bereits bis zu einer Handbreite über dem Knie vor- 
‚geschritten. Die Operation verursachte wenig Schmerzen, 


64 


obgleich Chloroformeinathmungen durch die Gehirnerschütte- 
rung contraindieirt waren. Es strömte beinahe kein Blut 
aus den Arterien; die art. femoralis spritzte nur bisweilen. 
mit einem ganz nen Strahle. 

Während der Nacht traten von Zeit zu Zeit eonvulsivi- 
sche Bewegungen auf, unzusammenhängende Worte wurden 
bisweilen vernommen, die Kräfte sanken schnell, und 8 
Stunden nach der Operation erfolgte der Tod, während der 
Operationsstumpf schon Spuren von Gangrän zeigte. 


Gangrän war zu einer gewissen Zeit eine der Ursachen, 
wenn nicht die Ursache, welche hauptsächlich die Amputa- 
tion indieirte. Darauf trat eine Periode ein, in welcher viele 
der berühmtesten Chirurgen, wie Richter, Bell, Chesel- 
den, Pott, Kirkland und Andere erklingen De die Am- 
a Be Gangrän nach Verwundung dem von Gangrän 
aus inneren Ursachen ist hierbei nicht die Rede, da alle Chi- 
rurgen darin übereinstimmen, dass man die Abgränzung des 
Gangräns abwarten müsse), zu verwerfen sei und dass sie 
nicht eher amputiren wollten, bis eine erena gebildet war, 
wenn anders die Amputation a noch indieirt sei, oder 
andere Ursachen die Amputation als nothwendig vorkommen 
liessen. : 

Die Lehre, dass man nicht amputiren solle, hatte schon 
so ziemlich Wurzel gefasst, als Larrey sie wiederum angrifi. 
Er glaubte, dass eine eigentliche Demareationslinie nur bei 
dem aus inneren Ursachen entstandenen Gangrän, das mei- 
stens trocken ist, zu Stande komme; dass die Absorption hierbei 
sehr erschwert sei, und dass das Gangrän nicht selten ohne 
 Nachtheil für den ganzen Organismus abgestossen werde; Gan- 
grän aus äusseren Ursachen entstanden soll dagegen immer 
weiter um sich greifen, die Infection allgemein werden und der 
Kranke so zu Grunde gehen. Er macht einen grossen Unter- 
schied zwischen traumatischem und spontanem Gangrän oder 
zwischen feuchtem aus auswendigen Ursachen entstandenen, und 
trockenem meistens aus inneren Ursachen entstandenen Gan- 


u a ne an et a a Län u al 2l 1 Zu 


65 


grän. Er giebt daher im Streite mit allen Autoren und 
Chirurgen, welche sich dagegen erhoben, den Rath, die Am- 
putation in den gesunden Theilen vor der Abgränzung des 
Gangräns schnell zu verriehten; der Amputationsstumpf wird 
nicht gangränös werden, weil das nur aus lokalen Ursachen 
entstandene traumatische Gangrän sich der Continuität der 
Gefässe entlang vermittelst Absorption und langsamer In- 
fection der Gewebe weiter verbreitet, während die zu, gehö- 
 riger Zeit an der richtigen Stelle vorgenommene Operation 
den Fortschritt und die nachtheiligen Folgen dieses Leidens 
zurückhalten soll. | 

Larrey’s Vorschrift war zwar kategorisch, aber doch 
nicht hinreichend um der Discussion über diesen Streitpunkt 
ein Ende zu machen. Rust sagt darum aueh schon in seinem 
theoret.-prakt. Handbuche der Chirurgie 1830 Bd. I. 5.140: 

„Das Gangrän in den ältesten Zeiten die einzige und später 
noch längere Zeit eine der wichtigsten Indicationen zur Am- 
putation, kann nach dem jetzigen Standpunkte der Wissen- 
schaft diese Operation niemals indieiren; denn beim ersten 
Auftreten des Gangräns ist die Amputation nicht zu rechtfer- 
tigen, da die Erfahrung gelehrt hat, dass die Natur, unter- 
‚stützt durch eine richtige Behandlung, oft Wunder verrichtet 
bei der Restitution von Theilen, die scheinbar todt waren, 
in der Tiefe aber noch ein kräftiges Gefässleben verbergen. 
Wenn aber das Gangrän vollends ausgebildet ist, dann kön- 
nen nur zwei Fälle eintreten: entweder greift es weiter um 
sich, oder es ist schon. abgegränzt worden.” 
„In dem ersten Falle vermag die Amputation die Disposi- 
tion zu Gangrän nicht zu entfernen, erhöht dieselbe vielmehr 
. durch die nachtheiligen physikalischen und psychischen Ein- 
flüsse, welche sie begleitet. Es lässt sich demnach mit Ge- 
wissheit erwarten, dass das Gangrän von neuem an dem Am- 
putationsstumpfe, und somit den Centralorganen näher wie- 
derum auftrete. In dem zweiten Falle ist die Operation 
überflüssig, weil die Natur die todten Theile auf viel weni- 
ger eingreifende Weise von den lebenden trennt. Auch die 


Rückwirkung des Gangräns auf den ganzen Organismus, die 
1 3 


66 


Gefahr, welche die Absorption des gangränösen Ichors in das 
Blut bieten könnte u. s. w. nöthigt nicht zur Operation, wie 
Mancher glaubt; denn so lange das Gangrän nicht aufhört 
sich weiter auszudehnen, so lange keine Demarcationslinie 
gebildet ist, so lange keine bestimmte Gränze zwischen Tod- 


tem und Lebendem entwickelt ist, so lange kann, wie aus 


dem Gesagten hervorgeht, an keine Amputation gedacht wer- 
den, man müsste anders im Gangrän selbst operiren wollen, 
um die Masse des Gangräns und die Gefahr der Zurückwir- 
kung auf den Organismus zu vermindern; dies hat aber so 
viel Unannehmliches, dass der Vortheil, der dem Kran- 
ken daraus erwachsen könnte, wohl um das Zehnfache durch 
den Nachtheil, der daraus entstehen kann, übertroffen wird. 
Wenn sich aber das Gangrän einmal abgegränzt hat, dann 
ist, wie die Erfahrung lehrt, von Absorption nichts. mehr 
zu befürchten.” 

„Viele Chirurgen täuschen sich selbst und glauben wegen 
Gangrän zu operiren, während sie es aus anderen Ursachen 
thun, die das Gangrän zufälligerweise begleiten. So gebietet 
eine gefährliche Blutung aus gangränösen Gliedern die Ope- 
ration, ebenso Mangel an guter Cicatrisation wegen eiternder 
Oberfläche nach Abstossung des Gangräns. Aber das Gan- 
grän als solches, das wiederhole ich, indiceirt niemals die Am- 


pulation.’ Li, 


Zwei grosse Autoritäten sind hier mit einander im Streite; 
beide fanden ihre Anhänger. Larrey’s Lehre ward mehr 
oder weniger von Hutchinson, Guthrie, John Hennen, 
Dzondi, Chelius und vorzüglich auch von Langenbeck 
getheilt, der die Amputation für das einzige Rettungsmittel 


> 
Ta a Ze 


hält, wenn das Gangrän aus mechanischen Ursachen entstan- 


den ist, wenn es zu Wunden, Contusionen oder complieir- 
ten Knochenbrüchen hinzutritt, wenn es nach einer örtlich 
entstandenen Entzündung entsteht (und in diesem Falle so 
bald als möglich, wenn das Gangrän fortschreitet,) wenn 
die versuchte Behandlung des Gangräns nicht von dem wei- 
teren Fortschreiten abhält, oder wenn bedeutende Zerstörun- 


gen bei der Wunde vorhanden sind, welche die Genesung 


67 


unmöglich machen, oder wenn das Gangrän dem Rumpfe 
‚stets näher rückt. 

Um einige neueren Autoren zu erwähnen, wollen wir Bier- 
kowsky und Stromeyer einander gegenüberstellen. Erste- 
rer erklärt in seinen „Chirurgische Erfahrungen’ (Berlin 1847) 
der Amputation ebensehr abgeneist zu sein als Rust, und 
bedient sich sonderbar genug dabei beinahe derselben Worte, 
sodass man glauben könnte, es wäre Plagiat. Wir würden 
daher Bierkowsky wenig Vertrauen schenken, wenn nicht 
andere Umstände dies erlaubten. Als Pole war er wenig 
geübt in der deutschen Sprache, und da nun seine Ideen 
mit denen von Rust übereinkommen, so bedient er sich 
einfach seiner Worte und vergisst dies zu vermelden. Wie 
dem auch sei, die reiche Erfahrung, weiche B. in dem 
polnisch-russischen Kriege gesammelt, seinem Urtheil 
einigen Werth. 

Stromeyer sagt in seinem allgemein bekannten Handbu- 
che, dass die Amputation während des Fortschreitens oder 
nach der Abgränzung des Gangräns unter den folgenden 
Umständen indieirt sein kann: 

1°. „Wenn auswendige Ursachen das Gangrän zu Folge 
hatten, wie Wunden, Contusionen u. s. w., wobei die Ur- 
sache des Gangräns in der Ausdehnung der Verletzung auf 
wichtige Nerven oder Gefässe, oder in Zerstückelung des 
Gliedes mit hinzugetretener Entzündung gelegen ist, und 
wobei die Constitution des Kranken geringen oder keinen 
Antheil an der Entstehung des Gangräns hat. 

2°. „Wenn bei Gangrän aus auswendigen Ursachen die 
Entartung der weichen Theile zunimmt durch Infiltration des 
Bindegewebes mit gangränösem Ichor, das demzufolge ab- 
stirbt. Wenn diese Infiltration auf einzelne Stellen beschränkt 
ist, so kann mitunter die Operation vermieden werden, da- 
durch dass das Bindegewebe durch grosse Schnitte bloss- 
gelegt wird. Wenn aber diese Infiltration das Glied in sei- 
ner ganzen Dicke durchdringt, und dem Stumpfe immer 
näher rückt, dann muss die Amputation unverweilt vorge- 
nommen wel 


5x 


68 


Angelstein, der Jahre lang Dieffenbach’s Assistent 
war, hat in seinem voluminösen Handbuche der Chirurgie 
weder seine eigene noch Dieffenbach’s Meinung veröffent- 
licht, sondern sich darauf beschränkt, das abzuschreiben,, was 
in Rust’s Handbuch unter dem Artikel Brand angetroffen 
wird. Er ist weder unbedingter Anhänger von Larrey, 
noch von Rust, sondern will in einigen Fällen die Ampu- 
tation vorgenommen haben. Seine Meinung hat für uns keinen 
grossen Werth. 

James Miller in Edinburg sagt in seinen Principles of 
surgery (1853): „wenn nach solchen (d. h. bedeutenden aus- 
wendigen) Verletzungen acutes und um sich greifendes 
Gangrän entstanden ist, dann entsteht die Frage, ob man 
unmittelbar amputiren muss oder nicht. Es gab eine Zeit, 
dass Viele in diesen und anderen Fällen von Gangrän die 
Bildung einer Demarcationslinie abwarten zu müssen glaubten. 
Zeitverlust ist aber unter diesen Umständen und in dieser 
Absicht ohne Erfolg. Das Gangrän schreitet mit unebenem 
und wenig begränztem Rande stets fort; die typhösen Er- 
scheinungen nehmen zu; der Rumpf wird affieirt und dadurch 
die Operation unmöglich gemacht; oder der Patient verliert 
schon lange vorher die Kräfte und stirbt. Die einzige Hoff- 
nung zur Erhaltung des Lebens ist in zeitiger Amputation 
gelegen. Sie bietet zwar wenig Voraussicht auf glücklichen 
Erfolg, (denn wahrscheinlieh wird der Collapsus zunehmen 
und das Gangrän wiederum auftreten) sie allein verspricht 
noch einige Abhülfe, worauf der Kranke Anspruch machen 
darf. Ist das Gangrän im Fortschreiten begriffen, so ampu- 
tiren wir in einiger Entfernung desselben in gesunden, oder 
wenigstens anscheinend gesunden Geweben. Wenn in einiger 
Entfernung vom Rumpfe keine von Gangrän ganz freie 
Stelle mehr angetroffen wird, so entsagen wir dem Messer, 
das dann kein Heil mehr versprechen, sondern nur das un- 
heilvolle Ende befördern kann. Wo die Amputation indieirt 
scheint, muss man wohl darauf bedacht sein, dass das sub- 
cutane Bindegewebe oft eher gangränos wird als die Haut 
‘selbst, dass man mithin nie in unmittelbarer Nähe des ent- 


69 


färbten Randes operiren darf, und dass man nicht versäume 
sich von dem gesunden Zustand der Haut und der unterlie- 
-genden Theile zu überzeugen; sonst könnte es geschehen, 
dass man nicht nur in bedrohten, sondern sogar in schon 
abstorbenen Organen operirte. Mitunter kommen Fälie von 
acutem traumatischen Gangrän vor, in denen es nicht an 
Raum für die Operation mangelt, wobei aber die Kräfte 
schon so gesunken sind, dass ein Eingriff mit dem Messer 
nur ein schlimmes Ende befördern kann. In diesen Fällen 
müssen wir versuchen die Lebensverrichtungen aufzufrischen 
und zu unterstützen, und wenn dies ohne Erfolg bleibt, so 
entsagen wir der Operation.’ 

Es geht aus dem Mitgetheilten hervor, dass die Frage ob 
Gangrän als solches die Amputation indieirt, noch nicht mit 
Gewissheit beantwortet werden kann, und dass noch viele 
Beobachtungen und Untersuchungen zur Erlangung dieser 
Gewissheit erfordert werden. Wenn es wahr ist, dass, wie 
auf der einen Seite behauptet wird, das Vorschreiten des 
Gangräns durch die Amputation nicht verhindert werden 
kann, wenn man mithin nicht weiss, wie weit sich das Gan- 
grän ausdehnen wird, und dadurch auch nicht weiss, wo man 
amputiren ‘soll, wenn es weiter wahr ist, dass es zu den 
Ausnahmsfällen gehört, dass der Amputationsstumpf von Gan- 
grän befreit geblieben, und dass in diesen Fällen das Gan- 
grän zum Stehen gekommen, sodass die Operation ohne 
Zweck oder wenigstens voreilig war, und mehr entfernt wor- 
den ist als unumgänglich nöthig war, wenn es endlich wahr 
ist, dass das Gangrän an und für sich keinen nachtheiligen 
Einfluss auf den Organismus ausübt, so würde man dar- 
aus schliessen müssen: „dass man die Abgrängung des Gan- 
gräns abzuwarten, und wenn es anders nöthig ist, erst 
dann zu operiren habe, dass man aber den Kranken vor 
Vermehrung seiner Qualen zu schützen habe, und ihn mithin 
keiner Operation unterwerfe, die ohne Zweck, ja sogar 
schädlich, in jedem Falle aber ganz nutzlos ist.” 

Man muss die Sache aber auch von der anderen Seite be- 
trachten. Wenn Larrey’s Vorstellung, dass wohl trockenes 


+ 


‚TO 


aber nicht feuchtes Gangrän sich begränze, riehtig ist, dass 
weiter feuchtes Gangrän andere Organen und den ganzen 
Organismus infieirt, dann würde man lieber ein gefährliches 
Mittel anwenden, als gar keine Hülfe leisten. Die Be- 
hauptung aber, dass traumatisches Gangrän nicht durch eine 
crena begränzt werden könne, ist jedenfalls unrichtig, wie 
jeder Chirurg weiss, der nur einige Erfahrung hat. Das 
darf mithin keine Ursache sein, um das Messer zu ergreifen. 
Es giebt aber eine andere Ursache, welche uns dazu nöthi- 
gen würde, wenn sie bewiesen wäre. Wenn Stromeyer’s 
Behauptung, dass Gangrän (traumatisches) Gangrän verursacht, 
dass zeitige Entfernung des Infeetionsfocus die weitere Ver- 
breitung des Gangräns verhindert und den allgemeinen Er- 
scheinungen, dem schnellen und tödtlichen Collapsus zuvor- 
kommt, bewiesen wäre, so würde man unverantwortlich 


handeln, wenn man nicht zum Messer seine Zuflucht nähme, 


sobald man sieht, dass das Gangrän gegen den Rumpf in 
Anzug ist, und damit einen Versuch wagte, um auf Kosten 
einer Extremität das Leben zu erhalten. 

Leider ist aber die Lehre von Stromeyer, die vor ihm 
in Larrey und Anderen Vertheidiger fand, nicht bewiesen. 
Wie oft begränzt sich das Gangrän, ohne dass Erscheinungen 
von allgemeiner Infeetion vorhanden sind, und wie oft kehrt 
das Gangrän zurück, nachdem man in anscheinend ganz ge- 
sunden Theilen operirt hat? | 

Man hat, wie es scheint, zu wenig Acht gegeben auf die 
verschiedenen Ursachen des Gangräns; denn es ist nicht 


gleichgültig, ob das Gangrän durch die Verletzung selbst an 
der verletzten Stelle, durch Zerreissung oder Verschliessung 


von Gefässen oder durch Contusion oder anderweitige Ver- 
letzung von Nervenstämmen, oder durch intensive Entzün- 
dung hervorgerufen ist, oder ob es nicht an der verletzten 
Stelle oder nach einer bedeutenden Contusion ohne Verwun- 
dung entsteht; — ob es oberflächlich ist und sich nur auf 
die Haut und das unter ihr gelegene Bindegewebe erstreckt; 
oder ob es den Theil in seinem ganzen Dickendurchmesser 
befällt — ob es durch sogenannte Commotion von Nerven- 


1 


stämmen oder durch Verletzung der Haut- und der vasomoto- 
rischen Nerven, oder durch irgend eine andere Ursache zu 
Stande gekommen ist. Es ist bekannt, dass das Gangrän, 
welches oberflächlich bleibt, und nur die Haut und ihr Bindege- 
webe affieirt, sich am schnellsten weiter verbreitet, und mithin 
am ehesten lethal ablaufen wird. Es ist weiter bekannt, dass 
die Amputation bei bedeutender Commotion von Nervenstäm- 
men, vermindertem Gefühle, und verminderter Temperatur, 
die weitere Verbreitung des Gangräns nicht verhindern kann, 
und es ist wahr, dass die Amputation vorgenommen werden 
muss bei Gangrän, das sich an der Verletzungsstelle der 
Tiefe nach ausbreitet, weil die Extremität doch verloren ge- 
hen würde, wegen Blutung oder aus irgend einer anderen 
Ursache. Aber wir wiederholen es, dass unser Wissen in 
dieser Frage noch nicht genug gereift ist, um ein sicheres 
Urtheil zu fällen, so dass wir die Untersuchungen und Beo- 
hbachtungen von Chirurgen abwarten müssen, welche dieser 
Frage ihre Aufmerksamkeit schenken wollen, und dabei 
über das nöthige Material zu gebieten haben. 

Ich weiss sehr wohl, und hierin geht es mir so wie an- 
deren Chirurgen, dass es misslich ist sich der hoffnungslosen 
Lehre zu übergeben, dass man das Gangrän nur fortschrei- 
ten lassen müsse, da man es in seinem Laufe doch nicht 
hemmen könne; ebenso weiss ich, wie schwer es fällt, sich 
vom Operiren zu enthalten, wenn man das Gangrän stets um 
sich greifen sieht, so dass es dem Rumpfe immer näher rückt; 
auch habe ich empfunden, wie gerne man den Kranken 
Rettung oder Aussicht auf Rettung verschaffen möchte, wie 
gerne man mit Miller sagen möchte: „die Aussicht auf 
Rettung möge gering sein, sie ist die einzige, und der 
Kranke hat ein Recht darauf.’ Dies Alles beweist aber 
nicht, dass man gut handelt, wenn man dieser Lehre folgt. 
Das ist indessen über jeden Zweifel erhaben, dass man 
den Chirurgen nicht verurtheilen darf, der die Amputation 
verrichtet in einem Falle von Gangrän, das sich auf eine 
gefahrdrohende Weise nach .dem Rumpfe hin verbreitet; 
nur das kann man verlangen, dass er sich vollkommen 


72 


davon überzeugt hat, dass er ın gesunden Theilen operirt. 
Wenn dies nicht der Fall ist, wenn das Gangrän in kei- 
nem Verhältnisse zur Intensität der Verletzung steht, wenn 
seine Verbreitung sehr schnell statt findet und dureh consti- 


tutionelle Ursachen befördert zu werden scheint, (obgleich 


es traumatischen Ursprungs ist,) dann wird man, wie ich 
glaube, wohl thun sich jedes Eingriffes mit dem Messer 
zu enthalten. 


(Nederl. Tijjdschr. voor Heel- en 
Verloskunde.) 


k 


} 
# 


IAIIAIIANAAAAANAAAIINIIANAARANAnN 


Veber ein Instrument zur Zerstörung der galvani- 
schen Polarisation bei der Untersuchung 
thierischer Gewebe. 


nach 
H. BEINS )), 


——— 


Es ist allgemein bekannt, dass die galvanische Polarisation 
der Untersuchung thierischer Gewebe stets grosse Hinder- 
nisse in den Weg legte. Man hat zwei Wege eingeschla- 
gen, um ihren Einfluss zu zerstören. Entweder hat man 
dahin gestrebt die einmal vorhandene Polarisation aufzuheben, 
oder man hat versucht die Entstehung der- Polarisation ganz 
auszuschliessen. 

Letztere Methode hat man bei constanten Batterien ange- 
_ wendet, indem man nämlich eine Lösung eines schweren 
Metallsalzes als Zwischenflüssigkeit wählte. Hierdurch wird 
das positive Produkt der Electrolyse metallisch auf der ne- 
gativen Pole abgesetzt, während eine aequivalirende Menge 
des negativen Produkts an der positiven Pole gelöst wird. 
Hierauf beruht auch die Galvanoplastik. De la Rive eitirt 
8. 22 ım dritten Band seines berühmten Werkes in einer 
Note eine Anwendung dieser Methode bei electrophysiologi- 
schen Versuchen. ,„Entre autres precautions,’” heisst es an 


1) Verhandeling over de galvanische polarisatie met betrekking tot de 
leer der dierlijke electriciteit, en over de middelen om haren invloed 
bij het onderzoek te voorkomen. Dissertatio inauguralis, Gron. 1858. 


74 


der betreffenden Stelle, „M. J. Regnault emploie, afın 
„d’eviter les polarites secondaires, pour fermer le eireuit, 
„une dissolution concentree de sulfate de zine avec des &lee- 
„trodes en zine, au lieu d’une dissolution de sel ordinaire 
„avee des lames en platine.” Ich habe mir viele Mühe ge- 
geben um die Weise, worauf Regnault die thierischen Ge- ’ 
webe angebracht hat, ausfindig zu machen. Wenn man aber | 

die möglichen Enichinein; deren er sich bedient haben 
kann, erwägt, so kann man wohl im Allgemeinen annehmen, 
dass er den Strom entweder unmittelbar oder vermittelst einer 
Zwischenflüssigkeit. in die schwefelsaure Zinklösung abge- 
leitet haben muss. In beiden Fällen wird (abgesehen von | 
der Annahme der Flüssigkeitsleitung bei der mittelbaren Strom- 
ableitung), sobald der Strom den Apparat durchläuft, von der 
negativen Electrode Schwefelsäure, von der positiven Zink 
abgestossen, um an den entgegengesetzten Electroden vermit- 
telst der zwischengelegenen Flüssigkeitsmolekeln abgesondert 
zu werden. Dies würde geschehen können, wenn der Weg 

von der einen Eleetrode zu der anderen eine unabgebrochene 
flüssige Strombahn wäre, die zu untersuchenden thierischen 

Gewebe machen aber einen Theil dieser Strombahn aus, die 
daher durch eine grösstentheils feste Masse unterbrochen wird. 
Die Folge davon ist, dass Schwefelsäure und Zink, an den 
Geweben der thierischen Theile angelangt, aufgehalten und 
Gelegenheit finden werden, sich mit einer der organischen 
Bestandtheile der thierischen Gewebe zu verbinden. Der Mus- 
kel oder Nerv wird mithin immer mehr zerstört werden, wäh- 
rend die fortwährende Bildung von Präeipitaten den Leitungs- 
widerstand für die übriggebliebenen Ströme vergrössert, sodass 
der Nerv inwendig noch leben kann, während die Ruhe im 
Multiplicator ihn schon abgestorben denken lässt. 

Es ist wohl möglich, dass die Ströme, welche in Folge 
dieser chemischen Verbindungen auf der Gränze von Flüs- 
sigkeits- und Nervenmasse auftreten , einander vielleicht gerade 
aufheben, so dass sie der Genauigkeit der Nadelanweisung 
keinen Eintrag thun. 

Die schweren Metallsalze können daher in der Eleetro- 


15 


physiologie nur wenig Anwendung finden. Man darf sie nur 
da benutzen, wo nur der erste Ausschlag beobachtet werden 
soll, wie ihn Regnault bei der Untersuchung über, die 
Intensität der thierischen Ströme mass. Hierbei kann keine 
Rede sein von einer dauernden Abweichung oder von dem 
genaueren Studium der Gesetze der Stromabnahme in dem- 
selben Nerven nach dem Tode, oder von dem Studium an- 
derer Abwechslungen in dem Werthe des thierischen Stromes. 

Die zweite Methode, welche in dem Aufheben der bereits 
entstandenen Polarisation besteht, findet hier gepasstere An- 
wendung. Dieses Aufheben kann durch eine Bewegung der 
negativen Eleetrode in der Zwischenfiüssigkeit geschehen , 
wodurch die Wasserstoflage gleichsam abgespült wird. Bec- 
querel hat dies deutlich durch folgenden Versuch dar- 
gethan. Man nehme ein Platina-Zink Element.. In der Ruhe 
giebt diese Combination in einer Lösung von schwefelsaurem 
Natron bei einem nur wenig empfindlichen Galvanometer eine 
Abweichung von 8°. Wenn man nun die Platten mit eini- 
ser Geschwindigkeit in der Flüssigkeit bewegt, so nimmt 
die Abweichung bis auf 20° zu. Wenn man verdünnte 
Schwefelsäure nimmt, so ist die Abweichung geringer; streut 
man aber überflüssiges Kohlenpulver in die Schwefelsäure, 
sodass man eine breiige Masse erhält, dann ist der Einfluss 
der Plattenbewegung viel grösser. Die Kohle kann hier da- 
durch wirken, dass sie den abgeriebenen Wasserstoff sogleich 
absorbirt. Sand hatte nicht diese Auswirkung. Man kann 
mithin bei der Anwendung von Kohlenpulver nicht an einen 
durch Reibung entstandenen Strom denken !). 

Beequerel?°) bedient sich aber ausserdem noch eines Ap- 
parates, der so eingerichtet ist, dass jede der beiden Eleetro- 
den abwechselnd bald positiv bald negativ wird, sodass 
hierdurch die Polarisation aufgehoben wird; der Wasserstoff 
verbindet sich dann alsbald wiederum mit dem neuen hinzu- 
tretenden Sauerstoff. Becquerel unterbricht jedesmal den 


1) A. de la Rive, Bd. II. S. 719 u. folg. 
2) Beequerel, Traite d’electr. et de magnet., S. 189 u. folge. 


16 


Strom zwischen den beiden Eleetroden, und kehrt ihn dann 
um; den Einfluss davon auf den Multiplicator hebt er da- 
ch auf, dass er zu gleicher Zeit die Multiplicatordrähte,” 
verwechselt, sodass dieselbe Draht immer mit derselben Elce- 
trode in erben bleibt. 8 

Diese Methode ist jedenfalls die beste, um die Nachtheilel 
der secundären Erscheinungen zu u und nur sie 
kann in der Eleetrophysiologie Anwendung finden, da man 
keinen nachtheiligen Einfluss auf die zu untersuchenden thie- 
ischen Theile zu befürchten hat. Den einzigen Nachtheil 
den diese Methode bewirkt, besteht in der Stromesschwä- 
chung in Folge des fortwährenden Abbrechens und Umkehrens 
des Stromes; die Reinheit der Beobachtung leidet aber nicht” 
darunter, und dieser Nachtheil findet eine Compensation, in- 
dem der schwächende Einfluss des Uebergangswiderstandes” 
ganz wegfällt. j 

Nach dieser Methode habe ich ein Instrument anfertigen 
lassen, das mir sehr befriedigende Resultate geliefert hat.’ 
Diesie Instrument will ich hier nur mit kurzen Auge 
angeben. J 

Eine Kurbel bringt 4 gezahnte Räder in Bewegung. Jeded | 
dieser Räder hat 20 Zähne und ebensoviele Zwischenräume. 
Zwei dieser Räder stehen in metallischer Verbindung ni 
den Multiplieatordrähten. Die zwei anderen wirken auf die 
federnden beweglichen Eleetroden. Alle vier Räder sind so 
angebracht, dass von je zwei zu einandergehörigen abwech- 
selnd Zahn und Zwischenraum mit einander correspondiren. 
Die metallische Verbindung der Multiplieatordrähte mit den 
zwei Rädern ist durch zwei gebogene aufwärtssteigende me- 
tallische Leisten so hergestellt, dass jedes Metallstück, das auf 
der einen Seite mit der den Multiplieatordraht tragenden 
Klemmsehraube in fester Verbindung ist, auf der anderen 
Seite, wo es mit den Rädern in Berührung kommt, ein brei- 
tes Ende trägt, das über beide Räder hingespannt ist. Dies 
Ende schliesst sich nun in dem einen Augenblicke an den 
Zahn 1 des Rades a und zu gleicher Zeit an den Zwischen- 
raum 1 des Rades b an, während es in dem folgenden Augen- 


77 


blicke mit dem Zwischenraume 1 des Zahnes a und dem 
Zahne 1 des Rades b in Berührung sein wird. Dadurch steht 
das eine Ende der metallischen Leitung abwechselnd, während 
der Umdrehung der Räder mit dem Rade a oder b in metal- 
lischer Verbindung, während zu gleicher Zeit das andere 
ebenso gebildete Ende, das mit dem anderen Multiplieatordraht 
in Verbindung steht, die leitende Berührung mit dem Rade 
a und b abwechselt. 

Während durch dieses Spiel der metallischen Schleifen , 
welche den electrischen Strom von den Rädern «a und 5b auf 
die Multiplieatordrähte übertragen helfen, der Strom in die- 
sen Drähten fortwährend abgewechselt wird, geschieht das- 
selbe durch die zwei anderen Räder c und d, welche die 
federnden sorgfältig eingerichteten Elecetroden, von denen die 
Bleetrieität auf die Räder a und 5b, und so weiter auf die 
Multiplieatordrähte übertragen wird, abwechselnd von dem 
einem Pole zu dem anderen schleudern, indem Rad c vermittelst 
seines Zahnes auf einen hervorragenden Punkt der einen fe- 
dernden Electrode stösst, während zu gleicher Zeit der ent- 
sprechende hervorragende Punkt der anderen Eleetrode mit 
einem Zwischenraume in dem Rade d zusammentrifft. Letz- 
tere Electrode wird in Ruhezustand zurückkehren, während 
erstere in demselben Augenblicke in Bewegung gebracht 
wird. Beide wechseln dabei die Pole, womit sie in Be- 
rührung waren; während nun die Multiplicatordrähte zu 
gleicher Zeit umgedreht werden, bleiben dieselben Elec- 
troden stets mit denselben Drähten in leitender Verbindung, 
obgleich erstere bald positiv bald negativ sind. 

Für die weiteren Details müssen wir auf die originelle 
Abhandlung verweisen, da sie ohne Abbildung nicht leicht 
verständlich gemacht werden können. 

Die Electroden hängen zwischen zwei runden in einem 
Brette befestigten Kästchen mit der stromleitenden Flüssig- 
sigkeit. Diese Kästehen sind auf ihrer ganzen Oberfläche 
mit Firniss angestrichen. Die an der inneren Seite gelegene 
Berührungsstelle mit den Eleetroden ist frei von Firniss und 
mit einer vierfachen Lage Fliesspapier bekleidet. An der 


78 


unteren Seite dieser Kästchen sind zwei hervorragende Stellen, 
die durch Drehung dieser Kästchen beliebig weit von einan- 
der entfernt werden können, und den zu untersuchenden 
thierischen Theil zwischen sich aufnehmen. 2 

Jedes Kästchen nun ist abwechselnd positiv oder negativ, 
sobald sie mit einem thierischen Theile in Verbindung ge- 
bracht sind; hierdurch wird der Uebergangswiderstand auf- 
gehoben, den der Strom, der vom organisirten Zwischen- 
theile ausgeht, zu entwickeln strebt. k 

Jedes Kästchen (?) bleibt durch die doppelte Verwechslung 
stets mit demselben Multiplieatordrahte in Verbindung. Hier- 
durch wird es möglich den Strom im thierischen Theile rein 
auf dem Multiplicator abzulesen, sobald man die Gewissheit 
erlangen hat, dass die Köstehen selbst keine ungleichen Und 
reinheiten- uthalten was leicht zu vermeiden ist. 

Die Bewegung der Electroden selbst wirkt auch sehr gün-. 
stig auf die Zerstörung des Uebergangswiderstandes. Diese 
Bewegung hat aber oft das sehr unangenehme Spritzen der 
Flüssigkeit zur Folge, welches durch die Kraft, womit die 
Blectroden an die Kästehen anschlagen, verursacht wird. Und 
diese Kraft ist nicht so ganz unbedeutend, wenn man be- 
denkt, dass nur eine Umdrehung des Rades in der Sekunde 
40 Ortswechsel der Eleetroden bedingt. Die Kästchen kom- 
men aber durch die Anfeuchtung des zwischenliegenden Brettes 
ın leitende Verbindung, olıne dass noch ein thierischer Theil 
zur Prüfung zwischen sie eingeschoben ist. Man sieht die 
Nadel hierdurch abweichen. Ebenso störend wäre aber 
dieses Spritzen bei dem durch thierische Theile geschlosse- 
nen Strom. 

Durch Schrauben wird darum der Stand in der Ruhe und 
die Schwingungsgrösse der Electroden so geregelt, dass diese 
Unannehmlichkeit des Spritzens hierdurch soviel wie möglich 
verhindert wird. Ausserdem sind verschiedene Schirme von 
Holz so angebracht, dass der Apparat durch das noch vor- 
handene Spritzen nicht verunreinigt werden kann. Der thie- 
rische Theil, von dem der Strom abgeleitet werden soll, wird 
durch einen hohlen Glaseylinder vor diesem Spritzen bewahrt. 


19... 


Die Bauschen Fliesspapier, welche die berührenden Theile 
der Electroden und der Kästchen bekleiden, haben wir mit 
_ feiner Leinwand überzogen, weil durch das Anschlagen der 
Eleetroden leicht Fäserchen los werden, welche unerwünschte 
leitende Verbindungen darstelien helfen. 


Spontane Evolution einer Waceine-Pustel während | 


des Verlaufes von Varioloiden 


nach 


Dr. MERKUS DOORNIK. 


m —— 


Den 5ten Mai dieses Jahres wurde meine Hülfe bei einem 
dreizehnjährigen Mädchen eingerufen. Sie war in ihrer Ju- 


| 
| 


j 
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F 
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gend mit gutem Erfolge vaceinirt worden und trug die Nar- 
ben davon deutlich erkennbar auf ihrem Arme. Ich fand sie 
an Varioloiden erkrankt. Die Eruption hatte auf dem Ge- 
sichte angefangen. Als später auch die oberen Extremitä- 
ten mit dem Exanthem überzogen waren, entwickelte sich 
eine Papula auf einer Narbe am linken Arme, welche sich \ 
so sehr von den übrigen Pusteln unterschied, dass die Kranke 


selbst mich aufmerksam darauf machte. Um die Papula er- 
schien eine Areola, während die Papula sich weiter zu einer 
Pustei entwickelte, welche sich in nichts von einer Vaceine- 
Pustel unterschied; erhabener weisser Rand in der Mitte ver- 
tieft, am Ste Tage mit Lymphe gefüllt. Auch die Borke 
der eingetrockneten Pustel hatte ganz das Verhalten wie die 
der Vaceine-Pustel, und war deutlich von den Borken der 
Varioloiden unterschieden. 

Diese Beobachtung hätte ich vielleicht nicht veröffentlicht, 
wenn nicht unter der Aufschrift „un fait nouveau dans V’his- 
toire de la vaceine’’ zu meiner grossen Genugthuung eine 
ähnliche Beobachtung in den Annales de la soceiete medico- 


chirurgieale de Bruges (XIX annde, 2me- Serie, tome VI, 


5me et Gme livr. 58) mitgetheilt worden wäre. 
(Ned. Tijdschr. v. Geneesk.) 


= >> on 


De ee a ee a Te EEE 


Einige Untersuchungen zum Beweise, dass Entzün- 
dung nur von dem arteriellen Systeme ausgeht. 


\ 
von 


J. L. C. SCHROEDER VAN DER KOLK. 


Dass arterielles, mit Sauerstoff versehenes Blut bei allen 
Lebensverrichtungen, bei der Erhaltung der Nervenwirkungen, 
wie bei der Ernährung und Secretion, eine Hauptrolle spielt, 
ist wohl so allgemein anerkannt, dass es keines näheren 
Beweises dafür bedarf; die merkwürdigen Versuche und In- 
jeetionen mit arteriellem geschlagenem Blute von Brown- 
Sequard haben diese schon von Bichat angedeutete Wahr- 
heit noch näher erhärtet und über jeden Zweifel erhoben. 

Es kommt mir nur vor, dass man bei pathologischen Zu- 
ständen keine hinreichende Anwendung von dieser Wahrheit 
gemacht hat. Wiewohl man aus der Rolle, welche das ar- 
terielle Blut bei der Ernährung und dem Stoffwechsel spielt, 
seine Nothwendigkeit für den Entzündungsprocess hätte her- 
leiten müssen, so ist solches doch nach meinem Dafürhalten 
bis jetzt noch nicht in Details dargethan. 

Es war namentlich die Frage über die Rolle, welche das 
arterielle Blut bei der Entstehung von Entzündung und 
ihren Ausgängen in zwei für das vegetative Leben höchst 
bedeutenden Organen, der Leber und der Lunge, spielt, 
welche mir ein besonderes Interesse zu gewähren schien, um 
so mehr als diese Organe eine grosse Menge venösen Blutes 
zugeführt erhalten. Ich hielt es nun der Mühe werth, einige 


Untersuchungen anzustellen zur Beantwortung der Frage, ob 
El, | 6 


82 


der Entzündungsprocess in diesen Organen nur von den 


Arterien ausgeht, oder ob auch die Venen einen wirksamen 


Antheil daran nehmen. 


Dass die art. hepatica, wenn auch nicht der einzige, doch 


der hauptsächlichste Ausgangspunkt für die Entzündung sei, 


war zu vermuthen; bei den Lungen war es nicht so leicht 
vorauszusetzen, dass die art. pulm. z. B. bei der Pneumonie 
keinen Antheil an der Entzündung nähme, da die so klei- 
nen art. bronchiales die dazu nöthige Blutmenge nicht zu- 
führen zu können scheinen. 


Um hierüber mehr Gewissheit zu erlangen, habe ich In- 


jeetionen mit Farbstoffen in die Arterien und Venen dieser 


Organen machen zu müssen geglaubt, und zwar bei ver- 
schiedenen krankhaften Zuständen derselben. Die dabei er- 


haltenen Resultate will ich hier kurz mittheilen. 
Was zuerst die Leber anlangt, so habe ich namentlich 


Leberabscesse, wie sie bei dem Menschen und verschiedenen 


Thieren, hauptsächlich Kaninchen vorkommen, untersucht. 


Die art. hepatica wurde mit gelber oder rother, die vena | 


portarum mit blauer, die vena hepatica mit weisser und 


mitunter die vasa bilifera mit gelber Masse gefüllt. 

Bei allen untersuchten Objeeten fand ich in den Wänden 
des Abscesses nur arterielle Gefässe; mitunter war aber auch 
die in die vena hepatica eingespritzte weisse Masse bis in 
die Abscesswand vorgeschritten, zum Beweise dass die in 


der Abscesswand neugebildeten Arterien ihr Blut in die vena 


hepatica übergeführt hatten. Nie aber kamen Aeste von 
der vena portarum in der Gefässwand vor. Sehr schön 
wurde das eben Auseinandergesetzte an einer Kaninchen- 
leber beobachtet, die nur kleine Abscesse darbot; die Arte- 
rien dieser Leber wurden mit gelber, die vena portarum 
mit rother-Masse gefüllt und die Leber darauf getrocknet. 
An mikroskopischen in Canadabalsam aufgehobenen Präpa- 
raten dieser Leber sieht man nun eine grosse Menge neuer 
arterieller Gefässe um den Abscess herum, was um so auf- 
fallender ist, als die Aeste der art. hepatica sonst stets 
durch die der vena hepatica begleitet und nie als alleinste- 


83 
hendes Capillarnetz angetroffen werden. Hier waren mithin 
von der Arterie ausgehend viele neue Capillargefässe um 
den Abscess herum gebildet worden 1). 

Hieraus geht deutlich hervor, dass nur die Arterien einen 
wirksamen Antheil an diesem pathologischen Processe nehmen, 
und dass mithin die Entzündung durch die erhöhte Wirk- 
samkeit der Arterien zu Stande kommt, ohne dass die vena 
portarum sich hieran besonders zu betheiligen scheint. 

Hiermit scheint eine andere Erscheinung zusammenzuhän- 
sen. Wenn man nämlich, wie ich es schon vor 30 Jahren 
gethan habe, die verschiedenen Blutgefässe von einer an 
mehreren Stellen von fungus melanodes afflieirten Leber mit 
verschiedenen Farbstoffen injieirt, so werden in der weisslichen 
fungösen Masse nur Arterien wiedergefunden, woraus her- 
vorgeht, dass diese Neubildung auch von den Arterien aus- 
geht. Kein einziges Aestchen der vena portarum, die übri- 
sens gut gefüllt war, liess sich bis in diese Geschwülste 
verfolgen, was sogar ein Kriterium abgiebt zur Unterschei- 
dung dieser fungösen Geschwülste von anderen Entartungen 
und Entfärbungen, die äusserlich sehr viele Uebereinkunft 
mit den fungösen Geschwülsten haben und auch öfter damit 
verwechselt worden sind. Ich meine die von mir sogenannte 
albescentia ?) hepatis, welche durchaus nicht zu den Neubil- 
dungen gehört, sondern vieleher eine Entartung des Leber- 
gewebes ist, da die Lebercellen dabei zu Grunde gehen. 
Dadurch entsteht eine weisse dem. Fungus ähnliche Farbe, 
die einer mit Adern und zwar, Aesten der vena portarum 
versehenen Masse angehört, wie man nach Einspritzung 
dieser Vena sehen kann. 

Die Frage nach dem Antheil, welchen die arter. pulmo- 
nalis und ihre Aeste an versehiedenen Entzündungszuständen 
nehmen, ist eine schwierigere aber jedenfalls wichtigere. 


1) Die bedeutendere Entwickelung und Erweiterung der Arterien um 
den Leberabscess herum ging auch daraus hervor, dass die gelbe 
Masse in das umgebende Netz der vena port., und die rothe in 
einige neuen arteriellen Gefässe vorgedrungen war. 

2) C. L. Backer, Diss. de structura hepatis, 1845, pag. 60. 

6* 


54 


Es ist bekannt, dass die arteriae bronchiales in den Lun- | 
gen mit den Bronchien verlaufen, dass sie in ihrem Gewebe 


in feine Aeste aufgehen, die in das so reiche Gefässnetz 
der Schleimhaut der Bronchien übergehen. Das Blut wird 


in dieser Schleimhaut wiederum arteriell und wird dann | 


durch besondere venae pulmonales weggeführt; diejenigen 
Aeste der arteriae bronchiales, welche nicht bis in die Schleim- 
haut vordringen, und deren Blut in Folge des Ernährungs- 
processes venös geworden ist, finden einen Ausweg für ihr 
Contentum in die venae bronchiales.. Es ist namentlich von 
Reisseissen nachgewiesen, dass die Aeste der art. bron- 
chiales sich in ihrem weiteren Verlaufe vorzüglich in dem 
Bindegewebe zwischen den lobi und den lobuli verbreiten, 
und daselbst überall mit dem Capillarnetze, woraus die 
venae pulmonales entspringen, zusammenhängen, was ich 
Gelegenheit hatte bei vielen Injectionen zu bestätigen }). 
Hieraus scheint die Erklärung für die sehr geringe Grösse 
der arteriae bronchiales verglichen mit der der art. hepatiea, 
geschöpft werden zu können; da nämlich das für so grosse 


Organe, wie die Lungen sind, an der Menge arteriellen 


Blutes Fehlende angefüllt wird mit dem in dem allgemeinen 


Capillargefässnetz durch die Respiration arteriell gewordenen 


Blut. So hat man denn auch bei Injectionen mit verschie- 
denen Farbstoffen Gelegenheit zu beobachten, dass die in 
die art. bronchiales eingespritzte Masse nicht nur mit grosser 
Leichtigkeit in die ven. pulmonales übergeht, sondern auch 
von den ven. pulmonales aus wieder in die art. bronchiales 
zurückgeführt werden kann; dies geschieht nur äusserst selten 


bei der Injection der art. pulmonales mit einer feinen Masse ?). 


Die Gränzen des arteriellen Gefässnetzes der art. bron- 
chiales und ven. pulmonales sind daher weniger beschränkt 
und beide Gefässsysteme sind überall in genauerem Zusammen- 


1) F. D. Reisseissen, Ueber den Bau der Lungen, Berlin 1822, 
pag.. (13, Taf. IL, fig. 4,5, .Taf. IV, fig..6, Tar vu ne 1 32 

2) Adriani, Diss. de subtiliori pulmonum structura, Traj. ad Rhen. 
1847, pag. 55. 


85 


hange, so dass ihre Unterscheidung bei pathologischen Zu- 
ständen dadurch oft schwierig wird, wie wir weiter unten 
sehen werden. 

Sehon vor 30 Jahren habe ich über diesen Zusammenhang 

Beobachtungen gemacht und beschrieben !). 
' Daraus ging hervor, dass bei Adhäsionen der Lungen mit 
der pleura costalis, die Gefässe der Lunge vermittelst neuer 
Gefässbildung mit den vasa intercostalia eommunicirten, so 
_ dass Injeetionsmassen aus den Gefässen der Lunge in die 
intercostalen und umgekehrt übergingen. Da ich jedoch damals 
die art. bronchiales von der Aorta thoracica aus füllte, so 
wurden zu gleicher Zeit die art. intercostales injieirt; ich 
glaubte daher diese früheren Beobachtungen auf genauere 
Weise wiederholen zu müssen. | 

In einer Leiche wurde die eine Lunge entfernt, darauf 
die Aorta der Länge nach geöffnet und ein feines Röhrchen 
in den Stamm der arteria bronchialis gebracht, welche aus 
dem Aortenbogen schief gegenüber der arteria subelavia si- 
nistra entspringt; weiter wurden ‘andere Röhrchen in die 
arteriae intercostales gebracht, während von dem Herzen aus 
auch die arteriae und venae pulmonales mit Injeetionsröhrchen 
versehen wurden. In allen untersuchten Fällen füllte ich 
die arteriae bronchiales mit gelber, die intercostales mit 
weisser, die arteria pulmonalis mit blauer, die venae mit 
rother Masse. Die Injection selbst geschah auf sehr vor- 
 sichtige Weise, damit die Pseudomembranen geschont blie- 

ben und nicht zerrissen wurden. 

Fast in allen Fällen, namentlich wenn viele Pseudomem- 
branen die Lungen und die Costalseite der Pleura vereinigt 
hatten, sah ich alsbald die gelbe in die arteriae bronchiales 
eingespritzte Masse durch die arteriae intercostales wiederum 
in die Aorta abfliessen,, sodass hieraus schon hervorging, dass 
zwischen den arteriae bronchiales und intereostales, eine 
neue Gefässverbindung entstanden sein musste. In allen die- 
sen Fällen waren alle Gefässe der Pseudomembranen gelb 


1) Observationes anatomico-pathologicae, 1826, pag. 85 sqgq. 


86 


oder weiss gefärbt, wie schön auch die vena pulmonalis 
mit blauer Masse gefüllt sein mochte; hieraus folgt, dass 


die Pseudomembranen durch Entzündung der arteriae bron- 
chiales oder intereostales, keineswegs aber durch Entzündung 
der venae pulmonales gebildet waren. 

Bei Verwachsungen der Lungenlappen vermittelst Pseudo- 
membranen ohne Adhäsion mit dem Brustkasten, waren nur 
gelbe Gefässe aus den arteriae bronchiales in diesen Pseudo- 
membranen sichtbar, wiewohl die art. pulmonalis blau und 
die venae pulmonales roth gefärbt waren in Folge der Ein- 
spritzung mit entsprechend gefärbten Massen. Nur selten 
wurde ein vereinzeltes oder noch seltener ein blaues Gefäss- 


chen gesehen, wenn die injieirte Masse zu sehr in das all- 


semeine Capillarnetz vorgedrungen war. 
Zu wiederholten Malen habe ich Gelegenheit gehabt zu beo- 
 bachten, wie bedeutend dieser Uebergang von Blut aus den 


arteriae bronchiales vermittelst der Pseudomembranen in die 


arteriae intereostales sein kann. In einem Falle z. B. sah ich 
die gelbe Masse, womit die arteriae bronchiales injieirt wor- 


den waren, (arteriae und venae pulmonales waren daneben 


mit blauer und rother Masse gefüllt), zu meiner grosser Ver- 
wunderung bis in die arteria basilaris vordringen. Bei der 
genaueren Untersuchung stellte es sich heraus, dass die 


gelbe Masse ihren Weg von den arteriae bronchiales in die 


arteriae intereostales, von da in die arteriae thoracicae und 
so in die arteria subelavia und vertebralis nach dem Gehirae 
senommen hatte. Es ist nun leicht zu begreifen, dass diese 
einfache Communication und dieser vielfältige Zusammen- 
hang, wodurch der kleine Kreislauf in den Lungen sich bis 
in den allgemeinen Kreislauf der auswendigen Thoraxwand 
erstreckt, seinen Einfluss auf die Lungen selbst, in welchen 
das Blut unter einem geringeren Drucke steht, ausüben muss, 
und dass daher auf diese Weise oft arterielles Blut von der 
Brustwand nach den Lungen getrieben werden wird. 
Hieraus geht aber zur Genüge hervor, dass die Pseudo- 
membranen bei Pleuritis durch Entzündung entstehen, welche 
von den arteriae bronchiales und intercostales ausgeht, und 


57 


dass die venöses Blut enthaltende vena pulmonalis keinen 
direeten Antheil daran hat. Weiter wird es hieraus klar, 
warum Blutegel auf die auswendige Brustwand applieirt zur 
Bekämpfung der Entzündung mehr nützen als Aderlässe, 
welche ihren Einfluss mehr auf das ganze Gefässsystem, 
aber nicht so ausschliesslich auf die arteriae bronchiales und 
intercostales geltend machen können. Auch seibst im Falle, 
dass die Verbindung der Lungengefässe mit denen der aus- 
wendigen Brustwand noch nicht hergestellt ist, lässt sich 
der Nutzen von auf die Brustwand applieirten Blutegeln leich- 
ter erklären, da nämlich alsdann das Blut aus der Aorta 
mehr nach den art. intercostales hingezogen wird, wodurch 
der Andrang des Blutes nach den arteriae bronchiales hin 
vermindert wird. Wenn aber die wirksame Ursache der Ent- 
zündung in der arteria pulmonalis gesucht werden müsste, 
so wäre von der Anwendung von Blutegeln auf die auswen- 
dige Brustwand wegen des grossen Umweges kaum einige 
Ableitung zu erwarten. 

Nichtsdestoweniger scheint die Frage nach den Blutge- 
 fässen, durch welche bei Pneumonie und ihren verschiedenen 
Ausgängen die Entzündung verursacht wird, grössere Schwie- 
rigkeiten zu bieten. Es scheint anfangs nicht so leicht an- 
nehmbar, dass die so kleinen arteriae bronchiales im Stande 
sein sollten, eine hinreichende Menge Blut zuzuführen, wenn 
man die bedeutende Veränderung und ansehnliche Ausschwi- 
tzung in die Lungencellen in Betracht zieht, welche oft 
in so kurzer Zeit bei Entzündung des Lungengewebes und 
ihrem Ausgange in Hepatisation zu Stande kommt. 

Darum habe ich den Zustand der betreffenden Gefässe bei 
weit fortgeschrittener Hepatisation untersucht, indem ich 
dieselben auf die obenerwähnte Weise mit verschieden ge- 
färbten Massen injieirte. 

Hierbei muss ich aber sogleich bemerken, dass die Injec- 
tion in die meisten Gefässe nicht mehr eindringt, so bald 
die Hepatisation eine gewisse Festigkeit in Folge der aus- 
geschwitzten Massen in die Lungenbläschen erhalten hat, so 
dass bei der so genannten hepatisatio grises nur die Haupt- 


88 


gefässe und kleineren Stämmchen, welche sich zu den Lungen- 


bläschen begeben, gefüllt werden. Das feine Gefässnetz um die 


Lungenbläschen herum scheint verschwunden zu sein, oder 
lieber ist verstopft, sodass es nicht mehr gefüllt werden kann. 

Dennoch fand ich die gelbe in die arteriae bronchiales 
eingespritzte Masse in den am bedeutendsten hepatisirten 
Theilen der Lunge noch zurück. In gesunden Lungen dringt 


die gelbe in die arteriae bronchiales eingespritzte Masse 


selten bis in die Lungenbläschen oder ıhre Umgebung vor, 
so dass mir hieraus hervorzugehen scheint, dass auch bei 


u ne a aa 


Pneumonie die arteriae bronchiales den Hauptantheil an der 
Entzündung nehmen. Sie schienen mir auch in diesen Fäl- 


len erweitert zu sein. 


Hierbei müssen wir nicht vergessen, dass, wie wir oben 


schon erwähnten, die Aeste der Bronchialarterie mit dem in 
den Lungenbläschen arteriell gewordenen Blute in Verbin- 


dung stehen, wodurch auch diese Gefässe einen wirksamen 


Antheil an der Entzündung nehmen können. Wenn nun 
aber die ganze Lunge mehr oder weniger für die Respira- 
tion untauglich geworden ist, so erhält eine solche Lunge 
noch immer Zufuhr von arteriellem Blute durch die arteriae 
bronchiales, wenn die andere Lunge noch funetionirt; hier- 
durch wird die Möglichkeit erklärt, wie die Entzündung in 
einer solehen Lunge noch fortdauern kann, obgleich das 
Blut der arteria pulmonalis in Folge der Verstopfung und 


Anfüllung der Lungenbläschen nicht mehr in arterielles Blut 


umgewandelt werden kann. 


Die Untersuchung über die Art der Gefässe in der Wand 


einer vomiea in der Lunge hielt ich für sehr wichtig, na- 
mentlich um zu sehen, ob auch hier wie beim Abscess in 
der Leber das arterielle Blut eine Hauptrolle spielt. Zu 


dem Behufe injieirte ich auf die oben beschriebene Weise | 


eine Lunge mit einer vomica von ansehnlicher Grösse; diese 
Lunge war überdiess durch sehr feste Pseudomembranen 
überall mit dem Brustkasten und dem Diaphragma verwach- 


sen. Alsbald sah ich die gelbe in die Bronchialarterien in- 


jieirte Masse in reichlicher Menge aus einer in der vomica 


89 


vorhandenen Oeffnung fliessen; als ich darauf die Lungen- 
venen mit roth füllte, wurde die vomica auch mehr oder we- 
niger roth gefüllt; aus einer anderen vomica aber in derselben 
Lunge floss blaue Masse in bedeutender Menge, welche in 
_ die arteria pulmonalis getrieben war. Bei näherer Unter- 
suchung stellte es sich heraus, dass die blaue Masse von 
einem ziemlich grossen Aste herrührte, der durch den An- 
drang der Injectionsmasse geborsten zu sein schien. Die 
Wände der vomica waren aber zum Theile mit einer neuen 
Pseudomembran (vielleicht beginnende Genesung), zum Theile 
mit äusserst schönen rothen und gelben Capillargefässen be- 
kleidet; nirgends aber war die blaue Masse in diese Capil- 
largefässe vorgedrungen. Hieraus ging hervor, dass auch 
bei der Bildung der vomica vorzüglich arterielles Blut, das 
zum Theile von den Bronchialgefässen, zum Theile von dem 
allgemeinen Netze der venae pulmonales herrührt, die Wände 
der vomica durchströmt und die Entzündung rege hält. 
Hieraus geht weiter hervor, warum so oft eine bedeutende 
arterielle Hämopto®, welche Stiekungsfahr herbeiführt, bei 
weit entwickelten vomicae entsteht. Die neuen in den Wän- 
den der vomica gebildeten Gefässe haben nämlich sehr dünne 
zarte Wände; da nun bei dem Verluste eines gewissen Lun- 
 gentheiles das Körperblut durch einen beschränkten Raum 
der Lunge getrieben wird, so ist dadurch eine stete Blut- 
anhäufung in den Gefässen, und bei Zerreissung dieser Ge- 
fässe in dem Rande der vomica ein vermehrter Ausfluss und 
bedeutende Hämopto& bedingt; mitunter kann auch vielleicht 
ein Hauptast bersten. Die rothe arterielle Farbe des zu 
Tage geförderten Blutes beweist überdiess, dass es von zer- 
rissenen arteriellen Bronchialgefässen oder von dem Capil- 
larnetze der venae pulmonales herrührt. Es ist doch nicht 
wohl anzunehmen, dass das Blut diese arterielle Farbe der 
in der vomica und trachea vorhandenen Luft verdanke, da 
das Blut nicht so schnell arteriell wird, wie aus dem Ader- 
lassblute hervorgeht, das in dünnem Strahle die Luft durch- 
strömt, und dennoch in einer Tasse aufgefangen, seine 
dunkele Farbe beibehält. 


90 


In der erwähnten Lunge waren aber die Anastomosen 
mit dem grossen Kreislaufe sehr interessant. Wir haben 
oben vermeldet, dass diese Lunge sehr fest mit dem Brust- 
kasten und Diaphragma verwachsen war. Als ich nun nach 
verrichteter Injection. die Bauchhöhle öffnete, war ich sehr 
überrascht die venae hepatieae und die venae des Diaphra- 
gma mit rother in die venae pulmonales injieirter Masse 
gefüllt zu sehen. Bei genauerer Untersuchung wurden in 
den Pseudomembranen überall roth gefärbte Aeste gefunden, 
welche von dem oberflächlichen Capillarnetze der Lungen- 
venen herrührten; diese Gefässe waren sogar an einigen 
Stellen ziemlich stark. So wurde ein Gefäss von der Dieke 
eines Millimeters gefunden, das direet von der Lunge aus 
in das Diaphragma drang; an dem oberen Theile der Lunge 
ging ein mehr als 3 Millimeter weites Gefäss von der Lun- 
genoberfläche in die venae intereostales und darauf in die 
vena cava über. Die Communication der venae pulmonales 
mit der vena cava vermittelst der v. intercostales war daher 
sehr reichlich, und daher kam es, dass die vena cava in- 
ferior und die venae hepaticae von der Lungenvene aus ge- 
füllt worden waren. Die blaue in die arteria pulmonalis 
eingespritzte Masse war nirgends in den neuen Capillarge- 
fässen zu sehen, wiewohl sie fein genug in das Lungen- 
gewebe penetrirt war. nn) 

Ich halte es für wahrscheinlich, dass die neuen Capillar- 
gefässe, welche aus den venae pulmonales entspringen, stets 
mit Venen des auswendigen Brustkastens, und dass die aus 
arteriae bronchiales entspringenden mit Aesten der art. in- 
tercostales communieiren ; nähere Bestätigung hierfür ist aber 
sehr erwünscht. Es ist aber unterdessen leicht begreiflich, 
dass eine so bedeutende Anastomose und Uebergang des 
Blutes aus den Lungen direkt in die vena cava nicht ohne 
Einfluss auf die allgemeine Cireulation sein kann; die un- 
vermeidliche Folge hiervon ist Anhäufung von Blut in der 
vena cava, wodurch auch der Blutabfluss aus der Leber er- 
schwert ist. Vielleicht finden die öfter in solehen Fällen 
vorkommenden Leberaffeetionen hierin ihre Erklärung. So 


9 


sah ich noch neulich Ieterus bei einer Person, die an wie- 
derholter Hämopto& erstickt war, und wo bei inveterirter 
Phtisis eine grosse vomiea gebildet war. Je grösser nun die 
vomica ist, um so reichlicher fliesst das Blut aus der Lunge 
durch neue Gefässe hindurch nach dem auswendigen Brust- 
kasten, was zur Folge hat, dass das Blut zum grossen 
Theile durch die venae intercostales und nicht durch die 
venae pulmonales zurückkehrt und mithin nur einmal durch 
die Lungen strömt. Hierdurch wird, wie ich schon vor 
30 Jahren angab, Raum gewonnen und hierdurch kann man 
die Möglichkeit beleuchten, dass bei grosser Consumtion von 
Lungengewebe, doch das ganze Volumen des Körperblutes . 
die Lunge passiren kann; dies kann doch nicht durch all- 
gemeine Abmagerung und Blutmangel erklärt werden, da 
doch bei noch bedeutenderer Abmagerung nach anderweitigen 
Krankheiten das Blut die Gefässe der beiden gesunden 
Lungen anfüllt ?). | 

Aus dem Angeführten glaube ich den Schluss ziehen zu 
dürfen, dass Entzündung stets in dem arteriellen Systeme 
und nicht in dem venösen zu Stande kommt. Das häufige 
Vorkommen von Entzündung der Venen selbst kann doch 
nicht als Einwurf dagegen dienen, da diese Entzündnng 
durch die arteriellen vasa vasorum verursacht wird. Wir 
glauben daher behaupten zu dürfen, dass der Krankheits- 
process sowohl bei Lungen- als bei Leberentzündung durch 
erhöhte Wirkung des arteriellen Systems verursacht wird, 
und dass mithin Pneumonie anfängt mit der Entzündung der 
arteriae bronchiales, die sich weiter auf das Capillarnetz der 
venae pulmonales verbreiten kann; dass aber das venöse 
Blut der arteria pulmonalis hieran keinen direkten Antheil 
nimmt. Dasselbe gilt von der Bildung einer vomiea und der 
Entstehung von -Pseudomembranen, als verschiedenen Aus- 
gängen des arteriellen Krankheitsprocesses, welcher in den 
Lungen entstanden ist. 


1) Observ. Anatomico-path. 1826, pag. 86. 


Veber die $Structur der Vögellunge 


von 


J. L. C. SCHROEDER VAN DER KOLK. 


Die Untersuchung der Vögellunge, wiewohl nieht direet mit 
den oben mitgetheilten Untersuchungen über die pathologi- 
schen Veränderungen des Kreislaufes in Folge der Entzündung 
von Leber und Lunge zasammenhängend, führte mich doch 
zur Behandlung der Frage, ob der kleine Kreislauf auf die 
im gesunden Zustande stets mit dem Brustkasten’ verwach- 
senen Vögellungen beschränkt bleibt, oder ob er mehr oder 
weniger mit dem grossen Kreislaufe zusammenhängt. 

Zu diesem Behufe injieirte ich die Lungen mehrerer Vö- 
gel, als einer Gans, eines Hahnes, einer Papagal, so, dass 
die arteria pulmonalis mit blauer, die vena mit rother, die 
aorta mit gelber Masse gefüllt wurde. 

Es fiel mir sehr auf, dass ich die blaue in die Lungen- 
arterie injieirte Masse in die pleura und in die Wände des 
Luftsackes, der in der Brusthöhle liegt, übergehen sah; in 
einigen Fällen sah ich auch die rothe in die venae pulmo- 
nales eingespritzte Masse in die Wände der Luftsäcke, 
welche ausserdem gelbe von der aorta aus gefüllte Gefässe 
besassen,, vordringen; mitunter waren sogar blaue Gefässe 
hinter der pleura in den Intercostalmuskeln deutlich sichtbar. 
Was beim Menschen und den Säugethieren nur in patholo- 
gischen Zuständen durch Gefässneubildung zu Stande kommt, 
scheint mithin bei den Vögeln normal zu sein, dass nämlich 
der Lungenkreislauf nicht auf die Lungen allein beschränkt 


95 


ist, sondern sich auch noch weiter erstreckt. Hierbei findet 
jedoch der auffallende Unterschied statt, dass diese Ausdeh- 
nung des Kreislaufs bei den Vögeln vorzüglich von der 
arteria pulmonalis ausgeht, die venöses Blut führt, und Aeste 
an die Wände der Luftsäcke abzugeben scheint, so dass die- 
ses venöse Blut allda der Einwirkung der Luft ausgesetzt 
wird, und mithin dieser Luftsack als ein ausserordentlich 
vergrössertes Lungenbläschen oder Lungenanhang, welcher 
für die Respiration bestimmt ist, betrachtet werden kann. 
Diese Aeste der arteria pulmonalis sind aber stets dünn und 
sparsam in dem Luftsacke, wenn man sie mit dem feinen 
Capillarnetze in den Lungen der höheren Wirbelthiere ver- 
gleicht. Dass die Luftsäcke bei den Vögeln zum Respira- 
tionssystem gehören, ist keine neue Behauptung; dass aber 
die arteriae pulmonales Aeste an dieselben abgeben, wenig- 
stens an die im Brustkasten gelegenen, ist meines Wissens 
noch nicht nachgewiesen. 

Die wahre Struetur und Textur der Vögellunge war für 
mich stets eine noch nicht aufgeklärte Sache. Schon vor 


' mehreren Jahren war es mir aufgefallen, dass die Luftröhren- 


äste hier nicht wie bei den höheren Wirbelthieren in eine 
grosse Menge blinder Lungenbläschen endisen. Bowman 
beschreibt die Vögellunge, in Nachfolgung von Rainey so, 
alsob die Schleimhaut der Bronchien bei ihrem Uebergange 
in die Lunge aufhört, und die Kanäle als Aushöhlungen und 
Gänge zwischen einem capillären Gefässgewebe zu betrachten 
seien, so dass die Luft in die Zwischenräume und Maschen 
der Capillargefässe dringen würde und mit der Oberfläche 
eines jeglichen Capillargefässes in Berührung käme). Die 
Vögellunge wäre somit mit einem Schwamme zu vergleichen, 
dessen Gewebe durch vereinzelte Blutgefässchen vertreten 


wäre. Williams kommt hierauf in seinem Artikel ‚ Respr- 


ratıon’’ in the Cyelopaedia of Anatomy and Physiology, June 
1855, pag. 276. zurück. Er nimmt eine sehr feine Membran 


1) Todd and Bowman, The physiological anatomy and physiology 
of man, London 1826, tom 2, pag. 395, fig. 208. | 


94 


an, welche diese Luftkanäle inwendig bekleidet, was ich be- 
stätigt gefunden habe. Die Lunge wird nach ihm nicht durch ° 
tiefe Fissuren in lobuli getrennt; er beschreibt aber mehr 
längliche lobuli !), welche vermittelst einer Membran von 
einem areolären Gewebe getrennt ‘sein sollten, jedoch so dass 
diese Bronchialgänge in den Lungen überall mit einander 
communicirten. Aus diesen Luftgängen in den lobulis nun 
gehen nach Williams feinere Luftgänge hervor und aus 
diesen wiederum tritt die Luft, wie auch Rainey behauptet 
3 


* 
i 
hat, unmittelbar in die Zwischenräume eines feinen Capillar- 
netzes. Diese feinen Blutgefässe sind nach Williams mit | 
einem durchscheinenden Epithelium bekleidet; weiter be- 
hauptet er, dass jedes Gefäss von seinem Nachbargefässe 
getrennt ist, so dass die Luft durch dieses isolirte Netz von 
Gefässen hindurchtritt }). | 
Ich kann diese Vorstellung nicht vertheidigen, da feine 
Injecetionen und mikroskopische Untersuchungen, welche ich 
gemacht, nicht damit übereinstimmen. Wohl ist es wahr, dass 
die Vögellunge von Luftgängen durchkreuzt wird, welche mitein- 
ander communieiren und an der Lungenoberfläche blind en- 
digen, sodass die Lunge mit einem Schwamme verglichen 
werden kann; die grösseren Gänge sind aber reichlich mit 
elastischem Gewebe überzogen, und aus denselben geht nach 
allen Seiten ein feines Balkengewebe hervor, in welchem ein 
dicht zusammengedrängtes sehr feines Capillarnetz verläuft, 
dessen Gefässe viel feiner sind als bei irgend einer Säuge- 
thier-Lunge. Der Durchmesser dieser Gefässe beim Huhne 
betrug !/;o mm., während er beim Menschen nur '/o mm. 
beträgt; als das Maass. der kleinsten Luftgänge in dem 
Balkengewebe der Vögellunge fand ich 0,012 mm.; nirgends 
aber sind die Gefässe in der Vögellunge isolirt, sodass die 
Luft durch einzelne nackte Gefässe durchstreiehen könnte. 
Die Gefässe sind vielmehr in dem Balkengewebe enthalten, 
das mit sehr dünnen Epithelialcellen bekleidet ist. Wenn 
man die Aorta mit gelber Masse füllt, so hat man Gelegen- 


1) 1. e. pag: 276, fix. 225. 


95 


heit zu sehen, dass auch in der Vögellunge arterielle Bron- 
chialgefässe vorhanden sind, die hauptsächlich in Begleitung 
der grösseren Luftgänge zu verlaufen scheinen. Die ausser- 
ordentliche Feinheit und Dichte dieses Gefässnetzes bedingt 
es, dass nur Injectionen mit sehr feinem Farbstoffe, wie 
z. B. von einer Lösung von Berlinerblau in acidum oxalicum 
oder von einer Carminlösung die wahre Structur erkennen 
lassen. 

Die Vögellunge besteht mithin aus einem feinem Balken- 
gewebe, dessen Maschen überall mit Luft gefüllt sind, und 
welche überall in der ganzen Lunge mit einander zu com- 
munieiren scheinen. Während also die Lungen theilweise 
durch die auswendige Aponeurose, welche in das Diaphragma 
übergeht, erweitert werden, und der Brustkasten ausgedehnt 
wird, strömt die Luft durch alle diese miteinander commu- 
nieirenden Kanäle, und geht durch die an der Lungenober- 
fläche vorhandenen Oeffnungen der Bronchialgänge in die 
Luftsäcke über. Ohne diese Communication der Luftgänge 
würde die Luft in der Vögellunge nur durch die Mündungen 
der Bronchialäste in die Luftsäcke strömen, und in der 
Lunge selbst nicht genug erneuert werden können, wenn 
diese Bronchialäste, wie bei den Säugethieren überall in 
blinde Bläschen endigen würden. Nun muss aber die Luft 
in Folge der freien Communication, die auch zwischen den 
Luftkanälen stattfindet, welche in der Lunge selbst ver- 
breitet sind, mit jeder Lungenausdehnung in alle Luftkanäle 
dringen und dann in die Luftsäcke übergehen. Die Zusam- 
menziehung der Lunge bei der Exspiration wird durch die 
vielen elastischen Fasern vermittelt, welche überall in der 
Lunge, vorzüglich in den geräumigeren Luftkanälen, aber 
auch in dem Balkengewebe vorkommen. 


Zur Kenntniss der einfachen Eierstockscysten 
und ihrer Behandlung 


von 


Profr. A. E SIMON THOMAS. 


Die Ovarialaffeetionen gehören zu den Leiden des weibli- 
chen Geschlechtes, welche sowohl häufig vorkommen, als 


auch selten mit gutem Erfolge behandelt werden. Darum 


schien es mir wohl der Mühe werth, einige günstigen Resul- 


tate, welche ich neulich in drei Fällen von Ovarialleiden 


auf eine ganz leichte und durchaus nicht gefährliche Weise 


erhalten hatte, zu veröffentlichen, damit sie auch zugleich j 
-Andere anrege dieselbe Behandlung, welche in unserem Lande 


noch nicht angewendet oder beschrieben ist, zu versuchen. 
lte Beobachtung. 


Madame K. v. O., geb. H., 35 Jahre alt, welche drei 
Kinder geboren, aber nur das älteste am Leben behalten 
hatte, war im Monate Mai 1855 zum letztenmale entbunden. 
Eine Zeit lang hatte sie dem Kinde ihre Brust gereicht, 
und menstruirte dann wieder regelmässig. Im Monate No- 
vember 1856 waren bei ihr Symptome von Abdominalleiden 
aufgetreten und eine peritonitis rheumatica diagnostieirt wor- 
den, wonach auch die Behandlung, nämlich kleine Blutent- 
ziehungen, ung. neap. und kleine Dosen calomel eingerich- 
tet war. 

Nach 4 bis 5 wöchentlichem Leiden war ihr Zustand viel 
verbessert, die Menstruation aber ausgeblieben; im Monate Ja- 


97 


nuar waren wiederum Schmerze in dem Unterleibe empfun- 
den, aber weniger heftig und bald wiederum aufhörend, so 
_ dass sie sich im Monate März, als ihr Gemahl dem typhus 
erlag, ziemlich wohl fühlte, wiewohl sie während des Liegens 
nicht frei war von einem drückenden Gefühle in dem Unter- 
leibe und wiewohl sie beim Gehen das Gefühl einer Senkung 
empfand. Im Monate April fühlte sie sich wiederum weniger 
wohl, die Leibschmerzen hatten mit unregelmässigen Exacer- 
bationen zugenommen, die Esslust nahm immerwährend ab, 
und die Kranke war mehr als früher abgemagert und sehr 
schwach geworden. Am Ende dieses Monats zog zie von 
ihrem früheren Wohnorte Zutphen nach Leyden, und am 30ten 
April sah ich sie zum ersten Male. Sie war damals blass und 
‘ihr Aeusseres verrieth schon, dass sie leidend war, ihr Puls 
war klein und schnell, und am Abende fieberte sie etwas; 
die Zunge war belegt, aber feucht; die Esslust war ganz ver- 
schwunden, die Nahrungsmittel waren ihr zuwider, so dass 
es Mühe kostete, um ihr etwas Bouillon und Milch beizubrin- 
gen; der Stuhlgang war träge, das Uriniren beschwerlich und 
schmerzhaft, vorzüglich bei den zuletzt abfliessenden Tropfen , 
dabei fühlte sie ein sehr oft wiederholter Drang zum Uriniren; 
‚sie konnte nicht ohne Mühe sitzen und stehen, das Gehen 
war aber ohne Stütze ganz unmöglich, da sie überdiess eine 
stark vorübergebogene Haltung dabei annehmen musste; 
sie klagte immerfort über Schmerzen in der Gegend des 
grossen Beckens, die sich links bis über die erista ossis ilei 
erstreckten, und über ein früher schon erwähntes sehr unan- 
genehmes Gefühl von Druck in dem Becken, das nur beim 
Liegen erträglich war. Da ich bei meinem ersten Besuche 
die Diagnose noch offen lassen musste und ich nur bei der 
Palpation des Bauches etwas mehr Völle in der linken Un- 
terleibsgegend bemerken konnte, ohne dass es mir möglich war 
eine umschriebene Geschwulst an der Stelle zu fühlen, so 
schrieb ich nur eine emuls. amygdalina vor und liess zwei- 
mal am Tage eine kleine Menge ungt neap. e. op. einreiben 
und warme Umschläge auf den Bauch legen. Anfangs Mai 
menstruirte die Kranke, aber nur wenig wie im April, nach- 

IT. 7 


98 


dem die Menstruation von November— März ganz weggeblie- 
ben war; nach dem Aufhören der Menstruation schritt ich 


zur inwendigen Exploration und fand dabei Folgendes: die 


oberste Hälfte des kleinen Beckens war mit einer stark ge- 
spannten elastischen Geschwulst angefüllt, wodurch die vor- 
dere Wand der vagina nach unten gedrückt wurde; der 


uterus war nach links und hinten verschoben, so dass ich 


die Vaginalportion kaum erreichen konnte, die mir gesund 
und nur kürzer als gewöhnlich vorkam, insofern als ich näm- 


lich darüber zu urtheilen im Stande war; die Blase war nach | 
rechts und vorne gedrungen, wie mich eine gleichzeitig mit 


dem Catheter vorgenommene Untersuchung und inwendige 
Exploration lehrte; bei gleichzeitiger in- und auswendiger Un- 
tersuchung wurde auch die in dem Becken gelegene Geschwulst 
erkannt, konnte aber wegen der grossen Empfindlichkeit der 
Bauchdeeken nicht näher umschrieben werden. Es war jetzt 


über jeden Zweifel erhaben, dass eine mit Flüssigkeit ge- 


füllte Geschwulst im Becken vorhanden war; es blieb aber 


noch ungewiss, ob sie als Ursache oder als Folge der vor 
einem halben Jahre vorhandenen umschriebenen Peritonitis 
zu betrachten war; mit der Diagnose war ich daher noch 


nicht ganz im Reinen, so dass ich im Monate Mai mit der 


exspectativen Behandlung fortfuhr, und nur gegen die inzwi- 


sehen aufgetretene Diarrhoea eine sol. salep e. extr. cort. 
peruv. vorschrieb. Anfangs Juni nahmen die Kräfte immer- 
mehr ab; ich entschloss mich zur Verriehtung einer punectio 
exploratoria. Als ich aber in Uebereinstimmung mit Herrn 
Desertine, der mir bei der Behandlung assistirte, dazu über- 
gehen wollte, wurde mir mitgetheilt, dass während der ver- 
sangenen Nacht einige Uncen dünne gelbe Materie per anum 
abgegangen waren, die durchaus keinen fäcalen Geruch ver- 
breitete; dies liess uns natürlich an die Möglichkeit den- 
ken, dass der Inhalt der gefühlten Geschwulst spontan durch 
Perforation der einen oder anderen Stelle des Diekdarmes 
einen Weg nach aussen gesucht, so dass wir den Beschluss 
fassten, die Punction zu vertagen, um so mehr als auch der 
Schmerz leidlicher geworden war. 


99 


Nach einigen Tagen wurde aber der Schmerz wiedernm 
heftiger und am 29en Juni verrichteten wir eine Punetion 
durch das laquear vaginae anterius mit einem langen gekrümm- 
ten Troicart, worauf 10 bis 12 Uncen wenig stinkender 
Eiter entleert wurde; hierauf wurde alsbald eine Erleichterung 
in dem Zustande der Kranken wahrgenommen; in den dar- 
auffolgenden 24 Stunden floss immer noch von derselben 
Materie ab; vom 30 Juni bis zum 5ten Juli war nichts mehr 
entfernt worden, der Unterleib aber wiederum empfindlich 
und mehr ausgedehnt worden, bis am dien Juli die Symptome 
nach Entfernung einiger Uncen stark riechenden Eiters wie- 
derum abnahmen. Die nach der Punction verbesserte Ess- 
lust verschwand wiederum ganz und gar. 

Am 12ten Juli war die Geschwulst wiederum ganz mit 
Flüssigkeit angefüllt; wir verrichteten nun eine zweite Punc- 
tion, wobei wir uns aber eines Troicart mit ausgehöhlter 
Canüle bedienten, um sie später als Hohlsonde zu benutzen, 
längst welcher ich ein geknöpftes Bistouri in die Geschwulst 
einführte und darauf die Oefinung so weit dilatirte, dass 
ich den Finger einführen konnte; bei dieser Punetion flossen 
wiederum wenigstens 12 Uncen Eiter von sehr penetrantem 
Geruche ab; während im Laufe des Tages noch einige Uncen 
derselben Materie nachfolgten. 

Am folgenden Tage führte ich einen Catheter (für Männer 
bestimmt) in die Höhle ein und spülte sie mit lauwarmem 
Wasser aus, wobei etwas blondes sehr feines Haar, zum Theile 
in weisslichem ziemlich festen Fette enthalten, abging. Nun 
war erst die Diagnose mit Gewissheit zu stellen; wir hatten es 
nämlich mit einer Fett und Haar enthaltenden Eierstockseyste 
zu thun, die durch hinzutretende Entzündung Symptome von 
Peritonitis in der Umgebung’ veranlasst hatte. 

Vom 13—21 Juli wurden täglich vermittelst eines Catheter 
einige Uncen Eiter und bisweilen Haar und Stücke Fett ent- 
fernt und die Kyste darauf ausgespült; hierbei schien sie 
schnell an Umfang zu verlieren; am 21 Juli wenigstens 
fand die Spitze des Catheters zum ersten Male beim Sondi- 
ren einen Widerstand und zwei Tage darauf konnten nur 

nd 


100 


noch drei Uncen Wasser eingespritzt werden, da schon 
dadurch ein unangehmes Gefühl von Schmerz und Spannung 
empfunden wurde. Um dem Kräfteverlust in Folge der 
fortwährenden reichlichen Eiterung vorzukommen, welcher 
Verlust für die schon sehr schwache Kranke nicht gleich- 
gültig sein: konnte, wurde eine Mixtur mit extr. gent. und 
ac. sulf. dil. verordnet; die Esslust wurde bald darauf viel 
besser, während der sehr entmuthigte Gemüthszustand der 
Kranken, weiche jetzt ohne Schmerzen war und keine Be- 
schwerden mehr beim Uriniren oder Stuhlgang empfand, viel 
verbessert war. Schon am 25ten Juli hatte sie einige Stun- 
den das Bett, ohne irgend einen Nachtheil, verlassen; die 
gemachte Oefinung wurde inzwischen nach und nach kleiner. 
Am 2Tten Juli musste ich den früher gebrauchten dieken 
zinnernen Catheter durch eine dünne, neusilberne Sonde & 
double courant ersetzen, und drei Tage später konnte ich 
sogar mit ihr nicht mehr in die Höhle vordringen; am 30ten 
Juli brachte ich eine Gebärmuttersonde in die Oeffnung und 
dilatirte mit einem auf derselben eingeführten geknöpften 
Bistouri wiederum die Oeffnung so weit bis sie den Finger 
durchliess, da sonst der baldige Schluss zu befürchten ge- 
wesen wäre; hierauf folgte anfangs sehr wenig Biutung, als 
die Kranke aber wiederum im Bette lag, nahm die Hämor- 
ıhagie zu und wurde trotz der Einspritzung von kaltem 
Wasser so bedeutend und dabei deutlich arteriell, dass ich 
mich genöthigt sah die vagina zu tamponniren; im Ganzen 
waren 12 bis 16 Uncen Biut abgeflossen; die Kranke lag 
während einiger Stunden mit wiederholter Neigung zu Ohn- 
macht, kalten Extremitäten und sehr kleinem Pulse. 
Glücklicherweise hatte dieser unerwartete unangenehme 
Zufall keine bleibenden nachtheilisen Folgen; am 3ten Tage 
wurde der Tampon entfernt und durch die nun sehr leicht 
einzuführende Sonde nur zwei bis drei Uncen dünner, wenig 
stinkender Eiter entfernt; von nun an wurde die Kyste 
wiederum täglich ausgespritzt, während die mixt. amara e. 
ac. sulf. dil. fortgesetzt wurde, wobei die Kräfte schnell wie- 


derum zunahmen und die Esslust zurückkehrte. Um das 


ve ee m mL re ae 


101 


Schliessen der Oeffnung zu verhindern, liess ich nach dem 
i6ten Aug. die Sonde täglich einige Stunden ruhig liegen, 
was sehr gut vertragen wurde. 

In Monate September nahm die täglich abgesonderte Eiter- 
menge sehr ab, so dass sie am Ende dieses Monates nicht 
viel mehr als eine halbe Unce betrug; sie war dieker ge- 
worden und verbreitete nur wenig Geruch; die Höhle wurde 
so klein, dass die Sonde kaum hin und her bewegt wer- 
den konnte, und die früher leicht erreichbare Oeffnung nahm 
einen immer höheren Stand an. Auch der allgemeine Zu- 
stand der Kranken wurde viel besser, die Ernähung war 
gut, die Kranke konnte ungehindert gehen und stehen, und 
brachte täglich einige Stunden ausserhalb des Bettes zu. 

Am 16ten Oetober menstruirte sie nach 5 Monaten wieder- 
um zum erstenmale, und ich gab mich nun der Hoffnung 
hin, dass eine baldige vollständige Genesung erfolgen würde; 
die Kyste blieb aber offen, wahrscheinlich weil noch nicht 
alles in ihr enthaltene Haar entfernt war, wenigstens wur- 
den noch am 24ten October und bisweilen im Monate No- 
vember und December einige Haarfiöckechen nach aussen 
befördert, wesshalb ich die reinigende Injection noch alle 
Tage anwenden liess; die Menses traten ganz regelmässig 
am 19ten November und 20ten December ein. Da ich vom 
10ten bis zum 16te Januar selbst krank war, so wurde keine 
Injection applieirt, und dem ist es zuzuschreiben, dass die 
Kranke am ldten "Januar wiederum über Schmerzen in der 
Beckengegend und in der Nähe der linken erista ilei klagte, 
wovon sie schon einige Monate befreit gewesen war, wie- 
wohl noch täglich einiger Eiter abfloss.. Darum liess ich im 
Februar und Januar die Injectionen fortsetzen; die Höhle 
wurde täglich aber langsam kleiner, entlastete täglich nur 
wenige Tropfen eines gelblichen dieken Eiters, so dass im 
Monate April nichts- mehr als ein blind endigender fistulöser 
Kanal vorhanden war von 2 & 3” Durchmesser und 1’ 
Tiefe, worin die Sonde & double courant so genau passte, 
dass das Durchspritzen von Wasser nicht mehr gelang. Man 
konnte nun keinen tumor in pelvi mehr finden, und da der 


102 


allgemeine Gesundheitszustand ganz hergestellt und die frü: 
heren Kräfte zurückgekehrt waren, so dass die Kranke keine 
Klagen mehr laut werden liess und täglich ihren Spatzier- 
gang machte, so machte ich am Ende des Monates April der 
Behandlung ein Ende, in der Hoffnung, dass der noch vor- 
handene fistulöse Kanal sich spontan schliessen, und die Ge- 


nesung damit vollkommen werden würde. 
Bis heute (am &tm Augustus) ist diese Hoffnung noch 


nieht ganz verwirklicht ; der allgemeine Gesundheitszustand 


ist gut geblieben, die kleine Fistel besteht aber noch und 
sondert von Zeit zu Zeit noch etwas eiterartige Flüssigkeit 
ab, wogegen nichts weiter gethan wird, als eine Injection 
von lauwarmem Wasser zur Reinigung in die vagina, wel- 
che die Kranke selbst applieirt. Die Kranke hat aber ihre 
frühere Lebensweise schon längere Zeit wiederum ganz und 
gar angenommen, und wird von gar nichts mehr belästigt; 
vielleicht ist noch etwas Haar zurückgeblieben, das die völ- 
lige Schliessung der Höhle verhindert, die erst dann erwartet 
werden kann, wenn die Granulation der Wand völlig zu 
Stande gekommen ist. 


2te Beobachtung. 


Im Monate November wurde durch Herrn Steuereinnehmer 
v. d. N., in Friesland mein Rath über den Zustand sei- 
ner Frau schriftlich eingeholt, welchen er für lebensgefähr- 
lich hielt. Im Jahre 1353 verheirathet, hatte sie einige 
Monate darauf an Blutfuss und Schmerz in dem Unterleibe 
gelitten, und einen Chirurgen in Nord-Brabant, wo sie damals 
wohnte, darüber consultirt, der einen unvollkommen ab- 
selaufenen Abortus diagnostieirt hatte; später war ein Arzt 
befragt worden, der die Erklärung abgegeben, dass kein 
locales organisches Leiden, sondern nur eine Neigung zu 
Krampf vorhanden. Darauf wurde wiederum ein anderer 
Arzt consultirt, der eine Rückwärtsneigung der Gebärmutter 
zu erkennen glaubte, zu gleicher Zeit aber die Voraussicht 
eröffnete, dass hier eine Naturheilung zu hoffen sei. »ie 


105 


litt aber fortwährend an drückendem Schmerze in dem Becken 
und kränkelte während vier Jahre, was sie zum "Theile der 
in 1853 bezogenen ungesunden Wohnung in Friesland zu- 
schrieb. Im Herbst des Jahres 1857 verlebte sie einige Wo- 
chen in Amsterdam, und kehrte am lien November wiederum 
nach Friesland zurück. Kurz darauf wurde der schon lange 
empfundene Schmerz viel heftiger, sie fieberte und litt wie- 
derum an Blutlüssen, worauf später sehr stinkender Eiter 
 abfloss. Unter diesen Umständen war wiederum ein Arzt 
um Rath gefragt worden, der sich aber einen Geburtshelfer 
aus der Stadt adjungirte, da er über die Sache nicht in’s 
Reine kommen konnte. Diese beiden kamen zu der Ueber- 
zeugung, dass hier carcinoma uteri vorhanden sei, und dass 
nichts weiter zu thun sei, als eine locaie reinigende palliative 
Behandlung, Unterstützung der allgemeinen Kräfte, um den 
gewiss bevorstehenden Tod so lange wie. möglich hinauszu- 
schieben. Das es mir unmöglich war die Kranke selbst. zu 
besuchen, so liessen mich die erhaltenen undeutlichen Be- 
richte in Unklaren ; die Existenz aber von 'careinoma uteri 
bei einer 30jährigen Frau kam mir unwahrscheinlich vor, 
um so mehr, da ihr Leiden schon vier Jahre lang gedauert, 
was mit der Diagnose nicht gut übereinstimmte. Ich Konnte 
aber unter diesen Umständen nichts weiter thun, als dass 
ich meinen Zweifel darüber zu erkennen gab, und den be- 
handelnden Arzt fragte, ob man es nicht vielleicht mit einer 
chronischen Entzündung und Hypertropkie und Ulceration 
des collum uteri zu thün habe, in Folge eines früher vielleicht 
vernachlässigten oder nicht genug beachteten Abortus. Dar- 
auf erhielt ich alsbald eine Antwort, worin mir mitgetheilt 
wurde, dass die Diagnose von Krebs beruhe, 1°. auf den 
charakteristischen Geruch des abfliessenden Eiters; 2°. auf 
das Fühlen von 5 oder 6 Exerescenzen auf der linken Seite 
der portio vaginalis, und 3°. auf die Unbeweglichkeit der portio 
vaginalis. Mit dieser Antwort musste ich fürlieb nehmen, 
wiewohl mir das Sachverhältniss noch stets zweifelhaft blieb, 
und darum war es mir sehr angenehm nach einigen Wochen 
von Herrn v. d. N. zu hören, dass er nach einem Dorfe in 


104 


der Nähe von Amsterdam versetzt war, wo ich seine Frau 
ohne grossen Zeitverlust besuchen könnte; unterdessen hatte 
man aber Dr. Verkouteren in Amsterdam eonsultirt, der ” 
nach einer localen Exploration, wobei er die portio vaginalis 
nicht hatte erreichen können, meine Zweifel über die Existenz F 
von Gebärmutterkrebs theilte, aber keine bestimmte Diagnose 
machen konnte, so dass er es dabei bewenden liess, eine 
nahrhafte Diät, reinigende Einspritzungen und dee. cort. peruv. 
c. ac. mur. dil. und später Pillen mit sulf. ferri und sulfas 


ehin. vorzuschreiben. 


Am 18ten Januar hatte ich zum erstenmale Gelegenheit [ 
eine locale Untersuchung anzustellen. Dabei bemerkte ich zu- ° 


nächst den Abiluss von sehr stinkender eiterartiger Materie; 


der introitus vaginae war enge, und die Höhle des kleinen ° 
Beckens war zum grossen Theile mit einer elastischen Ge- 


schwulst gefüllt, welche die vordere Wand: der vagina vor- 
züglich an der rechten Seite sehr nach unten drängte; nur 
auf der linken Seite und nach hinten konnte der Finger 
-tiefer vorschreiten, und da fühlte ich einige lockere fremde 


Körper, die sich nach ihrer Entfernung als kleine Stück- 


chen Schwamm von der Grösse eines halben Fingers her- 
ausstellten, welche, wie ich später erfuhr, schon vor drei 
Jahren auf Anrathen einer Freundin zur Erleichterung der 
Schmerzen, eingeführt worden waren. Sehr hoch nach links 
und hinten glaubte ich die portio vaginalis uteri errei- 
chen zu können, welehe weder verg rössert noch hart war, 
auch die Vaginalwand war, so weit ich sie betasten konnte, 


glatt und gesund. Durch die Bauchwand hindurch konnte 


keine Geschwulst gefühlt werden, so dass der offenbar im 
Becken vorhandene tumor nicht sehr gross sein konnte. Der 
allgemeine Zustand der Kranke verrieth deutliche Spuren 
eines langwierigen, tief eingreiffenden Leidens, sie war mager, 
blass, hatte einen frequenten kleinen Puls und klagte über ein 
fortwährendes Gefühl von. Druck im Becken, das jede Kör- 
peranstrengung und sogar längeres Sitzen verhinderte. Die 
Menstruation war in December und Januar regelmässig ge- 
wesen. 


[2 


105 


Der Darmkanal functionirte normal, nur war der Alvus 
träge und schmerzhaft, und öfterer Drang zum Uriniren vor- 
handen; die Nachtruhe war öfter gestört und das Gemüth in 
der Voraussicht eines gewissen Todes sehr verstimmt. Dass 
kein Gebärmutterkrebs vorhanden war, konnte nun als eine 
ausgemachte Sache betrachtet werden; die Art der gefühlten, 
Flüssigkeit enthaltenden Geschwulst musste ich aber noch un- 
bestimmt lassen; drei Fälle schienen mir hier möglich; es 
konnte eine graviditas uterina bestanden haben, der Foe- 
tus früh abgestorben und jetzt auf dem Wege sein durch 
die Vaginalwand ausgestossen zu werden, oder es bestand eine 
sogenannte haematocele peri — (oder lieber hier antro —) 
uterina oder es war ein tumor ovarıi vorhanden. Jedenfalls 
war die Gebärmutter sehr nach oben, hinten und links ver- 
drängt; der abgeflossene stinkende Eiter schien mir durch 
die zwei so lange zurückgehaltenen Stükchen Schwamm ver- 
ursacht zu zein. Ich liess darum vor der Hand die reini- 
senden Injectionen fortsetzen und die obenerwähnten Pillen 
wiederholen. | 

Erst am 3ölten Januar konnte ich meinen Besuch bei der 
Kranken wiederholen; vom 21ten-—27ten Januar war sie men- 
struirt; der stinkende Abfluss hatte angehalten, war mithin 
nicht allein durch die Schwammstückehen verursacht gewesen. 
Nach dem Aufhören der Menstruation trat am 28ten Januar 
wiederum ein Blutfiuss ein, wobei eine hellblonde Haarlocke 
abging. Hierdurch wurde die Diagnose auf einmal klar; wir 
hatten auch hier wiederum mit einer Haar-enthaltenden Ova- 
rialkyste zu thun, die sich aber in Bezug auf den Krank- 
heitsverlauf insofern von der vorigen unterschied, als hier 
noch keine so bedeutende Erscheinungen von peritonitis auf- 
getreten waren und als der Inhalt durch eine spontane Oeff- 
nung aus der vagina abfloss. Um aber noch mehr Gewissheit 
zu erlangen, fing ich nach einer wiederholten Untersuchung, 
wobei das früher Erwähnte ganz bestätigt wurde, damit an, 
dass ich eine Punction mit dem Troieart explorateur verrich- 
tete; hierbei flossen einige Tropfen dünnen Eiters ab, welche 
denselben Geruch verbreiteten, als die früher aus der vagina 


106 


abgeilossene Flüssigkeit. Darauf wurde ein Troieart mit ausge- 
höhlter Canüle eingebraeht, welche das Abfliessen einer gros- 
sen Menge Flüssigkeit zu Folge hatte, wodurch der tumor 
aber so schnell collabirte, und die Wand so erschlafft war, 
dass die Erweiterung der Oeffnung mit dem geknöpften Bis- 
touri nur unvollkommen gelang. Es war mithin nicht viel 
mehr als eine Punction geschehen, welche aber eine bedeu- 


tende Verbesserung in dem subjectiven Befinden herbeiführte, 


wozu gewiss auch viel beitrug, dass ich das Leiden nicht 


mehr für lethal hielt, sondern sogar eine günstige Prognose 


stellte. Die Gebärmutter nahnı gleich nach der Punetion wie- 


derum ihren normalen Stand an und war abgesehen von einer 
deutlichen Verkürzung der portio vaginalis ganz gesund. In 
den erstfolgenden Tagen hielt der Abfluss von vielem stinkenden 


Eiter an; die Kranke erfreute sich zum erstenmale nach eini- 
gen Monaten einer ungestörten Nachtruhe, hatte keine Beschwer- 
den beim Gehen oder Sitzen und urinirte ohne Schmerzen. 


Das blieb so aber nur während acht Tage und nachdem 
der Abfluss wiederum um vieles abgenommen hatte, kehrte 
der Schmerz in der Beckengegend zurück und damit die frü- 
heren Leiden. Zur Linderung der Schmerzen war Morphium 
und später extr. hyoseyami verordnet worden, aber ohne Erfolg. 
Am 14ten Februar fand ich die früher vorhandene Geschwulst 


zurückgekehrt. Ich verrichtete darauf zum zweiten Male eine 


Punction durch die vordere Wand der vagina in einer Ent- 
fernung von reichlich 1” hinter dem ostium urethrae, wo die 
elastische Spannung der Wand am deutlichsten gefühlt wer- 
den konnte, dilatirte die Oeffnung mit einem geknöpften Bi- 
stouri und führte darauf ein lithotome cache im die Kyste 
ein, womit ich einen Einsehnitt von 1” in der Wand machte 
und zwar in der Richtung der Gebärmutter; hierbei wurde 
wiederum eine grosse Menge dünnen, gelben, nur mässig stin- 
kenden Eiters entfernt; der Finger konnte nun ohne grosse 


Mühe in die Kyste eingeführt werden, welche uniloewär 


‘war und sammtartige glatte Wände hatte. Die Kyste wurde 
mit lauwarmem Wasser gereinigt, was der mir beistehende 
Chirurg täglich zu wiederholen versprach. Das geschah von 


107 


dem 15ten bis zum 17!en Februar; an dem Tage war die Ocffnung 
schon viel kleiner geworden und wurde sehr wenig fast ge- 
ruchloser Eiter entleert. Am folgenden Tage traten unglück- 
licherweise die Menses ein, man unterliess das Einspritzen 
und vier Tage darauf war die Oeffnung geschlossen. Der 
allgemeine Zustand war sehr verbessert, die Kranke klagte 
über nichts mehr, der Puls war von 100 auf 90 in der Mi- 
nute gefallen, sodass man hier schon bei oberflächlicher Be- 
trachtung an Genesung hätte denken können. 

Im Anfange des Monates März aber wurde wiederum Schmerz 
in der Gegend der crista ilei sinistra empfunden, während 
zu gleicher Zeit einiger Eiter abging, der mässig stank. Am 
Tten März besuchte ich die Kranke und fand nun Folgendes: 
der uterus war nach der linken Seite hin gelegen, jedoch 
nicht in die Höhe gestiegen; keine Spur von Fluctuation vor- 
handen, wiewohl in der rechten Beckenhälfte durch das la- 
quear anterius hindurch noch einiger Widerstand gefühlt wur- 
de; die früher gemachte: Ineision war ganz geschlossen. Vor- 
Täufie schrieb ich nur Einspritzungen mit lauwarmem Wasser 
in die vagina vor; dabei nahmen die erwähnten Erscheinun- 
sen wiederum ab. Ich sah die Kranke nicht wieder vor 
dem 13ten April, und erfuhr alsdann dass sie einige Tage 
zuvor regelmässig menstruirt hatte, worauf wieder Abfluss 
von einigem stinkenden Eiter bemerkt worden. Der am "ia 
März noch gefühlte Widerstand in der rechten Beckenhälfte 
war nun ganz geschwunden; bei der Untersuchuug mit der 
einen Hand auf der auswendigen Bauchwand, mit der anderen 
in der vagina konnten die Finger der beiden Hände einan- 
der genähert werden, nur schien es mir als ob zwischen den 
Fingern noch etwas mehr als die normalen Weichtheile vor- 
handen war; die früher vorhanden gewesene Kyste war mit- 
hin nicht wiederum gefüllt worden; der wenige Eiter, den 
sie noch abschied, wurde durch eine noch vorhandene Oeff- 
nung, die jedoch nicht aufgefunden wurde, nach aussen be- 
fördert; alles was sich über die wahrscheinlich Stelle dieser 
Definüng sagen liess, redueirt sich auf eine Unebenheit der 
Oberfläche, welche ich an dem laquear vaginae anterius fühlte. 


108 


Mit den einfachen Vaginal-Injeetionen wurde fortgefahren ; 
daneben wurde weiter gar nichts vorgeschrieben. Die Kranke 
war den ganzen Tag ausserhalb des Bettes, bewegte sich 
und fühlte sich sehr wohl, nur noch etwas schwach. Im 
Monate Mai blieb der Zustand auch ganz erwünscht; eine; 
intereurrirende febris intermittens tertiana wurde nach dem 
dritten Anfalle mit sulphas chin. coupirt; die Eiterseeretion 
nahm fortwährend ab; der übele Geruch des Eiters war ver- 
schwunden, und im Anfange Juni hörte sie ganz auf, nach- 
dem zuvor eine kleine Menge seröser blutiger Flüssigkeit 
entleert worden war. Am öÖten Juni endlich sah ich die 
Kranke wieder, und konnte nun durchaus kein Leiden der 
Beckenorgane mehr constatiren; über Schmerz wurde nicht” 
mehr geklagt; die Lage des uterus war normal, die Urinse-" 
kretion war ohne Beschwerde, die Schleimabsonderung der 
vagina normal, ohne Beim sohn irgend eines andern Se- | 
cretes; kurz kein einziges Zeichen des früher vorhanden 
gewesenen langwierigen Leidens war übrig geblieben, es sei 
dann, dass der Gebärmuttermund etwas kürzer als normal 
Behkiähen war. ’ 

Nun glaubte ich die Frau für genesen halten zu können, 
und liess darum mit den Injeetionen aufhören. Die Kyste war 
aber inwendig noch nicht ganz geschlossen, denn als ich die. 
Kranke am 17ten Juli noch einmal besuchte, um mich von 
ihrem fortwährenden Wohlsein zu überzeugen, wurde mir 
mitgetheilt, dass am Ende des Monates Juni wiederum einige 
purulente Flüssigkeit sich gezeigt habe; durch das laquear 
vaginae hindurch war wiederum eine kleine Geschwulst zu 
fühlen, aus der sich aber nach einer Punetion mit dem Troieart 
nur einige Tropfen Eiter entleert, so dass die Höhle doch schon 
zu klein war, um, wie früher, einen grösseren Troicart einzu- 
führen und auf der Hohlsonde eine Ineision zu machen. 
Der allgemeine Zustand war gut geblieben; ein inzwischen 
aufgetretener Wechselfieberanfall mit biliösen Erscheinungen 
war entsprechend mit gutem Erfolge behandelt worden. Ich 
glaubte nun nichts weiter verordnen zu müssen, als zweimal 
am Tage eine Einspritzung mit lauem Wasser in die vagi- 


3 


109 


na, da nach aller Wahrscheinlichkeit der kleine Rest der 
früher vorhanden gewesenen Kyste sich spontan durch Sup- 
puration und Granulation würde schliessen können. 


öte Beobachtung. 

Die dritte Krankengeschichte, welche ich hier mittheilen will, 
betrifft eine Wittwe von 46 Jahren, welche wegen Ischurie 
in dem Cäcilia-Krankenhause aufgenommen und allda von 
mir, in Gemeinschaft mit Dr. Junius behandelt worden war. 
Letzterer hatte bei der ersten Untersuchung am 13tew März 
eine grosse Geschwulst in dem Unterleibe gefühlt, welche aber 
durch die gefüllte Blase bedingt war; nachdem er diese mit 
dem Catheter entleert hatte, wurde eine zweite Geschwulst be- 
merkbar,, die bis auf eine Handbreite über dem Beckenein- 
gange herabreichte, ziemlich fest war und. eine gleichmässig 
glatte und runde Oberfläche darbot; der untere grösste Theil 
dieser Geschwulst lag in der Beckenhöhle, und verdrängte die 
hintere Wand der vagina sehr nach unten; beim Exploriren 
wurde der Finger alsbald dadurch im weiteren Vorschreiten 
aufgehalten, so dass er nur an der vorderen Wand dicht hinter 
der symphysis ossis pubis höher hinaufgeführt werden konnte, 
ohne aber die Gebärmutter zu erreichen, welche. nach oben 
und vorne verschoben war. Durch die vordere Wand des 
rectums hindurch wurde dieselbe Geschwulst gefühlt, welche 
auch jetzt eine glatte, elastische gespannte Oberfläche darbot. 
An der niedrigsten Stelle der zwischen rectum und vagina 
gelegenen Wand wurden überdiess noch zwei harte, einiger- 
maassen höckerige, sehr kleine Geschwülste, von der Grösse 
eines Schussers gefühlt, die nicht mit der grösseren Ge- 
'schwulst zusammenhingen, und deren Bedeutung uns unbe- 
kannt geblieben ist. Die anamnestischen Momente konnte 
uns die Kranke nicht genau angeben; vor acht bis neun 
Monaten hatte sie die Füsse in kaltem Wasser gebadet, und 
seitdem war die bisher regelmässige Menstruation ausgeblie- 
ben; anfangs hatte sie keine unangenehmen Folgen empfun- 
den; nach drei Monaten aber fingen Beschwerden bei der 


110 


Entleerung des Kothes und Urins an sich geltend zu machen ‚die 
nun zur vollkommenen Ischurie ausgebildet waren. Nachdem 
die Blase entleert war, hatte sie keine Schmerzen im Leibe; 
auch die Geschwulst  schmerzte nicht beim Drucke, und 
übrigens war sie ohne Fiebersymptome. Die Form, die phy- 
sikalischen Eigenschaften und der Ort des Vorkommens (zwi- 
schen uterus und reetum) der Geschwulst, führten uns zu 
der Ueberzeugung, dass wir es mit einer uniloculären Eier- 
stocksgeschwulst zu thun hatten, die wahrscheinlich nur Serum 
enthielt, und obgleich augenblicklich nur durch ihren Um- 
fang Beschwerde hervorrufend, doch später das Leben ge- 
fährden könnte. 

17 März. Am Mittage wurde eine Punktion in der hinte- 
ren Wand der vagina verrichtet, worauf mehr als 30 Uncen’ 
eines undurchscheinenden Serums abflossen, das die Farbe des 
Bieres darbot und viel Eiweiss enthielt; die Geschwulst war 
nun nicht mehr durch die Bauchwand hindureh zu fühlen; 
durch das reetum und die vagina hindurch machte sich aber” 
der leere Sack leicht bemerklich, die Gebärmutter war dem 
Finger wiederum zugänglich, die pars vaginalis war aber 
verschwunden, und der auswendige Gebärmuttermund so aus- 
gedehnt, dass der Finger _ganz in den Kanal eindringen 
konnte. Die Frau hatte wenig von der Operation gefühlt; 
das drückende Gefühl im Becken, sowie die Ischurie, wor- 
über sie früher geklagt hat, waren nun verschwunden. Nach 
vier Tagen war die Kyste wiederum mässig gefüllt, und am 
23ten März waren Fiebersymptome und Leibschmerzen aufge- 
treten, welche an eine umschriebene Peritonitis denken lies- 
sen; an den beiden folgenden Abenden wiederholte sich das 
Fieber, der Unterleib blieb empfindlich und die Ischurie trat ; 
wiederum ein. Darum wurde am 25ten März die Punetion, 
nun aber mit einem Troicart, der mit einer ausgehöhlten Ka- 
nüle versehen war, wiederholt; darauf wurde die Oeffnung 
mit einem geknöpften Bistouri dilatirt, und dann mit einem 
lithotome cach& so sehr erweitert, dass ich den Finger ein- 
führen konnte. Die abgeflossene Flüssigkeit, etwa 12 bis 14 
Uneen, war gelb und trübe; es trat keine Blutung ein, wie- 


U * 


(EZ 


111 


wohl die durchschnittenen Gewebe die Dicke einer halben 
Fingerbreite hatten; die Kyste wurde endlich mit lauwar- 
mem Wasser ausgespült. 

‚ Es folgten nach dieser Operation durchaus keine unange- 
nehmen Symptome; an den erstfolgenden Tagen wurde täglich 
zweimal ein zinnerner Catheter eingeführt, und die Höhle 
mit lauwarmem Wasser ausgespült; das Seeret der Höhle 
wurde bald dicker und eitrig. Um das baldige Schliessen 
‘der Oeffnung fern zu halten, liess Dr. Junius den Catheter 
jedesmal nach der Einspritzung eine halbe Stunde in- der 
‚Oeffnung liegen, was durchaus keine unangenehmen Folgen 
hatte. Am 29tn März wurde am Abende ein erneuerter 
Fieberanfall wahrgenommen, der am folgenden Tage noch 
fortdauerte, und sich am Tten und $ten April wiederholte; an 
den Tagen war das Gesicht der Kranke blässer als sonst, 
und der Puls klein, weieh und -frequent, die Esslusst ge- 
ring, und die Zunge belegt. Anfangs wurde ein decoct. alb. 
sydenh. c. extr. cort. peruv,, später einige Grammen sulph. 
cehinii und zuletzt dee. cort. peruv. fuse' ec. ac. sulf. dil. ver- 
ordnet. Inzwischen wurde die Kyste immerwährend kleiner. 
Am 9ten April konnte der Catheter noch 4” P. tief eingeführt 
werden, ehe Widerstand empfunden wurde, und am 25ten 
April war dieses Maass schon auf 24” redueirt. Am Ende 
dieses Monates floss gar nichts mehr freiwillig ab, während 
der Catheter nur eine halbe Unce dünnen und mitunter et- 
was blutigen Eiters nach aussen beförderte. Anfangs Mai 
fingen die Kräfte der Kranken an sich zu erholen, nur noch 
einige Tropfen Eiter wurden entfernt, Urin- und Kothentlee- 
rung waren normal, und die früher vorhandene Höhle war 
reducirt auf einen blinden Canal, in welchen ein Frauen- 
Catheter zwei Finger breit der Tiefe nach eingeführt werden 
konnte. In diesem Zustande verliess die Kranke auf ihr 
Verlangen das Krankenhaus; die bei der ersten Untersu- 
chung gefühlten kleinen harten Gesehwülste zwischen reetum 
und vagina waren noch unverändert vorhanden. Am 22ten 
Mai wurde sie entlassen nnd vierzehn Tage darauf liess sie 
sich noch einmal sehen; die Oeffnung war nun geschlossen 


112 


und der noch übrig gebliebene Kanal schien verwachsen zu 
sein. Bis auf heute (10 Aug.) haben wir nichts mehr von 
unserer Kranken gehört, so dass sie wahrscheinlich keine 
Klagen mehr beizubringen hat. | 


An diese Krankengeschichte will ich nun zur näheren Be- 
leuchtung einige Bemerkungen anreihen. Dabei will ich mit 
der Diagnose anfangen. Was den ersten Fall betrifft, so ma- 
che ich kein Hehl daraus, dass ich anfangs, auch nach 
genauer localer Untersuchung, kaum daran dachte, dass ich 
es mit einem Ovarialleiden zu thun hatte; das vorausgegan- 
gene Leiden deutete vielmehr auf eine früher bestandene 
Peritonitis, so dass der Gedanke nahe lag, dass ein enkys- 
tirtes Exudat zurückgeblieben war, das eine jedesmal reei- 
divirende lokale Entzündung veranlasste, und dadurch das 
Leben bedrohen konnte. Ich musste um so eher an einen 
solchen Process denken, als die fluctuirende Geschwulst, 
welche gefühlt wurde, nicht an der Stelle vorkam, wo ge- 
wöhnlich die kleineren tumores ovarii auftreten, nämlich in 
dem zwischen den Douglasischen Falten gelegenen Raume, 
d. i. hinter der Gebärmutter. Sogar nach der ersten Punetion 
m 29ten Juli, wurde mir die Diagnose nicht klarer; wäre 
damals Serum abgeflossen, ich hätte alsbald an einen tumor 
ovarii gedacht; da aber Eiter zum Vorscheine kam, musste 
ich mich in dem einmal gefassten Gedanken, dass ich es 
mit einem enkystirten Peritoneal-Exsudat, oder wenn man 
will, Beckenabscess zu thun hätte, gestärkt fühlen. Erst 
nach der zweiten Punetion, als Haar und Fett mit nach aus- 
sen befördert wurden, konnte eine genauere Diagnose gemacht 
werden. Ich theilte unter diesen Umständen mit Andern, wie 
z. B. Scanzoni, dasselbe Schicksal. Letzterer!) erwähnte 
unter den Abweichungen, womit Eierstocksgeschwülste ver- 
a werden können, in erster Reihe Exsudaten in der 


1) F. W. Seanzoni, Lehrbuch der Krankh. der weibl. ar 
Wien 1857, S. 382. 


113 


Peritonäalhöhle und gesteht zu gleicher Zeit, dass er öfter 
Fälle behandelt habe, bei denen eine längere Beobachtungs- 
zeit nöthig gewesen, um die Ungewissheit in der Diagnose 
zu überwinden. Auch in unserem zweiten Falle war es keine 
leichte Sache die richtige Auffassung über die Art des Leidens 
zu gewinnen. Vor fünf Jahren, als kurz nach der Ehe die er- 
sten Erscheinungen des Leidens aufgetreten waren, hatte man 
eine unvollkommen verlaufene Frühgeburt diagnosticirt; ein 
Zweiter hatte das Leiden für ein krampfhaftes gehalten und 
jeden organischen Fehler geläugnet; ein Dritter glaubte ei- 
nige Monate später eine nach hinten geneigte Lage der Ge- 
bärmutter zu erkennen, die von selbst heilen könnte. Es ist 
natürlich nicht meine Sache, um ein entscheidendes Urtheil 
über die damals vorhandenen localen Erscheinungen zu fäl- 
len, doch kommt es mir nicht unwahrscheinlich vor, dass 
die Dislocation der Gebärmutter durch die Eierstockskyste, 
welche ich selbst constatirte, und die den Finger verhinderte 
die portio vaginalis zu erreichen, die Herrn Collegen, 
welche die Kranke früher consultirt, getäuscht habe. Nach- 
dem die Kyste einige Jahre lang vorhanden gewesen, ohne 
dass sie so drohende Erscheinungen verursachte als im er- 
sten Falle, scheint suppurative Durchbohrung derselben und 
der Vaginalwand erfolgt zu sein, nachdem im Monate Novem- 
ber Entzündungserscheinungen vorhergegangen waren. Darauf 
fing der Abfluss von stinkendem Eiter an, der in Verband 
mit den Schwammstückchen, welche hoch in der Scheide 
angetroffen und die für Krebserscheinungen gehalten wur- 
den, an ein bösartiges Gebärmutterleiden denken liessen. 
Diese Diagnose wurde aber alsbald widerlegt durch die Ent- 
fernung dieser Schwammstückehen, und dadurch dass eine fluc- 
tuirende Geschwulst gefühlt wurde, welche die Beckenhöhle 
zum grössten Theile füllte und die Gebärmutter verdrungen 
hatte, während überdiess die Dauer des Leidens, das Alter 
der Kranken, ihr Aussehen , ihre Klagen einer solchen Diagnose 
wenig günstig waren. Die Art des Leidens war aber auch 
jetzt noch nieht aufgeklärt. Der stinkende Abfluss konnte 
einfach durch das Jahre lang Vorhandensein von fremden 
1. 8 


114 


Körpern in der vagina bedingt sein, was gar nicht selten 
vorkommt, wenn z. B. ein pessarium Jahre lang liegen 
bleibt und chronische Entzündung und Exeoriation hervorruft. 
Dabei blieb aber stets die nähere Bestimmung der Geschwulst 
im Ungewissen. | 

Der tumor lag auch in diesem Falle zwischen der Gebär- 
mutter und der Blase, ohne dass aber deutliche Symptome. 
von Peritonäalentzündung vorhergegangen waren, wodurch 
der Gedanke an ein Peritonäalexsudat zurückgewiesen wurde; 
eine extrauterine Schwangerschaft war aber möglich, oder es 
konnte eiue sogenannte haematocele periuterina vorhanden 
sein, die, wie bekannt, die Form eines langwierigen Leidens’ 
ohne deutliche Symptome annehmen kann, oder endlich wir 
hatten es mit einer Eierstocksgeschwulst zu thun. Eine ex- 
trauterine Schwangerschaft war nicht sehr wahrscheinlich, 
da eine solche, wobei wie hier die Frucht schnell abstirbt, 
gewöhnlich einen anderen Verlauf nimmt, wenig Einfluss Men. j 
den allgemeinen Gesundheitszustand Aush oder durch Ent-- 
fernung der Frucht auf dem einen oder de andern Wege 
mit günstigem oder ungünstigem Resultate für die Mutter” 
endet. Haematocele periuterina war contraindieirt durch die“ 
regelmässige Menstruation. Es blieb mithin nur die Bier- 
stockskyste übrig; wiewohl ich aber eine grosse Uebereinstim- 
mung in den localen Erscheinungen mit denen des ersten Falles 
bemerkte, so lag doch darin für mich eine Warnung, die Dia- 
gnose nur mit einigem Rückhalte auszusprechen, da man doch 
selten zwei derartige Fälle, die doch wohl nicht zu den alltäg- 
lichen gehören , so kurz hintereinander in Behandlung bekommt. 
Ich liess die Diagnose daher anfangs noch unbestimmt und 
wurde dadurch befähigt, eine gründlichere Bekanntschaft mit 
dem Leiden zu machen, ehe ich zu einem operativen Ein- 
schreiten überging, denn i0 Tage später wurde unter Be- 
gleitung eine8 geringen Blutflusses eine sehr gekräuselte hell- 
gelbe Haarlocke entfernt, die sich sehr deutlich von dem 
dunkelgefärbten Haare dei Kranken unterscheiden liess. Dies i 
Haar musste daher von der Beckengeschwulst herrühren, und 
aus derselben Quelle musste der stinkende Eiter, der A 


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115 


nach Entfernung der Schwammstückchen zu fliessen fortfuhr, 
hergeleitet werden. ° Hieraus ging hervor, dass eine spontane 
- Durchbohrung der Kyste und der Vaginalwand Statt gefunden 
haben musste, die als ein Streben der Natur zur Heilung 
angesehen werden konnte, und so den Weg für die Behandlung 
anwies. 

Noch einen Augenblick müssen wir bei der Diagnose stille 
stehen. Zu wiederholten Malen war von einer Eierstocks- 
'kyste die Rede. Fragt man nun, ob darüber Gewissheit be- 
stehe, so will ich gerne zugeben, dass ich nicht im Stande 
bin, hierauf positiv zu antworten. Die pathologische Anatomie 
hat gelehrt, dass in keinem Organe so häufig Fett- und Haar- 
enthaltende Kysten vorkommen, als in den Ovaria; sie hat 
aber überdiess gelehrt, dass man solche Kysten auch wohl 
mitunter in der Bauchhöhle, ausserhalb des Peritonäums au- 
sserhalb aller Verbindung mit den Genitalien antreffen kann. 
Dies lässt die Möglichkeit zu, dass sich die beiden geöffneten 
Kysten, wovon oben die Rede, ausserhalb der Ovarien, ent- 


wickelt hätten. Dies kann aber nur durch die Autopsie zur 


Gewissheit gebracht werden, und so lange es nicht durch die- 
selbe nachgewiesen ist, glaube ich wegen der Stelle, welche 
die Geschwülste einnahmen, wegen ihres Einflusses auf den 
Stand der Gebärmutter, wegen des häufigeren Vorkommens 
solcher Kysten in den Ovarien als in jedem anderen Organe, 
diesen Theil meiner Diagnose, wenn auch nicht über jeden 
Zweifel erhaben, so doch für höchstwahrscheinlich halten zu 
dürfen. 

Die Diagnose, welche bei den ersten zwei Kranken so viele 
' Schwierigkeiten geboten hatte, war in dem dritten Falle 
sehr leicht zu machen. Eine fluctuirende Geschwulst lag zum 
Theile in der Bauch-, zum Theile in der Beckenhöhle, zwi- 
schen der Gebärmutter und dem Intestinum reetum. Die Ge- 
bärmutter war nach oben und vorne dislocirt, war ohne 
vorhergehende Entzündungserscheinungen entstanden, und 
hatte langsam an Umfang zugenommen, hatte die Urin- und 
Kothentleerung immer mehr erschwert, und war von amenor- 
rhöa begleitet, welche bei einer früher gesunden Frau plötz- 

gt 


116 


lich aufgetreten war, nachdem sie kalte und nasse Füsse 
gehabt hatte. Dies Alles zusammengenommen, deutete wie 
von selbst auf ein Ovarialleiden, während die gleiehmässige 


glatte Oberfläche der Geschwulst, sowie ihre Elastieität, 


insofern sie dem Getaste zugänglich war, beinahe mit Ge- 3 
wissheit zu erkennen gab, dass die Kyste uniloculär sein 
musste, und wohl nichts als serum enthalten konnte, da sie ° 


relativ schnell an Umfang zugenommen hatte. 


Wir wollen nun auf die Behandlung der Prognose über- 


sehen, welche bei jedem der drei Fälle gestellt werden musste. 


Im Allgemeinen ist, wıe bekannt, die Prognose bei Eierstocks- ° 
krankheiten gerade keine günstige, ja bei manchen ist sie 
geradezu lethal, wie z.B. bei den verschiedenen Krebsformen 
und den multiloeulären Kysten, bei denen die Ovariotomie 
allein im Stande ist, die Voraussicht noch etwas zu verbes- 
sern; weniger ungünstig ist fürwahr die Prognose im Allge- 
meinen bei den einfachen und vorzüglich bei den Serum- 
enthaltenden Kysten, für welche jedoch der Ausspruch der 


französischen Academie de Medeeine, dass sie zu den ge- 


fährlichsten Leiden gehören, und in den meisten Fällen tödt- 


lich verlaufen, noch immer volle Geltung hat. Einige Jahre 
können sie zwar bestehen, ohne das Leben zu gefähr- 
den, sie können spontan heilen durch Resorption der Flüs- 
sigkeit oder durch Berstung, (welche letztere das Leben 


nicht selten in Gefahr bringt), aber darauf darf man a priori 


nicht rechnen, und dies um so weniger, wenn ausserdem 
ungünstige Momente vorhanden sind. Letztere fehlten nicht 
in unserem ersten und dritten Falle. Bei Frau K.v.O. war 


das Leiden erst durch eine acute peritonitis bemerkbar ge- 


worden, welehe schon damals lebensgefährlich war; sie wurde 
mit günstigem Erfolge behandelt, die Neigung dazu blieb 
aber tortbestehen und von Zeit zu Zeit traten Schmerzen auf, 
so dass ihre Kräfte schon bedeutend gesunken waren, als 
sie ihren Wohnort in Leiden aufschlug; die Ernährung war 
unterminirt, die Esslust geschwunden, und das Fieber, das 
gewöhnlich am Abende auftrat, drohte einen heetischen Cha- 
rakter anzunehmen. 


117 


Eine spontane Berstung der Kyste mit Erguss des Inhaltes 
in die Bauchhöhle, hätte nur eine tödtlich verlaufende peri- 
tonitis zur Folge haben können; die Lage der Geschwulst 
war einer suppurativen Durchbohrung der Intestinalwand und 
darauffolgenden Entleerung des Inhaltes per anum nicht gün- 
stig, etwas Aehnliches war für die Blasewand nicht in 
Aussicht zu stellen, würde aber jedenfalls einen zweifelha- 
ften Erfolg gehabt haben; auch für Durchbohrung der vagina 
waren die Verhältnisse nicht günstig, da die Wand der Kyste 
bei der Exploration mit dem Finger am 12ten Juli die Dieke 
einer Fingerbreite hatte, so dass vorauszusetzen war, dass 
eine jedesmal zurückkehrende peritonitis oder pyämie oder 
Exhaustion den Tod nach sich geschleppt haben würde, 
lange bevor die Natur auf diesem Wege Heilung verschafft 
hätte. | 

Bei dem zweiten oben beschriebenen Falle bot die Prognose 
keine so dunkele Zukunft dar, falls das Leiden sich selbst 
überlassen worden wäre. Erstens hatte das Leiden hier 
schon mehrere Jahre bestanden, ohne das Leben mehr di- 
rect zu gefährden, überdiess .hatte hier aber die Natur (sit 
venia verbo) schon den guten Weg eingeschlagen, die Kyste 
hatte nämlich angefangen ihren Inhalt nach Durehbohrung 
der Vaginalwand nach aussen zu befördern; die Stelle der 
Durchbohrung, die Zahl der Oeffnungen, ob eine oder zwei 
oder mehrere, konnte ich nicht mit Genauigkeit ermitteln ; 
das Gefühl liess mich hier im Stiche, und eines Speculums 
habe ich mich nicht bedient, weil es mir bei der Punction 
gerathener vorkam, so nahe möglich dem unteren Ende 
der Geschwulst zu operiren, als die spontan entstandene 
Oeffnung aufzusuchen und zu dilatiren; es war jedoch nicht 
zweifelhaft, dass die vorhandene oder vorhandenen Oeffnun- 
gen sehr klein waren, denn die Geschwulst blieb trotz dem 
Eiterabfluss sehr elastisch gespannt, und die Gebärmutter 
kehrte nicht in ihre normale Lage zurück, was alsbald 
geschah, nachdem eine geräumigere Oeffnung dem Eiter 
freieren Abfluss gewährt hatte. Wenn wir dies bedenken, 
so ist die Annahme nicht gewagt, dass die Naturgenesung 


118 


in diesem Falle eine lange Zeit gefordert haben würde, 
dass dabei die Kräfte vielleicht zu sehr abgenommen hätten 
oder hinzutretende pyämie einen lethalen Ausgang bedingt 
haben würde. | | F 
In dem dritten Falle war der Inhalt der Kyste mehr ein- 
fach; ihr grosses Volumen und wahrscheinlich schneller Wach- 7 
sthum bedingten aber lästige Beschwerden. Die mechanische 
Ischurie, welche nur palliativ mit dem Catheter behandelt wer- 
den konnte, und der Druck auf das Reetum, die bei zuneh- 
mendem Wachsthume stets lästiger werden mussten, würden 
beinahe unvermeidlich tödtliche Folgen haben müssen, oder 
im Falle dies vermieden werden konnte, würde die Grösse 
der Geschwulst es bedingt haben, dass sie ihre Lage ausser- 
halb und oberhalb des Beckens erhalten und so für die Ope- 
ration weniger zugänglich gewesen, geschweige der Gefahr, 
welche eine mögliche Berstung oder hinzutretende peritonitis 
geboten haben könnte. Auch hier war die Prognose im 
Anfange zweifelhaft und mit Rücksicht auf den endlichen 
Verlauf mehr ungünstig. ® 
Endlich die Behandlung. Sie war in allen drei Fällen 
eine gleichartige und bestand darin, dass die Kysten ver- 
mittelst Punetion und Ineision von der Vaginalwand aus 
seöffnet wurden, um ihren Inhalt frei abfliesen zu lassen, 
wobei Sorge getragen wurde, dass die einmal gemachte Oeff- 
nung so lange offen blieb, bis die Kyste klein geworden 
und geschlossen war. Ganz neu ist diese Behandlungsweise 
nicht. Die Punetion der Eierstockskysten von der Vaginal- 
wand aus wurde schon lange von Callisen vorgeschlagen, 
fand aber wenig Beifall. Der französische Ueberzetzer des 
Handbuches der Chirurgie von Chelius fertigt!) wenigstens 
diese Behandlungsweise mit wenigen Worten ab, indem er 
sagt: „Üette operation ainsi executee a toujours &echoue.” 
Dies konnte wohl nicht anders sein, so lange man nur eine 
Punction machte, und darauf die Kyste wiederum ungehin- 
dert angefüllt werden liess; es war darum schon ein grosser 


s 
% 


U) I Lee 


1) Chelius. Traite de Chir. par J. B. Pigne, Brux. 1840 p. 403. 


119 


Fortschritt, als Cazeaux!) es versuchte die Kanüle nach der 
Operation liegen zu lassen, um dadurch dem Inhalte stets 
freien Abfluss zu gewähren. Deutschem Scharfsinne war es 
jedoch vorbehalten, um sowohl die Indication genauer zu be- 
stimmen, als auch die Operationsmethode mehr zu umschrei- 
ben. Auch hier scheint Kiwisch, dem die Gynäcopathologie 
so vieles verdankt, zuerst den guten Weg eingeschlagen zu 
haben. Nachdem er seine Methode für die radikale Behand- 
lung einfacher Eierstockskysten schon früher in einem Journal- 
artikel veröffentlicht hatte, kommt er im Jahre 1849?) darauf 
zurück, indem er den Rath giebt solche Kysten von der 
Vaginalwand aus so weit zu öffnen, dass man den Finger 
leicht einführen kann. Darauf lässt er eine lange, dicke Ge- 
bärmutter-Kanüle in die Höhle bringen und sie so ausserhalb 
der vagina befestigen, dass sie nieht verschoben werden 
kann. Diese Kanüle bleibt so lange liegen, bis die Höhle 
zusammengeschrumpft ist, was man durch tägliche Einspri- 
tzungen mit lauwarmem Wasser zu befördern sucht. Bei 
dieser Operation bediente Kiwisch sich folgender Instru- 
mente, 1°) eines langen gekrümmten Troicarts, das in die Kyste 
eingeführt wird; 2°) einer Hohlsonde mit derselben Krümmung 
ohne Handhabe, welche durch die Kanüle hindurch geführt 
und nach ihrer Entfernung an ihrer Stelle liegen bleibt; 3°) 
eines langen schmalen geknöpften Bistouris, um die Kyste 
einzuschneiden, nachdem es auf der Hohlsonde soweit vorge- 
schoben; 4°) einer dicken zinnernen Kanüle mit einem runden 
Knopfe, der mit mehreren kleinen Oeffnungen versehen: ist. 
Die Resultate bei dieser Behandlungsmethode waren sehr be- 
triedigend; Kiwisch wendete sie aber nur bei serösen Kysten 
an, die hinter der Gebärmutter gelegen waren ; am 23sten Tage 
traten wohl Erscheinungen von Entzündung mit bedeutender 
allgemeiner Reaction und Secretion von Ichor ein, welche 
letztere 2 bis 3 Wochen anhielt, später wurde aber das 


1) Annal. de Chir. franc. et etrangere. 1344, Octob. 
2) Klin. Vorträge über spec. Pathol. und Ther. der Krankh, des weibl. 
Geschl. II Abth. Prag. 1849 S. 98. 


120 


Seeret eiterig, und nach 5 bis 7 Wochen, wenn letzteres auf- 
hörte zu fliessen, schrumpfte die Kyste zusammen und wurde 
die Höhle geschlossen. Da mir diese Resultate bekannt waren, 
und da ich überdiess mehrmals Gelegenheit gehabt Becken- 
abscesse von der vagina aus mit gutem Erfolge zu öffnen, 
so musste wohl der Gedanke bei mir rege werden, um die 
fluetuirende Geschwulst, welche ich in meinem ersten Falle 
von der vagina aus erreichen konnte, von da aus zu Öffnen; 
die Vorsicht gebot mir mit einer einfachen Punetion anzu- 
fangen, wobei dünner Eiter abfloss, und als die Höhle 
darauf wieder angefüllt war, so entschloss ich mich eine 
energischere Behandlung zu ER indem ich die durch 
Punction erhaltene Oeffnung mit dem Messer erweiterte. Ich 
bediente mich eines gewöhlichen geraden Troicarts mit Fussö 
höhlter Kanüle, worauf ich ein geknöpftes Bistauri (Cooper’s 
Bruchmesserchen) einführen konnte; damit wurde Kystenwand 
und vagina soweit eingeschnitten, dass die Oeffnung das 
Einbringen des Fingers zuliess; hierbei erfuhr ich aber, und 
dies namentlich im zweiten Falle, zwei Schwierigkeiten: 
erstens wurde nämlich die Kyste zu schnell entleert und ihre 
Wand zu schlaff, um mit einiger Sicherheit auf das Gefühl 
hin eingeschnitten zu werden, und zweitens liess sich die 
Länge des Schnittes nicht genau bestimmen, so dass er zu 
klein ausfallen konnte. Ich habe darum später die Methode 
“insofern modifieirt, dass ich mit dem geknöpften Bistouri 
die Stichwunde nur soweit einschnitt, als nöthig war, um 
sie später, mit Leichtigkeit auf das Gefühl hin zurück- 
zufinden, und darauf vergrösserte ich mit einem lithotome 
cache, wie es bei der sectio lateralis gebraucht wird, die 
Ineision bis auf 1” P. Länge; der Schnitt wurde immer in 
der Richtung nach der Gebärmutter geführt, um so beim 
zweiten Falle Beleidigung der Blase, beim dritten des rec- 
tums zu vermeiden. Ich brachte keine Kanüle 4 demeure 
nach der Ineision in die Kyste, sondern beschränkte mich 
auf tägliche Ausspritzungen mit lauwarmem Wasser; dieser 
Modification der Behandlungsweise glaube ich hauptsächlich 
verschuldet zu sein, dass keine örtliche Entzündung oder 


121 


allgemeine Reaction auf die Operation folgte, was gewiss 
nicht zu gering geschätzt werden darf, da man den Grad 
der Entzündung nicht vorherbestimmen kann, und wirklich, 
wie Scanzoni!) uns mitthielt, Kiwisch ein Fall vorgekom- 
men ist, bei dem die Entzündung einen lethalen Ausgang zur 
Folge hatte; dagegen bringt unsere Modification auch einen 
Nachtheil mit sich, den nämlich, dass die Oeffnung bald 
‚kleiner wird, und man, sobald die Einführung des Catheters 
‘oder der Kanüle dadurch verhindert wird, eine baldige völ- 
lige Schliessung der Oeffnung zu erwarten hat, wodurch der 
schon erreichte Fortsehritt zur Genesung völlig vereitelt wird. 
Dieser Nachtheil wird aber nur dann empfunden werden, wenn 
unsere Modification in der Operationsmethode unvollkommene 
Anwendung findet; nach der Operation muss täglich ein 
"zinnerner Catheter von der äussersten Dieke, welche zugelassen 
wird, eingeführt werden; sobald dies nicht mehr mit hin- 
reichender Leichtigkeit vorgenommen werden kann, lasse man 
denselben eine halbe bis eine ganze Stunde nach der Einführung 
in der Oeffnung liegen. Wenn ich dies bei dem ersten Falle 
gethan hätte, so würde sich später die Nothwendigkeit zur 
Dilatation der Oeffnung nicht vorgethan haben, und damit 
_ wäre die sie begleitende gefahrdrohende Blutung, welche das 
Tamponniren der vagina gebot, abgewendet worden sein. 
Die Nothwendiekeit, um so zu handeln, wird aber noch mehr 
in dem zweiten Falle demonstrirt, bei: dem die gemachte 
Oeffnung während einiger Tage, an denen die inzwischen ein- 
getretene Menstruation die Einspritzung unzulässig machte, 
geschlossen war, während die Kyste nicht mehr so sehr an- 
gefüllt wurde, dass eine Wiederholung der Operation Statt 
finden konnte. Im dritten Falle aber, bei dem D'. Junius 
die Nachbehandlung sehr pünktlich besorgte, war nur eine Inci- 
sion nöthig, worauf der Umfang der Kyste sehr bald abnahm, 
während sie inwendig granulirte und innerhalb 10 Wochen ge- 
nas, wobei nur eine mässige Menge guten Eiters abgesondert 


1) F. W. Scanzoni Lehrb. d. Krankh. d. weibl. Sexualorgane. Wien, 
1857. S. 408. 


122 


wurde. In diesem Falle muss aber mit Bezug auf eine so. 


baldige Genesung einer so grossen Geschwulst auch der 


anatomischen Beschaffenheit der Kystenwand und der Art 


der darin enthaltenen Flüssigkeit Rechenschaft getragen wer- 
den; es lag hier einfach ein hydrops ovarii vor, wahr- 
scheinlich durch Entartung eines Graafschen Bläschens ent- 
standen. In den beiden anderen Fällen war wahrscheinlich 
aufangs eine harte Geschwulst vorhanden, nämlich eine Fett- 
enthaltende Kyste, worin einiges Haar; in Folge späterer 
Entzündung dieser Kyste, darauffolgender Eiterbildung und 


Entstehung von hydrops ovarii purulentus ist so die vor- 


liegende Geschwulst entstanden. Diese Form ist nicht ge- 
eignet für eine so schnelle Genesung, auch wenn die Höhle 
alsbald nach der Entfernung des Hüssigen Inhaltes an Um- 


fang abgenommen hätte. Auch das Haar, das im ersten Falle 
noch 5 Monate nach der ersten Ineision zum Vorschein 
kam, kann den Fortschritt zur Genesung aufgehalten haben. 
Möglicherweise ist hierin die Ursache zu finden, warum in 
diesem wie in dem zweiten Falle noch keine vollkommene 
Genesung vorhanden ist, wenn auch sonst der allgemeine Ge- 
sundheitszustand nichts zu wünschen übrig lässt, und nur noch 
lokale Einspritzungen in die vagina erforderlich sind. Wenn 
aber nun auch Punction und JTneision von der Vagina aus 
nicht zu einer raschen, ja nicht einmal zu einer vollkommenen 
Genesung geführt haben, so schienen mir die ersten zwei 
Fälle doch auch namentlich darum interessant, weil aus 
ihrer Geschichte hervorgeht, dass nicht allein hydrops ovarii 
den durch uns eingeschlagenen Weg der Behandlung indieirt, 
sondern dass sie bei jeder einfachen Eierstockskyste mit 
flüssigem Inhalte ihre Anwendung finden kann, falls die 
Kyste mit Sicherheit von der vorderen oder hinteren Wand 
der vagina aus erreichbar ist, und ohne Gefahr für Beleidi- 
‚gung anderer Theile hinreichend eingeschnitten werden kann, 
um dem Inhalte einen freien und fortwährenden Abfluss zu 
verschaffen. Wenn dies einmal verrichtet, so besteht die 
Nachbehandlung einfach in dem täglichen Einlegen eines 
dicken Männer-Catheters, um die von neuem angehäufte Flüs- 


123 


sigkeit zu entfernen, die Höhle mit lauwarmem Wasser aus- 
zuspülen und gleichzeitig für das Fortbestehen der Oefinung 
zu sorgen, wobei man nöthigenfalls das Instrument einige 
Zeit in der Oeffnung liegen lassen kann, ohne dass man 
dadurch Entzündung zu befürchten hätte. Wenn die Oeffnung 
klein, so dass der Inhalt der Kyste nach der Einführung 
des Catheters nicht mehr abfliessen kann, so bediene man 
sich einer sonde a double courant, womit man die Kyste sehr 
leicht ausspülen kann, ohne sie unnöthigerweise zu dehnen; 
man fährt damit so lange fort, bis die auf der einen Seite 
eingespritzte Flüssigkeit auf der anderen nicht wiederum 
zurückkehrt; wenn dies geschieht, so kann man daraus 
schliessen, dass eigentlich keine Höhle mehr, sondern nur 
‚noch ein enger blind-endigender Kanal besteht, der entweder 
bald geschlossen sein oder noch einige Zeit als unschädliche 
Fistel fortbestehen wird, gewöhnlich aber keine weiteren 
Sorgen erheischt. | 

Zum Schlusse noch eine Bemerkung. Mancher, der un- 
serer Auseinandersetzung bis jetzt seine Aufmerksamkeit ge- 
schenkt hat, wird vielleicht erwartet haben, dass wir dabei 
die gegenwärtig so sehr gerühmten Injectionen mit Jodium- 
Lösung hätten erwähnen müssen. Ich vermied es aber, weil 
ich sie für unnöthig, ja sogar für nicht ganz unschädlich 
halte. In der französischen Akademie ist man zwar zu dem 
Schlusse gelangt, dass „die für alle Arten von Eierstocksky- 
sten passende Behandlungsmethode in der Punction mit auf- 
folgender Einspritzung einer solutio Iodii bestände;” dieser 
Schluss entbehrt aber für mich noch des gründlichen Bewei- 
ses. Für seröse Kysten kann ich ihn allenfalls zugeben, und 
zwar für diejenigen, welche nur eine Punction von der Bauch- 
wand aus zulassen und bei welchen keine Rede ist von dem 
_Offenhalten der Oeffnungen und der Zusammenschrumpfung des 
Sackes, den man fortwährend zu entleeren sucht; in solchen 
Fällen kann dieses Mittel Anwendung finden, um zu ver- 
suchen, ob man eine adhäsive Entzündung und darauffolgen- 
den Schluss erhalten könne; denn die Punction wird sonst 
nur eine palliative Operation sein, die man öfter wiederholen 


124 


müssen wird, und die durch öftere Wiederholung den Organis- 
mus durch Entfernung zu grosser Flüssigkeitsmengen er- 
schöpfen kann. Dem steht zwar die Gefahr gegenüber, dass 
bei Jodiumeinspritzungen die Entzündung zu intensiv wer- 
den kann, sich dem Peritonäum mittheilt und so den Tod 
bewirkt; es gilt hier aber die Wahl des wenigst gefährlichen 
von zwei Uebeln. Dies fällt natürlich für die Fälle ganz 
weg, welche ohne gefahrdrohende Mittel behandelt werden 
können; Jodiumentspritzungen sind doch nach meiner Erfah- | 
rung, sowie nach der von Kiwisch unnöthig bei serösen ' 
Kysten, welche von der vagina aus geöffnet werden können 
und ganz zweckwidrig kamen sie mir in den beiden ersten 
Fällen vor, in denen die Ungewissheit, ob alles in den 
Kysten vorhandene Haar schon entfernt war, es wenigstens 
zweifelhaft machte, ob die Kyste schon durch Verwachsung 
geschlossen werden konnte. | 


(Ned. Tijdschr. voor Geneesk.) 


AARAU UATIITANIANANANTANANAANANNANANTITALITANNARAANARAANAAARAAAINAANAARAR AAN In Ananda 


‚Veber einige ausgestorbene riesenhafte Vögel- 
arten von den Macarenhas-Inseln. 


von 


H. SCHLEGEL. 


Hierzu Tafel ]. 


— 


Aur den Inseln Bourbon, Mauritius und Rodriguez , wel- 
che die natürliche geographische Gruppe der sogenannten 
Macarenhas-Inseln bilden, sind in neuester Zeit eifrige Un- 
tersuchungen angestellt nach den seit einem oder zwei Jahr- 
hunderten ausgestorbenen oder lieber ausgerotteten Vögeln, 
welche nur auf diesen Inseln und sonst an keiner anderen 
Stelle der Erdoberfläche angetroffen wurden. 

Es ist ziemlich allgemein bekannt, dass die Arten dieser 
Vögel, welche mit mehr oder weniger Gewissheit bestimmt 
werden konnten, zu einer Gruppe und zwar zu der der 
Dodo’s vereinigt werden, welcher Terminus der meist be- 
kannten Art, dem auf der Insel Mauritius vorkommenden an- 
sehnlich grossen und von einem eigenthümlichen Schnabel 
versehenen Dodo entlehnt ist. Ebenso bekannt ist es, dass 
sehr auseinanderlaufende und sogar abentheuerliche Ansichten 
über das Wesen dieser Vögel geäussert worden sind, und 
dass sie, sobald sie bekannt wurden, sowohl von Laien als 
auch von Naturforschern bewundert wurden. 

Wenn ich nun behaupte, dass trotz der vielen Forschun- 
gen doch noch einige grosse Vögel, welche früher auf diesen 
Inseln gelebt haben, vergessen oder verkannt sind, so wird 
dies Manchen befremden, umsomehr, da unter diesen Vögeln 


126 


einer von der Höhe des afrikanischen Strausses vorkam, und 
da diese Vögelarten nicht zu den Dodo’s sondern zu einem 
ganz anderen Genus gestellt werden müssen. = 
Bis heute hat man noch keine Reste von diesen Thieren 
gefunden ; wir kennen sie aber aus einer Beschreibung und 
Abbildung, welche eine bessere Anschauung dieser Thiere 
liefern können, als die nebelumhüllte Skizze, welche man 
von den Moa’s aus Neuseeland nach den zahlreichen übrig- 
gebliebenen Knochen dieser Vögel construirt hat. . 
Die Beschreibung und Abbildung der grössten Art finden 
wir in der Reisebeschreibung von L&eguat !); dieser Forscher 
nennt diese Art „geant.” Ich habe diese Reisebeschreibung, 
trotz vieler vergeblichen Bemühungen, erst jetzt erhalten 
können, und zwar in den beiden vorkommenden Auflagen. 
Ehe wir diese wichtigen Documente näher behandeln, wollen 
wir die Frage nach der Glaubwürdigkeit dieses Forschers‘ 
erörtern. Um dazu gehörig vorbereitet zu sein, müssen wir 
erst das Leben und Wirken dieses Forschers kurz mittheilen, 
der (wenn auch nur durch seine Geschichte des Solitaire von 
Rodriguez) so viele wissenschaftliche Verdienste hat. % 
Francois Leguat, ein französischer Edelmann aus der. 
damaligen kleinen Provinz Bresse ?) in Bourgogne, wurde. 
gezwungen sein Vaterland zu verlassen, nachdem er, in 
Folge der Aufhebung des Ediets von Nantes, 1685, vier re 
lang seine Freiheit eingebüsst hatte. Er börak sich dem 
Beispiele vieler damaligen Verbannten folgend nach Holland, $ 
das er am 6ten Ausustur 1689 betrat. Da selbst angekommen 
erfuhr er, dass der Marquis du Quesne mit Erlaubniss der 
eine und der Directoren der ‚ostindischen Compagnie 
zwei Schiffe ausrüsten liess, um die französischen Protestanten, 
welche Europa zu verlassen wünschten, kostenfrei nach der 
Insel Bourbon zu bringen, damit sie diese Insel eolonisirten ®). 


| 


1) Voyages et Aventures, Londres, Mortier, 1708, 2 Vol 8°. Eine ’ 
englische Uebersetzung dieses Werkes ist in demselben Jahre in 
London in einem Bande 8°. erschienen. | 

2) Siehe sein Reisebericht, I. Seite 157. 3) Ibid I. S. 1 und 2. 


K 
3 


127 


_ Dieses Unternehmen erregte Aufsehen !), und wurde aus Furcht 
_ vor einer Flotte, welche der König von Frankreich nach die- 
ser Insel zu senden beabsichtigte ?), insofern moditieirt, dass 
nur ein kleines Schiff mit sechs Kanonen uud zehn Matrosen 
reisefertig gemacht wurde. Dieses Schiff segelte am 4ten Sep- 
tember 1690 von Texel aus. Die auf dem Schiffe anwe- 
senden elf Colonisten, worunter auch der Bruder unseres 
Leguat, waren alle französische Emigranten. Leguat, der 
diese Expedition anführte, war schon ein Mann in den 
fünfziger Jahren 32). Diese Colonisten waren bis auf zwei, 
alle vermögend und gehörten zu den besseren Ständen, wel- 
che diese Reise mehr aus Liebhaberei als nothgedrungen 
unternahmen *). Am 3ten April 1691 waren sie im Gesichte 
der Insel Bourbon 5). Der Schiffskapitän setzte aber Cours 
nach der Insel Rodriguez, damals Diego-Ruys geheissen 6) , 
wo sie landeten 7). Zwei Jahre brachten die Colonisten auf 
dieser damals unbewohnten Insel zu, und verliessen sie dar- 
auf am 20sten Mai 1693 3) in einem Boote, das sie selbst ver- 
fertigt hatten. Am 29sten Mai erreichten sie, durch Sturm und 
Elend erschöpft, die Insel Mauritius. Sie fuhren nun wäh- 
rend einer ganzen Woche der Küste entlang, bis sie den 


2% Ibidi 1448269. 

2) Quiton du Quesne, Neffen des oben erwähnten Marquis, war 
der Oberbefehl über diese Flotte von sechs Schiffen anvertraut wor- 
den. Die Beschreibung dieser Reise, welche von 1690—1691 dauerte, 
ist mir nur durch die englische Uebersetzung bekannt geworden: 
A new voyage to the East-Indies by Mr. Duguesne, London 1696, 
12°. 1 Vel. — Später erschien das Tagebuch eines unbekannten 
Reisegefährten unter folgendem Titel: Journal d’un voyage fait aux 
Indes-orientales,‘ par une escadre de six voisseau@, commandee par 
Mr. Dugquesne, Rouen chec Marchael, 1721, 3 Vol. 12°, Die 
Leichtfertigkeit und Munterkeit dieses Berichtes, der hauptsächlich 
für den damaligen Minister de Seignelai verfertigt war, contra- 
stiren sehr mit dem Ernste, der Genauigkeit und dem religiösen 
Sinne, welcher Leguat und seine Genossen characterisirten. 

3) Leguat, I, S. 3—7. 4) Ibid. I, S. 69. 5) Ibid. I, S. 47. 
6) Ibid. I, S. 49. 7) Ibid. LI. S. 60. 8) Ibid. I, S. 164. 


128 


schwarzen Fluss erreichten, wo einige holländische Familien 
in Hütten wohnten. Dieser Fluss ist 28 Meilen (lieues) von 
dem damaligen Forte Friedrich Heinrich, das an der süd- 
östlichen Gegend liegt, entfernt. Nachdem sie einen Monat r 
in der Nähe dieses Flusses verweilt hatten, kam der Gou- | 
verneur der Insel Mauritius auf seiner jährlichen Rundreise 
der Insel in diese Gegend. Er schickte Leguat mit seinen 
Genossen nach dem an der Nordwestküste gelegenen Hafen, 
damit sie von da aus weiter nach seiner Wohnung reisen } 
möchten 1). Allda erfreuten sie sich ihrer Freiheit bis zum 
15ten Januar 1694. Von nun an aber wurden sie als Gefan- 
gene behandelt und nach einer kleinen felsigen Insel, zwei Ä 
Meilen von Mauritius entfernt, geschickt ?). Von dieser Insel 
aus konnten sie aber bei niedrigem Wasserstande, während 
des vollen Neumondes, zwei andere kleine Inseln erreichen, 
deren eine mit. Bäumen versehen war®). Drei Jahre lang 
verlebten sie in dieser Verbannung, und Leguat bekam nur 
zur Herstellung seines kranken Leibes Erlaubniss noch ei- 
nige Monate auf der Insel Mauritius zu verweilen *)., Am 
16ten September wurden sie, noch stets als Gefangene, nach ° 
Batavia gebracht 5), und endlich nach einem Jahre allda freige- \ 
geben. Am 28sten November 1697 verliess Leguat mit seinen 
noch übriggebliebenen Genossen Batavia und kehrte nach Eu- r 
ropa zurück 6). Am 24sten Juni 1698 kam er gesund in Vlissingen 
anT). Leguat liess sich darauf in Grossbrittannien nieder °). 
Sein Reise-Journal fand so viel Beifall unter seinen Freunden, 
dass er dadurch ermuntert wurde es auszuarbeiten. Erst 
später und zwar im Jahre 1708, gab er dem wiederholten N 
Andrange, es drucken und herausgeben zu lassen, nach). 
Er widmete es dem Grafen Gray, dem berühmten Staats- 
manne, und die Vorrede ist von dem isten October 1707 
London datirt. | 


1) Ibid. I, S. 8—12. 3) Albıd. 15 18. 2% 3) Ibid.1E S. 23 ; 
A):Ahıd 28 7782734: 5) Ibid. II, S. 62. 6): Ibid. I, 'S. 137. 
7). Ibid. I, S. 174. 8) Ibid. Preface S. xxx. 9) Ibid. Pre- 
face, S. ııı bis v. 


129 


In dem Werke von Leguat findet man wiederholte Be- 
weise seiner gebildeten Erziehung und grossen Belesenheit; 
er besass in hohem Grade den Ernst und die Frömmigkeit, 
welche die für ihre Lehre so eifrigen Protestanten damals 
charakterisirte; dabei hatte er trotz seiner Jahre durch seine 
philosophischen Geistesgaben und festen Glauben, sowie durch 
die erlittene Unterdrückung und Verfolgung, ein so ruhiges 
gleichmässiges Gemüth, dass er sich auf Rodriguez so glück- 
lich fühlte, dass er es freiwillig wohl nicht mehr verlassen 
haben würde }). 

Der Inhalt seines Werkes bestätigt in Bezug auf seine 
Wahrheitsliebe vollkommen, was er in seiner Vorrede sagt °): 
„la simple verit& toute nue et la singularit& des nos aven- 
tures sont le corps et l’äme de ma Relation.’ Die Natur- 
forscher kannten ihn bisher nur durch seine Beschreibung 
des Solitaire von Rodriguez; sie ist ohne Kritik aufgenom- 
men und durch die später gefundenen Reste dieses Vogels 
vollkommen bestätigt worden. Es geht ausserdem aus sei- 
nen verschiedenen Mittheilungen über bekannte Objecte deut- 
lich hervor, dass er als Dilettant für seine Zeit ein aufmerk- 
samer und genauer Beobachter war, dass er eine grosse 
Menge Bücher über die Naturgeschichte bei seinen Untersu- 
chungen zu Rathe zog, dass er sie mit einander und mit der 
Natur verglich, um so die Wahrheit zu eruiren, und dass 
er sich durchaus kein Plagiat zu Schulden kommen liess. 
Als er z. B. zum ersten Male fliegende Fische erhielt, und 
sie darauf untersuchte, beschrieb und abbildete, bemerkte er 
sogleich, dass zwei Formen derselben unterschieden werden 
müssen, welche jetzt Dactyloptera und Exocoelus heissen. 
Er fügt darum Copieen von drei anderen Werken entlehnten 
Abbildungen zu den seinigen, und macht zu der nach Olea- 
rius copirten die richtige Bemerkung, dass sie einem ge- 
trockneten Objeete entnommen sein müsse, und daher nicht 
naturgetreu sein könne; denn, sagt er3): „quand ces animaux- 


1) Ibid. Preface, S. xxx. 2) Ibid. Preface, S. x. 3) -Ibid. I, 
S. 10 u. folg. 
I. ) 


130 


la viennent & se secher, il est diffieile d’en observer la ve- 
ritable forme.” Eben so richtig sind seine Bemerkungen 
über die damals unter dem Namen „Flamants’ abgebildeten 
Vögel. Er sagt nämlich !), dass die zahlreichen Schriftsteller, 
deren Werke er zu Rathe zog, mit Ausnahme von Willughby 
diese Vögel mit dem Schnabel eines Löfflers versehen sein 
lassen. Und wirklich wurde der Terminus Flamants damals 
zur Bezeichnung grosser rother Sumpfvögel angewendet; der 
wahre Flamingo wurde von Willughby abgebildet, wäh- 
rend viele Andere, worunter z. B. auch Rochefort, den 
Leguat oft eitirt, den rothen Löffler von America (Pla- ’ 
(alea ajaja) unter dem Namen Flamant beschrieben und 
abbildeten. Bei seinen Beobachtungen über Dorade und Bo- 
nıte?) eitirt er Rochefort und Rondelet, welchen letzteren 
er an einer späteren Stelle sehr tadelt®), bei welcher Gele- 3 
senheit man sehen kann, dass er auch noch nach seiner’ 
Rückkehr die Naturwissenschaften mit grossem Eifer betrieb, 
da er, zur Vergleichung, die Abbildung einer Bonite mittheilt, 
welche einer seiner Freunde nach einem in 1702 an der 
Küste von Kent gefangenen Exemplare verfertigt hatte. Inter- 
ressant ist seine Beschreibung der verschiedenen Schildkrö- 
tenarten *), welche ‘er kennen gelernt hat, und es entging 
ihm sogar nicht: „que les os de ces tortues sont massıf[s, je 
veux dire quwils n’ont point de moelle.” Seine Beschreibung 7 
der Ananaspflanze 5), welche er zuvor nie gesehen, ist sehr 
charakteristisch. Bei seiner Besprechung des Nasehorns ®) 
giebt er fünf Abbildungen nach Anderen, und kritisirt die 
Schriftsteller, deren Einbildung so gross war, dass sie allerlei i 
sonderbare Formen auf der Haut dieser Thiere gesehen. Aus 
seinen Worten 7) geht deutlich hervor, dass er die Zeiechnun- 
gen selbst und sogar in loco angefertigt hat. Diejenigen, 
welche nicht von ihm selbst herrühren, sind viel unvollkom- 


1) Ibid. T, S.. 18. " 2) Ihid. T,'8. 20 u. tole a) Rare 
4) Ibid. I, S. 89 bis 92. 5) Ibid. II, S.65. 6) Ikid. II, S.146.° 
7) Ibid. I, S. 64. | 


131 


mener und oft sonderbar: so z. B. die Abbildung eines Sau- 
‚riers von Gilolo, wahrscheinlich eine Gekko-Art )). 

Wir wollen nicht länger stille stehen bei den vielfältigen 
anderen Beobachtungen, welche Leguat über allerlei Thiere 
und Pflanzen gemacht hat. Das Vorhergehende wird genü- 
‚gen, um darzuthun, dass Leguat keiner von diesen Tausen- 
den oder Hunderttausenden ist, welche mit keinem anderen 
Zwecke nach fremden Gegenden ziehen, als um ihre Exis- 
_ tenz zu verbessern, um so bald als möglich Schätze an- 
zuhäufen, und die sie umgebende Natur nur insofern eines 
Blickes würdigen, als sie ihren materiellen Zwecken dienst- 
bar gemacht werden kann. Wir haben vielcher mit einem dieser 
seltenen Individuen zu thun, welche die Natur nur um ihrer 
selbst willen lieb haben und ihr persönliches Interesse dabei 
auf den Hintergrund stellen; Leguat war ein Mann, der, 
hätte er länger auf den Mascarenhas-Inseln verweilt, gewiss 
die Zerstörungswuth seiner weniger gebildeten seefahren- 
den Zeitgenossen gezähmt haben würde, da er, über die 
Weibchen der Solitaire von Rodriguez handelnd, sagen 
konnte: „elles marchent avec lant de fierle ei de bonne grace 
tout ensemble, quw'on ne peul s’empecher de les admirer et de 
‚les aimer, de sorle que souvent leur bonne mine leur a sauve 
la vie” 2). 

Leguat hat seine Beobachtungen an Ort und Stelle nie- 
dergeschrieben, wie aus den oben erwähnten Mittheilungen 
über die Herausgabe seiner Reisebeschreibung hervorgeht. 
Ueberdiess erwähnt er, dass er schon auf den Inseln, wo 
er verweilt hat, memoriauxs in vases verschlossen, hinterlas- 
sen habe, und zwar in Mauritius in einer Höhle des Felsens, 
worauf er seine Verbannungszeit verlebt, in Rodriguez in 
einer Höhle, welche er in dem Stamme eines harten Baumes 
gemacht hatte 2). 

Nachdem ich die Glaubwürdigkeit von Leguat geltend 
gemacht habe, gehe ich zu seiner Beschreibung eines Vo- 


1) Ibid. I. S. 97: 2) Ikid. II, S. 99 und 100. 3) Ikid. I, S. 67 
und 156, und II, S. 60. 
gx 


132 


gels, welchen ich für eine ganz unbekannte riesenhafte Art 
halte. An der Stelle, wo er über die Producte der Insel 
Mauritius handelt, sagt er nämlich unter Anderem!): „on 
u beaucoup de cerlains oiseaux quon appelle Geans 
parceque leur 1ete s’eleve a la hauleur d’environ six pieds. Ils 
sont exirömement haut monlez, et ont lc cou fort long. Le 
corps m’est pas plus gros, que celui d’une oye. Ils sont tout 
blancs, excepte um endroit sous lVaile qw est um peu rouge. 
Ils ont um bec d’oye, mais un peu plus pointu; et ses doigls 
des pieds separes et fort lonys. Ils paissent dans les heux 
marecageux, et les chiens les surprennent sowvent a cause qul 


leur faut beaucoup de temps pour s’elever de terre. Nous en 


vimes un jour, un ü Rodrigue et nous le primes a la main 
tant il etoit gras: c'est le seul que nous y ayons remarque; 
ce qui me fait croire; quwil y avait die pousse par quelque 
vent ü la force duquel il n’avoil pu resister. Ce gibier est 


assez bon.’ Zu dieser Beschreibung gehört eine Abbildung, 
welche den Vogel ungefähr auf %, seiner Grösse redueirt hat. 
Diese Beschreibung und Abbildung werde ich nun genauer 


behandeln. Um dies besser thun zu können und eine deut- 


lichere Vorstellung dieses Vogels zu erhalten, habe ich unter 
Fig. 1 die Abbildung von Leguat mitgetheilt. 

Wir wollen zuerst die Meinungen anderer Forscher über 
diesen Vogel auseinandersetzen. Soviel mir bekannt, haben 
nur Hamel und Strickland über denselben gehandelt’). 
Beide äussern keinen Zweifel über die Existenz dieses Vo- 
gels, was bei den genauen Angaben von Leguat auch wohl 
nicht leicht möglich ist, der denselben zu verschiedenen 
Zeiten und auf zwei von einander sehr entfernten Inseln 
beobachtet hat; sie haben aber den Vogel nach unserem Da- 
fürhalten verkehrt gedeutet. | 


1): Ibid. -I1,X 8. 7.0: 

2) Auch bei Valentyn, V, II, 152 findet man einige Zeilen über 
den Geant von Lieguat, welche aber bloss abgeschrieben sind. 
Die Frage von Valentyn, ob dieser Geant nicht vielleicht der 
Dodo sein könne, bedarf ın unseren Tagen wohl keiner Erörterung. 


TE unge 


a ee EEE, 


TA EEE 


ae EEE ee 


133 


Hamel 1) hält denselben für einen straussartigen Vogel, 
der wie der Solitaire von Rodriguez seit Leguat’s Zeiten 
‚ausgerottet ist. Die Richtigkeit dieser Meinung glauben wir 
aus folgenden Gründen bezweifeln zu müssen: 1°. weil 
der Geant von Leguat einen vollkommenen Schwanz mit 
Federn und unteren Deckfedern, die bis an’s Ende reichen, 
hat, und weil dieser Schwanz in aufrechter Richtung getra- 
sen wird, was man bei straussartigen Vögeln nie antrifft; 
2°. weil seine Zehen ausserordentlich lang und dünn und 
nicht kurz und diek wie bei allen bekannten straussartigen 
Vögeln sind; 3°. weil der Mund nicht wie bei den strauss- 
artigen Vögeln bis unter das Auge gespalten ist; 4°. weil 
die Fusswurzel in ihrer ganzen Länge und Breite mit gros- 
sen Schilden bekleidet sind und nicht 'theilweise oder ganz 
mit Schuppen, wie es an den Pfoten der Sträusse gesehen 
wird; 5°. weil in Leguat’s Abbildung nichts von der be- 
sonderen Form der Straussfedern zu sehen ist, welche er an 
' dem Solitaire so deutlich wiedergegeben hat; weil diese Vö- 
gel in sumpfigen Gegenden leben, wo sich die straussarti- 
sen Vögel nicht aufhalten; 6°. weil der Vogel im Stande 
war zu fliegen, und endlich 7°. weil ein Exemplar dieses 
Vogels durch Stürme nach der mehr als hundert Meilen von 
Mauritius entfernten Insel Rodriguez getrieben war, welche 
grosse Reise von unbeholfenen Vögeln, die nicht fliegen kön- 
nen, wie die Sträusse, doch wohl unmöglich zurückgelegt 
sein kann. 

Striekland?) hat zu wiederholten Malen die Meinung 
geäussert, dass dieser Vogel nur ein Flamingo gewesen, 
trotzdem dass die Abbildung desselben bei ihm den Ein- 
druck eines Storches hinterlassen habe. Diese Meinung ist 


1) Der Dodo, der Einsiedler der erdichtete Nazarvogel, in dem Bulletin 
phys.-math. de l’academie de St. Petersbourg, Vol. II, N. 5 und 6. 

2) The Dodo etc. 1, S. 60 und 64. — Striekland sagt wörtlich 
Folgendes: „The fact ist, that these Geants are evidently, noth- 
withstanding the Stork-like aspect of Leguat’s plate at p. 176> 
Flamingo’s. iREaT 


t 


154 


wirklich ebenso sonderbar wie die von Hamel'; denn 1°. ist ” 
die Physiognomie oder wenn man will der Habitus des Vo- 1 
sels ein ganz anderer; 2°. haben weder die Zeichnung noch 
die Beschreibung des Behnapelß irgend eine Uebereinkunft mit j 
dem der Flamingo’s!); 3°. ist der Hals der Flamingo’s viel ° 
länger und sehr viel dünner als der unseres Vogels; 4°, ist 
der Schwanz der Flamingo’s viel kürzer, hat eine andere 
Form und wird nie aufrecht getragen; 5°. sind die Schenkel | 
der Flamingo’s viel länger und zum grössten Theile nackt, 
während sie bei unserem Vogel bis ziemlich in der Nähe 
des Fusswurzels mit Federn bekleidet sind; 6°. hat der Fla- 
mingo eine sehr kleine Hinterzehe, viel kürzere Vorderze- 
hen, welche letztere ganz und gar durch eine Schwimmhaut ° 
vereinigt sind, während die Zehen unseres Vogels, sowohl 
nach der Beschreibung als auch nach der Abbildung zu ° 
urtheilen, sehr lange und frei sind; 7°. ist die Farbe der 
jungen Flamingo’s grau, der alten mehr oder weniger roth 
nie aber weiss wie bei unserem Vogel, und endlich 8°. fällt ° 
die Behauptung von Strickland schon dadurch, dass Le- 
suat sehr gut wusste, wie ein Flamingo aussieht. 

Was nun unsere Meinung betrifit, so erklären wir gerne 
ohne irgend einen Rückhalt, dass wir den Geant von Leguat 
für ein Wasserhuhn halten und zwar aus folgenden Grün- 
den: 1°. ist der Habitus dieses Vogels so vollkommen der 
der Wasserhühner, dass leder, der auch nur wenig Uebung 
in der Bestimmung von Thieren hat, ihn erkennen wird; 
2°, sind hierfür die ausserordentlich langen Zehen geltend 
zu machen; 5°. ist die Form des Schwanzes mit seinen bis 


re a nn re ee ae 


1) Die Aeusserung Leguat's: „ils ont un bec d’oie,” muss was auch 
schon die hinzugefügten Worte „mais un peu plus pointw” andeu- 
ten, in Beziehung zu der Form im Allgemeinen aufgefasst werden 
und nicht auf die Blättchen, welche der Flamingo’s-Schnabel mit dem 
der Gänze gemein hat, bezogen werden. Wenn Leguat von seinen 
Solitairen sagt (I, S. 58): les mädles ont les pieds de cog d’Inde et 
le bee aussi, so wird man daraus ebenso wenig schliessen, dass 
diese Theile gerade so wie beim welschen Hahne gehildet sind, 
sondern dass sie Aehnlichkeit damit haben. 


zu Al Da 


u Ya nn LE a en 


135 


ans Ende reichenden unteren Deckfedern und seiner aufrech- 
ten Haltung volikommen die der Wasserhühner; 4°, zeigt 
die Abbildung von Leguat deutlich, dass der obere Theil 
des Schnabels in eine Art rundlicher Platte verlängert war, 
welche sich bis über die Augen und über die Stirn hinaus 
erstreckte : ganz so, wie wir sie bei wahren Wasserhühnern 
wie Gallinula, Porphyrio und Fulica zu beobachten Gelegen- 
heit haben; und endlich 5°. finden auch Leguat’s Worte 
„gibier”’ und „assez bon” ihre Anwendung auf Wasserhühner. 

Wenn man einmal diesen Vogel zu den Wasserhühnern 
gestellt hat, — und ich wüsste wirklich keine andere Gruppe, 
worin er passen würde — so entsteht die Frage, zu welchem 
genus dieser Familie er eigentlich gehöre. Dass er nicht zu 
dem genus Fulica gehört, geht aus dem Mangel an mem- 
branartigen Häuten um die Zehen herum hervor. Er gehört 
mithin zu dem Geschlechte Porphyrio oder Gallinula, denn 
weder das genus Rallus noch Grus kann in Anmerkung kom- 
men, Rallus doch hat keinen aufgerichteten Schwanz und 
keine Stirnplatte und Grus ist sehr nahe mit Rallus verwandt. 
. Das Geschlecht Porphyrio, zoologisch und geographisch sehr 
natürlich , durch seine schöne, mehr oder weniger blaue Farbe 
der Federn sehr auffallend, ist von dem Geslecht Gallinula, 
doch nur durch seinen höheren Schnabel und eirunde Nase- 
löcher unterschieden, während die Naselöcher von Gallinula 
mehr länglich sind. Da nun unser Vogel auf der Abbildung 
längliche Nasenlöcher hat, und auch sein Schnabel, insofern 
man seine Form nach der Abbildung, auf der man ihn 
hauptsächlich von oben sieht, beurtheilen kann, weniger hoch 
gewesen zu sein scheint, als der der Porphyrio’s, da endlich 
seine Farbe auch so sehr von der der Porphyrio’s abweicht, 
so glauben wir, dass der Geant von Leguat seine Stelle 
in dem genus Gallinula finden muss. 

Jetzt wollen wir noch untersuchen, inwiefern die richtige 
Proportion der verschiedenen Theile zu einander in der Ab- 
bildung von Leguat’s Vogel in Acht genommen ist. Da in 
unseren Tagen, mit Ausnahme von Wolf, beinahe keine 
Künstler gefunden werden, welche in dieser Hinsicht tadellos 


136 _ 


sind, so kann man noch viel weniger erwarten, dass zur 
Zeit von Leguat ein einfacher Liebhaber Vollkommenes in 
dieser Hinsicht geliefert habe, um so mehr als seine Abbil- 
dung den Gegenstand in so reducirtem Maasse (%,) wieder- 
giebt. In unserer Abhandlung über die Dodo’s haben wir” 
schon die Bemerkung gemacht, dass die rohe uns noch ver- 
bliebene Zeichnung des Dodos von Mauritius in van Neck’ v 
Reise viel natürlicher und richtiger gezeichnet ist, als alle 
anderen zu der Zeit von europäischen Malern gemachten 
Abbildungen, auf welchen der arme Dodo zu einem wahren 
Ungeheuer transformirt wird, und auf welchen die Hinterzehe 
der auf dem Vordergrund gestellten Pfote regelmässig verkehrt 
angefügt ist und in einer verkehrten Richtung steht. Obschon 
nun der Habitus des Geant in Leguat’s Zeichnung sehr 
gut zurückgegeben ist; obschon die Haltung der Pfote vor- 
züglich der Zehen trotz der schwierigen perspectivischen ° 
Vorstellung in dieser Abbildung vielmehr Naturstudium und 
Genauigkeit verräth, als sich die Maler des Dodo wohlgefal- 
len liessen — so hat diese Zeichnung von Leguat doch 
auch ihre Fehler. Bei der Betrachtung einer von mir ver- 
fertigten Zeiehnung des Geant in natürlicher Grösse fällt es 
sogleich auf, dass der Rumpf die Grösse eines Straussen- 
rumpfes hat, anstatt die Grösse eines Gänserumpfes 1) dar- 
zubieten (wie die Beschreibung von Leguat erwähnt), wahr- 
scheinlich ist auch der Kopf relativ zu gross, da es doch 
den besten Künstlern geschieht, dass der Kopf auf ihren 
Zeichnungen relativ zu gross ausfällt; darum wird auch der 
Hals dünner sein müssen. Dieselbe Anmerkung gilt auch 
vielleicht für die Pfote, deren Fusswurzeln ausserdem länger 
sein müssen und zwar um soviel als der Rumpf zu dick 


1) Es entsteht jedoch bei mir dle Frage, ob der Rumpf mit — oder 
wie es die Jäger meistens wollen — ohne Federn gemeint ist. In 
letzterem Falle wird der Rumpf wegen der langen und lockeren 
Federn der Wasserhühner, einen viel bedeutenderen Umfang gehabt 


= en N 
El Sn ne Tu De: 7 


haben als der einer Gans mit kurzen dicht aneinander liegenden 
Federn. 


157 


ist. — Da es inzwischen verwegen sein würde, bloss aus 
Analogien noch mehr Schlüsse in dieser Hinsicht zu ziehen, 
so beschränken wir uns auf diese Bemerkungen. Um sie 
aber besser hervortreten zu lassen, haben wir eine neue 
Zeichnung dieses Vogels in Lebensgrösse verfertigt, und da- 
bei die angeführten Verbesserungen angebracht. Wir haben 
uns dabei erlaubt den Vogel in Profil vorzustellen (fig. 2), 
damit man so eine bessere Vorstellung von diesem Thiere 
erhalten möge; umsomehr als auch Leguat den Schwanz 
‚nicht wie die übrigen Theile halb oder dreiviertel von vorne, 
sondern wahrscheinlich um ihn besser hervortreten zu las- 
sen, in Profil gezeichnet hat. 

Wenn man diesen Vogel mit den übrigen Arten aus der 
Familie der Wasserhühner (auch wohl Rallen genannt) ver- 
gleicht, so wird man bemerken, dass er, obwohl nach der 
Grundform der Wasserhühner gebildet, in den meisten an- 
deren Rücksichten, vorzüglich durch seine riesenhafte Grösse, 
seine schlanke Gestalt, seinen langen Hals, seinen relativ 

sehr kleinen Rumpf und seine weisse Farbe von denselben 
abweicht. Wegen der drei zuerst angeführten Abweichungen 
könnte er wohl als Repräsentant der Kranichform unter den 
_ Wasserhühnern betrachtet werden. Trotzdem dass er viel 
höher war als der grösste Sumpfvogel, konnte sein Gewicht 
in Beziehung zu dieser ausserordentlichen Grösse doch nur 
gering sein und konnte er demzufolge und vielleicht mit- 
‚telst seiner langen Zehen über sumpfige Flächen schrei- 
ten ohne einzusinken, so wie es die Wasserhühner thun. 
Obwohl er in Stande war zu fliegen, so hatte er doch, wie 
Leguat erzählt, viel Mühe, um sich von dem ‚Boden zu 
erheben; sehr wahrscheinlich war sein Flug langsam und 
schwierig, wegen der Kürze seiner Flügel und der Länge 
seiner Pfote. Möglich ist es, dass er wie alle Wasserhühner 
rasch laufen konnte, aber doch wohl nicht schnell genug, 
um den Hunden zu entgehen, da Leguat erzählt, dass sie 
ihn ergreifen konnten, und er sich dabei durch Auffliegen 
zu retten versuchte. Da alle Sumpfvögel, wenigstens wenn 
sie müssen, schwimmen können, und die eigentlichen Wasser- 


138 


hühner freiwillig und sogar viel schwimmen, so wird er auch 
wohl regelmässig geschwommen haben, und wahrscheinlich 
sogar sehr gut wegen seines geringen Gewichtes und der 
ausserordentlichen Entwiekelung seiner bei dieser Bewegung. 
als Ruder dienenden Pfote. Es ist auch keine Ursache vor 
handen um zu vermuthen, dass seine Nahrung oder Fort-- 
pflanzungsweise von der der Wasserhühner wesentlich versehie- 
den gewesen wären. Gewiss ist, dass er kein Zugvogel war, 
denn für Reisen war er ungeschiekt, auch war kein Grund 
vorhanden, wesshalb er sie unternommen haben würde. Dar- 
auf scheint dasjenige beschränkt zu sein, was man über seine 
Lebensweise vermuthen kann. Warum dieses Wasserhuhn 
aber so riesenhaft war; warum gerade dieses Riesenthier für 
eine so kleine Stelle unseres Erdballes bestimmt war, eine 
Stelle wo weder grössere Flüsse noch Sümpfe vorkommen; 
warum er ganz weiss und dadurch von allen anderen Arte ni 
dieser Familie abweichen musste? — Unser Verstand lässt 
uns beim Beantworten dieser Fragen im Stiche; sie werden 
darum wohl stets Räthsel für uns bleiben, um so mehr als. 
dieses herrliche Geschöpf, wie schon so il andere, für 
immer unseren blicken entzogen ist. ä 

Es bleibt uns jetzt noch eine andere Frage zur Entschei- 
dung übrig, nämlich, wie es zu erklären ist, dass Leguat 
der einzige Beobachter dieses riesenhaften Waskerimiule von 
Mauritius war, während doch die Seefahrer, welche vor 
ihm diese Insel besuchten, verschiedene andere interessante 
Vögel und nicht Leguat’s Vogel erwähnen. Um dieses’ 
Faetum verstehen zu können, muss man annehmen, dass die 
Seefahrer nur die Produete kennen lernten,. welchen sie in. 
der Nähe des Hafens, wo ihr Schiff geankert lag, begegne- 
ten, und dass Wear Vogel sich da nicht zeigte, weil 
keine Sümpfe in der Nähe waren. Dies ist gewiss der Fall 
mit dem an der Sidostküste gelegenen Hafen, wo der re 
selmässige Landungsplatz für die Schiffe war, und wo bis, 
auf Leguat’s Zeit und lange nach derselben, das einzige. 
Fort auf der ganzen Insel angetroffen wurde. Alle Reisender 
berichten einstimmig, dass der Boden an der Stelle steinig 


er 


; 139 


und unfruchtbar ist. An dieser Stelle haben denn auch van 
Neck’s Reisegefährten und ihre Nachfolger den Dodo und 
andere Vögel beobachtet. Man muss daher annehmen, dass 
Leguat, der mit seinen Genossen die auf der anderen Seite 
der Insel gelegenen wilden Gegenden durchkreuzte, und da- 
bei sich reichlich von der Jagd ernähren konnte !), in diesen 
Gegenden längs der Flüsse und in den Sümpfen unseren 
Riesenvogel antraf; während er den Europäern, welche von 
Zeit zu Zeit landeten, um bald wiederum weiter zu reisen, 
so wie den Europäern, welche das Fort bewohnten, unbe- 
‚kannt blieb. Zur Zeit, wo Leguat auf der Insel Mauritius 
verweilte, waren aber ausser den Europäern, welche das 
Fort bewohnten, noch etwa dreissig bis vierzig holländische 
Familien auf der Insel verbreitet ansässig”). ie lebten 
theilweise von der Jagd und hatton dabei gut dressirte Hunde 
zu ihrer Verfügung). Diese isolirt wohnenden Europäer; 
die Hunde, welche, wie Leguat wittheilt, die Riesenvögel 
erhaschten; die Katzen, und später vielleicht noch die weg- 
gelaufenen Neger haben wahrscheinlich in aller Ruhe ihr 
Zerstörungswerk fortgesetzt, und so auch unser merkwürdi- 
ges Thier ausgerottet. Die Geschichte der verschiedenen Dodo’s- 
Arten auf den Mascarenhas-Inseln beweist, wie schnell und 
unbemerkt ein solches Zerstörungsweck Statt finden kann. 
Der grosse Dodo von Mauritius, der erst in 1598 bekannt 
geworden ist, wird sogar nach 1681 *) von keinem Reisenden 
mehr erwähnt und Leguat, der so viele Beobachtungen über 
die Producte der Länder, welche er besucht hat, niedergeschrie- 
ben, erwähnt diesen sonderbaren Vogel durchans nicht. Man 
hat darum auch geglaubt, dass der Dodo, zur Zeit von Le- 
guat, auf Mauritius schon ausgesettet war, oder wenigstens 


1) Leguat, I. S. 9. 2) Ibid. II, S. 64. 3) Ibid. II, S. 10. 
4) In Harry, Journal when he was chief mate of the ship Berkley 
Castle, Captn. Wm. Talbot ete., em Manuscript in dem Britisch- 
Museum vorhanden, (siehe Strickland, the Dodo etc. I, 26), 


findet man die letzte Notiz über den Dodo auf der Insel Mauri- 
tius. 


% 


140 ’ 


in den bewohnten und zugänglichen Gegenden dieser Insel 
nicht mehr angetroffen wurde !). - 

Endlich müssen wir untersuchen, ob der G6ant von Leguat 
auch auf der in der Nähe en Insel Bourbon oder sonst- 
wo vorkam. Der Einzige, welcher einen riesenhaften Sump = 
vogel von Bourbon, und zwar unter dem Namen G6ant erwähnt 
ist der Markgraf du Quesne. Du Quesne’s Brochure, wel- 
che weder Strickland, noch mir zugänglich war, ist mir 
nur durch den Auszug von Leguat bekannt. Strickland‘® 
sagt, dass dieses Werkchen wahrscheinlich „drawn up as an 
emigranttrap” sei. Er scheint daher wenig Werth darauf zu 
legen, oder dem Autor kein grosses Zutrauen zu schenken. 
Du Quesne hatte aber eine zu hohe, wissenschaftliche und 
sociale Stellung, um ihn nur so ohne Weiteres in Verdenkung 
zu bringen. Der Markgraf du Quesne war als französischer 
Protestant nach der Aufhebung des Edietes von Nantes nach 
Holland emigrirt. Seine Nachkommen weilen noch unter uns. 
Seine katholischen Zeitgenossen sagten von ihm: „le grand. 
et fameux Monsieur du Quesne, Lieutenant-General, qui 
a mieux aimer renoncer au service et aux honneurs du Bi- 
ton de Mar&chal de France ?), que d’abjurer les erreurs d 


5 


1) Leguat erwähnt selbst die ausserordentliche Verminderung „ 
Thiere auf der Insel mit den folgenden Worten: „L’ile etait autre- 
fois toute remplie et d’Oyes et de Canards sauvages; de Poules : 


d’eau; de Gelinotes; de Tortues de mer et de terre, maıs tout cel 
est devenu rare. Les Lamentins möme et d’autres anımaux marıin 2 
se sont eloignez, depuis qu’on a commence & leur tendre des pie- 
ges.” In Bezug auf den Dügong, den Lamentin von Leguat, 
müssen wir bemerken, dass dieses Thier schon seit langer Zeit gar 
nicht mehr auf den Küsten der Mascarenhas-Inselna vorkommt, 
während es zu Leguat’s Zeiten (I, 95) in grosser Menge an der, 
Küste_von Rodriguez gesehen wurde, und dabei so zahm war, 
dass man sich unter die Menge begeben, sie betasten und so die 
besten aussuchen konnte, welche auf der Stelle getödtet oder 2 
auf’s Land geschleppt wurden. 

2) The Dodo ete. I, S. 60. 

3) Siehe das oben eitirte Journal d’un Voyage ete. von einem Unbe- 
kannten, Rouen 1721, 12°. Tom. 1. S. 3. 


REEL 


. 141 


Calvin;” dieser du Quesne hatte, wie wir oben schon er- 
wähnten den Plan aufgefasst eine Colonie von französischen 
Emigranten auf der Insel Bourbon zu gründen und liess bei 
dieser Gelegenheit Alles, was über diese Insel bekannt war, 
zusammenstellen. Von dieser Schrift sagt nun Leguat !): 
„I est vrai, que cette Relation pourroit Etre suspecte & 
ceux, qui pensent qu'il &toit de son inter&t de pr&occuper 
les esprits d’une maniere qui fut avantageuse & ce nouveau 
monde, qu’il avoit dessein d’aller habiter. Mais j’ai premie- 
rement & dire sur cela, que M. du Quesne ne voulüt point, 
qu’on inserät dans ce petit livre quil fit publier, aucune de 
ces sortes de choses, qui auroient le moindre air d’exagera- 
tion, encore qu’elles passent pour vraies. Et j’ajouterai en 
second lieu, qu’a& Maurice, & Batavia et au Cap, je suis 
temoin que tout le monde convient quil n’y a rien dans 
cette Relation qui ne soit tres conforme & la verite.’ Dieses 
Urtheil wird man wohl gerne ohne allen Rückhalt aufneh- 
men. In dieser Schrift von du Quesne werden nun, wie 
wir von L&eguat”) mitgetheilt bekommen, unter den Vögeln 
von Bourbon auch der Geant aufgezählt, von denen man 
weiter liest: „Les Geanis sont! de grands oiseaux monlez sur 
des echasses, qwi frequenient les rivieres el les lacs, et dont 
la chair est a peu pres du goüt de celle du Butor.’ Die 
Lebensweise sowie der Geschmack des Fleisches dieser Vögel 
lassen deutlich erkennen, dass mit ihnen nicht die Solitairen 
von Bourbon identifieirt werden können. Ihre nähere Be- 
stimmung wird durch die unvollständigen Angaben von du 
Quesne beinahe unmöglich gemacht; soviel geht aber aus 
denselben hervor, dass auf der Insel Bourbon ein riesen- 
hafter Sumpfvogel gelebt hat, der, wie die Dodo’s, seit 


1) Leguat I, S. 50. 

2) Leguat I, S. 55 und 56. — In der englischen Uebersetzung die- 
des Werkes (London 1708), welche sonst sehr genau ist, und de- 
ren ursprüngliche Tafeln sehr genau copirt sind, wird Geant (S.41) 
mit Peacock und an einer späteren Stelle (S. 171) mit Giant wie- 
dergegeben. 


142 


langer Zeit verschwunden ist und möglicher Weise zu der 
selben Art gehörte als der G&ant von L&guat oder ihr wer 
nigstens sehr verwandt war, weil er auf den Flüssen und 
Seeön lebte und diese wie die Sümpfe die Aufenthaltsort te 
der Wasserhühner sind. 3 
Noch viel mehr Ungewissheit herrscht über die Deutung 
der von älteren Reisenden auf diesen Inseln angetroffenen und 
als Flamingo’s oder Passe-Flamingo’s erwähnten Vögel. Es 
ist kaum auszumachen, ob sie die G&ants von du Quesne 
und Leguat gewesen seien. Th. Herbert!) erwähnt z.B. 
unter den Vögeln von Mauritius die „passe FPlamingos, % 
ebenso kommt in dem oben eitirten Journal von Harry der 
Name von „pasca fflemingos” vor. Dellon?) sagt, dass 
man auf Bourbon die Vögel mit den Händen einfangen od 
mit Stöcken todt schlagen konnte und fügt noch hinzu: „De 
eenigste, waartoe men een roer van nooden heeft, werd a 
(Flamends) Vlaemingen genoemt. Deselve zijn so groot als 
een jong kalekhoen, hebbende beenen ende halsen ter lenghte: 
van vier A vijf voeten, de swaerigheydt die er is in haer 
te vangen, maekt dat sij seldsaemer dan de andere sin.” 
Auch Reyer Cornelisz. 3) spricht von Flamenco’s auf Mau- 
ritins. — Dass übrigens Flamingo’s, welehe schon von Fla- 
court*) auf Madagascar angetroffen waren, von da aus auf 
ihren Reisen nach Bourbon und Mauritius gekommen wären, 
hat an und für sich nichts Unwahrscheinliches. Das Riesen- 
wasserhuhn kam aber gewiss nicht auf Madagascar vor, da 
es von keinem einzigen Autor erwähnt wird. 


4 
2 
} 
ı 
] 


Der zweite ausgestorbene Vogel der Macatenla 


1) Relation dw Voyage ete. Französische Uebersetzung, Paris 1663 # 
4°. S. 544. i 
2) Naauwkeurie verhaal van een Reyse door Indien enz. (Nederd. Ver 
talıng), Utrecht, Ribbius, 4°. 1687, p. 9. 5 
3) Journal S. 30. 1 
4) Histoire de la grande ile de Madagascar, 1661, S. 164, unter er dei 
Namen Sambe. 3 


145 


‚weleher von verschiedenen Autoren falsch gedeutet ist, ist 
der sogenannte Oiseau bleu von Bourbon, der in dem Manu- 
‚seripte eines D. B.!) beschrieben ist. Daselbst wird Folgen- 
des über ihn mitgetheilt: „Oiseaux bleus, gros comme les 
‚sohtaires, ont le plumage tout bleu, le bec et les pieds rouges, 
faites comme pieds de poules, ils ne volent point, mais üls 
courent exirdmement vite, tellement qu’un chien a peine d’en 
‚aliraper ü la course; ils sont Ires bons.’” Die Grösse des So- 
‚litaire wird in demselben Manuscripte angegeben als die einer 
‚grosse Oye: während Castleton oder lieber Tatton ?) und 
Carre °) beide dem Solitaire die Grösse eines welschen 
Hahnes zukennen. Striekland’s*) Urtheil über diesen Oi- 
‚seau bleu lautet folgendermaassen: „I should have been dıs- 
‚posed to refer the „Oiseau blew’ to Ihe genus Porphyrio, were 
we not told, that ihey were of Ihe seize of the solltaire, ?. e. 
‘of a large Goose, that Ihe feel resembled those of a hen, and 
‚ihat Ihey never fly.’ Diese Einwände haben aber keinen 
Werth, denn 1°. kennen wir eine Art Porphyrio (Notornis 
"Mantelli von Neu-Seeland), welche so gross ist wie eine 
Gans; 2°. giebt es verschiedene Arten von Wasserhühnern 
mit Pfoten wie die Hühner, oder mit anderen Worten, wel- 
‘che dieke Pfoten mit relativ kurzen Zehen haben, wie z.B. 
Tribonyx, Ocydromus, Notornis; 3°. ‘sind die Flügel von 
Notornis und Oecydromus nicht zum Fliegen eingerichtet, 
und die Schlagfedern dieser Vögel ebenso weich als gewöhn- 
liche Federn. Nach Strickland hat Selys Longehamps?) 
eine höchst sonderbare Meinung über den Oiseau bleu von 
Bourbon geäussert. Er brachte nämlich diesen Vogel zu 
demselben Geschlecht, wie den ganz straussartigen Solitaire 
von Bourbon, und die apteryxartigen Dodos von Herbert 
und van den Broecke, während er ihn Apteryx coerulescens 


- 1) Zum erstenmale mitgetheilt von Strickland, in the Proceed. of 
the Zool. Soc. XII, 1844, p.77 und später in semem Werke: The 
Dodo etc. I, p. 59. 
2) Purchas Pilgrims, 1625, Tom. I,p. 331. 3) Voyages, Tom.I, p. 12. 
4) l.c. 5) Siehe Guerin, Revue Zool., Oct. 1848, p. 3. 


144 


nannte. Bei Ch. L. Bonaparte!) endlich, der übrigens die 
ausgestorbenen Vögel der Mascarenhas-Inseln sehr verwirrt 
behandelt, finden wir den Oiseau bleu als ein neues Geschlecht 
unter dem Namen Cyanornis eryihrorkyncha angeführt, wäh- 
rend unbegreiflicherweise der Dodo von van den Broecke 
als synonym zu dieser Art gefügt wird, und der Dodo von 
Herbert die zweite Art dieses bunten Geschlechtes bilden 
muss. = 

Wenn wir die sehr kurze Angabe über den Oiseau blew 
aufmerksam nachgehen, so kommen wir zudem Schluss, dass 
sie auf keinen anderen Vogel als auf einen Porphyrio deu- 
ten kann, und zwar auf diejenige modifieirte Form dieses” 
Geschlechtes, welche unter dem Namen Notornis bekannt 
ist, und welche als Repräsentant der Hühnerform unter den 
Wasserhühnern betrachtet werden kann, hauptsächlich wegen 
des kräftigen Baues der dicken bis in die Nähe der Ferse 
mit Federn versehenen Unterschenkel, der kurzen Zehen 
und des dieken kurzen Halses?). Die Voraussetzung, dass 
dieser Oiseau bleu eine solche Art von Porphyrio gewesen 
‘sei, wird sehr gestützt durch die Verbreitungsweise der ver-' 
schiedenen Porphyrio-arten von dem südlichsten Theile Eu- 
ropa’s bis über ganz Africa, Madagascar, Ostindien bis Hinter- 
Indien, Australien und Neu-Seeland, so dass die Macarenhas- 
Inseln ganz in dem Kreise gelegen sind, in dem diese Vögel” 
vorkommen. Die Grösse des Oiseau bleu, wodurch er von” 
allen anderen Porphyrio-Arten abweicht, kann nieht auffallen, 
wenn man bedenkt, dass auch der Notornis grösser ist a 
die gewöhnlichen Prophyrio-Arten, und dass auf der südli 
- chen Halbkugel andere mehr oder weniger riesenartige und 
zugleich meistens abweichende Arten aus der Familie der 
"Wasserhühner vorkommen : z. B. der Notornis aus dem Ge- 
schlechte Porphyrio; Tribonyx und unser Riesenvogel aus dem 
Geschlechte Gallinula; Fulica gigas von Peru aus dem der 


1) Conspectus, Leiden, 3°, Theil II, S. 3. i 
2) Aus einer ähnlichen Ursache kann man auch Tribonyx oder Oxy- 
dromus als die Hühnerform unter den Gallinulae betrachten. 


145 


nnd endlich die riesenhaften und wunderbaren Palamedea’s, 
die jedoch das ganze tropische Amerika bewohnen. Es muss 
nieht wundern, dass der Oiseau bleu Flügel hatte, welche 
nicht zum Fliegen eingerichtet waren, da Notornis wie auch 
eine srosse Anzahl Vögel der Mascarenhas-Inseln und von 
Neu-Seeland diese Eigenschaft mit demselben theilen. So z.B. 
finden wir es ausser bei Notornis auch beim ÖOcydromus, 
Kiwis (Apteryx), und Moa’s (Dinorms, Palapteryx u. 8. W.) 
‘von Neu-Seeland und bei verschiedenen Dodo-Arten von den 
Mascarenhas-Inseln. Ausserdem scheinen die Flügel des Rie- 
senwasserhuhnes auch kürzer gewesen zu sein als gewöhnlich. 
Der Oiseau soll ausserordentlich geschwinde gelaufen haben. 
Obsehon diese Eigenschait fast allen Wasserhühnern gemein 
ist, so wird sie doch auch besonders von Notornis erwähnt !). 
Endlich stimmen auch die Farben des Oiseau bleu, sowohl 
die der Federn, als auch die des Schnabels und der Pfote 
ganz mit Porphyrio überein und passen wirklich für kein ande- 
res Vogelgeschlecht von dieser Form, Grösse und Lebenweise. 

Soviel über den „Oiseau bleu.” Wir glauben durch unsere 
Aufklärungen über diese ausgestorbenen Vögel einen neuen 
Beitrag zu der so merkwürdigen Fauna der Mascarenhas- 
Inseln geliefert zu haben. Wenn wir nun das Wesen und 
die Verbreitungsweise dieser Thiere in Verband mit der Lage 


1) Mit Ausnahme einer Ratte, welche jedoch wahrscheinlich mit Schiffs- 
gelegenheit eingeführt ist, hat man in Neu-Seeland kein Säuge- 
. thier angetroffen; obwohl nach den Mittheilungen der Eingeborenen 
eine beinahe zwei Fuss lange Art allda lebt oder gelebt hat. Wir 
bemerken hier noch, um Missverständnissen vorzubeugen, dass die 
ersten Seefahrer nach Indien auf den meisten Inseln oder weiteren 
Orten, wo sie landeten, allerlei Hausthiere, vorzüglich Hornvieh 
und Schweine hinterliessen, deren Nachkommenschaft ihnen später 
als Proviant diente. Sıe führten nicht selten auch allerleı andere 
Thiere ein und nur hierdurch kann man erklären, wie z. B. die 
grosse Landschildkröte der Galapagos-Inseln bis nach Mosambique 
verbreitet sein kann, und wie Leguat, Herbert und Andere 
dazu kamen, Hirsche oder Affen oder sogar weisse Cacadus mit 
rother Federhaube zu den Producten der Mascarenhas-Inseln zu 
zählen. Siehe z. B. Herbert, |. c. p. 544. 
1. 10 


146 


der kleinen zerstreut im Ocean gelegenen Stücke Land, welche 
sie bewohnten, betrachten, und dann vergleichen, was wir 
hier und anderswo es sei in der Nähe oder in der Ferne 
finden, so entwahren wir neue und ganz ausserordentliche 
Erscheinungen. Erstens muss es uns auffallen, dass ausser 
Fledermäusen gar keine Landsäugethiere auf diesen Inseln 
vorkamen; zweitens dass in Beziehung zur geringen Flä- 
chenausdehnung auf denselben eine so grosse Anzahl Vögel 
vorkam, welche durch kurze Flügel und ausserdem durch 
eigenthümliche oder sehr grosse Form charakterisirt waren, 
und drittens dass diese ausserordentliche und einzige Modifi- 
cation der Fauna nicht in der Flora dieser Inseln wiederzu- 
finden ist. Nicht weniger treffend ist die Bemerkung, dass 
alle diese Erscheinungen auf Neu-Seeland wiederholt sind. 
Man darf daher voraussetzen, dass die Landsäugethiere auf 
diesen beiden geographischen Insel-gruppen in dem Haus- 
halt der Natur durch Vögel ersetzt wurden, und hieraus darf 
man vielleicht wiederum herleiten, warum die bedeutendsten 
Vögel dieser Gegend eine so ausserordentliche Entwiekelung 
und so eigenthümliche Form zeigen. Die Mannigfaltigkeit 
der Arten und die Beschränkung einer jeden auf einzelne 
Inseln oder relativ kleine Bodenstückchen haben beide ge- 
nannten Inselgruppen mit den meisten übrigen Ländern der 
semässisten Zone der südlichen Halbkugel gemein, und 
diese Erscheinungen sind vielleicht noch auffallender auf den 
Mascarenhas-Insein als auf Neu-Seeland. Beide Landgruppen, 
deren Fauna jetzt schon, wo das Gebäude der höheren Zoo- 
logie kaum angefangen, zum grossen Theile zur vergan- 
genen Geschichte der Erdkugel gehört, verdienten desshalb 
wie auch Madagascar und die Inseln des stillen Oceans 
bis an die Sunda-Inseln, bald genau in Bezug auf ihre 
Fauna durchforscht zu werden. Ein jeder gebildeter Mensch 
wird es sehr bedauern, wenn er erfährt wieviele dieser 
wunderbaren und riesenhaften zugleich aber unschädlichen 
und sogar nützlichen Geschöpfe in den genannten Gegenden 
schon ausgerottet und für immer verschwunden sind. Es 
wird ihn kalt überlaufen, wenn er hört, wie dieses Zer- 


147 


störungswerk noch täglich fortgesetzt wird, und er wird nur 
allzuzehr einsehen lernen, dass der Mensch seine irdische 
Bestimmung nicht begreift und Missbrauch von seiner Macht 
übt, wenn er die Harmonie in der Schöpfung auf eine so 
tief eingreifende Weise stört, dass der ursprüngliche Schöp- 
füngsplan kaum mehr erkannt werden kann. Dergleiche Un- 
‚tersuchungen sind aber von Privatpersonen nicht zu erwar- 
ten, da sie deren Kräfte zu weit übersteigen. Die Regierun- 
sen vielmehr müssen hier vermittlend auftreten. Geschieht 
dies nicht, so werden unsere Nachkommen uns für Barbaren 
halten, statt uns die Civilisation zuzuschreiben, worauf wir 
Anspruch machen zu können glauben; sie werden uns be- 
schuldigen die Kunst der Zerstörung anstatt der Kunst der 
Erhaltung desjenigen, was uns der Schöpfer anvertraute, 
geübt zu haben. | 

Die beiden von uns behandelten Vögel könnten mit den 
folgenden Attributen in das System aufgenommen werden. 


Gallinula (Leguatia) Giganten. 


Le Geant Leguat Voyage I, p. 72, e. fig. 

2 Du2Qmwesmerapnd Lesuar 17534) 

Syn: Siraussarliger Vogel, Hamel, Bullet. phys.-math. Acad. 
St. Petersb., vol. VIL, N°. 5 et 6. 

Flamingo, Strickland, The Dodo, p. 60, (note). 

Im Stehen begriffen: sechs Fuss hoch. 

Rumpf schwerer als der einer Gans. 

Flügel ziemlich kurz zum Fliegen dienlich. 

Federn der Unterschenkel bis nahe an die Fusswurzel 
reichend. 

Zehen lang und ganz frei; die Vorderzehen beinahe so 
lang als die langen Fusswurzeln. 

Oberschnabel bis auf eine über das Auge hinaus sich er- 
streckende Platte verlängert. 

Farbe ganz weiss, eine röthliche Stelle unter den Flügeln. 

Farbe der Pfoten und des Schnabels unbekannt, aber wahr- 

10* 


148 


scheinlich nicht auffallend, da die Beschreibung darüber 
schweigt. | 

Vaterland: Mauritius, vielleicht auch Bourbon; zufällig ein- 
mal auf Rodriguez gesehen. 

Mit Gewissheit nur von Leguat und zwar im Jahre 1694 
beobachtet. Seitdem nicht wieder gesehen, und schon seit 
langer Zeit ausgerottet. 

Scheint die Grus-Form unter den Wasserhühnern zu re- 
präsentiren. 


Porphyrio (Notornis?) coerulescens. 


Oiseau bleu, D. B. Manuser. in dem Britisch Museum, 
Siehe Strickl. |. e. 59. | 

Apterornis coerulescens de Selys Longchamps, Revue 
zool., Oct. 1848 p. 3. 

Cyanornıs eryihrorhyncha, Bonaparte, Consp. I, 3, 
except synom. | 

Grösse einer schweren Gans oder eines welschen Hahnes. 
Did. Broeckel. 

Pfote hühnerartig. 

Farbe blau. 

Schnabel uud Pfote roth. 

Konnte nicht fliegen, aber ausserordentlich schnell laufen. 

Vaterland: Bourbon 

Schon von D. B. in 1669 beobachtet; seitdem nicht wieder 
gesehen und ganz bestimmt ausgerottet. 

Scheint mit Notornis Mantelli die Hühnerform unter den 
Porphyrio’s zu repräsentiren. 


Erklärung von Tafel IE. 


Fig. 1. Copie der Abbildung von Leguat. 
Fig. 2. Dieselbe Abbildung in Profil verbessert nach det 
Beschreibung von Leguat. | 


{4 


. 
’ 


 B.SCHLEGEI. Lüsgesterbene rtesenhaffe Vögelarten. 


& 
VARCH.HOLL. BELTR. 


Steendr de Industrie Ütrecht 
/ 


IIAAIIANNAAANANAIAANANAAAANANAANANANILANINIIAANANANARANAANANSTIAIAAIANAN Tan AannAnnnannnnnan 


Ueber den Haarwechsel 


von 


Dr. J. A. MOLL. 


es der Leitung von Professor Donders habe ich einige 
Untersuchungen über den Wechsel der Cilien ausgeführt, 
welche in meine Dissertation !) aufgenommen und mit andern 
Beobachtungen vermehrt, in dem Archw für Ophthalmologie 
Bd. III, S. 286 mitgetheilt sind. Dort wurden bereits weitere 
Beiträge über den Wechsel von andern Haaren und über den 
Prozess des Wechsels zugesagt, welche nun von mir aus- 
geführt sind. 

In Betreff des Haarwechsels bei dem Menschen, war man 
nicht zu vollkommner Sicherheit gekommen. „Die einmal 
gebildeten Haare,” sagt Kölliker?), „wachsen kürzere oder 
längere Zeit fort, erreichen eine je nach Ort und Geschlecht 
bestimmte Länge und bleiben dann im Wachsthume stehen.” 
Inzwischen hat Kölliker, dem wir die wichtigsten Auf- 
schlüsse über die Entwiekelung der Haare verdanken, selbst 
gefunden, „dass, wenigstens in manchen Fällen, nach der 
Geburt ein totaler Haarwechsel stattfindet, in der Weise, 
dass in den Haarbälgen der Wollhaare selbst neue Haare 
entstehen, die allmählig die alten verdrängen.” Zuerst hatte 
Kölliker an den Wollhaaren eines eben geborenen Kindes 


\ 
- 1) Bijdragen tot de anatomie en physiologie der oogleden. Utrecht 1857. 
2) Microscop. Anat. Bd. I, 1. S. 148. 


150 


gesehen, dass der Bulbus nicht bis zu dem Boden des Fol- 
likels durchdrang, sondern mit einer cylindrischen Fortse- 
tzung versehen war, die aus kleinen, runden, pigmentfreien 
Zellen bestand. Die Bedeutung hiervon ward ihm erst deut- 


lich, als er die Cilien von einem einjährigen Kinde unter- 


suchte. Hier fand er nämlich, dass in den Fortzetzungen der 
Bulbi die innersten Zellen sich zu verlängern beginnen und 
einen kegelförmigen, mit der Spitze nach oben, gerichteten 
Körper bilden, während sich ın demselben zugleich Pigment 
entwickelt. Später scheidet sich dieser Körper in einen cen- 
tralen Pigment-haltenden und einen peripherischen durchschei- 


a 


nenden Theil, welcher nichts anderes ist, als ein junges Haar 
mit seiner inneren Wurzelscheide. Während sich dieses junge 
Haar mit seiner Scheide weiter entwickelt, wird das alte, 


das nicht mehr wächst, mehr und mehr nach vorn gedrängt. 
Endlich kommt das junge Haar bereits auswendig zum Vor- 


schein, während das alte nur oberflächlich in dem Follikel 
enthalten ist; das junge Haar wächst fort und das alte 


fällt aus. 


Kölliker!) scheint zu glauben, dass ein solcher Haar- 


wechsel, wie der der Zähne, in der Regel nur einmal im 
Leben eintritt. Die Haare sollten, wenn sie eine gewisse 
typische Länge erreicht haben, zu wachsen aufhören; allein, 
wenn sie abgeschnitten werden, sollten sie auf’s Neue fort- 
wachsen, bis sie wieder ihre typische Länge erreicht haben. 
Eine solche Vorstellung vertheidigt er in Rücksicht auf das 
Wachsthum des Nagels und der Epidermis, die beide nur dann 
fortdauernd neu gebildet werden sollten, wenn die ersten ab- 
geschnitten, die letzte fortwährend abgestossen wird. „Der 
Grund,” sagt er!) „warum die Haare, sobald sie geschnitten 
werden, beständig fortwachsen, sonst nicht, ist derselbe, den 
ich schon oben bei den Nägeln anführte, um dieselbe Er- 
scheinung zu erklären. Es sondern die Gefässe der Haar- 
papille ein gewisses Quantum Ernährungsflüssigkeit aus, ge- 


1) Mikroskop. Anat. Bd. II, 1. S. 153 und Handbuch der Gewebelehre 
des Menschen. Leipzig 1859, S. 150. 


151 


‚ rade soviel als ausreicht, um ein ganzes Haar fortwährend 
zu tränken und lebenskräftig zu erhalten. Wird das Haar 
geschnitten, so ist mehr Ernährungsfiuidum da als das Haar 
braucht und aus dem Ueberschusse wächst dasselbe nach, bis 
ı es seine typische Länge wieder hat, es wächst fort, wenn 
‚ es fortwährend wieder verkürzt wird.” Die Vorstellung, die 
hierin liest, dass das Haar, nachdem es einmal gebildet ist, 
zu seinem Unterhalt noch stets Ernährungsilüssigkeit nöthig 
"hat, hat wohl etwas Fremdes und verdiente wohl durch 
_ weitere Gründe gestützt zu werden. Wir wollen damit nieht 
sagen, dass das Haar selbst auf ansehnlichen Abstand von 
dem Follikel allem Einfluss der Ernährungsflüssigkeit entzo- 
gen ist. Vielmehr sprechen die Fälle, bei denen das bereits 
gebildete Haar sein Pigment verliert und weiss wird, für 
bleibende Thätigheit der Ernährung. 

An Barthaaren haben wir selbst gesehen, dass der an die 
Wurzel grenzende Theil braun war, während der übrige Theil 
eine graue Farbe angenommen hatte, die wahrscheinlich sesun- 
där entstanden war. Indess können wir uns nieht mit der 
Vorstellung vereinigen, dass ein erwachsenes Haar lange Zeit, 
vielleicht das ganze Leben durch, unverändert in seinem 
Zustande bleiben sollte. Der durchdringende Ernährungssaft 
erreicht zuerst den Bulbus und welche Ernährungserscheinungen 
auch im schon gebildeten Haar noch geschehen mögen, so ist 
‚für uns kein Grund denkbar, warum der Ernährungssaft 
hier nicht die gewohnte Thätigkeit von Zellvermehrung her- 
vorruien sollte. Nach unserer Ueberzeugung erreichen desshalb 
die Haare eine bestimmte Länge, weil sie, zu einer gewis- 
sen Grösse gelangt, ausfallen und anderen Platz machen. 

In der letzten Ausgabe seines vortreillichen Handbuches der 
Gewebelehre des Menschen (Leipzig 1359, S. 165) steht Köl- 
liker noch ungefähr auf dem angegebenen Standpuncte. 
Nachdem er seine oben angegebenen Untersuchungen über 
den Haarwechsel bei einem einjährigen Kinde angegeben hat, 
fährt er fort: „Alles angegebene gilt nur für die Augen- 
„wimpern. Die Kopfhaare und übrigen Körperhaare des 
„erwähnten fast einjährigen Kindes enthielten nur je Ein 


| 
j 
| 
| 


152 
\ 

„Haar, zeigten aber an ihrer Zwiebel wenigstens Fortsätze 
„ohne Haare, wie die, welche an den Augenwimpern dem 
„Haarwechsel vorangehen, welche Fortsätze überhaupt an 
„Haaren von Kindern aus dem ersten Jahre von der Geburt 
„an eine ganz gewöhnliche Erscheinung sind. Ich glaube nicht 
„zu irren, wenn ich aus dem Vorhandensein dieser Fortsätze 
„auf das allgemeine Vorkommen eines Haarwechsels schliesse, 
„um so weniger, da es sicher ist, dass bei vielen Kindern 
„innerhalb des ersten 2 bis 6 Monaten nach der Geburt, die 
„Kopfhaare ausfallen und neue an deren Stelle treten. Im- 
„merhin werden fernere Erfahrungen nöthig sein, um zu 
„bestimmen, in welchen Zeitraume dieser erste Haarwechsel 
„Statt findet, an welchen Haaren derselben zu Stande kommt 
„und ob später vielleicht noch andere solche auftreten.’ Henle 
ist offenbar mehr als Kölliker geneigt, einen mehrmals sich 
wiederholenden Haarwechsel anzunehmen. Bereits in sei- 
nem klassischen Werke !) kommen hierüber verschiedene 
Winke vor. Zuerst: „Hat das Haar die Grenze seiner Ent- 
wiekelung erreicht, so schnürt es sich nach aussen gegen die 
Pulpa ab und bildet den Kolben, welcher vielleicht die ver- 
trocknete Pulpa selbst einschliesst. Ob es in diesem Zustande 
beharren könne oder ob derselbe ein Absterben oder Ausfallen 
der Haare bedinge, ist unbekannt.” Ferner: „Vielleicht fin- 
det während des ganzen Lebens eine allmählige Regeneration 
der Haare statt, die nur zu gewissen Perioden merklicher 
ist; wenigstens fallen an vielen Körpertheilen fortwährend 
einzelne Haare aus, und immer sieht man an den behaarten 
Theilen des Körpers kürzere und längere Haare gemischt 
und neue Haare unter der Oberhaut liegen, ohne dass doch 
die Behaarung von einem bestimmten Alter an merklich zu- 
nähme.’” Auch an mehreren Stellen seines Jahresberichts 
kommen Bemerkungen vor, die hierher Bezug haben. So lesen 
wir?): „Mandl glaubt an eine Regeneration der Spitze des 
Haares, weil er einige Wochen nach dem Abschneiden der 


1) Allgemeine Anatomie. S. 309. 
2) Jahresbericht f. 1844. S. 15. 


” en nen u er Fer 


153 


' Körperhaare an den betreffenden Stellen Haare mit vollkommner 
| Spitze fand.” (Engel war also nicht der erste, der diese 
ı von Förster bestrittene Wahrnehmung vertheidigte). „Die 
, Erklärung liegt nahe, wenn man weiss, dass die Haare be- 
ständig ausfallen und neu auswachsen. Desshalb konnte auch 
Mandl an den Kopfhaaren eine derartige Regeneration nicht 
bemerken. Hier fahren nämlich die Haare länger fort zu 
wachsen und die neu nachsprossenden hatten binnen einigen 
"Wochen die Länge der alten noch nicht erreicht.” Endlich, 
bei Gelegenheit der Mittheilung von Kölliker’s Entdeckung, 
dass auch beim Erwachsenen öfters zwei Haare in demselben 
Follikel vorkommen, und dass die Wurzeln der ausgefallenen 
Haare dieselbe Form haben, wie bei dem ersten Wechsel 
(welche Form Henle bereits früher als Haarkolben beschrieb) 
 theilt er mit, dass er an der Leiche eines 50jährigen Man- 
nes, der früh kahlköpfig war, auf dem behaarten Theil viele 
Follikel mit zwei Haaren antraf und dass an dem Bulbus 
von vielen Haaren ansehnliche Forsetzungen vorkamen !). 
Auch Steinlin *) giebt deutlich genug zu erkennen, dass er 
einen beständigen Haarwechsel bei dem Mensch annimmt, ob- 
wohl er keine bestimmten Untersuchungen gemacht zu haben 
scheint. Die Untersuchungen von Langer (Denkschriften der 
Wiener Academie 1850, Bd. I) habe ich nicht zu Rathe ziehen 
können. Nach Henle’s Referat (Jahresb. f. 1851) haben sie 
besonders auf Thierhaare Bezug und aus Kölliker’s Histolo- 
sie ersehe ich, dass Langer bei Erwachsenen eine wirkliche 
Entstehung der Haare in den schon vorhandenen Bälgen, wie 
Kölliker sie bei Kindern beschrieb, beobachtet hat; aber 
es folgt zugleich daraus, dass Kölliker dadurch keineswegs 
von einem beständigen Haarwechsel auch beim Erwachsenen 
überzeugt ist. 
Der Wechsel ist nun für die Cilien durch mich sorgfältig 
studirt worden und durch weitere Beobachtungen von Profes- 


1) Jahresbericht f. 1850. S. 27. 
2) Zeitschrift f. ration. Medicin. Bd. IX, S. 288. 


154 


sor Donders ist der ganze Hergang mit Sicherheit bekannt. 
Ich werde mich hier einer genaueren Beschreibung der Beo- 
bachtungen enthalten, weil dieselben in dem Archiv f. Oph- 
Ihalmologie mitgetheilt sind, und mich auf eine Mittheilung 
der Untersuchungsmethode und der Resultate beschränken. 
A priori war ein sich öfters wiederholender Wechsel hier zu 
erwarten. Wer sich selbst beobachtet, weiss, dass man täglich 
einige Cilien verliert, ohne dass die gesammte Zahl, unge- 
fähr 350 bis 400, auf die Dauer abnimmt. Professor Don- 
ders hat auch bereits vor verschiedenen Jahren mitgetheilt, 
dass an jedem Augenliede ein oder mehre Follikel zu finden 
sind, die neben einer grossen erwachsenen Cilie eine sehr kleine 
enthalten, die mit ihrer dünnen Spitze nur wenig aus dem 
‚Follikel herausragt. Bei der Untersuchung nimmt man wahr, 
dass die grosse erwachsene Cilie dureh einen leichten Zug 
zu entfernen ist und einen atrophirten stark verhornten Bulbus 
(Haarkolben von Henle) besitzt, der bereits fast der Oeffnung 
des Follikels genähert ist, während das kleine Haar mit 
einem kolossalen breiten, weichen Bulbus auf dem Boden des 
Follikels wurzelt. Der ganze Hergang des Wechsels kam zu 
Tage, als ich das Wachsthum der an dem Rande der Auglieder, 
das ist an den Follikeln, abgeschnittenen Haare untersuchte: 
Diesen Weg zur Erforschung des Hergangs, gab mir Professor 
Donders an. Im Besonderen sind diese Beobachtungen in 
das Archiv f. Ophthalmologie aufgenommen. Hier will ich nur 
daran erinnern, dass nach dem Abschneiden einige Cilien 
sehr schnell, andere langsam wachsen und einige namentlich 
länger werden; dass das schnellste Wachsthum an den jüng- 
sten Cilien, die eine kleinere Durchschnittsebene haben, 
wahrgenommen wird; dass die am schnellsten wachsenden 
Cilien auch am ersten ausfallen, nachdem bereits gewöhnlich 
ein kleines Haar sich aus dem Follikel zu erheben beginnt; 
dass je mehr der Wechsel fortschreitet, die Zahl neu ge- 
formter (unabgeschnittener und mit einer Spitze versehener) 
Haare zunimmt, und dass man aus dem Verschwundensein 
aller abgeschnittener Haare auf das Ende des Wechsels für 
alle Haare schliessen kann. 


155 


Die Resultate sind: 

Jede Cilie wird nach einer zeitliehen Existenz durch eine 
andere ersetzt. 

Die junge Cilie entwickelt sich in demselben Follikel, in 
dem die alte schon etwas vorgeschoben worden ist. 

Mitunter fällt die alte durch leises Reiben oder sonstwie 
aus, ohne dass die junge schon sichtbar ist. 

Sie bleibt nie Wochen lang vorhanden, nachdem die junge 
- sichtbar geworden ist. 

Die junge Cilie wächst schnell, erreicht in 3 Wochen eine 
Länge von 4,5 Mm., in 4 Wochen 52 Mm., in 53 Wochen 
7 Mm., in 7} Wochen 83 Mm., in 20 Wochen 11 Mm. Das 
Wachsen ist mithin allmählig langsamer geworden. 

Die Cilien des untern Augenliedes, sowie die kürzeren, 
welche sich in der Nähe der Winkel befinden, wachsen lang- 
samer. Nachdem das Haar beinahe seine normale Länge 
erreicht hat, ist sein Wachsthum sehr langsam geworden. 
Einzelne wachsen innerhalb 50 Tage nur um 4 Mm. 

Die längsten Cilien haben eine Lebensdauer von ungefahr 
150 Tagen; die kürzesten eine solche von etwas über 100 
Tage. Die Periode des Haarwechsels ist desswegen kürzer 
an dem untern Augenliede, wiewohl sie in Beziehung zur ge- 
ringeren Länge der Haare etwas mehr Zeit erfordert, als 
am obern Augenliede. 

Die Spitze der Haare wird zuerst gebildet, die darauf 
entstehenden Theile sind dieker und dieker, bis dass das 
Haar auf ungefähr 3 seiner Länge gekommen, das Maximum 
seiner Dicke erreicht. 

Bei dem langsameren Wachsthum in die Länge, welcher 
nun folgt, wird es allmählig auch wieder etwas dünner 
und erreicht seine dünnste Stelle ungefähr 4 Mm. oberhalb 
des Bulbus (Haarkolben). Die verschiedenen Diekenmessun gen 
einer erwachsenen Cilie beweisen bereits diese Vorstellung. 


Der fortwährende Wechsel, welchen wir hiermit für die 
Cilien bewiesen haben, gilt wahrscheinlich für alle Haare. Wenn 
die Haare an der einen Körperstelle kürzer, an der ander 


156 


länger sind, so hängt dies höchstwahrscheinlich nur vou der 
kürzeren oder längeren Lebensdauer eines jeden Haares ab. 
Es ist wohl allgemein bekannt, dass täglich bei dem Rei- 
nigen und Ordnen der Haupthaare, einige derselben verloren 
sehen, ohne dass man zu ihrer Entfernung eine besondere 
Kraft angewandt hätte. Untersucht man diese Haare, so 
findet man den Bulbus verhornt und verhältnissmässig sehr 
klein, öfters ganz frei von den Zellen der Wurzelscheide, 
kurz in demselben Zustande, worin wir die ausfallenden 
Cilien angetroffen haben, während schon ein junges Haar 
aus demselben Follikel zum Vorschein kam. 
Aber das ist es nicht allein. Die von selbst ausfallenden 
Haare des Kopfes haben nämlich eine ähnliche Form wie die 
Cilien. Der in der Nähe des Bulbus liegende Theil des 
Haares ist dünner, als der mittlere und gerade dieses Dün- 
nerwerden kündigt das nahende Ausfallen an. Es ist daher 
klar, dass bei der grossen Menge der täglich ausfallenden 
Hauptbaare, ihre Anzahl bereits in der Jugend sich beträcht- 
lich vermindern würde, wenn sie nicht durch neue ersetzt 
würden. Wir halten es nicht für unpassend, hier eine Beo- 
bachtung über einen Haarwechsel bei einer Frau in mittleren 
Jahren anzureihen, welche bei anhaltend gereiztem Zustand 
des Darmkanals in einen hohen Grad von Abmagerung ge- 
rathen war. Während der Reconvalescenz fielen täglich eine 
srosse Anzahl langer Haare aus. Dieses Ausfallen sistirte 
nach einigen Wochen. Ungefähr 3 Monate später, als Tag 
für Tag wieder die gewöhnliche Anzahl langer dicker Haare 
erhalten wurde, fielen sehr viele aussergewöhnlich dünne 
Haare aus, welche alle ungefähr die Länge von 16—18 Cent. 
hatten und an der dieksten Stelle nur Yo —!is Mm. massen, 
während die Dieke der gewöhnlichen Haare !/ Mm. im Mittel 
erreichte. Alle diese Haare endigten in eine Spitze, waren 
niemals abgesebnitten worden und hatten sich ohne Zweifel 
während der Reconvalescenz an Stelle der ausfallenden 'ge- 
bildet, in einer Periode, in der alle Ernährungsflüssigkeit 
für den Verlust der übrigen Gewebe verbraucht wurde. Man 
ersieht daraus, das die allgemeine Erschöpfung zum Ausfallen 


157 


‘der Haare Anlass gegeben hatte, welche nur durch viel dün- 
nere ersetzt wurden, deren Lebensdauer nur einige Monate 
betrug. Ob nach dem Ausfallen der dünneren Haare wieder 
dickere aus dem Follikel zum Vorschein kommen, ist nicht 
ausgemacht. Diese dünnen Haare waren ebenfalls unmittelbar 
am Bulbus dünner, als in einiger Entfernung von demselben. 
Auch verdient es bemerkt zu werden, dass, als die Kräfte 
_ wieder ganz zurückgekehrt, waren, die freien Ränder der 
# Nägel fast so dünn und biegsam wie Papier waren. Erst 
nach einigen Wochen nahmen diese wieder an Dicke zu 
und erreichten allmählig ihren früheren Grad der Entwicke- 
lung. Auch die Ernährung der Nägel litt also unter dem 
allgemeinen Marasmus. 

Die Haare des Bartes erreichen, wie bekannt, eine sehr 
verschiedene Länge. Vor 4 Monaten hatte ich ıneine Bart- 
haare abgeschoren. Es zeigte sich nun, dass einige Haare 
sehr im Wachsthum zurückblieben. Die längsten haben nun 
eine Länge von 6 Cm. erreicht. Zwischen diesen langen 
kommen einzelne kurze vor, welche nur S—16 Mm. lang 
sind. Zieht man an sämmtlichen Haaren, so gehen gerade 
diese kurzen aus, welche sehr lose in dem Follikel stecken. 
Die Untersuchung dieser Haare ergiebt ein höchst eigenes 
Verhalten des Bulbus oder lieber, dass der Bulbus ganz fehlt. 
An der Stelle derselben endigen die Haare in einige stark 
verhornte, frei ausstehende Spitzen, die ganz das Aussehen 
von halb isolirten Haarfasern haben; von einer Wurzelscheide 
ist an diesen Haaren nichts zu sehen. Die Haare, welche 
gut gewachsen sind, sind noch ganz fest, und zieht man sie 
aus, so findet man sie mit einem weichen, aus jungen Zellen 
bestehenden Bulbus versehen, welcher an den Barthaaren in- 
dessen beträchtlich dünn ist. Auch hängen stets Theile der 
Haarscheide daran. Es verdient noch bemerkt zu werden, 
dass die kürzesten, am weitesten auf der Wange befindlichen 
Haare mit Spitzen versehen sind und so zum Vorschein 
kamen, nachdem die gesammten Haare abgeschoren waren. 
Man kann mit Recht daraus schliessen, dass diese Haare, die 
stets nur eine geringe Länge erreichen, in der Zeit von 4 


158 


Monaten gewechselt haben. Wir finden also für die Bart- 


| 


haare dasselbe, was wir für die Cilien gemeldet haben: bei 


dem Abscheeren finden sich einige, welche weniger schnell 
wachsen, und diese gerade sind es, welche ‘dem Ende ihres 
Lebens nahe sind. Hieraus folgt das allgemeine Resultat, 
dass wahrscheinlich alle Haare wechseln und dass nur darum 
die Haare an verschiedenen Theilen des Körpers eine ver- 
schiedene Länge erreichen, weil der Wechsel an einzelnen 
Stellen selten, an andern häufig geschieht. Wo dieser selten 
eintritt, behalten die Haare lange Zeit ihre volle Wachs- 
thumskraft und erreichen desshalb schneller eine gewisse 
Länge. 

Der Haarwechsel war bereits vor langer Zeit durch Heu- 
singer !), später auch durch Kohlrausch ?) bei Thieren 
untersucht worden, bis Kölliker ?) seine Untersuehungen 
beim Menschen und gerade bei den Cilien eines einjährigen 
Kindes mittheilte. Heusinger lehrte bereits, dass die neuen 
Haare in den Follikeln der alten entstehen. Kohlrausch 
gab eine genauere Beschreibung von dem herbstlichen Haar- 
wechsel bei Eichhörnchen. Die Hauptsache ist in den fol- 
genden Worten zusammengefasst: „die entstehenden Haare 
haben eine 2—3 mal so dicke äussere Wurzelscheide,, als 
die ausgewachsenen, und in demselben Verhältnisse ist das 
Haarblastem reich und gross, wodurch der Haarknopf die 
kugelförmige oder zwiebelartige Beschaffenheit erhält. Auch 
die innere Wurzelscheide ist nicht nur relativ gegen das Haar, 
sondern auch absolut etwas dicker, als im ausgewachsenen 
Zustande. Bei dem absterbenden Haare verhält alles sich 
umgekehrt. Die äussere Wurzelscheide ist dünner, unkennt- 
licher, der Haarknopf mager, oft fast eylindrisch ohne kennt- 
liche Zellen in derjenigen Partie, wo das Blastem ihn 
auszufüllen pflegt; die innere Würzelscheide trübe, oft nicht 
von der Umgebung zu unterscheiden. Bei herauspräparirten 


1) Mechel’s Archiv. 1822. S. 403 und 555. 
2) Müller’s Archiv. 1846. S. 300. 
3) Zeitschrift f. wiszenschaftl. Zoologie. Bd. II, S. 67 u. £. 


159 


Haarbälgen sieht man oft das alte Haar zur Seite des neuen, 
aber während letzteres in dem Fundus wurzelt, ist jenes 
emporgeschoben, in dem Halse des Haarbalges eingeschlos- 
sen und in einem seitlichen Anhange der Wurzelscheide des 
neuwachsenden Haares vergraben. So wächst es mit dem 
neuen Haar empor oder wird vielmehr von ihm emporge- 
schoben, bis es die Oberfläche erreicht und ausfällt.’ 

Vergleichen wir diese Resultate, welche Kohlrausch beim 
Eichhorn erhalten, mit den bereits mitgetheilten von Kölli- 
ker, so ersieht man, dass in den Thatsachen beide überein- 
stimmen. Sie weichen nur in der Erklärung von einander ab. 
Kohlrausch nimmt an, dass die ersten Veränderungen, 
welche zum Ausfallen der Haare führen, auf den Haarknopf 
Bezug haben: dieser wird schmaler, endlich kegelförmig, 
wächst nicht mehr und stirbt ab, während die jungen Zellen 
am Boden des Follikels zur Bildung eines neuen Haares 
verwendet werden. Kölliker dagegen sucht den Grund der 
ganzen Erscheinung in einer Wucherung der Zellen unter 
dem Bulbus, wodurch das alte Haar von der Papille entfernt 
und so zum Absterben gebracht wird. 

Zugleich mit Kölliker war Steinlin !) mit einer Unter- 
suchung des Wechsels der Spürhaare der Thiere beschäftigt, 
doch theilte er seine Resultate erst mit, nachdem die von 
Kölliker bereits bekannt geworden waren. Sie sind von 
diesen in mehr als einer Hinsicht verschieden. Vorerst nimmt 
Steinlin an, dass die Pulpa (Papille) atrophirt und dass 
das Haar in Folge davon verloren geht. Der Follikel selbst 
soll sich dann verlängern: in diese Verlängerung soll sich 
die äussere Wurzelscheide hinein erstrecken und in dieser 
Zellenmasse später eine Höhle entstehn, die durch Epithel- 
zellen begrenzt ist (Keimsack). Dieser Keimsack soll durch 
eine neue Papille eingestülpt werden und erst in der Mitte 
auf der ganzen Oberfläche der Papille soll sich das neue 
Haar bilden. Während das Haar mit dem Keimsack fort- 
wächst, (die später innere Wurzelscheide wird) soll es diesen 


1) Zeitschrift f. ration. Medicin. Bd. IX, S. 288. 


160 


und die Einmündung der glandulae sebaceae durechbohren. 
Auch die Papille wächst in der Axe des Haares ferner mit, 
und Steinlin hält es für wahrscheinlich, dass das Mark 
nichts anders ist, als die nach Obliteration ihrer Gefässe atro- 
phirte Pulpe (Pupille) 1). 

Steinlin glaubt, dass man verschiedene Entwickelungs- 
weisen der Haare nicht annehmen dürfe und meint, dass 
Kölliker’s Beobachtungen in einigen Puneten unrichtig seien. 
Gegen die Meinung nun, dass nur eine Entwiekelungsweise 
denkbar wäre, ist Kölliker?) kräftig aufgetreten und auch 
Henle°) hält es nicht für begründet, an der Richtigkeit 
der einen oder anderen Beobachtung zu zweifeln. Unsere Mei- 
nung ist, dass der Process bei den dieken Tasthaaren, die 
Steinlin untersuchte, leichter zu beobachten ist, als bei 
den Cilien, die Kölliker erforschte. Wenn wir uns nun 
auch auf Schlüsse nach Analogieen nicht bestimmt verlassen, 
so lehrt doch die Erfahrung oft genug, dass, wenn der Zu- 
fall uns ein Object darbot, an welchem dieses oder jenes Ver- 
hältniss leicht zu erkennen ist, man dann dasselbe Verhältniss 
auch an andern Stellen findet, wo man es bisher übersehen. 
Wir hofften demgemäss, auf den Untersuchungen von Stein- 
lin fussend, einen ähnlichen Process des Haarwechsels, wie 
er ihn an den Tasthaaren beschrieben hat, auch für die Cilien 
bestätigen zu können. Wir müssen indess gestehen, dass 
es uns nicht geglückt ist. 

Est ist eine grosse Seltenheit, wenn es gelingt, einen 


1) Der breite Bulbus von sehr jungen Cilien (Pl. 2. fig. VII a’) 
enthält ein sehr breites Mark, worin viele stark liehtbrechende 
Körperchen sich befinden, die beinahe wie Fettkugeln aussehen. 
Indess geben sie sich durch ihr Verschwinden in Alkalien als nicht 
aus Fett bestehend kund, und man überzeugt sich leicht, dass das 
ganze Mark hier aus jungen Zellen besteht, die mit ihrer grössten 
Ausdehnung in die Breite vom Marke liegen. An das Gewebe der 
Papillen erinnert es uns nicht, am wenigsten an atrophirtes Papil- 
lengewebe mit obliterirten Gefässen. 

2) Zeitschrift f. wiss. Zool. Bd. II, S. 291. 

3) Jahresbericht f. 1850. S. 28. 


161 


 verticalen Durchschnitt von einem Follikel zu machen und es 
müsste ein sehr glücklicher Zufall sein, ‘wenn in einem sol- 
chen Follikel gerade zwei Haare anwesend wären. Wir 
‚haben uns desshalb, sowie auch Kohlrausch, auf Quer- 
‚sehnitte der getrockneten Augenlieder beschränken müssen , 
und an diesen haben wir wenig mehr gesehen, als was 
‚schon Kohlrausch mitgetheilt hat. Indess erscheint uns das 
"Aussehen der Durchschnitte unterhalb der Stelle, wo das 
alte Haar nach oben gedrängt ist, bei unseren Untersuchun- 
gen nicht ohne Gewicht. Unsere Beobachtungen sind in 
kurzem folgende. An sehr oberflächlichen Durchschnitten 
über der Mündung der glandulae sebaceae, findet man an 
jedem Augenlied einige Follikel mit zwei Haaren; an dem 
grössten ist der Bulbus stets verhornt, arm an Pigment und 
rauh an der Oberfläche; meist liegt es in ziemlicher Entfer- 
nung von dem kleinen. Auf Durchsnitten unterhalb der glan- 
dulae sebaceae findet man durchgehends noch mehr Follikel , 
worin zwei Haare sich befinden; indess sehr selten finden 
wir das Gewebe des grossen Haares hier noch im normalen 
Zustande und von einer gut gebildeten inneren Wurzelscheide 
umgeben. in der Regel trifft man nur eine runde Gruppe 
von stark verhornten, durchscheinenden und unregelmässig 
zusammengedrängten Zellen, von denen einige sehr reich an 
Pigment sind und wie wirkliche Pigmentzellen aussehen. 
Der Durchschnitt des Follikels ist hier noch stets oval. Tiefer 
wird der Kreis von durehscheinenden, zusammengedrängten 
Zellen kleiner und kleiner, die Pigmentzellen nehmen mehr 
und mehr ab und verschwinden endlich ganz; der Durch- 
schnitt des Follikels nimmt mehr eine runde Gestalt an und 
das kleine Haar liegt der Mitte näher. Nicht selten kommen 
auch in der äusseren Wurzeischeide einige pigmentreiche 
Zellen vor, öfters in Gruppen vereinigt, die in keinem Bezug 
zu den Haaren stehen. Noch tiefer sieht man allein das kleine 
Haar mit sehr schönen Wurzelscheiden, die auch bei der 
Verengerung des Follikels hier beide viel schmaler sind, als 
an einem höheren Theile, da das Haar selbst hier ansehnlich 


dieker ist. Die Zellen der inneren Wurzelscheide sind hier 
II. 1l 


] 
162 


körnig, mit rundlichen Kernen, und haben ganz das Ansehen | 
von jungen sich vermehrenden Zellen. Dies ist besonders an 
dem untersten Theile der inneren Wurzelscheide von dieken, 
beinahe erwachsenen Haaren der Fall. Endlich auf noch tie- 
feren Durchschnitten, sieht man in der Mitte die farblose, 
stets auf dem Durchschnitte vollkommen runde Papille, und 
diese ist von einem Kranz von mehr oder minder pigment- 
haltenden Zellen umgeben , die nichts anderes sind, als die 
auf der Peripherie der Papille sich entwickelnden Haarzellen. 

Von dem Bestehen einer Höhlung, die von Steinlin als 
Keimsack beschrieben wird, haben wir uns kein einziges 
Mal auf Durchschnitten überzeugen können. 

Wenn es uns erlaubt ist, auf Grund unsrer Beobachtungen 
eine kurze Darstellung des Wechsels der Cilien zu geben, 
so kommt diese auf Folgendes heraus. Wenn das Haar bei- 
nahe seine typische Länge erreicht hat, geht sein Wachs- 
thum langsamer fort; es werden viel weniger neue Zellen in 
der Nähe der Papille gebildet. Auf die Verminderung der 
Zahl folgt Veränderung der Zellen. Dann ist es klar, dass 
sie nicht mehr die Eigenschaften von Haarzellen annehmen , 
sondern vielmehr den Character der Zellen der inneren 
Wurzelscheide erhalten. Einige unter diesen sind indessen 
anfänglich noch reich an Pigment. 

Endlich entstehen allein pigmentfreie, vollkommen durch- 
scheinende Zellen, und diese drängen den Bulbus mehr und 
mehr nach oben. Dieser ganze Process geht sehr langsam 
vor sich, wie dies das träge Wachsthum des Haares in sei- 
ner letzten Periode vollkommen beweist. Es scheint nun 
selbst eine kürzere und längere Periode von wirklichem 
Stillstande einzutreten, während deren sich anders im unter- 
sten Theile der Follikels Zellen bilden, die mit denen der 
äusseren Wurzelscheide übereinkommen. Auf Durchschnitten 
unterhalb des alten Haares, wie dies abgebildet ist, findet 
man nicht selten den Follikel ausschliesslich mit Zellen er- 
füllt, welche denen der äussern Wurzelscheide vollkommen 
sleich sind. In diesen Zellen entwickelt sich nach einiger 
Zeit ein neues Haar, auf dieseibe Weise, wie bei der ersten 


163 


Bildung. Während dieses junge Haar sich schnell entwickelt, 
wird das alte allmählich mehr nach oben geschoben. Manch- 
mal fällt es nun aus, unter dem Einflusse einer geringen 
einwirkenden Kraft; indess nicht selten bleibt es noch einige 
Tage stehen, nachdem das junge Haar bereits frei aus dem 
Follikel zum Vorschein gekommen ist. 

- Ohne Zweifel wird auch theilweise die innere Wurzelscheide 
‘des alten Haares ausgestossen. Ob sie auch zum Theile 
aufgezogen wird, können wir nicht entscheiden. 

Was gibt nun den Anstoss zur Trennung des Haares von 
seiner Papille? Ist es eine Wucherung der Zellen, wie 
Kölliker annimmt, oder entsteht die Veränderung primär 
an dem Bulbus des Haares, welcher ganz verhornt? — Von 
einer Zellenwucherung kann, wie wir glauben, keine Rede 
sein. Alles weist darauf hin, dass die Zellenentwickelung 
und die Ernährnng im Allgemeinen auf ein Minimum zurück - 
gebracht werden. Auch sind die Zellen, die unmittelbar 
unter dem Bulbus des Haares hervorgebracht werden, stark 
verhornt und durchscheinend, und haben keineswegs das 
Ansehen der jungen Zellen der inneren Wurzelscheide, der 
Kölliker eine Wucherung zuschreibt. -— Dass der Bulbus 
bei der verminderten Ernährung und der langsamen Ent- 
wickelung von neuen Zellen aus der Tiefe verhornt, ist eine 
Thatsache, welche mit Recht durch Kohlrausch voran- 
‚gestellt wird. Indess müssen wır noch weiter gehen und 
fragen, worauf die verminderte Ernährung beruht. Hierin 
nun reichten unsere Beobachtungen nicht aus, und wir kön- 
nen es nur nach Anleitung der Untersuchungen von Langer 
und Steinlin der Analogie gemäss für wahrscheinlich hal- 
ten, dass die Papillen atrophiren. Die einzige von uns 
beobachtete Thatsache, welche für die Bildung einer neuen 
Papille für das junge Haar zu sprechen scheint, ist die, 
‚dass sehr tief in dem Follikel das junge Haar durchgehends 
ziemlich von dem alten entfernt ist und dass in wenigen 
Fällen zwei noch kräftig wachsende Haare in demselben 
Follikel gesehen wurden. Möge nun die Papille atrophiren 


oder nicht, so viel steht fest, dass die Ernährung, nachdem 
11% 


164 


sie kürzere oder längere Zeit in voller Kraft bestanden hat, 
allmählich abnimmt und eine Zeit lang schlummert, um spä- 
ter mit neuer Kraft zu erwachen und ein neues Haar her- 
vorzubringen. 

Neue Follikel scheinen nicht zu entstehen. Wenigstens 
liessen die Präparate, die daran denken liessen, sich auch 
eben so gut auf andere Weise erklären. 

Zum Schlusse reihen wir hier noch einige Worte über die 
slandulae sebaceae der Cilien an. Bei der Entwickelung, 
welche vor Allen Kölliker erforschte, wird es klar, dass 
sie aus Einstülpungen der Follikel entstehen, und dass die 
Zellen, womit die Einstülpungen sich erfüllen, keinen an- 
dern Character haben, als den der äussern Wurzelscheide. 
Die hierin entstehende Fett-Metamorphose giebt diesen Ein- 
stülpungen den Character von Drüschen. 

An den Cilien sind die Glandulae sebaceae, wie dies bei 
kleinen Haaren im Allgemeinen der Fall ist, verhaltnissmäs- 
sig sehr entwickelt. Gewöhnlich nimmt man an den Cilien 
nur zwei glandulae sebaceae an, und auf verticalen Durch- 
schnitten werden auch gewöhnlich keine weiteren gesehen. 
Indess sind in den meisten Fällen vier oder selbst fünf die- 
ser Drüschen anwesend, wovon man sich an nicht all zu 
dünnen, horizontalen Durchschnitten leicht überzeugt. Sie 
erstrecken sich als Einstülpungen des Follikels in querer 
Richtung, wie dies auf verticalen Durchsehnitten klar wird. 
Das tiefste Ende der Drüschen liest nur ungefähr °, Mm. 
unter der Oberfläche des freien Randes, und wo die fetthal- 
tenden Zellen das Haar erreichen , ist dieses nur ‘/; Mm. von 
diesem Zaum entfernt. Die Richtung erklärt zugleich, warum 
man auf horizontalen Durchschnitten nur selten die Zellen 
von dem Drüsenende bis zum Haar verfolgen kann. Wo 
dies glückt, sieht man, dass diese Zellenreihen etwas um das 
Haar gewunden sind, bevor sie es erreichen. Von dieser 
Stelle ab kann man die fetthaltenden Zellen nicht selten 
unmittelbar auf das Haar, bis zu dem Platze, wo es frei 
zum Vorschein kommt, verfolgen. 

Die Länge der Drüschen beträgt %, die Breite . Mm. 


165 


Die grosse Oberfläche der mehr oder minder zusammen- 
gesetzten Divertikel des Follikels bringt eine beträchtlich 
schnelle Production von Zellen hervor, und diese bahnen sich 
so einen Weg durch die innere Wurzelscheide, worin die 
fetthaltenden Zellen unmittelbar an die Zellen des Rete Mal- 
pighi grenzen, um, bis zu dem Haare durchgedrungen, die 
Stelle der verhornten Zellen einzunehmen. In dem äusser- 


sten Theile der äusseren Wurzelscheide haben die fetthalten- 
den Zellen der glandulae sebaceae noch breite Bahnen, die 


erst in der Nähe des Haares schmaler werden. 

Die Fettmetamorphose der Zellen dieser Drüschen ist durch 
Kölliker !) sorgfältig beschrieben. 

Wir bemerken noch allein, dass an der Stelle, wo das 
Haar frei zum Vorschein kommt, nicht selten noch ganz mit 
Fett gefüllte, feste, verhornte Zellen angetroffen werden. 


1) Microseop. Anat. Bd. II. 1. S. 107. 


—— 


Arm AAAnAn ANNIMMT ARAIANDANAAAADANANAAANEnAnAnnnananÄnannnnnnaanAanananannananennnn 


Zum Wesen von Addison’s Krankheit der Bei- 
nieren, nach Veranlassung einiger in dem 
städtischen Krankenhause in Rotterdam 
beobachteten Krankheitsfälle. 


von 


Dr F. J. J. SCHMIDT, 


früherem Assistenzarzte an diesem Krankenhause. 


— am 


Folgende kurze Mittheilung beabsichtigt durchaus nicht eine 
vollständige Erklärung zu geben, oder zu versuchen von der 
räthselhaften Krankheit, welche wir seit Addison’s Mit- 
theilung im Jahre 1855 kennen, und welche seitdem nach 
ihrem Autor benannt wird. Selbständige Untersuchungen und 
Experimente habe ich nicht beizubringen; andere Forscher 
in Deutschland und Frankreich aber haben solche versucht. 
Ich kann mich der Mühe überheben, sie hier zusammenzu- 
stellen, da Dr. Zeeman dieselben bereits so genau zusammen- 
gestellt und kritisch betrachtet hat, dass ich nur wenig oder 
gar nichts hinzufügen könnte. Gut constatirte Fälle sind 
aber wenige und in unserem Lande noch gar keine bekannt 
gemacht worden, so dass ich es nicht überflüssig achte, 
hier einige Krankheitsfälle, welche ich in Gemeinschaft mit 
Dr. Molewater in dem Rotterdammer Krankenhause beo- 
bachtete, mitzutheilen. Ich halte mich sogar dazu verpflichtet, 
wenn ich bedenke, dass in letzter Zeit von verschiede- 
nen Seiten her Fälle beschrieben sind, in welchen entwe- 
der Beinier-Entartung ohne vorhergegangene charakteristische 
Krankheitserscheinungen , oder umgekehrt sehr suspecte Krank- 


ee 


167 


heitserscheinungen, namentlich Missfärbung der Haut ohne 
Affection der capsulae suprarenales beobachtet waren, so dass 
man anfing Addison’s Beobachtungen gering zu schätzen und 
die Coineidenz der von ihm angegebenen Symptomengruppe, 
mit eigenthümlicher Entartung der Beinieren für ein Zufall 
zu halten. Nur das Zusammentragen einer Anzahl neuer 
Beobachtungen vermag hier Klarheit zu schaffen; von die- 
sem Standpunkte aus wünsche ich denn auch diesen Beitrag 
betrachtet zu wissen. Was mich betrifft, so muss ich ge- 
‚stehen, dass ich Addison’s Arbeit bei ihrer ersten Erschei- 
nung sehr wenig Glauben schenken wollte, oder lieber dass 
ich sie nicht ohne Zweifel aufnehmen konnte. Die vielen 
Fälle, welche bald darauf in der englischen Litteratur mit- 
getheilt wurden, waren meistens so unvollständig oder feh- 
lerhaft, dass sie viel eher dazu dienten, meinen einmal auf- 
gefassten Zweifel zu vermehren, als Addison’s Angaben 
zu bestätigen und zu erhärten. | 

Durch meine eigene Beobachtungen bin ich aber nach und 
nach von diesem Zweifel genesen worden, und zu einer be- 
stimmten Ueberzeugung gelangt, wesshalb ich eine wahrheits- 
getreue historische Mittheilung von dem, was die Hospital- 
praxis mich in Betreff dieses Gegenstandes gelehrt hat, für 
sehr geeignet halte, um auch Andern, welche vielleicht noch 
keine Gelegenheit hatten, selbständige Beobachtungen hierüber 
zu machen, dieselbe feste Ueberzeugung zu geben, welche 
sich mir unwiderstehlich aufgedrängt hat. 

Um daher ehrlich zu handeln, muss ich mit dem Geständ- 
nisse anfangen, dass ich den Beinieren vor dem Jahre 1855 
sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe, so dass sie nur 
ein günstiger Zufall bisweilen der Beobachtung zugänglich 
machte; erst nach dem Erscheinen von Addison’s Arbeit 
fing ich an diese Organe regelmässig zu untersuchen, so 
dass ich mit ihrem Verhalten in verschiedenem Alter bekannt 
wurde. Krankhafte Veränderungen habe ich vor dem Ende 
des Jahres 1855 nicht in denselben angetroffen. 

Am 25sten November dieses Jahres wurde C. V., Arbeiter 
auf dem Lande, 48 Jahre alt, in das Krankenhause aufgenom- 


2 
| 
168 | 
men; sechs Wochen vor seiner Aufnahme war er wegen Vaga- | 
bundirens eingesperrt worden und in dem Gefängnisse erkrankt. 
Sein Körper war sehr abgemagert und verwahrlost, die Haut 
trocken und schuppig, und das Gesicht schmutzig braun, ca- 
tarıhus pulmonum et intestinorum, diarrhoea, ermüdender 
Husten, unbedeutende expeetoratio muco-purulenta, fortwäh- 
rendes Fiebern mit uuregelmässigen Erhebungen und sehr 
leerem weichem Pulse; Druck mit den Fingern auf die Brust- 


und Rückenmuskeln brachte sehr bedeutende idiomuskuläre 
Contractionen zu Stande!); der Schlaf war sehr unzuhig; 


1) Zum besseren Verständnisse dieser Bemerkung muss ich hier anfüh- 
ran, dass Dr. Molewater schon lange zuvor bei einem T'yphösen 
Folgendes beobachtete. In der Absicht seinen Schülern das verschie- 
dene Verhalten von Roseola und Petechien im Typhus exanthema- 
ticus deutlich zu demonstriren, setzte Dr. M. einige dieser maculae 
auf der Vorderfläche der Brust einem mässigen Drucke aus. Hierbei 
empfand er, dass eine harte geschwollene Stelle in dem Brustmuskel 
sich erhob. wenn mit zwei oder drei Fingern ein plötzlicher und 
einigermaassen kräftiger Druck der Breite nach auf die Muse. pec- 
torales ausgeübt wurde; die geschwollene Stelle entsprach genau dem 
Orte, wo der Druck Statt fand, war ungefähr /, Centimeter hoch über 
der Brustoberfläche erhaben und blieb einige Secunden lang fortbe- 
stehen. Einige Tage später beobachtete er dasselbe Phänomen an ver- 
schiedenen Muskeln eines an commotio spinalis Erkrankten, den er 
absichtlich auf diese Erscheinung untersuchte. Spätere Versuche lehrten 
uns, dass dieselbe Erscheinung zu Stande kommen kann in Fällen, 
wo entweder die Innervation oder der Muskeltonus krankhaft affi- 
eirt ist, z. B. in den meisten Fällen von Hiırn- oder Rückenmarks- 
beleidigung, bei Typhus, im Allgemeinen bei vielen Nervenkrank- 
heiten und bei fast allen Phthisiei. Ein gewisser Grad von Abmage- 
rung ist für das Zustandekommen und deutlich zum Vorschein Treten 
der Erscheinung sehr günstig; Magerkeit allein ist inzwischen durch- 
aus keine hinreichende Bedingung dafür; wir haben uns hiervon 
öfters überzeugt. Gewöhnlich ist die Erschemung auf die muse. 
peetorales beschränkt; wenn sie an diesen Muskeln kräftig hervor- 
tritt, so kann man sie meistens, auch an den Rückenmuskeln , aus- 
nahmsweise auch an den Muskeln des Oberarmes hervorrufen. Es 
gelingt öfters dabei eigenthümliche hin und herlaufende Contractions- 
wellen in der Umgebung der ruhig stehenbleibenden Geschwulst 


169 


die Digestion und Assimilation in hohem Grade gestört. Die 
physikalische Untersuchung lehrte eine bedeutende Infiltration 
und Verdichtung der hinteren Lungentheile kennen. 

Im Anfange waren wir sehr in Zweifel, ob die Diagnose 
als iyphus oder als tuberculosis pulmonum et intestinorum acula 
sestellt werden müsse. An den ersten Tagen von December 


wahrzunehmen, welche von derselben ausgehend, sich über die um- 
gebenden Muskelbündel nach beiten Seiten verbreiten. Diese Erschei- 
nung beim Lebenden finde ich nur in der Phys. anatomy and physio- 
logy von Todd und Bowman, S. 175 erwähnt; allda wird sie als 
ein Beweis für die Irritabilität des Muskelgewebes unabhangig von 
dem Nervengewebe angeführt, und zwar mit folgenden Worten: „An 
interesting phenomenon has been pointed out by Dr. Stokes, which 
when illustrated by the foregoing observations, we may safely con- 
sider as an example of contraction in the living body in answer to 
a physical stimulus. In varıous cases of phthisis, and indeed in all 
cases attended with emaciation, a sharp tap with the fingers on 
any muscular part is instantly followed by a contraction, and by 
the rise of a defined firm swelling, at the point struck, enduring 
several seconds before it gradually subsides. This is often so pro- 
niment as to throw a shadow along the skin and for the moment 
it might almost be mistaken for a solid tumour. That it is limited 
to the point struck is full proof of its-being a direct effect of the 
irritation, and not produced by the medium of nerves: for a con- 
traction excited in the latter mode would be diffused over the parts 
to wich the nervous twigs irritated were supplied, and would there- 
fore frequently occur in parts at some distance.” 

Zweifelsohne sind die von Dr. Molewater unabhängig von den 
erwähnten englischen Beobachtern entdeckten Muskelbewegungen 
bei Kranken identisch mit den von Schiff an frisch getödteten 
Thieren beobachteten Erscheinungen, welche er mit dem Namen 
der idiomusculären Contraction belegt. Prof. Funke stellt die hier- 
hergehörigen Beobachtungen in der 2ten Aufgabe seiner Physiologie 
zusammen, wobei er den Versuch macht, ihre Entstehungsweise zu 
erklären. Obgleich er eine sichere Entscheidung zwischen den ver- 
schiedenen denkbaren Erklärungen bisher unmöglich achtet, und so- 
mit der Name „idiomusculäre Contraction” noch nicht hinreichend 
gerechtfertigt werden kann, so haben wir dennoch geglaubt dem- 
selben oben der Deutlichkeit und Kürze halber den Vorzug geben 
zu müssen. 


170 


wurde aufgezeichnet: „Num subest huie eonditioni vitium orga- 
nicum reconditum ? Investigatione repetita demonstrari nullum 
potuit.” Der Zustand verschlimmerte fortwährend ; der Husten, 
Kurzathmigkeit, Diarrhoea und Abmagerung nahmen zu; es 
wurde nur wenig expectorirt. Es wurden weder Roseola, 
noch Petechien , noch sudamina beobachtet; das Bewusstsein 
blieb klar, nur während der Nacht etwas delirium mite. Der 
Verlauf der Krankheit wurde dureh die verordneten Arznei- 
mittel keineswegs modifieirt (demulcentia, acida mineralia, 
dee. album c. vino rhenano, leiehte Diät). Endlich wurde man 
überzeugt, dass der Kranke an phtisis tubereulosa litt. Am 
Tten December starb der Mann völlig ausgezehrt. 

30 Stunden nach dem Tode wurde die Leichenöffnung ver- 
richtet. Ehe man jedoch dazu überging, bemerkte einer der 
Anwesenden, dass das Gesicht eine eigenthümliche gelbbraune 
Farbe hatte und redete halb scherzend von bronzed skin und 
kranken Beinieren. Andere fanden die Farbe dagegen nicht 
abweichend von derjenigen, welche man öfters bei kränkeln- 
den Personen zu sehen Gelegenheit hat, namentlich bei sol- 
chen, welehe viel in der freien Luft leben und durch Sonne 
und Wetter gebräunt sind. Die übrige Haut war überall 
blass, nirgends braun oder bronzfarbig. Die Schädelhöhle 
wurde nicht geöffnet. Beide Lungen waren durch alte Pseu- 
domembranen stark adhärirt, sie waren beide ganz symme- 
trisch von Tubereulose affieirt; die oberen Lappen waren 
beinahe ganz solid, ebenso die hinteren Theile der unteren 
Lappen ; dies wurde veranlasst: 1°. durch sehr mannichfache 
meist graue Miliärtuberkel, welche zum grossen Theile sehr 
dieht an einander zu kleinen Gruppen vereinigt lagen. Nur 
hier und da .kamen grössere gelbe Tuberkel häufiger vor‘ 
nirgends eine Spur von Erweichung oder Höhlebildung ; 
2°, enthielt das zwischengelegene Lungengewebe keine Luft 
und war mit einem serösen-albuminösen Exsudate infiltrirt. 
Der übrise Theil der unteren Lappen war lufthaltend,, in 
leichtem Grade ödematös und enthielt nur sparsam verbrei- 
tete Tuberkelhäufchen ; die Ränder des unteren Lappens wa- 
ren emphysematös. Die Bronchialschleimhaut war hier und 


171 


da leicht infieirt; die feineren Bronchialästchen enthalten 
viel dieken Schleim. Das Herz ganz normal von Grösse, 
Form, Festigkeit und Bau, enthielt mässig feste fibrinöse 
Coagula. 

In den Dünn- und Diekdarmen kamen an zahlreichen Stellen , 
tuberkulöse Geschwüre vor, die sieh schon durch die Ver- 
diekung und Verhärtung des serösen Ueberzuges auf der 
‚auswendigen Seite des Darmes verriethen ; die Gl. mesaraicae 
waren zu grossen, harten, gelben Tuberkelmassen geschwollen. 
An einigen Stellen waren die Darmschlingen an einander 
'adhärirt, ebenso wie die Leber an der vorderen Bauchwand 
‚und zwar vermittelst organisirten gefässreichen Bindegewebes. 
Ausser diesen Adhäsionen kam nichts Krankhaftes an der 
Leber vor; die Gallenblase enthielt eine geringe Menge dün- 
ner blassgelber Galle. Die Milz war etwas gross, von nor- 
maler Festigkeit und normal gebaut; an manchen Stellen 
kamen einzelne gelbe Tuberkel, zur Grösse eines Hanfsamen- 
'korns zerstreut in derselben vor. Pancreas gesund. Die 
beiden Nieren waren ganz normal; dagegen waren die beiden 
el. succenturiatae sehr krankhaft entartet. Sie waren beide 
‚gross, hart und enthielten zahlreiche, ziemlich grosse, weisse, 
hie und da röthliche oberhalb der Obertläche hervorragende 
Knoten, die beim Einschneiden eine gelbe käsige, trocken- 
bröckelige Tuberkelmasse zeigten. Die linke Beiniere war 
mehr affieirt als die rechte, sodass dieselbe beinahe kein 
gesundes Gewebe mehr übrig hatte, während in der rechten 
mehr Gewebe als Knoten vorhanden war. Die mikroskopi- 
sche Untersuchung lehrte die gewöhnlichen Formelemente der 
'Tuberkel in den krankhaften Knoten kennen. 


Vorläufig enthalte ich mich jeder Epierise dieses Falles. 
Nur will ich hier schon bemerken, dass wir keinen grossen 
Werth auf denselben legten, in Bezug auf die Bestätigung 
von Addison’s Hypothesen. Unsere Aufmerksamkeit war 
seitdem fortwährend dem Zustande der Beinieren gewidmet; 


172 


im Sommer 1857 jedoch kam erst ein Fall zur Behandlung, 
der vollkommen Addison’s Krankheitsbild darbot, dessen 
Diagnose aber nicht leicht gemacht werden konnte. Ä 


f 


Am ilten Juni dieses Jahres ward W. O., 23 Jahre alt, 
Knecht auf einem Schiffe, in das Krankenhaus aufgenommen. 
(Wir hatten denselben schon einmal, im Monate Mai des 
Jahres 1855 wegen intermittirenden Fiebers, mit allgemei- 
nem Haut-Oedem behandelt; nach 15 Tagen wurde er jedoch 
geheilt entlassen). Vor der Aufnahme in’s Krankenhaus war 
er von einem anderen Arzte behandelt worden, der uns dar- 
über Folgendes mittheilte: 6 Tage lang war der Patient schon. 
krank gewesen und hatte darauf, nach eigenem Gutfinden, 
ein Brechmittel genommen, worauf so heftige Wirkung ge- 
folgt, dass der Arzt bei dem ersten Besuche eine gastro- 
enteritis befürchtete, und darum ealomel mit opium vorschrieb, 
Bei der Aufnahme in’s Krankenhaus verhielt sich der Patient 
ebenso wie ein Cholerakranker, der so eben einen schweren 
Anfall überlebt, und bei dem die Evacuationen aufgehört 
haben. Es war enormer collapsus, prostratio virium vor- 
handen, der Puls war drahtförmig, die Haut sehr blass, an 
dem Gesichte und den Extremitäten leicht eyanotisch. Man 
wagte es nicht eine bestimmte Diagnose auszusprechen, da 
Schmerzen oder andere positive Symptome ganz und gar 
fehlten, gab sich aber doch der Hoffnung einer langsamen 
Reconvalescenz hin, da keine Evacuationen mehr vorhanden 
waren. Diese Hoffnung wurde aber vereitelt, da der Kranke 
fortwährend in demselben Zustande verblieb. Er war immer- 
fort schwach, mager, todtenblass, stets kalt; seine Radial- 
pulse waren klein und langsam, auf der linken Seite kaum 
fühlbar, stets aber klein, obwohl mitunter etwas hart. Die 
Lippen waren sehr oft eyanotisch. Der alvus war constipirt, 
mitunter trat Erbrechen ein, nie hatte er guten Hunger, 
obwohl die Zunge rein war; er lag am liebsten ruhig im 
Bette, man versuchte es eine Zeit lang den Leider aufstehen 
und sich ein wenig zu bewegen zu lassen; dabei schleppte 


173 


er sich aber so langueseirend fort und war so steif vor Kälte, 
' wiewohl die Sommertemperatur sehr heiss war, dass man 
‚diese Versuche aufgeben musste. Zu wiederholten Malen wurde 
‚er einer gründlichen Untersuchung unterworfen, namentlich 
in Bezug auf die organa circulationis et respirationis; eine 
‚ Ursache aber für die Erklärung seines erschöpften und blut- 
‚leeren Zustandes wurde dabei nicht gefunden. Es waren kei- 
merlei Excesse vorhergegangen. Der Zustand wurde bald 
darauf noch viel schlimmer durch nicht zu bewältigendes 
Erbrechen, das allen inwendig oder auch endermatisch ange- 
wendeten Mitteln Widerstand leistete. Alles im wahren 
Sinne des Wortes, was in den Magen kam, wurde alsbald 
wiederum heraufbefördert. Die Ernährung litt natürlich dar- 
unter und es war unmöglich etwas Stärkendes gebrauchen 
zu lassen. Auch die warmen Bäder und Diaphoretica, wel- 
che wegen der dürren, trockenen Haut versucht wurden, 
lieferten nie das erwünschte Resultat. 

Als wir gegen die Mitte des Monates Juli den Kranken 
wiederum einer genauen Untersuchung unterwarfen, entdeck- 
' ten wir an verschiedenen Körperstellen braune Flecken, wel- 
che sich sowohl durch die dunkelere Sepiafärbung, als auch 
durch den allmähligen Uebergang in die umgebende gesunde 
Hautfarbe, von Chloasma unterschieden. Sie wurden vor- 
züglich in der Lendengegend, der Achselhöhle und am Halse 
beobachtet ; das Gesicht und die Hände boten überdiess eine 
schmutzigbraune (cachectische) Farbe dar, die früher viel 
weniger deutlich ausgesprochen war. Der Kranke wurde nun 
durch unsere Fragen veranlasst zu erklären, dass er schon 
längere Zeit an Schmerzen in der Lendengegend gelitten, 
welche ihn auch jetzt noch einigermassen quälten. Wir konnten 
Jetzt mit ziemlich grosser Gewissheit annehmen, dass die bis 
dahin unerklärlichen Symptome von Anämie und Digestions- 
störung durch eine krankhafte Entartung der Beinieren be- 
dingst seien. Die Abmagerung und Schwäche waren seitdem 
fortwährend im Zunehmen begriffen ; alles wurde erbrochen 
mit Ausnahme von kohlensäurehaltigem Wasser. Es war hart- 
näckige Uonstipation vorhanden. Der branne Farbenton der 


174 


Flecken wurde stets intensiver. Am 6ten August starb ach) 
Mann endlich ganz marastisch. 

Zwei und zwanzig Stunden nach dem Tode wurde die Lei- 
chenöffnung verrichtet. Die Lungen sind zum grössten Theile 


gesund und lufthaltend, nur die Spitzen sind durch feste 


Bindegewebsstränge adhärirt. In diesen Lungenspitzen ist 


Tuberkulose entwickelt. Die Stelle, welche sie einnimmt, 
beträgt ungefähr die Grösse einer Pomeranze. Sie besteht 
aus diehtaufeinandergedrängten Miliärtuberkeln, zwischen wel- 


chen das Lungengewebe hie und da condensirt, hart und 
schwarz pigmentirt ist. Tuberkelerweichung war nicht vor- 
handen ; an einigen Stellen sieht man eiterartige Substanz ; 
an solchen Stellen findet man weit klaffende Bronchialästchen , 
welche durch das erhärtete Gewebe hindurch verlaufen. In 
den übrigen Lungentheilen wurde keine Spur von Tuberku- 


lose gefunden. Die gl. bronchiales waren gesund. Das Herz 


ist normal in Bezug auf Grösse, Form, Consistenz und Bau 


seiner Theile; es ist beinahe blutleer; die geringe, in dem- 
selben enthaltene Menge ist fest geronnen. Die Eingeweide 
(des Unterleibes) sind gesund, namentlich der Magen. In 
dem unteren Theile des Ileums findet man einige Solitär- 
Follikel und eine Peyrsche Drüse in geschwollenem Zustande; 
zahlreiche Follikel sind erodirt. Die gl. mesaraieae sind nicht 
geschwollen. Leber gross, normal von Consistenz und Structur ; 
die mehr als gewöhnliche Blutanhäufung in den Lebergefäs- 
sen contrastirt sehr mit der allgemeinen Anämie. Die Gal- 
lenblase enthält viel dünne Galle. Milz und Pancreas ganz 
gesund. 

Die beiden Nieren sind ganz gesund, die beiden Beinieren 
sind in hohem Grade krankhaft entartet. Sie sind beide 
hypertrophisch und erhärtet. Die linke Beiniere erreicht bei- 
nahe das doppelte, die rechte ungefähr das 1% fache der 
normalen (lineären) Dimension. Ihre Oberfläche ist uneben 
und höckerig; die hervorragenden Stellen haben ungleiche 
Grösse; die capsula propria sehr dick, blutreich. Auf dem 
Durchschnitte sieht man durchaus kein normales Gewebe, 
sondern eine gleichförmig veränderte krankhafte Masse, die 


175 


‘in ihrem auswendigen Verhalten mit dem von gelber Tuber- 
 kelmasse übereinstimmt. Es waren hierbei jedoch zwei For- 
men zu unterscheiden, die eine weicher und rosenroth, die 
andere härter und ganz weiss oder gelbweiss; letztere ist es 
‚namentlich, welche der gelben Tuberkelmasse sehr ähnelt. 
Die Mischung dieser zwei Substanzen giebt dem Durchschnitte 
ein marmorirtes Aussehen. In den gelbweissen Abtheilungen 
‚sind keine deutliche mikroskopische Formelemente enthalten 
(Moleeulärkörner und structurlose Massen); in den rosenro- 
‚then Theilen findet man eine Auhäufung von Kernen und 
sehr kleinen spindelförmigen Cellen. Endlich sind unter der 
‚Kapsel an der Oberfläche der linken Beiniere drei erbsen- 
‚grosse Höhlen, welche durch Erweichung der Tuberkelmasse 
entstanden sind. In dem Hilus der Beinieren findet man 
einige geschwollene und mit Tuberkelmasse infiltrirte Lymph- 
drüsen; kranke Lymphdrüsen wurden an keiner anderen Stelle 
gefunden. 


Zur Zeit ungefähr wo der zuletzt mitgetheilte Fall endete, 
‚kam noch ein zweiter zur Behandlung, der so schön und 
deutlich charakterisirt war, dass die Diagnose keinen Augen- 
blick für uns Zweifel darbieten konnte, um so mehr als wir 
uns noch unter dem Eindrucke des vorigen Falles befanden. 


A. M., ein junges sechszehnjäriges Mädchen, wurde am 
24sten Juli 1857 in's Krankenhaus aufgenommen, wegen eines 
Leidens, das schon längere Zeit gewährt hatte. Ueber ihr 
'früheres Leiden hat sie Folgendes ausgesagt. Ihr Vater war 
acht Monate nach ihrer Geburt an einer Art Phthisis gestor- 
ben; ihre Mutter lebt noch und ist eine gesunde kräftige Frau. 
Sie selbst war von ihrer ersten Jugend an nie recht gesund 
gewesen, war stets blass, hatte kalte Hände und Füsse, und 
nur geringe Esslust. Ihre Farbe soll stets etwas bräunlich 
' gewesen sein. Rötheln und Masern hatte sie als Kind ohne 
weitere Nachtheile und einen Choleraanfall im Jahre 1853 
durchgemacht. Sie war nie an eine sitzende Lebensweise 


176 


gewohnt gewesen ; als Kind verrichtete sie häusliche Arbeit 
und seit einem Jahre hatte sie sich als Dienstmagd vermie- 
thet, konnte aber nur mit Mühe die ihr auferlegte Arbeit 
verrichten, da sie fortwährend schwach war, bei der geringsten 
Anstrengung Herzklopfen hatte, so dass sie zeitweilen in’s 
älterliche Haus zurückkehren musste, um da einige Tage der 
Ruhe zu geniessen. In ihrem 15dten Jahre trat zum erstenmale 
die Menstruation, und zwar in gehöriger Menge, bei ihr ein. 
Vor fünf Monaten erschrak sie sehr während der Menstruation, 
die darauf ausblieb, und seitdem nicht wieder zurückkehrte. 
Von dieser Zeit an fühlte sie sich leidender und hinfälliger als 
je zuvor. Sie klagte über heftige stechende Schmerzen in der 
rechten Seite, war sehr schwindelig und müde, so dass sie 
nach und nach sieh genöthigt sah das Bett zu hüten; fort- 
während war sie jetzt von fluor albus geplagt. Endlich er- 
schienen zu dieser Zeit an verschiedenen Hautstellen braune 
Flecken. h 

In diesem Zustande erschien sie zum erstenmal in dem 
Krankenhause. Schon beim ersten Anblicke erkannte man 
hier das von Addison gegebene Krankheitsbild. Die Anämie 
war sehr prononcirt, die Lippe sehr blass, die Temperatur 
niedrig, die Hände eisig, der Radialpuls (namentlich der linke) 
klein und nicht verschneliert; kein Nonnengeräusch an den 
Oarotiden. Der Körper ist zartgebaut und mager, von kur- 
zer Statur. Das Gesicht hat einen zarten, langueseirenden 
und ängstlichen Ausdruck, die blauen Augen haben etwas 
Mattes und Trauriges; die Farbe ist hellbraun; auf der Stirn, 
an den Augenliedern und auf der linken Wange sieht man 
verschiedene dunkele, beinahe schwarze runde Fleekcehen, 
welche scharf begrenzt und etwas grösser als Sommerspros- 
sen sind. Bei weiterer Untersuchung fand man an vielen 
Körperstellen sepiabraune unregelmässige Flecken, welche 
ohne scharfe Begrenzung in die umgebende gesunde Haut über- 
gingen, nämlich am ganzen Halse, der Rückenseite der Hände, 
der Beugeseite der grossen Gelenke (Ellenbogen- , Schulter 
und Kniegelenk), weiter an den Körperstellen, wo die ver. 
schiedenen Bänder Druck ausgeübt haben; endlich an der 


Uran! 


ganzen regio clunium et ani. Auf den Armen waren über- 
‚diess noch einige kleine dunkelschwarze Fleckchen , welche 
‘den im Antlitze vorhandenen sehr ähnlich waren. Das Mädchen 
‚klagte über Schmerz in der Lendengegend, im Rücken und 
im Kopfe; Herzklopfen quälte sie nur bei Anstrengungen. 
Sie nahm nur wenig Nahrung zu sich; was sie aber genoss, 
wurde gut verdaut ; die Defäcation war oft träge, die Urin- 
‚seceretion ganz normal; fluor albus ist ziemlich bedeutend. 
Im Anfange schien der Zustand zu verbesseren ; eine sorg- 
fältige Anordnung der Diät und vorsichtige Anwendung von 
milden Eisenpräparaten wirkten günstig auf die Ernährung, 
so dass die Kräfte zunahmen und der apathische Zustand sehr 
verminderte; das Mädchen beschäftigte sich so viel wie möglich , 
und bewegte sich während der warmen Sommertage fleissig in 
der freien Luft; die geringe Anstrengung bei dieser Bewegung 
vermehrte aber jedesmal die Lendenschmerzen (welche bis an’s 
Ende constant blieben) ; die Hautfarbe nahm keineswegs ab. 
Gegen das Ende des Monats August wurde auch die Ver- 
dauung gestört; die Martialien wurden nicht mehr gut ertra- 
sen, und selbst nachdem man mit diesen Mitteln aufgehört, 
klagte sie bald über ein Gefühl von Druck in epigastrio, 
bald über Magenschmerzen, immer aber über Mangel an Ess- 
lust, oft Erbrechen oder auch Diarrhoea; mitunter auch wurde 
unsere Kranke sehr geplagt von Anfällen von Schluchzen. 
Sie verlor wiederum ganz den Muth und blieb einige Tage 
hintereinander im Bette liegen. Dabei war sie ausserordent- 
lich schläfrig und klagte über Schwindel, wenn sie das Bett 
verliess. Man war nun wohl darauf angewiesen, sich auf 
eine symptomatische Behandlung zu beschränken; für eine 
gute Nahrung wurde soviel wie möglich Sorge getragen. 
Vom Anfange des Monates November an wurde der Zustand 
zusehends schlimmer. Die braunen Flecken nahmen über- 
all an Intensität zu, so dass das Gesicht eine ekelhaft braune 
Farbe darbot; die Anaemie wurde schlimmer, die Kräfte 
schwanden beinahe ganz , die matte Schläfrigkeit war beinahe 
nicht zu bezwingen ; dagegen verbesserte merkwürdigerweise 
die Abmagerung, so dass die Körpercontouren sogar besser 
1. 12 


178 


abgerundet waren, trotz der unzureichenden Nahrungsauf- 
nahme und des fortwährenden Magenleidens. Die letzten Tage 
ihres Lebens war das Mädchen fortwährend schlummernd, 
und der Puls konnte selbst an den Carotiden nur mit gros- 
ser Mühe gefühlt werden. Am Morgen des fünfzehnten De- 
cembers starb sie ganz sanft. g| 

Zwei und dreissig Stunden nach dem Tode wurde die Leiche 
untersucht. Die braunen Hautflecken hatten ihre frühere In- 
tensität vollkommen beibehalten; wir wollen ihre Beschrei- 
bung hier nicht wiederholen. Der rigor mortis war mässig, 
Die Schädelhöhle wurde nicht geöffnet. Die Brusthöhle bot 
nichts Abnormes dar; die Lungen waren vollkommen gesund 
und lagen frei in der Pleurahöhle; das Herz war klein, 
stark zusammengezogen und enthielt nur ein Minimum Blut, 
das sehr dünn war; übrigens wurden an keiner anderen 
Stelle der Leiche coagula angetroffen. Die Lage der Banch- 
eingeweide war normal; der Magen war gesund; der dünne 
Darm beinahe ganz leer, sehr stark zusammengezogen; der 
dicke Darm enthielt einige wenige breiartige Fäcalmassen. 
Die Schleimhaut des ileum zeigte eine sehr starke Schwel- 
lung und Verdickung der Solitärfollikel und der Peyerschen 
Follikelhaufen; nirgends war aber Verschwärung oder reti- 
culirtes Aussehen zu bemerken; im Allgemeinen war die 
Schleimhaut anämisch. Auch in dem dicken Darme waren 
die Solitärfollikel sehr geschwollen und eine jede überdiess 
auf ihrer Mitte mit einem schwarzen pigmentirten Pünktchen 
versehen. Die gl. mesaraicae waren alle sehr vergrössert, 
seschwollen, härter als gewöhnlich ; ihr Gewebe zeigte keine 
tubereulöse Entartung auf dem Durchschnitte, hatte vielmehr 
ein gleichmässiges glänzendes Aussehen, etwa wie Speck 
(wahrscheinlich einfache Hypertrophie und Oedem). Die Leber 
war ganz gesund; die Milz etwas vergrössert mit grossen 
deutlichen Malpighischen Körpern. Pancreas normal. Die bei- 
den Nieren waren gesund, etwas blutreich, in einer dieken 
Fetthülle gelegen; an einigen Stellen der Corticalsubstanz 
sah man Spuren eines interstitiellen Exsudates. Die Urin- 
blase war leer. Die genitalia interna normal, der Uterus 


179 


‚ aber wenig entwickelt. Die Beinieren waren beide sehr krank- 
haft verändert. Sie waren nur wenig vergrössert, am mei- 
‚sten noch im Diekendurchmesser ; ihre Oberfläche war uneben 
‚von rundlichen hellweiss gefärbten Knötchen, welehe sehr hart 
‚ waren. Bei der genaueren Betrachtung mit unbewaffnetem 
' Auge fand man keine Spur normalen Gewebes mehr, und war 
_Cortikal- und Marksubstanz nicht mehr von einander zu un- 
'terscheiden. Die Knötchen an der Oberfläche waren nach 
innen zu überall zusammengeflossen, und boten ganz das 
Aussehen von Tuberkelmasse dar; in einer grauen, mehr oder 
ı weniger durchscheinenden Substanz lagen unregelmässige gelb- 
lichweisse undurchscheinende Massen zerstreut, welche hier 
‚und da im Begriffe waren zu einem käsartigen Brei zu erwei- 
chen. Die mikroskopische Untersuchung (von Dr. Boogaard, 
 Prosector an der Universität in Leyden, ausgeführt) lehrte 
' die zuletzt erwähnten Massen als Tuberkel kennen, welche 
mit geringen Spuren corticaler Substanz vermischt waren, 
während in der ersterwähnten Substanz noch an vielen Stel- 
‚len Gewebeelemente der subst. medullaris gesehen wurden. 
Dr. Boogaard untersuchte weiter noch einen Theil des nerv. 
'symp. aus der Umgebung der aorta abdominalis; er fand ihn 
in hohem Grade atrophirt. 

Merkwürdigerweise war ein ziemlich dieker panniculus 
adiposus unter der Haut vorhanden, und auch an den übri- 
gen Körperstellen, wo Fett normal vorzukommen pflegt, viel 
Fett angehäuft. Die geringe Menge im Körper vorhandenen 
Blutes hatte die normale Farbe, war aber sehr dünn. 


. Was wir in Bezug auf unseren Gegenstand noch nach die- 
sen zwei eclatanten Fällen beobachtet haben, ist nur von 
untergeordnetem Werthe. Nur einmal fanden wir noch in 
' der Leiche einer an phthisis tubereulosa gestorbenen Frau eine 
partielle Affeetion der rechten Beiniere. Der Fall ist kurz 
folgender. Eine 35jährige verheirathete Frau, welche her- 
umschwärmte, wurde in einem sehr verwahrlosten und schwa- 
chen Zustande in das Krankenhaus aufgenommen; ihre Haut 
12% 


180 


war anfangs sehr schmutzig und auch krätzig; in Folge wie- 
derholten Badens bekam die Haut aber ihre gesunde Farbe 
zurück, so dass sie nach 24, Monat, als die Frau starb, nir- 
gends mehr irgend eine krankhafte Farbe oder ein geflecktes 
Vorkommen darbot. Der Krankheitsverlauf war ganz und gar 
der einer normal verlaufenden phthisis. Die beiden Lungen 
waren denn auch beide in hohem Grade von Tubereulose 
zerstört; überdiess wurden in dem Dünndarme Spuren von 
recenter Entzündung angetroffen, im Blinddarme einige ober- 
flächliche Schleimhautgeschwüre und am Peritonäum viele 
schon ältere Adhäsionen. In dem linken ventriculus cordis 
wurden schöne centralerweichte vegetations globuleuses ge- 

funden; in der rechten Niere eine erbsengrosse inwendig | 
erweichte Tuberkelmasse. In der rechten Beiniere endlich 
kam eine sehr harte, glänzendweisse Tuberkelmasse von der 
Grösse einer Mandel vor, die nicht scharf begränzt war, 
aber dennoch unmerkbar in das umgebende stark injieirte 
Gewebe überging. Die Masse war in der Marksubstanz ent- 
wickelt. Die Beiniere war übrigens weich und nicht grösser 
als die normale linke. Die mikroskopische Untersuchung 
lehrte auch in diesem Falle, dass namentlich in der Periphe- 
rie der Tuberkelmasse mitten unten den gewöhnlichen Tuber- 
kelelementen Reste von Medullärsubstanz vorhanden waren. 


Endlich muss ich noch einen Krankheitsfall vermelden, 
der mich sehr interessirte, den ich jedoch nur während einer 
sehr kurzen Zeit beobachten konnte. Ein 50 jähriger Polizei- 
inspector liess sich im Monate März dieses Jahres in’s Kran- 
kenhaus aufnehmen, nachdem er schon 6'), Monate lang am 
Wechselfieber gekränkelt, das einen wechselnden Typus ge- 
habt haben soll. Er wohnte in einem sehr ungesunden 
Stadtviertel, in dem Wechselfieber während der letzten Zeit 
endemisch geworden waren; zu wiederholten Malen war ihm 
Chinin in ziemlich grossen Dosen dargereicht worden, und 
zwar jedesmal mit gutem Erfolge, ohne dass aber darum 
Recidive verhindert werden konnten. Nachdem er in das 


181 


Krankenhaus aufgenommen war, kamen keine Fieberanfälle 
mehr vor. Wir waren sehr erstaunt die Milz nicht vergrös- 
sert zu finden trotz des charakteristischen Bildes von Malaria- 
cachexie, das der Mann darbot; er war schwach, mager und 
hatte die schmutzigbraune Gesichtsfarbe, welche nach lange 
währendem Malariafieber so gewöhnlich angetroffen wird; 
schon seit langer Zeit waren die Füsse etwas ödematös; 
überdiess klagte er sehr über Lendenschmerzen; die Diges- 
tion war ziemlicb gut, nur einmal erbrach er die aufgenom- 
menen Nahrungsmittel. Eine sorgfältige Diät, unterstützt durch 
die Anwendung von Chinin und martialia, verbesserte seine 
Kräfte sehr, sein Embonpoint nahm auffallend zu, sein Puls 
wurde voller und kräftiger, das Oedem der Füsse schwand, 
die Lendenschmerzen wurden geringer (waren jedoch nicht 
ganz weggeblieben); neben diesen günstigen Erscheinungen 
ging aber eine ander weniger günstige einher, indem die 
Gesichtsfarbe immer dunkeler wurde, und zwar weniger 
gleichmässig verbreitet, als fleckig; eine genauere Untersu- 
chung zeigte, dass auch am Rücken und in der Achselhöhle 
hell-sepiabraune Flecken erschienen waren. Als der Patient 
nun, nachdem er einen Monat im Krankenhause verweilt, 
sich kräftig genug fühlte, um seine Berufsgeschäfte wiederum 
aufzunehmen, verliess er uns mit einer broncefarbigen Ge- 
sichtshaut, welche ganz und gar mit der von Addison ab- 
gebildeten übereinstimmte. Er war denn auch noch durchaus 
nicht ganz gesund, litt oft, namentlich bei Bewegung, an 
Lendenschmerz, und musste sehr vorsichtig in seiner Diät 
sein, wenn er nicht fortwährend Digestionsstörungen erlei- 
den wollte. 


Diese letzte Krankheitsgeschichte hätten wir so gerne wei- 
ter verfolgt, da wir stets mehr daran zweifelten, ob wir es 
hier mit einer einfachen Malariacachexie oder vielmehr mit 
einer sich entwickelnden Krankheit der Beinieren zu thun 
hatten; namentlich auch darum, weil ein solcher Fall, bis 
an’s Ende der Krankheit beobachtet, vielleicht für Zusammen- 


182 


hang dieser beiden Affeetionen lehrreich werden konnte. Die 
Erscheinungen wenigstens, welche beide Affeetionen charak- 
terisiren, bieten eine unläugbare Uebereinstimmung dar; das 
Bild der Malaria-Cachexie ist so allgemein bekannt, dass ich 
diese Uebereinstimmung nicht näher anzugeben brauche durch 
Erwähnung der ihr eigenen Erscheinungen. Dagegen kann 
es wichtig sein, die Unterschiede beider Affeetionen hervor- 
zuheben. Ich muss damit anfangen, dass ich meine Ueber- 
zeugung dahin ausspreche, dass Addison im vollsten Rechte 
war, wenn er ein neues Krankheitsbild darstellte; die zwei 
exquisiten von mir beobachteten Fälle haben jeden Zweifel 
darüber beseitigt. Sie unterscheiden sich nach meinem Da- 
fürhalten in folgenden Punkten von anverwandten Krank- 
heitsprocessen: 1°. es sind keine Wechselfieberanfälle vorher- 
gegangen; 2°, es fehlten hydropische Exsudationen ; 3°, Leber 
und Milz waren gesund; 4°. die eigenthümliche Hautfärbung, 
welche Eigenthümlichkeit jedoch vielleicht nur scheinbar ist, 
und einfach auf der grösseren Intensität der Farbennuancen 
beruht. Wenn alle diese Symptome mit den früher vermel- 
ddeten vereinigt vorhanden sind, so kann in der Zukunft 
kein Zweifel mehr über die Diagnose von Addison’s Krank- 
heit bestehen. Ob nun darum in diesen Fällen stets kranke 
Beinieren angetroffen werden, möchte ich noch nicht so ge- 
wiss behaupten; es kommt mir doch noch nicht so gewiss 
ausgemacht vor, dass das ganze Wesen dieser Krankheit in 
der krankhaften Entartung dieser Organe besteht, ebensowe- 
nig als krankhaft aflieirte Beinieren stets Addison’s Krank- 
heit bedingen müssen. Der zuerst mitgetheilte Fall bietet 
hierfür ein Beispiel dar, in welchem zu einer intensiven 
Lungentubereulose eine wahrscheinlich secundäre Beinier- 
Tubereulose hinzugetreten war, ohne dass der Krankheitsver- 
verlauf dadurch wesentlich modifieirt worden wäre; noch 
deutlicher tritt dies in der vierten Krankheitsgeschichte her- 
vor, in welcher die Beinier-Tubereulose zweifelsohne seeundär 
war, und sieh erst wenig entwickelte. Wenn es nun wahr 
ist, dass die Beinieren gerade so wie andere Organe in ho- 
hem Grade von Tubereulose aflieirt sein können, ohne dass 


183 


die Haut es verräth, so kann man den Gedanken kaum ab- 
wehren, dass auch in den Fällen von exquisiter Addison- 
scher Krankheit die primäre Ursache nicht in der Entartung 
‘ der Beinieren gelegen ist, sondern dass diese Entartung 
mitsammt der Hautaffeetion und der anderen Symptome nur 
Coöffeete einer anderen tiefer wurzelnden mehr allgemeinen 
Ursache sind, welche ihren Einfluss über viele vegetative 
Prozesse zu gleicher Zeit erstreckt. Darum halte ich das von 
Dr. Boogaard in dem dritten Krankheitsfalle erhaltene Re- 
‚sultat für höchst wichtig. Quekett hat in einem der von 
Addison beobachteten Fälle Atrophie des nervus sympalhi- 
cus angetroffen; in anderen Fällen scheint man unglückli- 
cherweise nicht, darauf geachtet zu haben. Dr. Boogaard 
machte mich mit vollem Rechte auf die hohe Bedeutung 
seines Befundes für die Erklärung der Erscheinungen auf- 
merksam. Unsere Kenntniss über die Function des n. sym- 
pathicus möge noch unvollkommen sein, sie ist aber doch weiter 
gediehen als unsere kenntniss über die Function der Beinieren. 
Wir wissen dass er eine grosse Rolle spielt als Regulator der 
vegetativen Processe in dem thierischen Körper, und dass die 
Ernährung verschiedener Organe in erster Reihe unter seinem 
Einflusse stehen. Darum bin ich sehr geneigt Atrophie des 
n. sympathicus und zwar hauptsächlich des Bauchtheiles als 
die eigentliche Ursache der Addisonschen Krankheit zu be- 
trachten und ich glaube, dass diese Betrachtungsweise sehr 
geeignet ist, um Uebereinstimmung dieser Krankheit mit, als 
auch Unterschied von der Malariacachexie,, sowie die Möglich- 
keit des Ueberganges der letzteren in die erstere zu erklären. 

Es scheint mir keine allzugewagte Hypothese zu sein, um 
den n. sympathicus bei der Addisonschen Krankheit primär 
ergriffen sein zu lassen, so dass er nach und nach atrophirt; 
dass dagegen bei der Malariacachexie die Blutdyskrasie pri- 
mär auftritt, woneben (oder wodurch ?) sich, wenn die nach- 
-theiligen Einflüsse lange fortbestehen, krankhafte Affeetion 
des n. sympathicus entwickeln kann, welche indessen nur 
höchst selten bis zur wahren Atrophie fortschreiten wird, 
sondern gewöhnlich durch das Aufhören der miasmatischen 


184 


Dyserasie genesen wird. Der letzte von uns erwähnte Krank- 
heitsfall würde hierfür ein Beispiel liefern können, und 
darum bedauerten wir es so sehr, dass wir ihn nicht bis 
an’s Ende seines Verlaufes beobachten konnten. 

Diese Hypothese erklärt, warum Beinierentartung in eini- 
sen Fällen von Entfärbung der Haut begleitet ist und in 
anderen nicht; dies wird nur dann zusammentreffen, wenn 
beide Affeetionen von Sympathieus- Atrophie begleitet sind; 
wenn dagegen bloss eine secundäre Tubereulose der Beinie- 
ren vorhanden ist, so hat die Haut nichts damit zu machen, 
da sie, soviel uns bekannt ist, nicht unter dem Einflusse 
der Beinieren steht, wohl aber unter dem der trophischen 
Nerven. Ein primäres Nervenleiden erklärt weiter besser 
als eine primäre Dyskrasie, warum bei der Addisonschen 
Krankheit keine hydropischen Exsudationen vorkommen, wie 
bei allen anderen Formen der sogenannten Anaemie oder 
eigentlich Hydraemie. Es kann uns weiter nicht wundern, 
dass die Krankheitserscheinungen und namentlich die Ent- 
färbung der Haut, sowohl bei der Malaria-Dyscrasie als bei 
anderen Dyscrasieen z. B. der carcinomatösen mit der Ad- 
disonschen Krankheit, übereinstimmen können, wenn wir die 
fortwährende Wechselwirkung von Nerv und Blut im Auge 
behalten, so dass jede längere Zeit fortbestehende Dyscrasie 
wirklich Gewebe und Function der trophischen Nerven afi- 
eiren muss. Umgekehrt muss eine primäre Sympathieus-Atro- 
phie unmittelbar oder mittelbar durch Verdauungsstörungen, 
Blutarmuth und Dyskrasie bedingen. Es werden daher neben 
den exquisiten Krankheitsfällen stets viele andere vorkom- 
men, in denen die Diagnose schwierig, ja unmöglich ist. 

Es bleibt ein Räthsel, warum die primäre Atrophie des 
n. sympathicus ausschliesslich Degeneration und Desorgani- 
sation der Deinieren und nicht auch anderer Unterleibsein- 
seweide bedingt; der Nervenreichthum der Beinieren kann 
dieses Räthsel doch nur sehr unvollkommen lösen helfen; 
es ist doch auch noch nicht ausgemacht, ob der Zusam- 
menhang constant ist, noch viel weniger ist genau bekannt, 
wie weit sich die Atrophie des Sympathicus erstreckt. Hierin 


185 


kann wahrscheinlich viel Wechsel vorkommen. In dem frü- 
her erwähnten von Quekett untersuchten Falle wird der 
plexus solaris und das ggl. semilunare erwähnt; in dem von 
Dr. Boogaard untersuchten Falle wurde ein Theil des 
plexus solaris atrophisch angetroffen. In England sind schon 
Fälle von Addisonscher Krankheit mitgetheilt, in denen nicht 
die Beinieren sonder die Nieren tuberkulös affieirt waren; 
vielleicht war in den Fällen ein anderer Theil des sympa- 
thieus afleirt; in beiderlei Fällen wäre es erwünscht, dass 
ein Anatom ex professo den ganzen Bauchtheil des sympa- 
thicus genan untersuchte. Wir halten uns überzeugt, dass 
' eine solche Untersuchung in Zusammenhang mit dem histo- 
logischen Studium der Beinieren bedeutende Resultate liefern 
und uns nach und nach die Räthsel dieser Organe enthüllen 
würde. 


AAIIAARAAIAASAAARATIINTIANTIENNANAAANSANRAAAAAANAAAASARIIANAAAAAAANAARAARARAN ANA 


Veber eine Modification der Elementär-Analyse 


63 


von 


G. J. MULDER. 


Wer die trefllichen Dienste, welche der sogenannte Kali- 
Apparat von Liebig der Wissenschaft geleistet, zu schätzen 
weiss, hat wohl kaum daran gedacht, dass ein solcher Ap- 
parat je entbehrt werden könne. Bei geringem Umfange und 
unbedeutender Schwere dient er dazu, die Kohlensäure, welche 
die Verbrennungsröhre verlassen hat, und durch Chlorealeium 
getrocknet worden ist, zu absorbiren, und dem Gewichte nach 
kennen zu lehren, während überdiess die Bewegung in der 
Kali-Lauge den Gang der Analyse verräth. | 

Der Apparat hat aber zwei Fehler, deren einer leicht be- 
beseitigt werden kann, während der andere nicht zu ver- . 
meiden ist. 

Ersterer besteht darin, dass man bei N. haltenden Sub- 
stanzen oder bei Anwendung eines Sauerstoffstromes gegen 
das Ende der Verbrennung, eine Röhre mit Kali in Substanz 
anwenden muss, um das von der Lauge verdampfende Was- 
ser fest zu halten. Dieser Fehler ist daher ganz unbedeutend. 

Der andere aber besteht darin, dass man die Verbrennung 
langsam vor sich gehen lassen muss, damit jedesmal nur 
eine Blase Kohlensäure und Luft, oder Kohlensäure und 
Stickstoff, oder Kohlensäure und Sauerstoff durch die Lauge 
hindurch trete und der Kohlensäure auf diese Weise die 
nöthige Zeit zur Aufnahme in die Lauge verbleibe. Sub- 


187 


stanzen, die viel Stickstoff enthalten, erfordern darum eine 
lange Zeit zur Verbrennung, und wenn man sich am Ende 
des Versuches eines Sauerstoffstromes bedient, der bei der 
Verbrennung einer Reihe von Körpern sehr empfohlen zu 
werden verdient, —— wäre es auch nur um die Verbrennungs- 
röhre durch ein reines und trockenes Gas gut zu entlee- 
ren — so tritt bei dem Versuche eine Periode ein, welche 
_ einem jeden Ungeübten Schwierigkeiten macht, im Augen- 
blicke nämlich, wenn kein Sauerstoff in der Verbrennungs- 
röhre mehr gebunden wird, und dieses Gas mithin mit grös- 
serer Geschwindigkeit vorwärts dringt. Bei der grössten 
Vorsorge wird dann noch mitunter der Sauerstoff zu schnell 
entwickelt, und lässt der noch vorhandenen Kohlensäure keine 
Zeit, um in die Kali-Lauge aufgenommen zu werden. 

Diese Schwierigkeit, die ich Jahre lang gekannt und bei 
Anderen beobachtet habe, hat mich auf die Idee gebracht, 
den Kali-Apparat von Liebig bei Seite zu legen, wodurch 
alle Beschwerden auf einmal aufgehoben wurden, ohne dass 
neue Nachtheile an die Stelle getreten wären. 

Es ist ein Vorurtheil, dass die Verbrennung nothwendi- 
gerweise so langsam vor sich gehen müsse, als die Kohlen- 
säure durch den Kali-Apparat aufgenommen werden kann. 
Geschieht die Verbrennung von organischen Substanzen zu 
geschwinde, so kann das Resultat durch die Entweichung 
von Kohlenwasserstoffgas ungenau werden. Es ist aber nicht 
wahr, dass die Verbrennung allein in dem Falle regelmässig 
geschieht, wenn sie so langsam vor sich geht, dass der Kali- 
Apparat im Stande ist alle Kohlensäure aufzunehmen. Ueber- 
diess sind keine Gründe vorhanden, welche verbieten — 
falls man geschwinder verbrennen will — vor dem Gemische 
der organischen Substanz mit CuO eine grosse Kupferoxyd- 
Säule anzubringen, und sie viel länger zu machen, als man 
es gewöhnlich thut. 

Ich setze voraus, dass am Ende des Versuches aus einem 
am hinteren Ende der Verbrennungsröhre angebrachten Ge- 
mische von geschmolzenem chlorsauren Kali mit Kupferoxyd 
Sauerstoff entwickelt werde. Man lasse auf diese Mischung 


183 


eine O,1 m. lange Schichte warmes Kupferoxyd folgen. Dann 
komme die zu untersuchende Substanz, welche ich nun als 
eine feste voraussetze, und weiterhin eine 0,05 m. messende 
Schichte warmes Kupferoxyd. Die Substanz werde nun mit 
dem Kupferoxyde vermittelst eines an seinem Ende korkzie- 
herartig gebogenen Kupferdrahtes gemischt. Nach dieser 
Mischung ziehe man den Draht aus dem Gemische heraus, 
und zwar bis an ihre Grenze nach der offenen Seite der Ver- 
brennungsröhre hin und bringe darauf warmes Kupferoxyd 
in die Röhre, um etwaige an dem Draht anhängende orga- 
nische Substanz zu entfernen. Der Kupferdraht wird nun aus 
der Röhre herausgenommen, und die Röhre weiter mit war- 
mem Kupferoxyde gefüllt und das Ende derselben mit einem 
Propfen von ausgeglühtem Asbest verschlossen. 

Diese Weise der Füllung halte ich für besser als das übliche 
Mischen in einem Mörser, wobei das Kupferoxyd Wasser 
aus der Luft anziehen, und etwas organische Substanz in 
Staubform sich entfernen kann. Durch diese Füllungsweise 
wird das Auspumpen der Verbrennungsröhre mit einer Luft- 
pumpe, um ihren Inhalt zu trocknen, ganz überflüssig, und 
bei der Verbrennung mit einem Sauerstoffstrome am Ende 
des Versuches, ist ein genaues Mischen kein Bedürfniss; 
eine Vertheilung reicht hin. — Eine 0,2 m. starke Schicht 
Kupferoxyd vor dem Gemische der organischen Substanz 
mit Kupferoxyd, lässt ein geschwindes Verbrennen zu, ohne 
dass eine Spur von Kohlenwasserstoff entweicht. 

Wie man bei anderen Körpern zu verfahren hat, braucht 
hier nicht näher angegeben zu werden. 

Es kommt stets darauf an, dass viel Kupferoxyd in der 
Röhre vor der organischen Substanz vorhanden sei, und 
dass man keinen Kanal klopfe, wenn man folgende Methode 
‚anwenden will. 

Man kann nämlich die Kohlensäure in einer festen Sub- 
stanz condensiren, und vermeidet so die Schwierigkeiten, 
welche der Gebrauch einer Flüssigkeit wie die Kali-Lauge 
darbietet. Die Wahl zwischen Natron-Kalk und Kalk mit 
sulphas sodae — welche beide sehr schnell Kohlensäure auf- 


189 
nehmen — ist nicht schwer; Natron-Kalk doch kann man in 
feinen Körnern erhalten und ist sehr zweckentsprechend. Wenn 
ein Strom Kohlensäure mit grosser Geschwindigkeit über 
Natron-Kalk hinstreicht, so entweicht noch keine Spur. 

Wenn man aber bei einer Elementäranalyse die Kohlen- 
säure schnell in einer festen Substanz eondensiren will, so 
muss man auch die Mittel zur Condensation des Wassers aus- 
breiten und eine lange oder eine zweite Röhre zur Conden- 
sation desselben anbringen, welche am besten so eingerichtet 
wird, dass man die Entwickelung der gebildeten Gase’ beur- 
theilen kann. 

Dies wird nun, mit Weglassung von Liebig’s Kali-Appa- 
rat, auf folgende Weise einzurichten sein. 

An die Verbrennungsröhre wird nach üblicher Weise ein 
Chlorealeium-Röhrchen a befestigt, von dem gewöhnlichen 
Diam., aber eher etwas länger; darauf folgt ein U Röhrchen b, 
das mit Bimstein, der mit Schwefelsäure getränkt ist, ge- 
füllt wird; man nimmt am besten soviel Schwefelsäure, dass 
die Biegung unten an der Röhre voll ist, so dass man da- 
durch den Gang der Analyse beobachten kann, ob man 
nämlich zu langsam oder zu geschwinde erhitzt. 

Beide Röhren werden gewogen und dienen zur Wasser- 
stoff-Bestimmung !). Mit dem U Röhrchen b wird eine ge- 


1) Das U Röhrchen, mit Schwefelsäure und Bimstein gefüllt, ist meis- 
tens zur Condensation des Wassers überflüssig; denn sein Gewicht 
nimmt selten zu; es dient aber als Vorsichtsmaassregel angewendet 
zu werden, namentlich für den Fall, dass die Verbrennung zu ge- 
schwind vor sich geht. 

Zur genauen Beobachtung des Gaswandels durch die Schwefel- 
säure, ist est rathsam zweı verengte Stellen in dem U Röhrchen 
anzubringen, und zwar da, wo die geradlinige Röhre anfängt sich 
zu krümmen; dadurch erhält man bei der Füllung des Röhrchens 
mit Bimsten und Schwefelsäure eine gebogene Stelle, welche nur 
Schwefelsäure und mithn keinen Bimstein aufnimmt. Da die 
Schwefelsäure beim Durchtritte der Gase zu schäumen anfängt, so 
thut man wohl daran den Bimsten — nach Hinzufügung der er- 
forderten Quantität Schwefelsäure mit Asbeststopfen abzuschliessen. 


190 


räumige lange U Röhre c in Verbindung gebracht, deren % Theil 
mit Natron-Kalk, % dagegen mit Chlorealeium gefüllt ist; 
letzeres kommt in der U Röhre an der Stelle vor, welche 
am meisten von der Verbrennungsröhre entfernt ist. Die 
Kohlensäure wird in dieser Röhre absorbirt, und das Chlor- 
calcium bindet das Wasser, welches etwa von dem Natron- 
kalke entweichen könnte. Diese Röhre giebt bei der Wägung 
das Gewicht der Kohlensäure. 

Vor dem Versuche werden die drei Röhren «a, b, e, einem 
Sauerstoffstrome ausgesetzt, denn nach dem Versuche sind sie 
alle mit Sauerstoff angefüllt. 

Die Röhre ce wird nun am freien Ende durch ein Röhrchen 
mit Chlorcaleium, das nicht gewogen wird, geschlossen , 
welches die Wasserdämpfe aus der Atmosphäre abhalten 
muss. 

Das Prineip, worauf die Details der Methode beruhen, ist 
hinreichend bekannt; der Gang der Analyse wird nach der 
Bewegung in der Schwefelsäure geregelt; der Natronkalk 
hält die Kohlensäure zurück, wenn die Verbrennung auch 
noch so geschwinde geschieht, und sie kann und darf sehr 
geschwinde vor sich gehen, wenn man darauf achtet, dass 
man viel Kupferoxyd vorne in der Verbrennungsröhre füllt 
(und bei N. haltenden Substanzen überdiess viel Kupfer). 

Auf diese Weise kann man den Versuch, insofern es die 
Erhitzung der Röhre gilt, in einer halben Stunde ablaufen 
lassen, ohne dass man irgend welche nachtheilige Einwir- 
kungen zu befürchten hat. Der Versuch muss so gelingen, 
es sei denn dass die Verbrennungsröhre springt oder aus- 
geblasen wird, was aber leicht vermieden werden kann. 


Das U Röhrchen mit Schwefelsäure und Bimstein kann, wenn es 
nach jedesmaligem Gebrauche mit Caoutchouchütchen verschlossen 
wird, für sehr viele Versuche dienen. Wägt man es für sich, so 
ist sein Gewicht von einem früheren Versuche her bekannt; die 
Wiederholung der Wägung kann immerhin schnell geschehen; man 
kann dann auch die jedesmalige Brauchbarkeit des Röhrchens beur- 
theilen. 


191 


Wer diese einfache Methode einmal kennen gelernt hat, 
wird Liebig’s ausgezeichnetes Kali-Apparat nicht mehr an- 
wenden, ohne darum seine bisherige Leistung geringzu- 
schätzen. 

Man erhitze die Verbrennungsröhre 5 Minuten lang an 
der Stelle, wo keine organische Substanz vorhanden; 15—20 
Minuten verwende man zur Verbrennung der organischen 
- Substanz, und 5 bis 10 Minuten zur Entwicklung des Sauer- 

stoffs, der am Ende des Versuches frei aus dem Apparat 
zum Vorschein tritt. 

Die Röhren a, b und c fertige man aus dünnem Glase an; 
das Gewicht der Röhren a und 5b in gefülltem Zustande sei 
40 Grmm., das von c 60 Grmm !}). 


1) Hierbei verdient folgende öconomische Regel empfohlen zu werden. 
Ich setze voraus, dass in der U Röhre, welche die Kohlensäure ab- 
sorbirt, 40 Gramm Natronkalk vorhanden sei. Diese Menge kann 
ungezweifelt, auch wenn man das Wasser in Rechnung bringt, wel- 
ches stets den Natronkalk begleitet, 10 Gramm. Kohlensäure auf- 
nehmen, Eine Elementäranalyse giebt nun in der Regel & 0.5 
Gramm. Kohlensäure. Mithin hat man 19 mal die zur Aufnahme 
derselben erforderliche Menge Natronkalk. — Man muss sich hierbei 
jedoch vor Ueberschätzung hüten, wenn man keine Kohlensäure 
verlieren will. 

Dieselbe Natronkalk-Röhre kann jedoch bei Inachtnehmung fol- 
gender Vorsichtsmaassregel öfter gebraucht werden. Zum erstenmale 
gebrauche man nur eine solche Röhre; das zweitemal aber füge man 
eine zweite hinzu. Diese Vorsichtsmaassregel kann aber überflüssig 
erscheinen, denn die zweite Röhre verändert aus bekannten Grün- 
den ihr Gewicht nicht. Man wiederhole mit diesen zwei Röhren 
nun den Versuch zum dritten, vierten Male, kurz so lange bis an 
der zweiten Röhre eine Gewichtszunahme bemerkbar wird. 

So kann man mit drei Natronkalk-Röhren, welche die oben er- 
wähnte Menge an Natronkalk enthalten, 5—10 und mehr Elemen- 
täranalysen ausführen. 

Das Gewicht der einmal gewogenen Röhre ist bekannt und er- 
leichtert somit die Wägung bei einer folgenden Analyse; die zweite 
Röhre wägt man nach der Verbrennung ohne grossen Zeitverlust, 
indem man ihr bekanntes Gewicht auf die andere Schale legt. 


192 : 


Wenn Jemand so sehr an der üblichen Methode halten 
möchte, dass er nach Lesung dieser Mittheilung sich geneigt 
fühlte, die vorgestellte Vereinfachung zu verwerfen, so möchte 
ich ihm doch den Rath ertheilen, sie wenigstens zu prüfen. 


Jetzt wo der Kali-Apparat entbehrlich wird, ist es möglich 


geworden die Elementär-Analyse einem Jeden anzuvertrauen, 
der im Stande ist eine Verbrennungsröhre einem Kohlen- 
feuer auszusetzen, ohne dass sie gesprengt oder geschmolzen 
wird, oder der, wenn man will, im Stande ist bei dem 
Gebrauche von Gasflammen successiv nach gegebener Zeit 
die Gashähne zu öffnen. Die beängstigende Sorge, dass die 
Kohlensäure in aufeinanderfolgenden Gasblasen entwickelt 
und in den Kali-Apparat geführt werde, ist verschwunden, 
und alles ist redueirt auf das langsam von vorne nach hinten 
Erhitzen einer gläsernen Röhre. Man kann so leicht in ei- 
ner Stunde vier Elementär-Analysen ausführen , oder sie auch 
irgend einem Diener anvertrauen, wobei nur folgende An- 
weisung gegeben werden muss: man halte das Vorderende 
der Röhre gut warm, und erhitze regelmässig fortschreitend 
das Ganze 30 Minuten lang, 45 Minuten oder so lange 
man will. 

Die mitgetheilte Modification der Elementäranalyse, welche 
sehr genügende Resultate in der Anwendung gegeben hat, 
hat ihr Entstehen nicht einem Verlangen nach Eile mit Ver- 
nachlässigung der Genauigkeit zu verdanken; nein ich wollte 


Nach jedesmaligem Gebrauche werden die Röhren mit Caoutchouk- 
hütchen verschlossen. 

Wer das angegebene Gewicht der Natronkalkröhren für seine Wage 
zu schwer achtet, kann leichtere Röhren nehmen, oder mehrere, jedes- 
mal zwei, und beseitige dıe erste nach jedem Versuche, während die 
zweite dann bei der nächstfolgenden Analyse als erste gebraucht wird. 
Auch kann er eine viel kleinere und leichtere mit Natronkalk ge- 
füllte Röhre als Sicherheitsmaassregel mit der grösseren U Röhre 
verbinden; doch auf mancherleı Weise kann man hier zweckmäs- 
sige Einrichtungen erhalten, wenn man nur dafür sorgt, dass man 
viel überflüssigen Natronkalk habe, damit ja keine Köhlensäure 
verlustig gehe. 


195 


mir mehr Gewissheit mit Beibehaltung derselben Genauigkeit 
verschaffen; ungefordert hat sich die grössere Eile zu der 
grösseren Gewissheit gefügt, während die Genauigkeit in 
keiner Hinsicht derjenigen nachsteht, welche bei einem gut 
verlaufenden Versuche mit einem Liebigschen Kali-Apparat 
erhalten wird. 

Es wird wohl keiner näheren Auseinandersetzung bedür- 
fen, um zu zeigen, dass die Methode allgemein Anwendung 
finden kann, und dass die Geschwindigkeit der Erhitzung 
nicht beschränkt wird durch -Nachtheile, welche man zu 
befürchten hätte von unvollkommener Condensirung von Koh- 
lensäure und Wasser, sondern von guter Zerlegung der brenn- 
baren Producte, und bei N. haltenden Substanzen von der 
Zerlegung des sich bildenden deut-oxydum azoti. Ersteres 
erreicht man durch Anwendung von vielem Kupferoxyde vor 
der organischen Substanz in der Verbrennungsröhre, Letzte- 
res durch Anwendung von vielem Kupfer. 

Aber auch für denjenigen, welcher längere Zeit auf das 
Erhitzen der Verbrennungsröhre verwenden möchte, bleiben 
die Vortheile dieselben. 

Durch diese Methode ist, wie ich glaube, die Elementär- 
analyse auf einen einfachen chemischen Versuch redueirt, der 
stets gelingen muss, und den man nur einmal gesehen zu 
haben braucht, um ihn nachzuahmen. Die Schwierigkeiten 
sind ganz und gar auf das Wägen und die Erhaltung der 
Verbrennungsröhre — d. h. Vermeiden von Sprengung und 
Schmelzung — redueirt. | 

Es ist eine auffallende Erscheinung, dass wir das kräftige 
Vermögen von Natronkalk um Kohlensäure zu absorbiren, 
Jahre lang gekannt haben; dass wir alljährlich während der 
Vorlesung kräftig in eine Natronkalkröhre geblasen haben, 
um zu zeigen, dass Kalkwasser nicht mehr durch die aus der 
köhre tretenden Gase getrübt werde, auch wenn man noch 
so schnell blies; dass wir sogar in vielen Fällen Natronkalk 
zur Aufnahme von Kohlensäure anwendeten, und dass dem- 
ungeachtet Niemand auf den Gedanken kam, den Kali- 
Apparat durch eine Röhre mit Natronkalk zu ersetzen. — 

IR. 13 


194 


So sind wir auch in der Wissenschaft durch die Gewohn- 
heit geknechtet. 

Jetzt aber, nun ich weiss, dass die Bewegung eines Gases 
durch eine Flüssigkeitsschicht in einer U Röhre beobachtet 
werden kann, kenne ich keinen Fall mehr, in dem auch 
abgesehen von der Elementäranalyse, der Kali-Apparat den 
Namen des besten Instrumentes verdiene. 


u — ee 


Eine kleine Modification in dem Gas-ofen zur Erhit- 
zung der Röhren bei Elementär-Analysen u. Ss. w. 


* 
von 


G. J. MULDER. 


— ZZ > 


Bei der Erhitzung von Glasröhren durch eine Gasflamme 
2. B. bei der Elementäranalyse hat man eine grosse Schwie- 
rigkeit zu bekämpfen, nämlich um eine genügend heisse und 
ruhige Flamme zu erhalten. Die Röhren springen öfter oder 
‚dehnen sich aus, die Flamme wird durch Zugwind hin und 
her bewegt, kurz allerlei Unregelmässigkeiten werden beo- 
bachtet. 

Eine kleine Modification des Ofens hat mir diese unan- 
genehmen Störungen beseitigen helfen. 

Die Flamme tritt durch metallisches Gas hindurch als ein 
Gemisch von brennendem Gase mit atmosphärischer Luft, 
indem man auf die bekannte Weise eine Reihe Hähne einen 
nach dem anderen öffnet; je mehr Hähne um so besser. 

Auf beiden Seiten der Flamme, ungefähr auf der Mitte 
ihrer Höhe, sind zwei eiserne Stäbchen angebracht, welche 
vom Anfange des Gasofens bis an ihr Ende verlaufen. 

Auf diesen Stäbchen ruhen hier und da eiserne Bändchen , 
welche eine eiserne Rinne tragen, auf welcher die Verbren- 
nungsröhre ruht. Die Rinne umgiebt nur den 3 Theil der 
Verbrennungsröhre und liegt mitten in der Flamme. 

So ist das Springen und Ausgedehntwerden der Röhren 
unmöglich gemacht. 


196 


Um nun eine hinreichende Hitze zu erhalten, sind Stücke 
Eisenblech so gebogen worden, dass sie die Form einer 
halben Röhre erhalten haben. Oben auf dem Dache dieser 
halben Röhre ist eine spaltförmige Oeffnung gemacht. Diese 
Art von Reverberes werden eine nach dem anderen, je 
nachdem man mit der Erhitzung fortschreitet, über der Ver- 
brennungsröhre gesetzt. Sie ruhen mittelst seitlich ange- 
brachter Eisenstückehen auf den zwei eisernen Stäbchen; die 
erstere ist vorne mit einem Plättehen versehen , um die Flamme 
abzuschliessen und ihre Einwirkung auf den Korkstopfen zu 
verhindern. 

Die halbröhrenförmigen Reverberes ruhen mit ihren ge- 
genseitigen sich berührenden Rändern aufeinander, so dass. 
sie alle, mit Ausnahme der ersten, nur zweier Stützpunkte 
bedürfen; die erste hat deren dagegen vier. Sind sie alle 
aufgelegt, so bilden sie einen halben hohlen Cylinder, wel- 
cher die ganze Röhre in einer gewissen Entfernung von oben 
bedeckt. 

Die Flamme spielt nun um die Röhre herum; sie ist ruhig, 
weil sie gedeckt ist; sie glüht die Röhre sehr gut und ent- 
weicht durch die auf dem Dache des halben Cylinders ange- 
brachten spaltförmigen Oeffnungen, durch welche man, wenn 
man will, auch die Röhre beobachten kann. 

Auf diese Weise ist jedem Unglücke vorgebeugt; so erhält 
man eine gute Hitze, hell rouge cerise; so ist die Flamme 
viel weniger hinderlich, und was nicht ganz gleichgültig ist, 
so bieibt die Röhre ganz unverletzt, so dass man sie so oft 
gebrauchen kann, als man will. 

Wer einen zur Elementäranalyse eingerichteten Gasofen 
besitzt, bedarf, wenn er keinen Schlosser zu Hülfe rufen 
will, nur des Eisenbleches und einer Scheere, um Sich selbst 
das oben Beschriebene anzufertigen. 

Diese einfache Vorrichtung hat sich .sehr gut erprobt, so 
dass ich sie einem Jeden wohl empfehlen kann. ; 


Ueber die Wirkung der Musculi intercostales. 


von 


A. H SCHOEMAKER. 


Di Wirkung der Museculi intercostales ist von der ältesten 
Zeit her.auf verschiedene Weise aufgefasst worden. Später 
wurde sie ein Gegenstand heftiger Polemik zwischen Ham- 
berger und Haller. 

Während Hamberger auf mathematische und mechanische 
Grundregeln fussend darzuthun versuchte, dass die Museuli 
intercostales externi Rippenheber und somit Einathmungsmus- 
keln, die interni dagegen Ausathmungsmuskeln seien, da 
sie die Rippen nach unten hin bewegten, vertheidigte Haller 
die Ansicht, dass sowohl ex- als interni Einathmungsmuskeln 
seien und stützte sich dabei auf eine Anzahl Versuche, wel- 
che bestimmt waren Hamberger's mathematische Beweise 
zu widerlegen, so wie auch auf die grössere Festigkeit der 
ersten Rippen. 

Haller fand die meisten Anhänger, obgleich Hamber- 
ger’s Lehre durch Haller’s Versuche nicht widerlegt heis- 
sen konnte. 

Hutchinson!) hat in neuerer Zeit die Lehre Hamber- 
ger’s wiederum vorgetragen, und Hamberger’s mathema- 
tischen Beweis mehr entwickelt und verdeutlicht. Donders 
und Ludwig haben sich auch Hamberger angeschlossen , 


1) Cyelopaedia of Anatomy, part. XXXVII und XXXIX. 
n. 14 


198 


sodass die Aufmerksamkeit der Physiologen wiederum mehr 
auf diesen Punkt hingelenkt worden ist. 

Merkel!) sagt, dass die Wirbelsäule bei tiefer Einath- 
mung convexer wird. Meissner behauptet dagegen in sei- 
nem Jahresbericht von 1856, dass die Wirbelsäule bei tiefer 
Einathmung mehr gestreckt wird. Für das Brust-Athmen 
ist Meissner’s Ansicht ganz richtig, für das Bauch-Athmen 
gilt sie aber nicht mehr, sondern hier tritt Merkel’s Behaup- 
tung mit vollem Rechte auf. Denn wenn man so tief als 
wöglich mit dem unteren Theile der Brust einathmet, so wird 
die Wirbelsäule wirklich etwas convexer und dadurch der 
Durchmesser von hinten nach vorne etwas grösser. Merkel 
hat dies aber nicht ganz klar auseinandergesetzt. 

Merkel handelt sehr weitläufig über die Wirkung der 
Intercostalmuskeln. 

Zuerst macht er die Bemerkung, dass die Rippen nicht 
direet gehoben werden können, sondern dass, sowie sie durch 
irgend welche Kraft gehoben werden, ein jeder Punkt der 
Rippe, von dem Winkel an gerechnet, einen nach oben und 
aussen gerichteten Kreisbogen durchlaufen muss. Weiter sagt 
er, dass für die gewöhnliche Ausathmung keine Muskelwir- 
kung erfordert wird. Das kann doch wirklich nicht als Be- 
weis gegen Hamberger’s Lehre gelten. Ueber die Wirkung 
der externi stimmt Merkel ganz und gar mit Hamberger 
überein. Die Wirkung der externi ist nach ihm dieselbe 
wie die der interni, nur mit dem Unterschiede, dass die 
Richtung der Kraft eine entgegengesetzte ist. 

Vergebens habe ich in Merkel’s weitläufiger Abhandlung 
einen Beweis für diese Meinung gesucht. 

Meyer?) lehrt, dass die Rippen vermittelst zweier Ge- 
lenke mit der Wirbelsäule verbunden sind, welche nur eine 
Achse gemein haben; hierdurch werden die beiden Gelenke 
gleichsam auf eines reducirt, das nach seinem Hauptcharakter 
als Drehgelenk aufzufassen ist mit dem lig. cap. costae in- 


1) Anat. und Phys. des menschl. Stimm- und Sprachorgans, S. 7. 
2) Lehrbuch der physiologischen Anatomie des Menschen, 1856, S. 66, 


199 


termedium als „Spitzenband.” Ueber die Wirkung der Muskeln 
sagt Meyer Folgendes. Unter gewissen Umständen können 
die beiden Lagen der schiefen Thoraxmuskeln die Brusthöhle 
erweitern, da die Rippen zwischen sie eingefügt sind. Wenn 
aber das Becken fixirt ist, können sie auch die Rippen nach 
‚unten hin bewegen. 

Meyer’s Angaben sind, wie mir scheint, zu unbestimmt, 
- um sie näher der Kritik zu unterwerfen. 

Helmholtz theilt in den „Verhandlungen des Naturhisto- 
rischen Vereins der Preussischen Rheinlande und Westpha- 
lens (1856)’ folgendes Hierhergehörige mit. 

Jede Rippe ist vermittelst zweier Gelenke mit der Wir- 
belsäule verbunden, und dreht sich um eine durch die bei- 
den Gelenke bestimmte Achse, sowie sie von dem Brustbeine 
getrennt ist. Diese Achse ist von innen und vorne nach 
hinten und aussen gerichtet. | 

Da nun die vorderen Rippen-Enden alle niedriger gelegen 
sind als die hinteren Befestigungspunkte, so muss sich bei 
jeder Drehung das vordere Ende der Rippe, während es nach 
oben bewegt wird, von der Mitte des Körpers und dem Brust- 
beine entiernen. Solange nun die Rippen fest mit dem Brust- 
beine verbunden sind, können sie sich nicht davon entfer- 
nen, und desshalb können sie nur nach oben gehoben werden, 
wenn sie sich zu gleicher Zeit mit ihren Knorpeln beugen. 
Wenn man weiter das Brustbein zwischen je zwei Rippen 
durchsägt, so erhält man Rippenringe, die an der Wirbelsäule 
nur durch Gelenke verbunden sind; sie können sich aber in 
diesen Gelenken nicht frei bewegen, sondern haben vielmehr 
einen Gleichgewichtszustand, in welchen sie stets zurück- 
kehren, wenn sie aus demselben, es sei nach oben oder 
nach unten herausgebracht worden sind. 

Die Elastieität der oberen Rippen ist am grössten, nach 
unten hin nimmt sie stets ab. Der Brustkasten kann mithin 
als aus elastischen Stäben zusammengesetzt betrachtet wer- 
den, deren jeder seinen Gleichgewichtszustand hat, den er 
bei der Einathmung in Folge von Muskelwirkung verlässt, 
um bei der Ausathmung von selbst darin zurückzukehren. 

14 * 


200 


Beim ruhigen Athmen scheint das Ausathmen nur durch das 
Nachlassen der Einathmungsmuskeln bewirkt zu werden ; 
der Austritt der Luft wird durch die Verengung der Stimm- 
ritze noch erschwert, um das Ausathmen zu verlangsamen. 

Wegen der Beugsamkeit der Rippen kann der Brustkasten 
beim Einathmen sehr verschiedene Formen annehmen. 

Hieraus schliesst Helmholtz, dass die Museuli intercostales 
externi bei der respiratio thoracica, die interni bei der res- 
piratio abdominalis wirken. 

Diese kurze Mittheilung von Helmholtz ist nach meiner 
Meinung die beste über unseren Gegenstand. Hier doch wird 
zum erstenmale beim Erklären der Muskelwirkung auf zwei 
Typen der Respiration Acht gegeben. Später werde ich dar- 
thun, dass solches unerlässlich ist. 

Meissner!) glaubt sich vorläufig aus folgenden Gründen 
gegen Hamberger’s Lehre erklären zu müssen, 

Die Musculi intercostales externi, sagt Meissner, sind 
durch die Richtung ihrer Fasern für das vordere Ende der 
Rippen, was die externi für das hintere Ende sind. Der 
einfache Beweis von Hamberger kann hier direct seine 
Anwendung finden. Weiter behauptet er, dass die intercos- 
tales interni zwischen den Rippenknorpeln nicht nur stärker 
werden, sondern dass: sie sogar daselbst aus zwei Lagen 
zusammengesetzt sind. Bei guter Entwickelung des Muskel- 
systems hat es sogar keine Schwierigkeit, diese beiden 
Lagen gesondert darzustellen. 

Letzteres kann ich Meissner ohne weiteres nicht zugeben. 
Die intercostales interni werden wohl zwischen den Rippen- 
knorpeln verstärkt, aber zwei Lagen habe ich auch bei der 
sorgfältigsten Präparation nie trennen können. Dies ist mir 
sogar an einer sehr musculösen Leiche misslungen, deren 
beide M. pectorales auf dem Brustbeine mit einander ver- 
wachsen waren, während auf beiden Seiten der linea alba 
dicke Muskelbündel nach dem m. pect. abgingen. 


1) Jahresbericht, 1856, S. 490 u. s. w. 


201 


Henle'!) sah auch, dass die M. intere. intern. zwischen den 
Rippenknorpeln verstärkt werden, dass sie aber nicht scharf 
und regelmässig genug getrennt sind, um zwei Lagen an- 
nehmen zu können. 

Zweitens behauptet Meissner, dass die M. intere. interni 
gerade da fehlen, wo sie die Rippen nach unten bewegen 
würden, nämlich an dem hinteren Theile bis an die anguli. 
Diese beiden Facta — das Stärkerwerden, wo sie die Rippen 
- heben, und das Fehlen, wo sie die Rippen nach unten bewegeu 
würden, — stimmen Meissner gegen die Lehre von Ham- 
berger. Meissner verspricht hierauf noch zurückzukonmmen. 

Ziemssens ?) uutersuchte unsere Muskeln an einem gut 
gebauten Individuum, bei dem der M. pectoralis minor und 
die portio sterno-eostalis des peetoralis major fehlten, so dass 
die oberen Zwischenrippenräume gut untersucht werden konn- 
ten. Bei jeder Einathmung sanken die Zwischenrippenräume 
viel tiefer ein und erreichten bei dem Ausathmen wiederum 
das Niveau der Rippenfläche. Er überzeugte sich, dass bei 
jedesmaligem Einsinken während des Einathmens die untere 
Rippe nach oben geführt wird. Bei tieferm Einathmen san- 
ken die Zwischenräume anfangs ein, erreichten aber später 
wiederum das Niveau der Rippenfläche, und man konnte 
deutlich die Zusammenziehung der M. interni fühlen. 

Wenn Ziemssens die unterste Rippe so stark wie möglich 
durch Fingerdruck nach unten hin bewegte, und zu gleicher 
Zeit die Muskeln in den Intercostalräumen heftig reizte, so 
konnte er nicht bemerken, dass die höher gelegenen Rippen 
sich nach unten hin bewegten; der drückende Finger wurde 
vielmehr nach oben hin geführt.‘ Vermittelst eines starken 
Stromes könnte Ziemssens den Widerstand der lig. corus- 
cantia bewältigen und so auf die M. intercartilaginei einwir- 
ken. Ihre Zusammenziehung bewirkte ein geringes Heben 
der nach unten gelegenen Rippe. Diese Beobachtung beweist 
aber nichts gegen die Lehre von Hamberger. 


Dr Anat. 3 Abth., S. 97: 
2) Die Electricität in der Mediein, Augsburg 1857. 


202 


Budge!) fängt seinen Aufsatz mit einer nicht sehr wahr- 
heitsgetreuen historischen Einleitung an. Er stellt sich vor- 
die Wirkung der Intercostalmuskeln 

A. auf physikalischem 
und B. auf experimentellem 
Wege zu erklären. Diese beiden Wege bewandelt B., so 
lange seine Theorie dadurch gestützt wird, äusserst langsam 
und ruhig, viel bewegt werden aber seine Läufe und Sprün- 
ge, wo ihm Hindernisse in den Weg treten. 

Budge geht von der Zusammenziehung der Muskeln aus 
und will danach die Bewegungen bestimmen. Dies ist aber 
falsch, denn um die Muskelwirkung zu bestimmen, muss 
man ja von den Bewegungen ausgehen. 

Budge bildet Hamberger’s Schema ab nnd setzt es aus- 
einander, um daran zu beweisen, dass es nicht auf die 
Rippen angewendet werden kann. Er nimmt weiter als be- 
wiesen an, dass die Rippen sich um eine Axe drehen, wel- 
che das capitulum und das vordere Ende des Rippenknorpels 
mit einander verbindet. Nur durch das Nichtberücksichtigen 
der Verbindung der Rippen mit den proe. transversi der Wirbel, 
wird es begreiflich wie B. zu dieser hypothetischen Axe kommt, 
worauf er nun ohne Weiteres seine Beweisführung stützt. 

Budge erwähnt weiter, dass die Rippen von oben nach 
unten an Beweglichkeit gewinnen und erinnert daran mit 
welchem Nachdruck Haller schon darauf hingewiesen habe. 
So wahr dieses Factum auch ist, so widerlegt es darum doch 
Hamberger’s Lehre nicht, denn wenn man annimmt, dass 
die obere Rippe unbeweglich ist, so wird ein Muskel bei 
seiner Zusammenziehung, wie auch die Richtung seiner Fasern 
sein möge, die untere Rippe stets nach der darüber gelege- 
nen hin bewegen, dann wird aber zu gleicher Zeit der In- 
tercostalraum kleiner. 

Dasselbe kann statt finden, wenn die obere Rippe auch 
nicht gerade unbeweglich ist, doch weniger leicht sich be- 
wegt als die nach unten darauffolgende. 


1) Archiv f. physiol. Heilk., 1857, H. 1. 


nr a u A an Er en A 


203 


Da nun bei dem Brustathmen, das Budge allein berück- 
sichtigt, die Zwischenrippenräume durch das Heben der Rippen 
grösser werden, so ist es klar dass Hamberger’s Beweis 
durch die grössere Unbeweglichkeit der oberen Rippen nicht 
widerlegt werden kann. 

Budge fragt nun weiter, ob mit dem Heben oder Senken 
der Rippen eine Zusammenziehung von irgend einer Lage der 
- Intereostalmuskeln gepaart gehen muss, um wie er sagt „die 
Probe auf das Exempel zu machen.” Obgleich er zugeben 
muss, dass die interni beim Einathmen länger werden, so 
nimmt er doch seine Zuflucht zu Beispielen, welche darthun 
sollen, wie Muskeln kürzer werden können, ohne wirksam 
zu sein und wie dagegen wiederum Muskeln länger werden, 
während sie doch zu gleicher Zeit wirksam sind. Diese 
Beispiele sind aber unglücklich gewählt und nichts beweisend. 

Der rigor mortis fungirt als Beispiel für verkürzte und 
doch nicht organisch wirkende Muskeln! Ein durch Faeces 
ausgedehntes Stück Darm stellt die verlängerten und doch 
zu gleicher Zeit wirksamen Muskeln vor! 

Bei der experimentellen Beweisführung führt uns Budge 
Versuche vor, welehe denen von Haller ähnlich sind. Nach 
Wegnahme der M. externi kann man bei jeder Einathmung 
die Zusammenziehung der M. interni und das Kleinerwerden 
der Zwischenrippenräume sehen. Die Beobachtung ist rich- 
tig, beweist aber mehr gegen als für Budge, wie ich wei- 
ter unten darthun werde. 

Henle!) hält eine abwechselnde Wirkung der Intercostal- 
muskeln für unmöglich, wegen der Analogie mit den Bauch- 
muskeln, der Vertheilung der Nerven, vorzüglich aber wegen 
der Schwierigkeiten, welche die Zusammenziehung der einen 
Muskellage ohne die andere darbieten würde. Bei Leichen 
sah Henle die intercostales externi und interni abwechselnd 
erschlaffen, wenn man die Rippen nach oben oder nach un- 
ten bewegt; erstere bilden dabei Erhabenheiten nach aussen, 
letztere nach innen. — Dieses abwechselnde Erschlaffen der 


1) Anat. Abth. 3, S. 100 u. s. w. 


204 


externi und interni scheint mir aber viel mehr für als gegen 
eine abwechselnde Wirkung dieser Muskeln zu sprechen. Die 
Erhabenheiten nach innen, die der Respiration störend in den 
Weg treten würden, können im Leben wegen der grösseren 
Blastieität des lebenden Muskels nicht sehr bedeutend werden. 

Henle glaubt weiter, dass Hamberger’s Theorie darin 
fehlt, dass er das Heben und Senken der Rippen und das 
Ein- und Ausathmen als untrennbare Begriffe mit einander 
verbindet, da man doch bei geschlossener Nase und Mund die 
Rippen nach oben und unten bewegen und somit die Form 
des Brustkastens verändern kann, ohne gleichzeitige Verän- 
derung seiner Capaeität. Henle vergisst hierbei die gerin- 
gere Spannung der in den Lungen enthaltenen Luft bei dem 
Einathmen und die grössere bei dem Ausathmen in Rechnung 
zu bringen. 

Henle sagt weiter, dass unsere Muskeln dazu bestimmt 
sind, dem Drucke der Luft von aussen bei dem Einathmen, 
und dem Drucke, womit die Luft beim Ausathmen ausge- 
trieben wird, Widerstand zu leisten. „Die Natur,” so lesen 
wir bei ihm, „hat nirgends dem Bindegewebe oder dem elas- 
tischen Gewebe die Rolle anvertraut, einen dauernden Wi- 
derstand zu leisten.” | 

Henle bemerkt ganz richtig, dass die durch Zusammen- 


ziehung der Intercostalmuskeln hervorgerufene Bewegung der 


Rippen von ihrer relativen Beweglichkeit abhängt. Diese 
Beweglichkeit lässt er von der ersten bis zur sieb@nten Rippe 
abnehmen und von da wiederum zunehmen. Dies findet 
man so an den von dem Brustbeine losgelösten Rippen. So 
lange die Rippen aber in ihrer natürlichen Verbindung ver- 
harren, nimmt die Beweglichkeit von oben nach unten zu. 
Bei der Erklärung der Muskelwirkung kommt aber haupt- 
sächlich Letzteres in Betracht. Henle nimmt auch an, dass 
die oberste Rippe sich bei tieferm Einathmen nach oben, die 
unterste dagegen nach unten bewegen würde. Dies geschieht 
aber nie zugleich, denn bei tiefem Brusteinathmen werden 
alle Rippen nach oben, bei tiefem Baucheinathmen dagegen 
nach unten bewegt. 


205 


Meissner !) kommt seinem Versprechen gemäss auf unse- 
ren Gegenstand zurück. Er bemüht sich eine neue Theorie 
zu geben und zu vertheidigen. Sie wird folgendermaassen 
entwickelt: Die Zwischenrippenräume werden während der 
Respiration bei dem Heben der Rippen grösser. Das Schema 
von Hamberger scheint nun zu lehren, dass dabei nur 
Verlängerung der M. interni möglich ist; andere Gründe spre- 
chen dafür, dass diese Muskeln bei dem Einathmen wirksam 
_ sind. Ganz richtig bemerkt Meissner weiter, dass man 
eine gute Vorstellung von der Bewegung der Rippen haben 
muss. Es kommt dabei, wie er meint, vorzüglich auf die 
zwei folgenden Momente an: Während des Ausathmens lie- 
gen die Rippen näher an einander, als die natürliche Länge 
der nicht wirksamen Muskeln erheischt; sie sind während 
der Exspiration nicht gespannt, sondern schlaff. Dies findet 
vorzüglich an dem seitlichen Umfange und bei den mittle- 
ren und unteren Rippen statt. In diesem Zustande würde 
durch eine Zusammenziehung der intercostales gar keine Be- 
wegung der Rippen zu Stande kommen, sondern der Kraft- 
verbrauch würde dadurch verloren gehen, dass nur die Wand 
der Intercostalräume stärker gespannt wird. Es ist nach 
meinem Dafürhalten nicht richtig anzunehmen, dass diese 
Muskeln während des Ausathmens schlaff sind, weil ein Mus- 
kel im lebenden Zustande nie schlaff ist, sondern immer et- 
was vermittelst seiner Elastieität wirkt. Hieraus folgt, dass 
auf jede Muskel-Zusammenziehung, wie gering sie auch sein 
möge, eine Bewegung der Rippen folgen müsse, welche dem 
Grade der Zusammenziehung proportional ist. 

Weiter sagt Meissner, dass die Rippen sich bei dem Ein- 
athmen nicht alle zugleich bewegen, sondern dass die Bewe- 
gung an der ersten Rippe anfängt, und so weiter auf die 
nächstfolgenden Rippen übertragen wird. Hierdurch wird jede 
höher gelegene Rippe ein fester Punkt für die zunächst dar- 
auffolgende. Der Zwischenrippenraum wird grösser durch 
das Heben der oberen Rippe, während die daruntergelegene 


1) Jahresbericht 1857. 


206 


noch im Ruhezustande verharrt. Dieses Grösserwerden nennt 
Meissner passiv im Gegensatze zu Hamberger’s Schema, 
wobei der Zwischenrippenraum durch Zusammenziehnng der 
externi grösser wird. Durch dieses passive Grösserwerden 
können die M. intercostales interni auf ungezwungene Weise, 
wie Meissner sagt, als Hebemuskeln auftreten. 

Durch all Dieses beweist Meissner nur, dass jede hö- 
hergelegene Rippe zum festen Punkte wird für die zunächst 
darauffolgende. Dieser Beweis widerlegt aber durchaus nicht 
die Lehre von Hamberger. Denn Meissner möge das 
Grösserwerden der Zwischenrippenräume betrachten, wie er 
will, activ oder passiv, so kann er doch nicht läugnen, 
dass die Anheftungspunkte der interni von einander ent- 
fernt und mithin diese Muskeln länger werden. Nun ist es 
zwar wahr, dass Muskeln wirken können, auch wenn sie 
länger werden, wenn nur die Last grösser wird; hiervon 
spricht Meissner aber gar nicht. 

Meissner legt weiter für seine Theorie grossen Werth 
darauf, dass zwei Punkte, welche beim Ausathmen einander 
gegenüber liegen, beim Einathmen in Beziehung zu einander 
einen solchen Ortswechsel erfahren, dass der Punkt der un- 
teren Rippe mehr nach vorne bewegt wird. Dies wird durch 
die fortwährende Zunahme der Neigung der Rippen von oben 
nach unten bewirkt. Durch diesen Ortswechsel wird die 
Faserrichtung der interni mehr vertical, und dadurch wird 
die Richtung ihrer Zusammenziehung günstiger. — Letzteres 
ist in jeder Rücksicht ganz richtig. Doch wir müssen nicht 
vergessen, dass, während die Richtung der Zusammenziehung 
günstiger wird, doch die Ursprungs- und und Anheftungs- 
punkte von einander entfernt und somit die Fasern länger 
werden. Wir sehen somit, dass auch diese Theorie nicht 
unbedingt angenommen werden kann. 


Will man die Wirkung von Muskeln, wo dieselben auch 
vorkommen, richtig beurtheilen, so muss man die Bewegungen, 


EEE EN 


207 


welche ausgeführt werden, genau kennen. Ein Muskel übt 
nicht stets jedmögliche Wirkung aus, zu der er befähigt 
scheint. Die Beweglichkeit der bewegten Theile, ihre Bieg- 
samkeit, die Mitwirkung von Muskeln, die Gegenwirkung 
von anderen üben einen grossen Einfluss darauf aus. Darum 
muss man, wenn man die physiologische Wirkung der Mus- 
keln studiren will, stets von den Bewegungen ausgehen, und 
dann zusehen, welche Muskeln an diesen Bewegungen Theil 
nehmen. 

Um die Bewegungen zu begreifen, muss man die Theile 
kennen, welche bewegt werden und vorzüglich die Gelenke, 
in welchen die Bewegungen statt finden. Auch die Biegsam- 
keit und die Elastieität dieser Theile kommen dabei in Be- 
tracht. 

Wollen wir daher zur Kenntniss der Wirkung der M. in- 
tercostales gelangen, so müssen wir erstens die Theile be- 
trachten, welehe bewegt werden, ihre Gelenke, ihre Bieg- 
samkeit , ihre Elastieität ; zweitens die Bewegungen und drittens 
die Muskelwirkung bei diesen Bewegungen, in unserem Falle 
natürlich die der M. intercostales. 


Die Theile welche bewegt werden, sowie ihre Gelenke, 
Biegsamkeit und Elastieität können wir als bekannt voraus- 
setzen. Nur muss ich hinzufügen, dass ich Helmholtz’s 
Angabe über die grössere Elastieität der Rippen bei Frauen 
im Verhältniss zu den männlichen bestätigt fand. Auch fand 
ich, dass die Biegsamkeit der Rippen von oben nach unten 
zunimmt. 


Die Bewegungen der Brustwirbelsäule, welche uns hier am 
meisten interessiren, sind das Strecken und Beugen. Die 
nach hinten eonvexe Brustwirbelsäule kann ohne Schwierig- 
keit in einen geraden, aber auch in einen einigermassen nach 


208 


hinten gebogenen Stand versetzt werden. Die Beugung nach 
vorne wird beschränkt vorzüglich durch die Kürze der lig. in- 
tervertebralia an der vorderen Seite in Beziehung zur Höhe der 
Wirbelkörper. Die Rippen können auch einigermaassen dazu 
beitragen, um eine ansehnliche Beugung nach vorne zu ver- 
hindern. Das Drehen der Brustwirbelsäule um ihre Axe, 
wird durch den vertikalen Stand der proc. artie. verhindert. 
Den Einfluss des Beugens und Streckens der Brustwirbelsäule 
auf die Bewegung der Rippen müssen wir später behandeln. 


Bewegungen des Brustbeines. Abgesehen von denjenigen, 
welche in Folge der Rippenbewegungen auftreten, müssen 
wir folgende unterscheiden. Zwischen dem manubrium und 
corpus sterni kann, so lange diese beiden Theile noch nicht 
verwachsen sind, eine Streckung und Beugung Statt finden. 
Bei Kindern kann man diese Streekung und Beugung leicht 
beobachten. Der processus xyphoideus kann sehr leicht nach 
aussen und innen gebogen werden. 


Bewegungen der Rippen. Um diese zu kennen, muss erst 
die Axe dieser Bewegungen bestimmt werden. 

Meissner bestimmte die Axe an Rippen, die von dem 
sternum losgetrennt waren. Dies ist sehr leicht; ich habe es 
auch zuerst so versucht. Nachdem die Knorpel der wahren 
Rippen nahe an ihrer Befestigung am sternum, die der fal- 
schen nahe an ihrer gegenseitigen Vereinigungsstelle getrennt 
waren, liess ich sie alle möglichen Bewegungen ausführen. 
Nun suchte ich an der äusseren Seite der Rippen den Punkt, 
der bei allen diesen Bewegungen in Ruhe verblieb. Sobald 
ich diesen Punkt gefunden, steckte ich eine Nadel in den- 
selben, um die Richtung der Axe zu bestimmen, machte 
darauf wiederum alle möglichen Bewegungen mit den Rippen 
und veränderte den Stand der Nadel so lange, bis sie bei 
allen diesen Bewegungen ihren Ort nicht mehr verwechselte. 
Nachdem ich so den Eintrittspunkt und die Richtung der 
Axe gefunden hatte, verlängerte ich die Axe in derselben 
Richtung, und hierdurch wurde der Austrittspunkt an der in- 


209 


neren Seite der Rippe gefunden. Es ging aus den betreffen- 
den Versuchen hervor, dass die Axe schief durch den Rip- 
penhals verläuft, in der Richtung von hinten, aussen und 
oben nach vorne, innen und unten. 

Der Eintrittspunkt an der äusseren Seite der Rippe liegt 
gerade hinter der articulatio costo-transversaria. Der Aus- 
trittspunkt an der inneren Seite liegt vor dem capitulum. 
Dass dieser Punkt vor dem capitulum liegen muss, geht 
deutlich aus der Bewegung des capitulum nach oben und 
unten bei den betreffenden Bewegungen der Rippen hervor. 
Ueberdiess lehrt dies die einfache Verlängerung der Axe. 
Die Neigung dieser Axen auf der horizontalen und vertica- 
len Fläche nimmt von der lten bis zur 6ten oder Tten Rippe 
ab. Die Axe der $ten Rippe ist ungefähr paralell mit der 
horizontalen Fläche; von der 8ter Rippe an nimmt die Nei- 
gung: wiederum zu. | 

Weiter untersuchte ich nun, ob diese Axen eine Verände- 
rung erleiden, wenn die Rippen in ihrer natürlichen Verbindung 
geblieben sind. Ich fand dabei, dass die Axe der mit dem 
sternum verbundenen Rippen nicht wesentlich verschieden ist 
von der oben an den losgetrennten Rippen bestimmten. 

Es geht hieraus hervor, dass die von Budge!) angege- 
bene Axe nicht die richtige sein kann. 

Wir wollen nun, nachdem die Axe bestimmt ist, die Be- 
weglichkeit und die Bewegungen der Rippen näher betrach- 
ten und sie zuerst an den von ihrer Verbindung mit dem 
sternum getrennten Rippen anseinandersetzen. Die Angaben 
von Magendie?) und Henle>) über die Beweglichkeit der 
Rippen, welche von ihrer festen Verbindung mit dem ster- 
num gelöst sind, fand ich ganz bestätigt. Die Beweglich- 
keit nimmt nämlich von der 1ten bis zur Tten oder Sten Rippe 
zu und von da an wiederum ab. Die Bewegungen, welche 
mit diesen Rippen angestellt werden konnten, waren sehr 


1) Archiv f. phys. Heilkunde, S. 1857, B. 1. | 
2) Precis elem. de Physiol., p. 340 ete., 1838. 
3) Anatomie, Abth. 1, S. 53 u. s. w. 


210 


ergiebig. Die Bewegungen sind dreierlei Art, 1°. nach oben 


und unten, 2°. nach vorne und hinten und 3°. eine Drehbe- ° 


wegung, wodurch der obere Rand der Rippe mehr nach 
aussen, der untere mehr nach innen gerichtet wird ; letztere 


[' 


Bewegung ist aber viel beschränkter als die vorhergehenden. 
Bei der Bewegung der Rippen nach oben und unten sah 


man ganz deutlich das capitulum costae sich mitbewegen. Die 


Bewegung des Köpfehens ist am grössten an der ersten Rippe. 


An den übrigen Rippen ist sie viel unbedeutender, aber 
nichtsdestoweniger doch deutlich zu beobachten. Die nach 
oben und unten bewegten Rippen durchlaufen mit jedem 
bewegten Punkte einen Bogen, dessen convexe Seite nach 
aussen gerichtet ist. 

Helmholtz hat zuerst beobachtet, dass das vordere Ende 
der losgeschnittenen Rippe von dem sternum abweicht, wenn 


man die Rippen nach oben hin bewegt. Die Ursache dafür 


findet Helmholtz in dem schiefen Stande der Rippen nach 
unten. 


Diesen Versuch von Helmholtz habe ich öfter mit dem- 


selben Resultate wiederholt. Wir können noch hinzufügen , 
dass das vordere Ende der Rippen, wenn es sich nach unten 
bewegt, der Medianfläche genähert wird. Obwohl Helm- 
holtz sehr richtig die Ursache für diese Abweichung an- 
giebt, so kam sie mir anfangs doch nicht so klar vor. Erst 
nachdem ich den Punkt gefunden, um den sich das vordere 
Ende der Rippe beim Heben dreht, konnte ich den Werth 
und die Wahrheit der von Helmholtz gegebenen Erklä- 
rung fassen. Man findet diesen Punkt sehr leicht, indem 
man von dem vorderen Ende der Rippe eine Linie senkrecht auf 
die verlängerte Axe zieht. Der Punkt, wo sich die beiden 
Linien schneiden, ist natürlich der Bewegungsmittelpunkt 
für das vordere Ende der Rippe. Da dieser Schneidungs- 
punkt nur an der entgegengesetzten Seite der Medianfläche 
gefunden wurde, so ist es klar, dass das vordere Ende der 
Rippe in Folge ihrer schiefen Richtung nach unten beim 
Heben anfangs von der Medianfläche abweichen, und sich 
derselben beim Senken wiederum nähern wird. 


211 


Die Abweichung der vorderen Rippen-Enden von der Median- 
fläche nahm von oben nach unten zu, so dass die siebente 
Rippe am meisten abweichend gefunden wurde. Wenn ein 
weiblicher und männlicher Brustkasten in dieser Hinsicht 
verglichen wurden, so fanden wir ganz deutlich, dass die 
Abweichung bei ersterem grösser ist als bei letzterem. 

Bei diesen Versuchen schien es mir, als ob die mit dem 
- Brustbeine verbundenen Rippen eine Neigung hätten von der 
' Medianfläche abzuweichen. Um mich hiervon näher zu über- 
zeugen, machte ich folgende Versuche. Ich sägte nämlich 
an verschiedenen, sowohl männlichen als weiblichen Brust- 
kasten, das Brustbein der Länge nach durch. Nachdem auch 
der processus ensiformis der Länge nach durchschnitten war, 
sah, ich wie die oberen Ränder des durchgesägten manubri- 
um gegen einander gedrängt wurden, und dass die seitlichen 
Hälften des Brustbeins nach unten hin von einander wichen. 
Dieses Auseinanderweichen betrug 

Zwischen dem zweiten Rippenpaare im Mittel, 2 Linien. 


” ” dritten P)] „ PD] 4 ” 
” 2 vierten 2 ” PD] 6 2 
” PD] fünften ” 2 ” 13 ” 
” 2 sechsten PD 7 ” 1 0 ” 
;; siebenten R a 1 ae 


Auf der Mitte des; proc. .xyph.. er. 13 
Die beiden Hälften des Brustbeins wurden hoch mehr von 
einander entfernt, wenn man die beiden seitlichen Hälften 
des Brustkastens gerade nach oben zog, so dass die oberen 
Ränder des Brustbeins aneinander blieben. 

Aus diesen Versuchen glaube ich schliessen zu dürfen, 
dass die Rippen in Folge ihres schiefen Standes nach unten 
und vorzüglich ihrer Krümmung und Achsendrehung, eine 
Neigung haben, um von der Medianfläche abzuweichen. 

Bei diesen Versuchen beobachtete ich noch ein anderes 
Factum, das, wiewohl nicht so wichtig, doch erwähnt zu wer- 
den verdient. Die beiden seitlichen Hälften des Brustkastens 
sah ich nämlich nicht nur von der Medianfläche abweichen , 
sondern auch von der Wirbelsäule sich entfernen. 


112 


Um mich hiervon zu überzeugen, mass ich vor der Durch- 
sägung des Brustbeines die Entfernung der Wirbelsäule von 
‘ demselben. Nach der Durchsägung wurde dieser Abstand 
wiederum gemessen, und jedesmal grösser gefunden. Dieses 
Grösserwerden des Maasses nimmt von oben nach unten zu. 
Dies fand ich indessen zu spät, um den Unterschied in der 
Abweichung der seitlichen Hälfte des Brustbeins von der 


Wirbelsäule genau zu bestimmen, da die Brustkasten, die 


zu meiner Verfügung standen, schon zu anderen Zwecken 
verbraucht waren. 

Diese Neigung der Rippen, um nicht nur von der Median- 
fläche, sondern auch von dem sternum abzuweichen, hat 
vielleicht seine Bedeutung für den Widerstand, welchen die 
Aussenfläche des Brustkastens dem atmosphärischen 
bietet. Auf der Innenfläche beträgt nämlich der Druck, 
Folge des elastischen Widerstandes der Lungen, weniger a 
eine Atmosphäre, wie mein verehrter Lehrer Professor Don- 
ders zuerst klar dargethan hat. 

So lange die Rippen in ihrer natürlichen Verbindung mit 
dem Brustbeine geblieben sind, nimmt die Beweglichkeit 
von oben nach unten zu. Haller hat dies schon durch 
Versuche bewiesen !). Die geringe Beweglichkeit der ersten 
Rippe ist mir hierbei aufgefallen. Die Ursache dafür ist in 
ihrer Knrze und der unmittelbaren Verbindung ihres Knorpels 
mit dem Brustbein zu suchen. 

Dass die Beweglichkeit von oben nach unten zunimmt, 
ist nach meinem Dafürhalten grossentheils dadurch verursacht, 
dass die Rippen und ihre Knorpel von oben nach unten län- 
ger und dünner werden. 

Da die Bewegung der Rippen nach oben oder unten durch 
ihre Verbindung mit dem Brustbein sehr beschränkt wird, 
und da die Rippen aus derselben Ursache nicht oder nur aüs- 
serst gering von der Medianfläche sich entfernen können, so 
müssen die Rippen und ihre Knorpel, wenn irgend eine 


1) Opuscula sua anat. de respiratione, de monstris aliaque minora, 1751. 
Elementa physiologiae corporis humani, 1761. 


Ze er 


a ET 


213 


Kraft sie nach oben oder unten bewegt, eine Torsion erlei- 
den, welche dieser Kraft proportional ist. 

Die Drehung der Rippen um ihre eigene Axe, sodass der 
obere Rand mehr nach innen, der untere mehr nach aussen 
gerichtet ist, wird auch durch die Verbindung mit dem Brust- 
beine beschränkt. 

Helmholtz hat es zuerst angegeben, dass die Rippen in 
‚ihrer natürlichen Verbindung sich in einem Gleiehgewichts- 
zustande befinden, zu dem sie von selbst zurückkehren, wenn 
sie aus abmselen heraus gebracht sind. Die line 
Torsion ist als Ursache davon anzumerken. 

Wenn wir nach dem Beispiele von Helmholtz das Brust- 
bein zwischen jedem Paare Rippen durchsägten, und dann 
die so erhaltenen Rippenringe nach oben oder unten beweg- 
ten, sahen wir stets die Ringe in ihre ursprüngliche Lage 
zurückkehren. Die Kraft und Geschwindigkeit, womit dieses 
Zurückkehren zu Stande kam, fand ich der mehr oder weni- 
ger ergiebigen vorausgegangenen Bewegung proportionirt. 

Was die Beweglichkeit dieser Rippenringe betrifft, so fand 
ich den ersten Ring beweglicher als den zweiten , und die Be- 
weglichkeit von dem zweiten Ringe an nach unten zunehmend. 

Die verschiedenen Bewegungen der Rippen habe ich darum 
ausführlicher behandelt, weil sie als Grundlage für die Be- 
wegungen beim Athemholen zu betrachten sind, auf die wir 
Jetzt genauer eingehen werden. 


Die Athembewegungen sind in zwei Classen oder Typen 
zu trennen, nämlich: 

A. Bewegungen, die bei dem Brustathmen vorkommen. 

B. Bewegungen, die das Bauchathmen begleiten. 

Der Mechanismus und die Muskelwirkung sind bei diesen 
zwei Olassen so verschieden, dass man sich gezwungen sieht 
sie getrennt zu behandeln, will man anders zu klaren Vor- 
stellungen gelangen. 

Schon Viele haben bei der Behandlung des Mechanismus 


der Respiration diese Trennung gemacht. Hutchinson giebt 
al. 15 


214 


sogar Abbildungen von den Formveränderungen des Bauches 
und Brustkastens beim Manne und beim Weibe für diese 
zweierlei Bewegungsarten. 


Beiläufig bemerkt scheinen mir diese Abbildungen nicht 


ganz richtig zu sein, denn die Wirbelsäule hat an beiden 
Zeichnungen für das tiefe Brustathmen und das tiefe Bauch- 
athmen dieselbe Lage. Dies ist aber unmöglich; denn beim 
tiefen Brustathmen wird die Wirbelsäule gestreckt, beim tie- 
fen Bauchathmen dagegen gekrümmt. Auch ist der Unter- 
schied auf der Seitenfläche grösser als auf der Vorderfläche, 
wesshalb die Abbildungen danach zu richten wären. Eines 
will ich hier noch erwähnen, dass die Capaecität der Brusthöhle 
bei diesen zweierlei Bewegungsarten eine und dieselbe ist. 
Das Brustathimen kommt in der Regel bei Frauen, mitunter, 
aber seltener, auch bei Männern vor. An dem entblössten 


Thorax von Frauen beobachtete ich constant Folgendes: Die 
bewegung fing an der ersten Rippe an und schritt nach un- 


ten zu fort; wenn ich einen Finger auf irgend eine Rippe 
legte, so fühlte ich, dass sie in die Höhe stieg. 
Die Drehung der Rippen, wobei der obere Rand nach in- 


nen, der untere nach aussen bewegt wird, ist beim ruhigen 


Athmen nicht leicht zu beobachten. 
Wenn ich den Finger zwischen zwei Rippen legte, so konnte 


ich deutlich fühlen, dass der Intercostalraum grösser wurde. 


Die sieben oberen Rippen bewegen sich am meisten in die 
Höhe und die oberen Intercostalräume werden mehr vergrös- 
sert als die unteren. Das Brustbein steigt mit den Rippen 
in die Höhe und entfernt sich einigermaassen von der Wirbel- 
säule. Letzteres ist mir aus vielfachen Messungen klar her- 
vorgegangen. Der processus xyphoidens wurde etwas nach 
innen gebogen, der Bauch einigermaassen eingezogen ; die Wir- 
beisäule und der Kopf nehmen keinen merkbaren Antheil 
an den Bewegungen. 

. Da es für meinen Zweck sehr wichtig war die Vergrösse- 
rung der Intercostalräume in Zahlen angeben zu können, so 
habe ich mir dazu sehr viele Mühe gegeben, aber leider nicht 
die gewünschten genauen Resultate erhalten. 


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215 


Bei Frauen mit entblösstem Thorax, denen ich vorschrieb 
gleichmässig zu athmen, setzte ich einen Compas d’&paisseur 
auf zwei neben einander gelegene Rippen, und las den 
Unterschied bei dem Ein- und Ausathmen ab. 

Dabei traten aber folgende Schwierigkeiten hindernd in 
den Weg. Zuerst muss ich die Verschiebbarkeit der Haut 
erwähnen, die sich auch bei sehr magern Frauen nicht 
beseitigen liess. Sodann waren die Athmungen von verschie- 
 dener Tiefe. 

Schröder van der Kolk ertheilte mir den Rath dem 
Thorax entlang Papierstreifen aufzukleben, und den Stand 
der Rippen bei dem Ein- und Ausathmen auf denselben zu 
notiren. Auch hiermit bekam ich aber keine gute Resultate. 

Beim einfachen Brustathmen kehren die Rippen in ihren 
Gleichgewichtszustand zurück , das Brustbein bewegt sich mit 
den Rippen nach unten, und nähert sich einigermaassen der 
Wirbelsäule. Mit dem Finger auf dem Intereostalraume konnte 
ich mich gut überzeugen, dass er bei jeder Ausathmung 
kleiner wird. Der proc. xyph. kehrte in seinen ursprüngli- 
chen Stand zurück, die einigermaassen eingezogene Bauch- 
wand wurde wiederum nach vorne bewest. 


Beim tiefen Brustathmen sind die Bewegungen viel com- 
plieirter. Während nämlich beim gewöhnlichen Brustathmen 
vorzüglich der oberste Theil des Brustkastens bewegt wird, 
so wird bei tiefem Brustathmen nicht nur der ganze Brust- 
kasten, sondern sogar der ganze Rumpf, das Becken aus- 
genommen, in Bewegung gesetzt. 

Der Kopf bewegt sich beim tiefen Brustathmen etwas in 
die Höhe und nach hinten. Die Krümmung der Halswirbel- 
säule nach vorne wird grösser. Die Schultern und die Sehlüs- 
selbeine sah ich jedesmal nach oben steigen. Die nach hin- 
ten convexe Brustwirbelsäule wird gerader; dies scheint mir 
von Bedeutung, denn die Stützpunkte der Rippen auf den 
Wirbelkörpern weichen dadurch etwas auseinander, wodurch 
schon die Vergrösserung der Zwischenrippenräume befördert 
wird. Der ganze Brustkasten steigt nach oben und das 

15* 


216 


Brustbein wird von der Wirbelsäule entfernt. Während der 
Brustkasten in die Höhe steigt, wird er zu gleicher Zeit 
mehr gewölbt; die stärkste Wölbung beobachtete ich an dem 
oberen Theile. Die Zwischenrippenräume werden viel grös- 
ser, wenn die Rippen in die Höhe bewegt werden, haupt- 
sächlich oben an dem Brustkasten. Wenn ich die Finger 
auf das serobieulum cordis legte, so konnte ich bei jeder 
tiefen Einathmung deutlich wahrnehmen, dass der Winkel, 
den die Knorpel des siebenten Rippenpaares mit dem Brust- 
beine bilden, bei der Einathmung jedesmal grösser wird. 
Auch der Winkel, der an der Vereinigung der Knorpel mit 
den Rippen besteht, wird grösser. Der processus xyphoideus 
wird nach innen gebogen, während die Bauchwand sehr zu- 
rückweicht, und die nach innen convexe Lendenwirbelsäule 
noch convexer wird. 

Bei der tiefen Brustausathmung geht der Kopf nach unten 
und vorne. Die Krümmung der Halswirbelsäule nimmt so- 
sehr ab, dass sie vielmehr nach hinten als nach vorne ge- 
richtet ist. Die Schultern und die Schlüsselbeine steigen 
abwärts. Die gerade gewordene Brustwirbelsäule wird sehr 
conrex nach hinten, wodurch die Stützpunkte der Rippen 
auf den Wirbelkörpern einander genähert werden, und die 
Intereostalräume kleiner werden. Der ganze Brustkasten senkt 
sich. Das Brustbein nähert sich der Wirbelsäule, die Wöl- 
bung des Brustkastens nimmt sehr ab. Während die Rippen 
sich abwärts bewegen, werden die Intereostalräume kleiner. 
Der Winkel am Brustbeine nimmt wieder ab, der nach innen 
gebogene proc. xyphoideus und die zurückgezogene Bauch- 
wand treten wieder hervor. 


Das Bauchathmen kommt gewöhnlich nur bei Männern vor; 
in sehr seltenen Fällen wird es auch bei Frauen beobachtet. 
Ich habe es nie gesehen bei den vielen Frauen, welche ich 
darauf untersucht habe. Bei Thieren, Hunden, Kaninchen, 
Pferden habe ich stets Bauchathmen, nie Brustathmen gesehen. 
Die Ursache für das Vorkommen des Bauchathmens bei Pfer- 
den und anderen schnell laufenden und weit springenden 


217 


Thieren ergeben sich leicht aus der vergleichenden Anatomie 
des Brustkastens und vorzüglich der Muskeln, welche mit 
den vorderen Extremitaten in Beziehung stehen. Dies hier 
auseinanderzusetzen, würde uns zu weit führen. 

Bei dem gewöhnlichen Bauchathmen konnte ich kaum ei- 
nige Bewegung der Brustwirbelsäule bemerken. Die 4 oder 
5 oberen Rippen wurden nicht merkbar bewegt, ebensowe- 
nig ist eine sichtbare Veränderung an den oberen Zwischen- 
rippenräumen zu beobachten. Die Bewegungen beim Bauch- 
athmen sind im Gegensatze zu dem Brustathimen gerade 
an dem unteren Theile des Brustkastens grösser, und sie 
fangen unten an und schreiten nach oben fort. Die 7 oder 8 
unteren Rippen werden alle nach oben und aussen bewegt, 
während die Zwischenrippenräume kleiner werden. 

Beim Bauchathmen wird aber ausserdem die Krümmung 
der Rippen, wenn sie in die Höhe steigen, viel grösser ; 
beim Brustathmen nimmt die Krümmung gar nicht, oder nur 
sehr wenig zu. Der processus xyphoideus und die Bauch- 
wand werden nach aussen getrieben, während das Brustbein, 
namentlich der untere Theil auch einigermaassen von der 
Wirbelsäule entfernt wird. 

Beim ruhigen Bauchausathmen gehen die Rippen, welche 
nach oben und aussen bewegt waren, wiederum nach unten 
und innen zurück. Das Brustbein und der processus xyphoi- 
deus nähern sich wiederum der Wirbelsäule, während die 
Bauchwand sich wiederum einigermaassen zusammenzieht. 


Beim tiefen Bauchathmen sind die Bewegungen mehr aus- 
gedehnt und zusammengesetzt. Die meisten hierhergehörigen 
Bewegungen sind gerade denen beim tiefen Brustathmen ent- 
gegengesetzt. 

Der Kopf geht nach vorne und unten, und senkt sich zwi- 
schen die Schultern. Nicht nur die Brustwirbelsäule sondern 
auch die Hals- und Lendenwirbel werden nach vorne ge- 
krümmt. Diese Krümmung mit der convexen Seite nach 
hinten, ist am grössten an den Brustwirbeln. Hierdurch rü- 
cken die Stützpunkte der Rippen auf der Wirbelsäule einan- 


218 


der näher, und werden somit die Rippenabstände verkürzt. 
Der ganze Brustkasten, Schlüsselbein und Schultern bewegen 
sich nach unten. Da der ganze Brustkasten sich nach unten 
bewegt, so machen natürlich die Rippen diese Bewegung 
mit und nähern sich dem Becken. Dabei wird die Entfer- 
nung von der ersten zur letzten Rippe kürzer, denn während 
der ganze Brustkasten dem Becken. näher rückt, wird zu 
gleicher Zeit die Entfernung je zweier Rippen eine kürzere. 
Mit dem Brustkasten geht das Brustbein nach unten, ohne 
sich aber sehr der Wirbelsäule zu nähern. Der processus 
xyphoideus wird zugleich mit der Brustwand nach aussen 
getrieben. Alle Zwischenrippenräume, und vorzüglich der 
6te, Tie, Sste und 9te werden viel kleiner. 

Alle diese Bewegungen konnte ich am leichtesten an mir 
selbst studiren. Das Kleinerwerden der Zwischenrippenräume 
konnte ich ganz leicht durch das Auflegen der Finger wahr- 
nehmen. 

Beim tiefen Bauchausathmen steigt der Kopf wiederum in 
die Höhe, während er sich zugleich nach hinten bewegt. 
Die ganze Wirbelsäule wird wiederum gestreckt, und ihr 
Hals- und Lendentheil wiederum nach hinten gekrümmt. Der 
ganze Brustkasten steigt in die Höhe, wobei das Brustbein 
etwas von der Wirbelsäule entfernt wird. Alle Rippen stei- 
gen in die Höhe, und entfernen sich von einander. Alle Zwi- 
schenrippenräume werden grösser. Die Bauchwand zieht sich 
zusammen. 


Nachdem wir somit die möglichen Bewegungen der den 
Brustkasten zusammensetzenden Theile, und die wirklich bei 
der Respiration Statt findenden Bewegungen auseinanderge- 
setzt haben, wollen wir zu der Muskelwirkung übergehen. 

Zuvor will ich aber den Unterschied der für das Ein- und 
Ausathmen erforderten Muskelwirkung angeben und die In- 
tercostalmuskeln anatomisch beschreiben. 

Das Einathmen kann nur durch einen grossen Kraftaufwand 
zu Stande kommen. Die Einathmungsmuskeln müssen den 


219 


Druck der gespannten Bauchmuskeln, die Elastieität der 
ausgedehnten Lungen und die beim Einathmen vermehrte 
Torsion des Brustkastens überwinden. 

Das Ausathmen geschieht ohne irgendwie bedeutenden 
Kraftaufwand. Die Kräfte, welche das Einathmen zu Stande 
kommen helfen, befördern das Ausathmen. Helmholtz lässt 
hierdurch allein das Ausathmen geschehen, wiewohl es durch 
die Verengerung der Stimmritze verlangsamt werdeu muss. 

N Es ist jedoch die Frage, ob die gewöhnlich vorhandene Ge- 
schwindigkeit beim Ausathmen keine active Muskelwirkung 
voraussetzt. 

Die Intercostalmuskeln liegen, wie schon ihre Benennung 

 andeutet, in den Intercostalräumen; sie bestehen aus zwei 

Lagen, die leicht von einander getrennt werden können. 
Die äusseren Lagen werden musculi intere. externi, die in- 
neren dagegen interni genannt. 

Die museuli intercostales externi en von dem äusse- 
ren unteren Rande der Rippe, fangen an den musculi leva- 
tores costarum, von denen sie nur künstlich getrennt werden 
können, an und setzen sich bis auf 13 Zoll Entfernung von 
der eartilago costarum fort. Die Fasern, welche mit zahlrei- 
chen Sehnenfasern vermischt sind, verlaufen schief nach unten 
und vorne; sie inseriren sich an dem oberen äusseren Rand 
der folgenden Rippen. Der Insertionspunkt liegst dem Rip- 
penknorpel näher als der Punkt, wo der Muskel entspringt, 
und zwar wegen des schiefen Verlaufes der Muskelfaser. An 
der zweiten Rippe fand ich den Insertionspunkt in der Nähe 
der Vereinigung von Rippe und Knorpel; am weitesten davon 
entfernt ist dagegen der Insertionspunkt an der 4ten,, Hten und 
6ten Rippe. An der Tin und den darauffolgenden Rippen 
reicht die Insertion dieses Muskels gewöhnlich bis an den 
Anfang der Knorpel. Den Faserverlauf fand ich constant 
auf der Mitte am schiefsten. 

Die museuli intercostales interni verlaufen im Allgemeinen 
von dem Brustbeine bis an die anguli costarum. Der zwi- 
schen den Knorpeln gelegene Theil derselben unterscheidet 
sich aber hinreichend von dem übrigen, um ihn mit einem 


220 


besonderen Terminus zu bestempeln. Hamberger nannte 
ihn musculus intercartilagineus. Hutchinson, Meissner 
und Andere sind ihm darin gefolgt, und auch ich glaube 
mich daran anschliessen zu müssen. 

Die museculi intercostales interni entspringen vom unteren 
inneren Rande der einen Rippe und inseriren sich an dem 
inneren oberen Rand und der inneren Fläche der darauffol- 
senden Rippe. Der Faserverlauf von oben nach unten und 
hinten ist bei weitem nicht so schief wie der der M. ex- 
terni. Je mehr sich diese Muskeln dem Knorpel nähern, um 
so grösser wird der Ursprungswinkel, um so kleiner dagegen 
der Insertionswinkel. 

Die musculi intercartilaginei sind mehr entwickelt als die 
eigentlichen intercostales interni. Sie bestehen aber doch 
nur aus einer, nicht aus zwei Lagen. (S. oben Meissner’s 
Vorstellungsweise). Sie entspringen an dem ganzen unteren 
Rand des einen Rippenknorpels und heften sich an den gan- 
zen oberen Rand des darauf folgenden. Den Verlauf seiner 
Fasern fand ich zwischen der ersten und zweiten Rippe fast 
vertical; in dem 2ten bis 5ten Zwischenraume verliefen sie 
einigermaassen schief nach hinten ; zwischen der 6ten und Tten, 
sowie der Ten und $ten Rippe verliefen die hinter der arti- 
eulatio cartilaginum gelegenen Fasern vertical nach unten, 
die vor der artieulatio gelegenen dagegen sehr schief nach 
hinten. Zwischen den Knorpeln der 8$sten und Yten Rippe 
fand ich den Faserverlauf bis an die Krümmung stets schief 
nach hinten, über die Krümmung hinaus aber schief nach 
vorne. Zwischen der 9ten und 10ten verlaufen die Fasern ei- 
nigermaassen nach hinten. 

Die museuli intercostales interni sind nicht so stark entwickelt 
und nicht so sehr mit Sehnenfasern durchwebt als die externi. 
Bei allen untersuchten männlichen Leichen fand ich keinen 
nennenswerthen Unterschied der ‚Entwicklung in den ver- 
schiedenen Intercostalräumen; an vier Frauenleichen fand ich 
dagegen diesen Unterschied sehr deutlich ausgeprägt. Bei 
zwei liederlichen Weibern, welche ihre Brust stets sehr 
stark geschnürt hatten, waren die interni an den unteren 


221 


Rippen sehr wenig entwickelt. In den beiden untersten In- 
tercostalräumen waren sie ganz atrophirt und durch ein 
sehnenartiges Gewebe ersetzt. Bei zwei anderen weiblichen 
Leichen, wo bei der einen dem Tode ein ein-, zwei- bis drei- 
jähriger hydrops aseites vorhergegangen war, bei der anderen 
eine Ovarienkyste sich entwickelt hatte, welche zwei Eimer 
voll Flüssigkeit enthielt, war das Diaphragma bis in den 41en 
Intercostalraum nach oben gedrungen. Die interni waren in 
allen Intereostairäumen stark entwickelt, in den 7 unteren 
waren sie sogar dieker als die externi. 


Um zu entscheiden, welche Muskeln bei den verschiedenen 
Respirations-Beweguugen in Wirkung treten, ist es sehr wich- 
tig zu wissen, bei welchen Bewegungen die externi oder in- 
terni länger oder kürzer werden. Hierbei müssen wir aber 
nicht vergessen, dass die verschiedene Länge keinen abso- 
luten Maasstab abgiebt. Ein Muskel kann länger werden, 
und dabei doch wirksam sein, wenn entweder Antagonisten, 
die stärker sind, zu gleicher Zeit wirken, oder die Last, 
welche bewegt werden muss, bedeutend grösser ist. 

Um zu wissen, welche Muskeln bei den verschiedenen 
Bewegungen kürzer oder länger werden, müssen wir unter- 
suchen, welchen Ortswechsel dabei die Insertionspunkte in 
Beziehung zu einander erfahren. Hierzu wird es nöthig sein, 
dass wir die verschiedenen Bewegungsgruppen, welche bei 
der Respiration vorkommen, jede für sich betrachten. 

1. Beim gewöhnlichen Brusteinathmen sahen wir die Rip- 
pen und ihre Knorpel sich nach oben bewegen, und die In- 
tercostalräume grösser werden. Durch diese Bewegung wer- 
den die Insertionspunkte der externi und intercartilaginei 
einander genähert. Die Insertionspunkte der interni dagegen 
werden von einander entfernt. Hamberger, Hutchinson 
und Donders haben dies klar dargethan. 

Beim gewöhnlichen Brustausathmen dagegen werden die 
Insertionspunkte der interni einander genähert, während die 
der externi von einander entfernt werden. 

Beim gewöhnlichen Brusteinathmen treten nicht viele Mus- 


222 


keln in Wirkung. Die Muskeln, welche hierbei hauptsächlich 
wirksam sind, sind die scaleni und intercostales externi. 
Wenn ich bei Frauen den Finger auf die scaleni fest anlegte, 
so konnte ich beijeder Einathmung deutliche, wiewohl schwa- 
che Zusammenziehung der scaleni fühlen. Für die Wirksam- 
keit der M. intercostales externi habe ich keinen anderen 
Beweis beizubringen, als dass ihre Insertionspunkte einander 
genähert werden. Dieser Beweis, der schon sehr klar von 
Hamberger !) auseinandergesetzt ist, scheint mir aber hin- 
reichend zu sein. Zu der Wirkung dieser Muskeln tritt nun 
noch die grössere oder geringere Zusammenziehung des Dia- 
phragma hinzu. Die Zusammenziehung des Diaphragma beim 
gewöhnlichen Brustathmen ist aber nicht sehr gross, was 
hinreichend aus dem Einsinken des Bauches und der gerin- 
gen Wölbung der unteren Thoraxhälfte hervorgeht. 

Es ist sehr schwer auszumachen, ob beim gewöhnlichen 
Brustausathmen Muskelwirkung Statt findet. Auf der einen 
Seite kann nicht geläugnet werden, dass die Torsion der 
Rippen und Knorpel hinreicht, um, wie Helmholtz will, 
das Ausathmen zu Stande kommen zu lassen, auf der ande- 
ren Seite aber ist es kaum zu bestreiten, dass die bei der 
Einathmung einigermaassen ausgedehnten interni, wenn auch 
nur vermittelst ihrer Elastieität das Ausathmen einigermaassen 
befördern und beschleunigen; sie haben daher ihren Antheil 
an dem Ausathmen. 

2. Bei dem tiefen Ein- und Ausathmen mit der Brust, 
werden die Insertionspunkte der externi und interni in ihrer 
gegenseitigen Beziehung viel mehr verändert als beim ruhi- 
gen Athmen. Die Insertionspunkte der interni kommen viel 
näher zu einander, während die der externi sich viel mehr 
von einander entfernen. Versuche an Thieren können dies 
nicht aufklären helfen, weil an ihnen nur das Bauchathmen 
beobachtet werden kann. Versuche und Messungen an leben- 


1) De respirationis mechanismo, Jenae 1727, und Physiologia mediea, 
Jenae 1751. 


223 


den Menschen gaben aber aus den oben erwähnten Gründen 
keine gewünschten Resultate. 

Das Strecken der Brustwirbelsäule, welehes für das Aus- 
einanderweichen der Rippen von grosser Bedeutung ist, wird 
hauptsächlich durch den muse. longissimus dorsi und sacro- 
lumbalis bewirkt. Da zu gleicher Zeit der Halstheil der Wir- 
belsäule gestreckt, der Kopf und die Schultern befestigt und 
einigermaassen nach hinten gezogen werden, so begreift man 
leicht, dass die meisten Rücken- und Nackenmuskeln beim 
tiefen Brustathmen in Wirkung gesetzt werden. Zu der 
Wirkung von allen diesen Muskeln tritt noch die des ster- 
nocleidomastoideus an der vorderen Seite hinzu. Die Beschrei- 
bung sowie die Erklärung der Wirkungsweise aller dieser 
Muskeln, glaube ich aber hier übergehen zu müssen, da sie 
zu Abschweifungen von unserem Gebiete führen würden. 

Die musculi sealeni und intercostales externi sind die Mus- 
keln, welche die Rippen direet heben. Meissner!) behaup- 
tet, dass die m. scaleni sich zuerst zusammenziehen und 
der Ausgangspunkt für die Bewegung der externi werden. 
Ob Meissner dies beobachtet hat, wage ich nicht zu ent- 
scheiden, obschon ich geneigt bin zu glauben, dass diese 
seine Annahme mehr auf theoretischen Gründen basirt ist, 
da er keine hierhergehörige Beobachtung erwähnt. Ich habe 
versucht dies auf experimentellen Wege auszumachen. Wenn 
man bei mageren Frauen (die meisten von mir untersuchten 
litten an phthisis pulmonalis) den Finger auf die scaleni legt, 
während sie tief einathmen, so fühlt man ihre Zusammen- 
ziehung bei jeder Einathmung. Sie werden nämlich härter 
und dieker. Magendie?) kannte dıese Erscheinung bereits 
sehr gut und nannte sie „le pouls respiratoire.’ Wenn ich 
nun die Finger der einen Hand auf die m. scaleni, der an- 
deren aber auf die vierte Rippe legte, so konnte ich stets 
eher die Zusammenziehung der scaleni, als die Bewegung 
der vierten Rippe fühlen. Mit Meissner halte ich diese 


1) Jahresbericht, 1857. 
2) Precis elementaire de physiologie, 1838, p. 343. 


224 


vorausgehende Bewegung der scaleni wohl wichtig für die 
Wirkung der Intercostalmuskeln; um aber desswegen das 
Grösserwerden der Intercostalräume ganz passiv zu nennen, 
kann ich weniger gut heissen. 

Die M. intercostales externi, deren Insertionspunkte ein- 
ander bei der Einathmung sehr genähert werden, sind dabei 
sehr wirksam. Da Niemand jetzt mehr daran zweifelt, so 
wollen wir hierbei nicht länger stille stehen. 

Ueber die Wirkung der interni herrscht mehr Meinungs- 
verschiedenheit. Ich werde daher hier etwas mehr Geduld 
in Anspruch nehmen müssen. Die Insertionspnnkte der in- 
terni entfernen sich, wie ich schon erwähnt habe, bei jeder 
Einathmung von einander. Die unmittelbare Folge hiervon 
ist, dass diese Muskeln länger werden. Man würde desswe- 
sen leicht dazu verleitet werden, diesen Muskeln eine Wir- 
kung beim Einathmen zu entsagen. Ich will aber diesen 
Muskeln nicht jede Wirkung absprechen, denn, wie ich oben 
gesagt habe, können Muskeln wirken, obgleich sie länger 
geworden sind, wenn etweder zu gleicher Zeit stärkere An- 
tagonisten wirken, oder die zu bewegende Last grösser wird. 
Da nun sowohl die oberste Rippe sehr unbeweglich ist, als 
auch die obersten Rippen durch die scaleni und intercos- 
tales externi nach oben geführt werden, so kann man nicht 
läugnen, dass die interni dazu beitragen können, die Rippen 
zu heben. 

Ich glaube daher, dass Hamberger und die Vertheidi- 
ser seiner Lehre mit Unrecht die Wirksamkeit der interni 
beim Brusteinathmen ganz geläugnet haben. Man muss aber 
hierbei nicht vergessen, dass die interni nur unter den er- 
wähnten Umständen das Rippenheben unterstützen können, 
und dass sie, sobald die scaleni und externi nicht mehr die 
Rippen verhindern, sich nach unten zu bewegen, bei ihrer 
Zusammenziehung die Rippen nach unten und zu einander 
führen. werden, wie beim Brustathmen und beim Bauchathmen 
näher angegeben werden wird. 

Die museuli intereartilaginei sind ihrer anatomischen Lage 
gemäss im Stande die Rippen zu heben, wenn sie sich zu- 


225 


sammenziehen. Denn wenn die Knorpel sich nach oben be- 
wegen, so werden die Insertionspunkte dieser Muskeln ein- 
ander genähert, und hieraus darf man schliessen, dass sie 
die Rippen nach oben bewegen werden, wenn sie sich zu- 
sammenziehen. Sie befördern überdiess durch das Heben 
der Knorpel die Bewegung der Rippen in die Höhe. 

Das tiefe Brustathmen geschieht zum grossen Theile durch 
die oben erwähnte Neigung der Rippen in ihren Gleichge- 
wichtszustand zurückzukehren. Da aber die Rippen über 
ihren Gleichgewichtszustand hinaus nach unten geführt wer- 
den, und man willkürlich die Rippen einige Zeit lang nach 
unten im Zustande des tiefen Ausathmens halten kann, so 
muss hierbei wohl Muskelwirkung im Spiele sein. 

Die Muskeln, welche dabei thätig sind, sind die intereos- 
tales interni und die Bauchmuskeln, welche sich, wie be- 
kannt, beim tiefen Brustathmen stark zusammenziehen ; hier- 
durch wird das Diaphragma sehr nach oben gedrängt und 
die untersten Rippen sehr nach unten gezogen. Durch diese 
Zusammenziehung der Bauchmuskeln, werden die untersten 
Rippen feste Punkte für die intercostales interni. Dieses nach 
unten Ziehen der untersten Rippen wird noch befördert durch 
den musc. serratus posticus inferior, und für die unterste 
Rippe noch durch den musc. quadratus lumborum. Da nun 
beim tiefen Ausathmen nicht nur die untersten sondern alle 
Rippen nach unten bewegt werden, und die Zwischenrippen- 
räume kleiner werden, so müssen hierbei noch andere und 
zwar die inwendigen Intercostalmuskeln mitwirken. Denn 
wenn wir bedenken, dass die untersten Rippen durch die Zu- 
sammenziehung der Bauchmuskeln feste Punkte geworden 
sind, dass die interni durch ihren Faserverlauf gerade geeignet 
sind, die Rippen nach unten zu bewegen, dass weiter 
die Rippen wirklich sich senken, und dass endlich die Inser- 
tionspunkte der interni einander näher treten, so haben wir, 
wie ich glaube, Ursachen genug, um auf ihre Wirkung zu 
schliessen. 

Man würde hier zweierlei einwenden können. Erstens die 
geringere Beweglichkeit der obersten Rippen und die in man- 


226 


chen Fällen (bei alten Leuten) beinahe unbewegliche erste 
Rippe. Hierauf doch nehmen alle Vertheidiger von Haller’s 
Lehre Bezug, und sprechen darum den intereostales interni 
das Vermögen ab, die Rippen nach unten zu bewegen. Diese 
Einwendung scheint bei oberflächlicher Betrachtung auf gu- 
ten Gründen zu ruhen, da doch kein Muskel einen weniger 
beweglichen Punkt nach einem beweglicheren zu führen ver- 
mag. Die Frage ist aber folgende, ob nämlich der bewegli- 
chere Punkt nicht zeitlich als der unbeweglichere fungiren 
kann. Die obersten Rippen und namentlich die erste, sind 
durch die diekeren und weniger biegsamen Knorpel nicht so 
beweglich als die untersten. So lange wir nun bei diesen 
physikalischen Eigenschaften allein. stille stehen bleiben, 
kommt es uns unbegreiflich vor, wie diese weniger bewegli- 
chen Rippen zu mehr beweglichen geführt werden sollen, 
und zwar durch Muskeln, welche zwischen beiden gelegen 
sind. Sobald wir aber darauf achten, dass bei dem tiefen 
Brustausathmen Muskeln wirken, welche kräftig genug sind 
um diese physikalischen Eigenschaften umzukehren, dann 
wird es uns erst klar, wie die interni die Rippen nach un- 
ten bewegen können. Wenn wir die dieken Bauchmuskeln 
betrachten, deren hinterer Theil beinahe vertikal zwischen 
dem Kamme des Darmbeins und den untersten Rippen ver- 
läuft und noch den quadratus lumborum und serratus posti- 
cus inferior hinzufügen, dann wird wohl Niemand daran 
zweifeln, dass diese Muskeln, wenn sie sich zusammenge- 
zogen haben, den untersten Rippen zeitlich eine grössere 
Festigkeit verleihen als die obersten vermöge ihrer physika- 
lischen Eigenschaften besitzen. 

Weiter würde man mir entgegenhalten können, dass ich 
die interni beim tiefen Brusteinathmen wirksam sein lasse, 
und zu gleicher Zeit behaupte, dass sie beim tiefen Brust- 
ausathmen kräftig mitwirken, sodass diese Muskeln fort- 
während znsammengezogen sein müssten. Dies ist jedoch 
nicht der Fall. Denn erstens findet zwischen jeder tiefen 
Ein- und Ausathmung eine Pause Statt, und dann kommt 
der erste Moment des tiefen Ausathmens nicht durch Mus- 


437 


127 


kelwirkung , sondern durch die Neigung der Rippen, in ihren 
früheren Gleichgewichtszustand zurückzukehren zu Stande. 
Erst im zweiten Momente tritt die Muskelwirkung mit in’s 
Spiel. 

Der triangularis sterni kann die Wirkung der interni un- 
terstützen. Die intercartilaginei werden trotz dem ungünsti- 
gen Verlaufe ihrer Fasern, die Knorpel beim tiefen Ausathmen 
nach unten führen können wegen der grössern Festigkeit 
‘ der unteren Rippenknorpel, in Folge der erwähnten Muskel- 
wirkung. 

Das ruhige Bauchathmen. Beim ruhigen Baucheinathmen 
werden, wie wir gesehen haben, die untersten Rippen nach 
aussen und oben bewegt. Es ist vorzüglich das Diaphragma, 
welches diese Bewegung bewirkt, während die muse. inter- 
costales interni auch dabei mitwirken. Da das Diaphragma 
das Baucheinathmen zum grössten Theile bewirkt und gros- 
sen Einfluss auf die Wirkung der interni ausübt, so werde 
ich die Wirkung desselben hier kurz auseinandersetzen. Der 
Muskeltheil des Diaphragma verläuft schief nach oben und 
innen. Wenn sich dieses nach oben convexe Diaphragma 
zusammenzieht, so presst es die Eingeweide nach unten, 
wodurch der Bauch convexer wird. Die Bauchwand, welche 
die Eingeweide zurückhält, bietet aber diesem Pressen ei- 
nen Widerstand. Die Zusammenziehung des Diaphragma wird 
daher die untersten Rippen nach oben bewegen, sobald die 
Eingeweide eine feste Stütze bieten. Die Bauchwand aber 
wirkt dieser Bewegung ebensosehr entgegen, als dem Drucke 
des Diaphragma auf die Eingeweide. Dadurch werden die 
Rippen bei ihrer Bewegung nach oben mehr befestigt, und 
bieten den muse. intercostales interni feste Stützpunkte dar. 
Wenn wir nun darauf achten, dass die Zwischenrippenräume 
kleiner und die Anheftungspunkte der interni einander ge- 
nähert werden, und dass die untersten Rippen feste Stütz- 
punkte geworden sind, so sehen wir uns veranlasst Helm- 
holtz ganz und gar beizustimmen, wenn er behauptet, dass 
die interni beim Baucheinathmen wirksam wird. Wir kom- 
men hierauf noch beim tiefen Baucheinathmeu zurück. 


228 


Beim ruhigen Bauchausathmen kommt keine irgendwie be- 
deutende Muskelwirkung vor. Die Elastieität der ausgedehn- 
ten Bauchwand und die Torsion, welche die Rippen und ihre 
Knorpel beim Einathmen erlitten haben, können schon an 
und für sich das ruhige Bauchausathmen bewirken. 

Das tiefe Bauchathmen. Beim tiefen Baucheinathmen sind, 
wie wir schon oben gesehen haben , die Bewegungen viel 
zusammengesetzter als beim ruhigen. Die Muskelwirkung 
wird daher auch mehr complieirt sein. Das Beugen der Hals- 
wirbel nach vorne kann theilweise durch den muse. longis- 
simus eolli geschehen, während das Senken des Kopfes zwi- 
schen die Schultern der Wirkung des sterno-cleido-mastoidens 
zugeschrieben werden muss. Die Beugung des übrigen Theiles 
der Wirbelsäule muss der Wirkung der langen Bauchmuskeln 
und der intercostales interni zugeschrieben werden. Dass die 
interni beim tiefen Bauchathmen wirksam sind, ist leicht 
nachzuweisen. Gerade wie beim tiefen Brustathmen der Zu- 
sammenziehung der scaleni die der intercost. externi vor- 
hergeht, und die obersten Rippen dadurch feste Stützpunkte 
für die externi werden, so geht beim tiefen Bauchathmen 
die kräftige Wirkung des Diaphragma und das Gespanntwer- 
den der Bauchwand, wodurch die untersten Rippen zu festen 
Stützpunkten für die interni werden, der Zusammenziehung 
der interni vorher. Wenn wir hierbei auf das Kleinerwer- 
den der Intereostalräume achten, so dass die Insertionspunkte 
dieser Muskeln einander näher rücken, so wären wir dadurch 
schon berechtigt auf die Wirkung dieser Muskeln zu schliessen. 

Versuche an Thieren haben, so oft ich sie auch wieder- 
holt habe, mich stets davon überzeugt, dass die interni beim 
Bauchathmen wirksam sind. Wenn ich bei einem Kaninchen 
oder einem Hunde, am liebsten aber bei einem Hunde, die 
Intereostalräume blosslegte (ein blutiges aber leichtes Opera- 
tionsverfahren), so sah ich jedesmal Folgendes: Die Zwi- 
schenrippenräume wurden bei jeder Einathmung kleiner, nicht 
nur in der verticalen Richtung gemessen, sondern aucb in der 
Richtung des Muskelfasern der interni. Diese Erscheinungen 
werden noch deutlicher, wenn man die Respiration erschwert, 


ee u — 2 een een 


229 


indem man einen Augenblick Nase- und Mundhöhle schliesst. 
So konnte ich mit dem Finger fühlen, dass diese Muskeln 
härter wurden und sich somit zusammenzogen. Das unru- 
hige Athmen der Thiere verhinderte die Grösse der Zu- 
sammenziehung genau zu messen. Die Versuche von Hal- 
ler fand ich aber ganz richtig ausgeführt und beschrieben. 
Haller wendete sie aber auf das Brustathmen an, das bei 
‚diesen Thieren nie vorkommt, und ist dadurch zu einem 
falschen Schlusse verleitet worden. Dasselbe gilt von Budge’s 
Versuch. 

Meine Versuche erheben Helmholtz’s Meinung, dass die 
interni beim Bauchathmen wirksam sind, über jeden Zweifel. 

Beim tiefen Bauchathmen wirken sehr viele Muskeln, 
welche ich hier nicht alle behandeln kann. 

Der Kopf wird beim Ausathmen wiederum in die Höhe 
und nach hinten geführt; während die Rückenmuskeln die 
convexe Wirbelsäule strecken, bewegen sie zu gleicher Zeit 
den Brustkasten in die Höhe und befördern dadurch mittelbar 
das Grösserwerden der Zwischenrippenräume. Hierzu tritt 
die kräftige Wirkung der Bauchmuskeln, welche das Dia- 
phragma nach oben drängen, während sie zu gleicher Zeit 
den untersten Theil des Brustkastens, der sehr ausgedehnt 
war, verengern. Ausser dieser Muskelwirkung muss auch 
die Torsion der Rippen und der Rippenknorpel als eines der 
vorzüglichsten Momente für das tiefe Bauchathmen betrachtet 
werden. 


Resume. 


a.) Die museuli intercostales externi bewegen die Rippen 
beim Brusteinathımen nach oben, und sind mithin Brustein- 
athmungsmuskeln. 

b.) Die musculi intercostales interni können unter Umstän- 
den die Bewegung der Rippen nach oben und somit die 
_ Wirkung der externi unterstützen. 

c.) Die museuli intercartilaginei ziehen die Vorderenden 
der Rippen und ihre Knorpeln beim Brusteinathmen nach oben 
und sind mithin Brusteinathmungsmuskeln. 


II. 16 


230 


d.) Die musenli intereostales interni sind Brustausathmungs- 
muskeln, denn sie bewegen die Rippen beim Brustausathmen 
nach unten, und bringen sie einander näher. 

e.) Die musculi intercostales interni sind aber auch Bauch- 
einathmungsmuskeln, denn sie verengern beim Baucheinath- 
men den Zwischenrippenraum, während sie die Rippen nach 
unten bewegen. | 


Beitrag zur Toxico-dynamischen Kenntniss 
des Santonins. 


v. HASSELT uno RIENDERHOFEF. 


Dre Aufmerksamkeit auf die Wirkung des Santonins ist 
zwar durch eine Meinungsverschiedenheit von praktieirenden 
Aerzten über den Effect dieses Mittels in bestimmten Dosen 
geweckt worden; wir fanden aber die toxico-dynamische 
Bedeutung dieses Mittels nicht klar genug auseinandergesetzt, 
so dass wir glaubten hierauf näher eingehen zu müssen. 

Es schien uns dies um so nothwendiger, als verschiedene 
Pharmacologen die Wirkung dieses Mittels geringschätzen 
und daher zu grosse Dosen vorschreiben. 

Die Frage ob Amblyopie durch den Gebrauch von Santonin 
entstehen kann, kann a priori nicht verneint werden. Ohne 
gerade eine Hypothese über die nächste Ursache des allge- 
mein bekannten Farbensehens nach dem Gebrauche dieses 
Mittels vortragen zu wollen, glauben wir, dass die Existenz 
dieses Factums (der Chromatopsie) uns a priori ein Recht 
giebt, eine eigenthümliche Functionsstörung der Nervencen- 
tra, möge sie von dem N. opticus oder von der retina aus- 
gehen, anzunehmen, da diese Erscheinung auch bei Vergif- 
tung mit manchen narcotica, wie hyoscyamus, digitalis u. s. w. 
öfter beobachtet worden ist. Denn alles Hypothetisiren über 
locale Färbung des Glaskörpers durch Entstehung von gel- 

16° 


232 


ber Chrysophansäure oder gelbem Santonein aus Santonin !) 
ist zu vag und unbewiesen, und braucht uns nicht länger zu 
fesseln, um so mehr als aus der radix rhei ähnliche Sub- 
stanzen zu erhalten sind, und doch nie ähnliche Erschei- 
nungen nach dem Gebrauche dieser Wurzel in hohen Dosen 
beobachtet worden sind. Wir werden aber alsbald Gelegen- 
heit finden darzuthun, dass Santonin wirklich einen deutlich 
ausgesprochenen Einfluss auf die Nervencentren ausübt. Auch 
wollen wir hier noch bemerken, dass die Chromatopsie nach 
dem Gebrauch von Santonin keineswegs auf das Gelbsehen 
allein beschränkt ist, sondern dass wir auch Blau-, Grün- 
und Rothsehen beobachtet und mitgetheilt finden. (Martini, 
Spencer Wells, Heydloff, Mauthner, Knoblauch, 
Schmid, Phipson und Andere). 

Hieraus geht hervor, dass das Santonin eine speeifische 
Veränderung im Seh-Organ hervorrufen kann, und dass bei 
einem gesteigerten Grade von Einwirkung, oder individuell 
erhöhter Empfindlichkeit, oder bei Neigung zu Hirnaffeetion 
vorzüglich im kindlichen Alter diese Veränderung in eine 
wichtige Störung übergehen kann. Dies ist auch wirklich 
schon wahrgenommen, so von W.S. Praag (Geneesk. Cou- 
rant 1859, N”. 9) der von Blendung der Augen spricht; 
von Dr. O’Blaile in Irland, der Schwierigkeit beim Sehen 
erwähnt (Büchner’s N. Rep. f. d. Pharm. 1859, H. 1)); 
vorzüglich aber von Landerer, der von einem fünfjährigen 
Kinde erzählt, dass es nach dem Gebrauch von zu hohen 
Dosen Santonin plötzlich ausrief: „ich bin blind geworden.’ 
Landerer fügt noch hinzu, dass er Aehnliches an einem 
Erwachsenen beobachtet, der das semen einae in zu hohen 
Dosen gebraucht hatte. Was aber freilich das Entstehen 
von Amblyopie oder Chromatopsie nach dem Gebrauch von 
Santonin noch wahrscheinlicher macht, ist die bedeutende 
Erweiterung der Pupille, welche daneben von Vielen ge- 
sehen ist. 


1) Siehe hierüber Lefevre contra Mialhe (Seance de l’Acad. des 
sciences, 14 Fevrier 1859.) 


233 


Viele werden vielleicht, auch nach dem Lesen dieser Mit- 
theilung , eine so bedeutende Wirkung eines so täglich an- 
gsewendeten Mittels bezweifeln. Diese werden aber entweder 
zu vorsichtig sein in der Anwendung der Dosis, oder mit 
zu wenig empfindlichen Subjecten zu thun haben, so dass 
sie keine Gelegenheit hatten, Aehnliches zu beobachten. 

Letzeres aber ist von grosser praktischer Bedeutung; es 
ist ja bekannt, dass viele Patienten von grossen Dosen Chinin 
oder Morphin beinahe keine medieinischen Symptome empfin- 
den, während Andere, schon nach dem Gebrauche von kleinen 
Dosen dieser Mittel sehr unangenehme Empfindungen haben. 
Jedem erfahrenen Arzte werden hiervon Beispiele genug 
bekannt sein. Daher kommt es nun, dass die Polemik, wel- 
che über den Gebrauch zu grosser Dosen des Santonins ge- 
führt worden ist, unbefriedigt lassen muss; darum auch ist 
es unvorsichtig, wenn man kleinere Dosen dieses Mittels 
für unschädlich erklärt, weil man zu wiederholten Malen 
srosse Dosen ohne nachtheilige Folge vorgeschrieben hat. 
Wir wollen darum nicht über die Dosen, welche die erwähn- 
ten Erscheinungen hervorrufen können, streiten, sondern 
nur dringend empfehlen bei Kindern mit Dosen von 4 bis 4 
Gran, welche nie nachtheilig gewirkt haben, anzufangen; 
folgt keine unangenehme Wirkung, so kann man immer noch 
in Intervallen mit den Dosen steigen. Die Dosen, worauf 
Chromatopsie, Mydriasis oder vorübergehende Amblyopie folg- 
ten, sind nicht immer angegeben worden ; wo sie aber ver- 
meldet sind, waren sie ziemlich gross von 4—10 gr. zum 
Theile in refracta Dosi; in einem Falle aber war 1 gr. 
schon hinreichend. 

Hat man nun wohl Recht in diesen und ähnlichen Fäl- 
len „Santonin-Vergiftung”’ anzunehmen ? Manche halten die- 
sen Ausdruck ganz bestimmt für übertrieben. Und wirklich 
könnte es bestritten werden, wenn ihm allein das Oben- 
erwähnte zu Grunde läge und man daran die meist gang- 
baren Definitionen von Gift und Vergiftung prüfen wollte. 
Vorübergehendes Farbensehen an und für sich kann wohl 
keine Vergiftung heissen. Wie aber, wenn dieses Symp- 


234 


tom als Vorläufer von wichtigeren Störungen betrachtet wer- 
den muss? Wie aber, wenn darauf Blindheit folgen kann, 
welche zwar nicht bleibend ist? Dann steht Santonin den 
„noxious things”, als welche Taylor die Gifte definirt, doch 
schon sehr nahe. Wie aber, wenn daneben noch andere, 
mehr allgemein als Vergiftungs-Symptome bekannte Störun- 
sen auftreten? Dann wird doch wohl kein Zweifel mehr 
übrig bleiben können. Wir erhielten nun schon seit einigen 
Jahren Beispiele angeführt, in welchen wirklich solche Sym- 
ptome beobachtet worden sind. In dem (Nederlandsch) Fe- 
periorium (früher unter der Redaction von v. Hasselt und 
Hekmeijer, Jahrgang 4), in der oben eitirten Geneeskun- 
dige Courant, in dem N. Repertorium f. d. Pharmacie von 
Büchner, 1858 und 1859, in de Handleiding der Vergiftleer 
von v. Hasselt kommen !) fünf Beobachtungen vor von 
Posner, Spengler, O’Blaile und Praag, in welchen, 
ausser den schon erwähnten Gesichtsstörungen, auch mehr 
oder weniger ausgesprochene Vergiftungserscheinungen ver- 
meldet werden, zum grossen Theile bei Kindern von 3—5 
Jahren, doch auch bei erwachsenen Individuen und zwar 
durch Dosen von 1, 4, 8 oder 12 gr., meistens in meh- 
rere Dosen vertheilt. Die Gesundheit kehrte in diesen Fäl- 
len schon nach einigen Stunden zurück ; tödtlich abgelaufene 
Santonin-Vergiftung ist, soweit uns bekannt ist, beim Men- 
schen noch nicht vorgekommen. Die in den eben angedeu- 
teten fünf Beobachtungen erwähnten Erscheinungen waren: 
allgemeines Gefühl von Unwohlsein, Brechneigung, Brechen, 
Bauchschmerzen, Schwindel, schwankender Gang, und in ei- 
nigen Fällen sogar Krämpfe oder Verlust des Bewusstseins. 
Nach all Diesem kann Mancher noch behaupten, dass wir 
als „Toxicologen vom Fache”’ zu den Pessimisten gehören, 
und dass wir zu viel Werth legen auf ein wenig Brechen 
oder Leibschmerz, oder ein wenig Gelb- oder Grünsehen. 


1) Die früheren Angaben von Fr. Hoffmann, dass die semina santo- 
nici bei Kindern manchmal Gehirnerscheinungen hervorrufen, könnten 
auch hier citirt werden. 


235 


Es könnte auch wohl sein, dass man diese Symptome ein- 
fach von einer sogenannten sympathischen Irritation herleiten 
wollte, ausgehend von dem im Darmkanale durch das San- 
tonin erregten Wurmreiz; — wir haben darum geglaubt auch 
Versuche an Thieren, welche, wie uns die Leichenöffnung 
lehrte !), keine Würmer beherbergten, anstellen zu müssen , 
um die Wirkung des Santonins nicht nur vom praktischen 
Standpunkte aus besser kennen zu lernen, sondern auch um 
zur Kenntniss der physiologischen Wirkung dieser Substanz 
beizutragen. 

Das Santonin, welches zu unseren Versuchen diente, ent- 
sprach in jeder Hinsicht den betreffenden Anforderungen der 
Pharmacopoea Neerlandica. Wir fingen mit einigen vorläu- 
tigen Versuchen an Fröschen und Kaninchen an, aus denen 
hervorging, dass diese Thiere nicht sehr empfindlich sind 
für die Wirkung des Santonins. Der Urin der Kaninchen 
wurde dunkelgelb oder orangefärbig nach dem Gebrauch des 
Santonins, in Uebereinstimmung mit dem so häufig schon an 
dem Urin des Menschen unter gleichen Umständen Beobachteten. 

Unsere weiteren Versuche (ungefähr vierzig) wurden alle 
an Hunden angestellt. Die Herrn Gutteling und de Ko- 
ning haben uns bei denselben mit grossem Eifer assistirt. 
Das Santonin wurde sehr fein gerieben ?), den Hunden in der 
Form von Brodpillen gereicht, welche, nachdem das Maul 
offen gehalten wurde, durch einen der Gehülfen mit dem 
Finger so tief als möglich in den Rachen geschoben wurden. 
Sehr viele Versuche wurden erst angestellt, nachdem das 
Thier einige Stunden gefastet hatte, weil wir die allgemeine 
Regel, obgleich neulich von Köhler?) wiedersprochen, be- 
stätigt finden, dass auch Santonin um so mehr wirkt, je 
leerer der Magen ist. 


l) Nur bei einem Hunde wurde während des Versuches einmal ein ge- 
wöhnlicher Rundwurm (Ascarıs lumbricoides) entfernt. 

2) Sehr feine Vertheilung soll nach einigen Beobachtern die Wirkung 
des Santonins steigern. 

3) Zur Resorption, Virchow’s Archiv, 1858. 


236 


Eine Quantität von 5 bis 6 gr. Santonin auf einmal oder 
in refracta dosi — alle Stunden oder zwei Stunden 1 gr. — 
war die kleinste Dosis, welche bei Hunden unter den oben- 
erwähnten Umständen deutlich toxische Wirkung hervorrief. 

Wurde weniger gegeben, z. B. } gr. jede Stunde, so 
wurde nach drei Tagen noch keine Wirkung bemerkt!). 
(Während der Nacht wurde es nieht gereicht). 

Die Wirkung verräth sich zuerst durch schwaches allge- 
meines Beben, oder auch wohl durch Zittern erst der hin- 
teren Extremitäten und darauf auch der vorderen. Wurde 
die ganze Dosis auf einmal gereicht, so trat es schon nach 
einer Stunde ein. Bei Darreichung von 1 gr. stündlich 
lässt die Wirkung fünf bis sechs Stunden auf sich warten. 
Das sensorium commune bleibt bei diesen Versuchen unge- 
stört. Auch die Hautempfindlichkeit bleibt unverändert. 

Wenn 9 bis 12 gr., sei es auf einmal oder in refraeta 
dosi verbraucht waren, so geht fast immer eine Aufgeregt- 
heit und Unruhe vorher, so dass die Thiere viel laufen, 
mitunter mit geöffnetem Maule; manchmal sind sie dann sehr 
durstig. Ist die Dosis auf einmal gereicht, so folgt nach 
z bis 2 Stunden das oben erwähnte Zittern, das jedesmal 
nach einer kurzen Pause, mit grosser Intensität wieder zu- 
rückkehrt. Das Thier wird träger in seinen Bewegungen 
und bleibt beim Anfangen des Zitterns jedesmal einen Au- 
genblick bewegungslos. 

Nachdem der Hund eine Stunde lange diese Erscheinungen 
dargeboten, bleibt er wiederum stille stehen, nun aber als 
wenn er versteift wäre, mit gestrecktem Halse, während er 
die Vorder- und Hinterbeine streekt, fällt so auf den Bauch 
und dreht sich dann auf die Seite. Das Zittern geht nun 
in kramphafte Bewegungen über, woran abwechselnd die 
Muskeln der vorderen und hinteren Extremitäten, des Rum- 
pfes und Nackens Theil nehmen; der Kopf und Rumpf wer- 
den vorwärts gebeugt (emprosthotonos), die Oberlippe in die 


1) Aus diesem Versuche scheint hervorzugehen, dass Santonin nicht 
zu den accumulativen Giften gehört. 


237 


Höhe gezogen (sogenannter risus sardonicus), die Kiefer krampf- 
haft geschlossen; schaumiger Speöchel kommt zum Vorscheine; 
dabei ist die Pupille gewöhnlich erweitert. Diese Anfälle, 
bei denen die Gliedmassen nicht so steif gestreckt sind als 
beim Tetanus, nehmen anfangs zu und dann wieder allmäh- 
lich ab. Wenn dieser Zustand den höchsten Grad erreicht 
hat, wird oft etwas dunkelgelber Urin entleert. Respiration 
und Herzschlag sind beschleunigt. Mitunter wird ein kurzer 
krampfhaft ausgestossener, schreiender Ton hörbar. Das 
Bewusstsein ist während der Dauer des Anfalls (2—4 
Minuten) nicht vorhanden. Auch nach dem Aufhören der 
Krämpfe bleibt das Thier noch einige Zeit bewusstlos, und 
macht dann vergebliche Versuche um aufzustehen, wobei es 
im Anfange jedesmal hinfällt. Ist es einmal aufgestanden , 
so läuft es unaufhörlich in kleineren oder grösseren Kreisen 
herum, und zwar mit relativ grosser Kraft und Geschwin- 
digkeit; dabei stösst es seine Nase an alle Gegenstände, 
welche ihm in den Weg treten, als ob es blind wäre. Mit- 
unter steht es unbeweglich da, ehe es seine automatischen 
Bewegungen anfängt, welehe uns unwillkührlich an die alten 
Beschreibungen der chorea cursoria erinnern. Dieses Herum- 
laufen geschieht entweder nach rechts oder abwechselnd nach 
rechts und links, und dauert 5 bis 10 Minuten. Je mehr 
das Bewusstsein zurückkehrt, um so regelmässiger werden 
die Bewegungen, sodass endlich der Gang und die Reaction 
auf die Sinnesorgane (Gehör, Gesicht, Gefühl) ganz normal 
werden. Nach einiger Zeit folgen wohl mitunter noch einige 
krampfhafte Zuckungen in den hinteren Extremitäten ; sie 
haben aber keine weiteren Folgen. Das Thier legt sich nun 
ganz gleichgültig in eine Ecke, ist kalt, weigert sich aufzu- 
stehen und die ihm gebotenen Speisen und Getränke zu 
nehmen. Diese allgemeine Abgeschlagenheit dauert so wäh- 
rend des ganzen Tages; am folgenden Morgen findet man das 
Thier wiederum so gesund und fröhlich wie zuvor. 

Wenn die dargereichte Dosis Santonin noch vergrössert wird, 
und nun 12 bis 30 gr., auf einmal oder in zwei bis drei 
Theilen gegeben wird, so entsteht dasselbe Krankheitsbild , 


238 


aber früher, schon nach 35 bis 40 Minuten, und kräftiger, 
sodass die Krampfanfälle und die Geschwindigkeit, womit sie 
einander folgen, in geradem Verhältnisse sind zu der ange- 
wendeten Menge Santonin, wobei die Dauer eines jeden An- 
falles stets länger wird, bis die Affeetion ihre Acme erreicht; 
die Steifheit der Glielmassen ist dabei viel stärker ausge- 
drückt. Die Anfälle treten schliesslich mit Intervallen von 
4 bis 1 Stunde Ruhe auf. Auch nachdem solche Dosen ihre 
Wirkung gehabt, ist das Thier am folgenden Tage wiederum 
ganz hergestellt. 

Werden 30 bis 60 gr. gereicht, in verschiedene grosse 
Dosen vertheilt, so folgt anstatt emprosthotonos, opisthoto- 
nos, und nachdem etwa zwanzig Anfälle statt gefunden ha- 
ben, treten Lähmungserscheinungen auf. Sie treten zuerst 
in den Hinterfüssen, dann in den Vorderfüssen auf und ver- 
hindern nicht, dass das Thier nach jedem Anfalle, wiewohl 
mit Mühe, aufsteht, was endlich auch nieht mehr geschehen 
kann. Auch das Bewusstsein kehrt endlich nach jedem er- 
neuerten Anfaile nicht mehr so völlig zurück. Wird kein 
Santonin mehr gereicht, so kann das Thier nun noch wie- 
der genesen. 

Wird dagegen noch immer mit dem Santonin fortgefah- 
ren, so dass in toto 60 bis 100 Gr. verbraucht werden, 
so stirbt das Thier in einem der Anfälle, höchstens nach 
36 Stunden. Giebt man dagegen 90 Gr. in drei Dosen, 
jedesmal mit einer Zwischenpause von einer Stunde, so sieht 
man eine Stunde nach der ersten Dosis ohne irgend einen 
vorhergegangenen Aufregungszustand, die erwähnten Convul- 
sionen eintreten. Diese wiederholen sich nun Anfangs mit 
Pausen von 30 bis 40 Minuten, später aber noch geschwin- 
der, auf die obenbeschriebene Weise, während nun auch 
ausserhalb der Anfälle und während des unaufhaltsamen 
Herumlaufens intensiverer Speichelfluss wahrzunehmen ist. 
Nach dem Gebrauche der dritten Dosis bleibt das Bewusst- 
sein weg, und kräftige äusserlich angebrachte Sinnesreize, 
wie plötzliches Anstossen, lautes Auftreten auf den Boden 
u. 8. w., sind von Einfluss auf die Wiederholung der An- 


239 


fälle. Es geschieht aber in der Regel duchaus nicht in dem 
Grade, wie es bei Thieren, welche mit Strychin vergiftet 
sind, aufzutreten pflegt. Nach ungefähr 8 Stunden stirbt 
das Thier in einem heftigen Anfalle von Opisthotonos, mi- 
tunter einen schreienden Laut von sich gebend. Inzwischen 
sind wohl 13 bis 22 Anfälle vorhergegangen. 

Wir fanden an den Leichen der Hunde — welche keine 
Eingeweidewürmer beherbergten — Folgendes: Stark ausge- 
sprochener rigor mortis, schon innerhalb der ersten Stunde 
nach dem Tode auftretend. Die Kiefer fest an einander 
geschlossen, die Oberlippe nach oben gezogen und mitunter 

schaumiger Speichel an Mund und Nase. In den Verdauungs- 
| organen, den Nieren und der Blase waren keine Abweichungen 
vorhanden; die Menge Urin, welche in der Blase enthalten 
war, war so gering, dass sie nicht chemisch untersucht 
werden konnte. Die Lungen waren hyperaemisch, enthielten 
einzelne mehr dunkele, infiltrirte Stellen, erepitiren überall 
gut. In der Luftröhre war mitunter eine kleine Menge blu- 
tigen Schleimes vorhanden. Das Herz zeigte alle Höhlen mit 
dunkelrothem eoagulirtem Blute gefüllt; in den linken Höhlen 
jedoch weniger als in den rechten. Die grossen Venen ent- 
hielten dunkeles, nicht sehr flüssiges Blut. Die Hirnhäute, 
sowie die des oberen Theiles des Rückenmarkes waren eini- 
germaassen injieirt. Das Gehirn selbst, das verlängerte Mark 
und das Rückenmark boten keine äusserlich sichtbaren Ver- 
änderungen dar. 

Das verlängerte Mark und das Rückenmark wurden auch mi- 
kroskopisch untersucht und dabei wurde eine besonders starke 
Capillar-Injeetion wahrgenommen, die beim Vergleiche mit ähn- 
lichen Theilen von gesunden Thieren nur noch mehr aufüel. 
Wir haben dabei die genug bekannte Methode van Schroeder 
van der Kolk und Ekker befolgt. 

Wir hätten so gerne noch weitere Untersuchungen ange- 
stellt, z. B. über das Verhalten des Santonins im Blute, ob 
es unverändert in das Gefässystem übergeht oder ob es da- 
bei zerlegt wird, ob es unverändert im Urin zurückgefunden 
werden kann, ob es körperliche Veränderungen im Gebiete 


240 


der Gesichtsnerven bedingt u. s. w. Wir haben aber diese 
Untersuchungen zum Theile für spätere Zeit aufgehoben, 
zum Theile mussten sie unterbleiben wegen der wenig 
ausgeprägten Reactionen des behandelten Körpers. Inzwi- 
schen glaubten wir aus den oben mitgetheilten Versuchen 
folgende sowohl für die medieinische Praxis als auch für die 
toxicologische Wissenschaft nicht unbedeutende corallaria ab- 
leiten zu dürfen: 

1.) Santonin kann als Gift wirken. 

2.) Als solches scheint es im Allgemeinen zu den narco- 
tica spinalia zu gehören, ohne, wenigstens an der Leiche, 
wahrnehmbare irritirende Nebenwirkung, wovon jedoch bei 
dem Menschen, durante vita symptomatische Spuren ange- 
troffen werden. 

3.) Seine Wirkung, bei Anwendung grosser Dosen, erin- 
nert an die tetanischen Gifte. 

4.) Bei relativ geringen Dosen, wie z. B. von 6 Grm., 
ruft es bei Hunden schon den Anfang toxischer Wirkung hervor. 

5.) Bei Anwendung grosser Dosen von 60-90 Grm. kann 
es für diese Thiere relativ geschwind tödtlich werden. 

6.) Das Santonin verräth seine Wirkung dann zuerst in 
der Sphäre der Bewegungsnerven, welche sich kundgibt 
durch krampfhafte Muskelcontractionen ohne erhöhte Em- 
pfindlichkeit. Der Verlauf der Affeetion verräth eine von 
unten nach oben fortschreitende Wirkung auf den Bewegungs- 
theill des Rückenmarkes. Das tödtliche Ende scheint auf 
Rechnung von Krampf der Respirationsmuskeln und der Mus- 
keln des Kehlkopfes zu kommen. Dieser Krampf kann als 
Ursache der endlich folgenden Asphyxie betrachtet werden. 

7.) Die Leichen-Erscheinungen. — Lungenhyperämie , über- 
fülltes Herz, Hyperaemie der cerebro-spinalen Häute und 
Capillar-Injection der medulla spinalis und oblongata — stehen 
wahrscheinlich in causalem Verbande sowohl mit den con- 
vulsiven Contractionen der Muskeln, als auch mit dem deut- 
lich asphyctischen Tode. 

Ohne aus diesen Versuchen übereinstimmende Wirkun- 
sen beim Hund und beim Menschen geradezu herleiten 


241 


zu wollen, glauben wir doch, -— namentlich mit Berücksich- 
tigung der Beobachtungen über die Wirkung des Santonins 
auf den Menschen — schon jetzt hinreichende Gründe ange- 
führt zu haben für unsere, auch schon früher angenommene 
Ansicht: dass Santonin keineswegs als ein unschuldiges Heil- 
mittel betrachtet werden darf. 

Auf Veranlassung des Angeführten glauben wir die Auf- 
merksamkeit der sogenannten politia medica in unserem Lande 
auf die Vorsichtsmaassregel richten zu müssen, um den freien 
Verkauf des Santonin enthaltenden Wurmkuchens fortan nicht 
mehr unbeschränkt zu erlauben. In Baden ist schon im Jahre 
1853 den Apothekern mit Recht verboten, ihn ohne Vorschrift 
von befugten Aerzten zu verabfolgen. 


Nachschrift. Exrst während des Abdruckes dieses Beitrags 
kam uns eine mehr oder weniger ähnliche wiewohl un- 
gleichartige Arbeit von Dr. E. Rose zu Gesicht, welche den 
Titel führt: „Ueber die Wirkung der wesentlichen Bestand- 
theile der Wurmblüthen”’ !). Wir halten es nicht für über- 
flüssig ein kurzes Resume hier folgen zu lassen. 

Schreiber fängt mit 4 an Kaninchen angestellten Versuchen 
an, denen er 4 bis 1 Drachme Santonin („gepulverte kıy- 
stallisirte Santonsäure”) gab. Nur eines blieb im Leben; 
die anderen drei starben, wie Schreiber glaubt, an zufälligen 
Umständen; eines während des Einführens der Röhre, ein 
zweites an dem hinzugefügten Alcohol, das dritte weil es 
ein Stück grüner Tapete gefressen hatte (?). 

Darauf folgen Versuche an Fröschen, welche in einem 
grossen mit Wasser gefüllten Behälter sich fanden, dem ein 
wenig Santonin 1 & 2 gr. (Gran oder Gramme) hinzugefügt 
war. Es starben nur zwei Frösche; einer schon nach 16 
Stnnden. Und doch glaubt Dr. Rose, dass auch ihr Tod 
wohl aceidentell gewesen sei „durch die Austrengungen!” 

Drittens stellte Dr. Rose Versuche an sich selbst an, was 
höchst verdienstlich ist. Er nahm einmal 3 Gr. + 3 Gr.; am 


1) Archiv £. p. An. u. Ph. v. Virchow,N.F.,B. 6. H.3. 1859. 8. 233. 


242 


folgenden Tage 4 + 8 Gr.; ein andernes Mal 10 + 10 Gr.; 
als vierter Versuch noch einmal 10 Gr. auf einmal. Mit Aus- 
nahme von höchstbedeutenden Selbstbeobachtungen über Chro- 
matopsie und über Modificationen in der Farbe, der Menge 
und dem speeifischen Gewichte des Urins, empfand Rose 
nur wenig Erwähnenswerthes; inzwischen finden wir „Blä- 
hungen , ein unangenehmes Gefühl von Aufgedunsensein des 
Kopfes, Uebelbefinden, eigenthümliche Abgeschlagenheit bis 
zum fünften Tage anhaltend, fortwährende Neigung zum 
Trinken, Kopfschmerz !!’”’ notirt. 

Nach allen diesen negativen Resultaten stellt sich R. die 
Frage, ob alle von Anderen erwähnten Erscheinungen auf 
falscher Beobachtung beruhen oder ob die Wurmblüthen viel- 
leicht noch andere wirksame Bestandtheile enthalten als das 
gebräuchliche Santonin ? Er versuchte nun das oleum cinae 
aelhereum („Santonöl”) und zwar zuerst an Kaninchen, denen 
er Dosen von 1 Unce (!), 3 Drachmen, 1 Drachme und } 
Dr. gab. Sie starben alle bald nach Verlauf von 13 bis 13 
Stunden, mit Ausnahme des Kaninchens,, welches die letz- 
erwähnte kleinste Dosis erhalten hatte. An und für sich 
war diese Dosis nicht tödtlich, wurde es aber, wenn sie 
wiederholt wurde unter Anfällen von rechtsdrehenden Kräm- 
pfen und Versteifung. Die Lungen enthielten viel Blut und 
waren dunkel gefärbt. In den Luftwegen war viel Schaum. 
Der Magen gefleckt, aber nicht so pantherförmig als bei an- 
deren ätherischen Oelen, und ohne jeden Substanzverlust 
der submucosa.. Duedenum punktförmig geröthet; Blutkör- 
perchen in dem Chylusraume der villi. Nieren injieirt, mit 
Epitheliumeylindern versehen. 

Zweitens wurde ein ähnliches tödtliches Resultat an einer 
Katze erhalten, welche in 5 Viertelstunden 5 Drachmen per 
os erhalten hatte. 

Ferner nahm R. einige Versuche mit kleinen, nicht tödt- 
lichen Dosen von 10 bis 30 Tropfen vor, vorzüglich in der 
Absicht um über dle Zweckmässigkeit dieses Mittels als ver- 
mifugum zu urtheilen ; er kann es aber aus näher entwickelten 
Gründen als solches nicht empfehlen. 


243 


Endlich versuchte Rose noch die Wirkung einer Verbin- 
dung von Santonsäure (Santonin) mit Natron (santonsaures 
Natron) um zu untersuchen, ob es, wie Küchenmeister 
will, ein mehr unschädliches Präparat darstellt. R. fand 
gerade das Gegentheil, da zwei Drachmen für Kaninchen 
schon tödlich wurden , und eine Drachme schon bedeutende 
Krampfanfälle hervorrief. Diese kräftige Wirkung erhält 
es durch geschwindere Resorption. 

Dr. Rose kommt nun zu folgendem Schlusse: 

„Die durch Santonin verursachten Unglücke sind bewirkt 
entweder durch Verunreinigung des Präparates mit Santonöl, 
oder durch Verwechslung des Santonins mit Strychnin, 
oder durch den Einfluss der iu Bewegung versetzten Einge- 
weidewürmer oder durch eine oder die andere zufällig gleich- 
zeitig vorhandene Krankheit.” 

Wir müssen diesem Schlusse unsere Zustimmung versagen , 
wie unsere Versuche und Beobachtungen übrigens hinreichend 
beweisen. Das von uns benutzte Präparat war reines San- 
tonin, geruchlos, enthielt kein ätherisches Santonöl und wirkte 
nichtsdestoweniger sehr kräftig und mehrmale lethal auf 
Hunde. Rose dagegen hat den Beweis der Unschädlich- 
keit des Santonins gar nicht geliefert. Erstens behandelt 
er den tödtlichen Ausgang einiger seiner Fälle zu flüchtig, 
indem er ihn zufälligen Umständen zuschreibt. Zweitens 
hat er wohl bewiesen, dass er grosse Dosen dieser Substanz 
vertragen kann , hatte aber nichtsdestoweniger Empfindungen, 
welche jüngere und empfindlichere Subjeete vielleicht in viel 
höherem Grade affieirt haben würden. Endlich zeigt er durch 
seine Versuche mit Santonas sodae, dass dieses Mittel (nicht 
durch das Natron, sondern durch die Santonsäure — Santo- 
nin) einen kräftigen und lethalen Einfluss auf Kaninchen 
haben kann. Und dabei konnte von Verunreinigung mit San- 
tonöl keine Rede sein! Rose hat nun bewiesen, dass, wie 
man a priori erwarten konnte, das etherische Oel der Wurm- 
blüthen so vielen anderen etherischen Oelen ähnlich wirkt, 
die, wie Mitscherlich’s berühmte Experimente gelehrt ha- 
ben, in grossen Dosen, namentlich für Kaninchen tödtlich 


244 


werden können, durch ihre eigenthümliche Wirkung auf den 
tractus, und durch geschwinden Uebergang in’s Blut mit 
reizender Nebenwirkung auf Lungen und Gehirn. Diese Be- 
obachtung beweist aber nichts für das Santonin. Rose hätte 
wenigstens darthun müssen, dass Santonin mitunter oder so- 
gar oft Santonöl enthält, und zwar in nicht unbedeutender 
Menge. Davon wird aber nichts erwähnt, und das konnte 
wohl schwerlich, denn diese Verunreinigung verräth sich 
alsbald durch den Geruch und das Zerfliessen des Santonins. 
Was R. weiter über Vermischung mit Strychnin sagt u. s. w. 
gehört zum Reiche der Hypothesen, gerade so wie die „ac- 
cessorischen Krankheiten” und die ganz „zufälligen Umstände” 
vermittelst deren er die scheinbar nachtheilige Wirkung des 
Santonins in einigen seiner Versuche und in den Beobach- 
tungen Anderer erklärt haben will. 


(Nederl. Tijdschr. voor Geneesk.) 


n 
En a a en 


Veber Imbibition thierischer Membrane. 


von 


Dr. J. W. GUNNING. 


Im Anfange des Jahres 1858 hat Liebig eine chemische 
Untersuchung unter dem bescheidenen Titel: Ueber einige 
Eigenschaften der Ackerkrume veröffentlicht, welche ziemlich 
allgemein die Aufmerksamkeit rege gemacht hat wegen der 
grossartigen Aussprüche, welche er auf die Resultate dieser 
Arbeit gründete._ Thom. Way und andere englische Agri- 
eulturchemiker hatten gelehrt, dass Ackererde mit flüssigem 
Dünger in Berührung gebracht, gewisse darin aufgelöste Stoffe 
absorbirt und so zu sagen bindet, so von den anorganischen 
Substanzen: Kali, Ammoniak und phosphorsaure Salze. Lie- 
big dehnte diese Untersuchungen weiter aus und nahm an, 
dass baubare Ackererde im Allgemeinen sich den Lösungen 
dieser mineralischen Substanzen gegenüber verhält wie die 
Kohle zu gefärbten Lösungen. Die Lösungen nämlich dieser 
Mineralsalze mit einer hinreichenden Menge guter Ackerde 
geschüttelt, oder durch dieselbe hin filtrirt, geben ihr die er- 
wähnten Bestandtheile ab, das abfliessende Wasser ist frei 
von Kali, Ammoniak und Phosphorsäure. 

Wenn Liebig nun hieraus herleitet, dass genannte für 
das Pflanzenwachsthum unentbehrliche Substanzen in unauflös- 
licher Form in dem Boden vorhanden sind, dass sie sich 
nicht nur nicht in demselben verbreiten, sondern auch sogar 
nicht durch das Wasser, das den Boden befeuchtet, in die 

1, 17 


246 


Wurzel der Pflanzen geführt werden können, kurz wenn 
Liebig daraus folgert, dass die einfache Vorsteilung, der ge- 
mäss die Pflanze ihre Nahrung in gelöster Form, auf osmo- 
tischem Wege, dem Boden entlehnt, ganz falsch ist!) und wenn 
er ein anderes von der Pflanze selbst ausgehendes Agens 
sucht, wodurch sie die in unauflöslichem Zustande vorhan- 
denen Substanzen wieder löslich macht, um sie sich anzueignen, 
so scheinen die Schlüsse nicht frei von Exageration zu sein. 

Der Einfluss guter Erde auf Salzlösungen ist chemischer 
und physikalischer Art; dies darf bei der Beurtheilung der 
Bedeutung dieser Facta nicht übersehen werden. Das rein 
Physikalische lässt sich aber in Wirklichkeit aus diesen com- 
plieirten Wirkungen nicht isoliren und mit anderen Facta 
vergleichen; dies kann 'nur auf dem Wege der Abstraction 
geschehen. 

Man nimmt allgemein an, dass thierische Membranen aus 
Salzlösungen von gewisser Stärke, womit sie getränkt werden, 
eine Flüssigkeit von geringerer Concentration aufnehmen. 

Die Flüssigkeit, welche die thierische Membran umgiebt, 
wird reicher an Salzgehalt; der resorbirte Theil dagegen 
ärmer. Die Ackererde — als physikalisch resorbirender Kör- 
per betrachtet — zeigt offenbar in Bezug auf die Kali-, 
Ammoniak- und phosphorsauren Verbindungen das Gegen- 
theil; der Salzgehalt der absorbirten Flüssigkeit nimmt zu, 
der der übrigbleibenden nimmt ab. 

Wenn die Salzlösung, mit der eine thierische Membran 
getränkt wird, durch Hinzufügen von Wasser allmählig ver- 
dünnt wird, so wirkt dies verdünnend auf den absorbirten 


- Theil, und zwar in demselben oder in noch höheren Maasse ; 


letzterer aber wird durch chemische Untersuchung eher salz- 
frei gefunden werden, als die auswendige Flüssigkeit. 

Bei der Ackererde, wenn man sie als einen porösen Kör- 
per betrachtet, geschieht das Gegentheil. Hier wird die aus- 
wendige Flüssigkeit eher = OÖ sein als die inwendige, d.h. 
wenn Ackererde mit der Lösung von einer dieser Substanzen 


1) Chemische Briefe, 4° Auflage II. S. 261. 


247 


geschüttelt wird, so nimmt der Gehalt der Lösung ab, und 
bei einem gewissen Grade der Verdünnung wird das ge- 
brauchte Salz nicht mehr durch Reagentien in der Lösung 
nachgewiesen werden können. 

Der Gehalt von einer der beiden Flüssigkeiten wird aber 
ebenso wenig in der thierischen Membran als ausserhalb der 
Ackererde je = OÖ werden können; immer wird ein gewis- 
ses Verhältniss (Verdünnungscoefficient) zwischen dem Oon- 
centrationsgrade der inneren und äussereu Flüssigkeit bestehen, 
welches jedoch von vielerlei Umständen abhängig sein muss. 

Nach dieser Vorstellung, welche ich hier nicht näher ent- 
wickeln werde, ist es erklärbar, dass eine beschränkte Menge 
Ackererde mit einer gewissen Menge Wasser gemischt, kaum 
bemerkbare Spuren von Ph 05, KaO, NH® an dasselbe ab- 
giebt, wiewohl sie eine gewisse Menge dieser Substanzen 
gelöst enthält; ebenso ist es zu erklären dass Ackererde, wel- 
che nicht mit löslichen Ph 0°, KaO, NH? Verbindungen ge- 
sältigt ist, aus verdünnten Lösungen dieser Substanzen so 
viel aufnimmt, dass sie diese Lösungen beinahe ihres gan- 
zen Salzgehaltes beraubt. 

Die absorbirten Substanzen sind aber nicht in unlöslichem 
unbeweglichem Zustande in dem Boden enthalten; sie wer- 
den in löslichem Zustande als imbibirte Flüssigkeit durch 
die Erdtheilchen zurückgehalten, aber an jeden Körper ab- 
gegeben, dessen Imbibitions-Vermögen für dieselbe Substanz 
ebensogross oder grösser ist. 

Schon im vorigen Jahre habe ich einigen wissenschaftlichen 
Freunden einige einfache Versuche gezeigt, welche darthun 
sollten, dass es durch diese Vorstellung möglich ist, ohne 
' irgendwelche neue Kraft zu Hülfe zu rufen, die Weise zu 
erklären, worauf die Pflanzenwurzel diesen Theil ihrer an- 
organischen Nahrung aus dem Boden aufnimmt. Seit jener 
Zeit, habe ich dies zum Gegenstand einer gründlicheren Un- 
‘tersuchung gemacht, deren Resultate ich bald mittheilen 
zu können hoffe. Dabei musste zunächst das, was über die 
Imbibition thierischer Membranen bekannt ist, berücksichtigt 
werden und darüber will ich jetzt Einiges anführen. 

170% 


248 


In Folgendem will ich das, was man von der Imbibition 
weiss, kurz zusammenfassen. 

1°. Thierische Membranen absorbiren Wasser in grösserer 
Menge als Salzlösungen, und von letzteren um so weniger 
je concentrirter sie sind. 

2°, Der absorbirte Theil von Salzlösungen hat stets einen 
geringeren Salzgehalt als der übrigbleibende Theil. 

Dieses letzte Gesetz, das für den Hauptzweck meiner Un- 
tersuchung die grösste Bedeutung hat und gerade dem ent- 
gegengesetzt ist, was man für das Verhalten einiger Salzlö- 
sungen zur porösen Ackererde gefunden hat, ist aus den 
Versuchen von Ludwig und Cloötta hergeleitet. Die Ver- 
suche scheinen jedoch unzureichend zu sein, um eine so 
wichtige Frage so auszumachen, dass kein Zweifel übrig 
bleibt, da die Methoden, welche dabei befolgt werden, nicht 
tadelsfrei genug sind. Ludwig bestimmte das Gewicht ei- 
nes Theiles einer thierischen Membran , den er bei 100° (oder 
in einem Bade von Kochzalzlösung) getrocknet hatte, legte 
ihn dann einige Zeit lang in eine Lösung von Kochsalz oder 
schwefelsaurem Natron, deren Gehalt bekannt war, trocknete 
ihn mit Filtrirpapier, bestimmte die Gewichtszunahme und 
endlich den Wasserverlust, wenn er von neuem auf 100° ge- 
trocknet worden war. Diese Bestimmungen geben die nö- 
thigen Data zur Berechnung der Zusammensetzung der ab- 
sorbirten Flüssigkeit, deren Gehalt von Ludwig stets um 
1—3°), niedriger geiunden wurde, als die ursprungliche. 
Cloötta verfuhr anders; seine Versuchsmethode ist aber auch 
einige Male von Ludwig als Controle benutzt. Er nahm 
ein bestimmtes Gewicht einer bekannten Salzlösung, legte 
die getrocknete und gewogene Membran in dieselbe, wieder- 
holte die Wägung nach der Imbibition, und zog die Gewichts- 
zunahme von dem ursprünglichen Gewicht der Flüssigkeit ab. 
Nachdem er so das Gewicht der zurückgebliebenen Flüssig- 
keit kennen gelernt hatte, bestimmte er auch ihren Gehalt; er 
fand, dass gerade so viel weniger an Wasser und Salzen übrig 
war, als die Membran aufgenommen hatte. Auch Clo&tta 
fand bei seinen Versuchen mit CINa und SO? NaO, dass die 


249 


Flüssigkeit, welche in die Membran aufgenommen ist, einige 
Procente ärmer als die ursprüngliche ist (Verdünnungseoeffi- 
cient für CINa in Mittel 0,83, bei verschiedenen Concentra- 
tionsgraden, für SO°’NaO 0,39 bis 0,57 je nach dem Gehalte 
der Lösung) !). 

Die Gründe, welche mich bestimmen, diesen Versuchen 
eine völlige Beweiskraft abzusprechen,, entlehne ich einestheils 
den Schwierigkeiten bei der genauen Bestimmung des Salz- 
' gehaltes einer Flüssigkeit, in welcher thierische Membranen 
eine Zeit lang verweilt haben, und anderntheils der Verän- 
derung, welche die Membran selbst während der Imbibition 
erfährt. Was letztere betrifft, so habe ich die Erfahrung 
gemacht, dass thierische Blase, mag sie auch noch so sorg- 
fältig in destillirtem Wasser ausgewaschen sein, einen be- 
merkbaren Gewichtsverlust erleidet, sobald sie in Salziösun- 
gen gelegt wird, indem eine grosse Menge durch Wärme 
und Essigsäure coagulirbare Eiweisssubstanzen ausgezogen 
werden. Ein Stück ausgewaschene Rindsblase während 24 
Stunden z. B. in eine Salpeterlösung gelegt, gab der Lösung 
8%, von ihrem Gewichte an Eiweisssubstanz ab (neben 5%, Mi- 
neralsubstanzen). Andere Salze wirken auf dieselbe Weise, 
jedoch in verschiedenem Grade. Es ist klar, dass den Lud- 
wig’schen Versuchen eine dadurch veranlasste Ungenauigkeit 
anklebt, von welcher auch Cloetta’s Versuche nicht ganz 
freizusprechen sind, wenn man zugiebt, dass der Herz- 
beutel des Rindes, den er bei seinen Versuchen gebrauchte, sich 
den Salzlösungen gegenüber höchstwahrscheinlich der thie- 
rischen Blase ähnlich verhält. 

Es schien mir daher höchst wünschenswerth den Versuch 
frei von diesen Fehlerquellen: zu wiederholen , und zwar in- 
dem die Zusammensetzung der in der Blase selbst enthaltenen 
Flüssigkeit bestimmt und mit der zur Imbibition benutzten 
Lösung verglichen wurde. Ein Stück Blase wurde mit des- 
tillirttem Wasser ausgewaschen und dann in der Luft und 
endlich bei 30° getrocknet; alsdann wurde es in. lange 


1) Tjaden Modderman, De leer der Osmose, p. 135. sqq. 


250 


schmale Stückchen zerschnitten, und eine gewisse Anzahl 
solcher Stückchen in eine chemisch reine Lösung von Chlor- 
kalium gethan, deren Gehalt zuvor durch Titrirung mit 
nitras argenti auf 8,88%, bestimmt war und so während 48 
Stunden in einer gut verschlossenen Flasche sich selbst über- 
lassen. Für die Bestimmung des Salz- und Wassergehaltes 
der imbibirten Blasenstückchen wurde nun folgendes Verfah- 
ren eingeschlagen : 

An den zwei einander gegenüberstehenden Seiten-Wänden 
eines viereckigen kupfernen Trockenapparates waren Oeff- 
nungen gemacht, welche mit Korkstopfen geschlossen wurden; 
in dem einen dieser Korkstopfen passte ein mit Chlorealeium 
sefülltes Röhrchen a, das dazu bestimmt war, das Wasser 
aus der Blase aufzunehmen, und zu dem Behufe an seinem 
freien Ende vermittelst einer Caoutchoukröhre mit einem As- 
pirator verbunden war, nachdem ein zweites Röhrchen mit 
Chlorealeium zwischen ihnen angebracht war, um zu verhin- 
dern, dass Wasserdämpfe aus dem Aspirator in das Röhr- 
chen a treten konnten. In der gegenüberstehenden Oeffnung 
des Trockenapparates war eine Röhre mit Watte enthalten, 
welche lufdicht erst mit einer Schwefelsäure enthaltenden 
Flasche verbunden war. Die Enden der in den Trockenap- 
parat auslaufenden Röhrchen waren luftdicht mit einander 
verbunden durch eine Röhre von dünnem Glase A, deren 
Enden an beiden Seiten mit durchbohrten Korkstopfen ver- 
sehen waren, in welche sie eingeschoben wurden. 

Nachdem man sich davon überzeugt hatte, dass alle Ver- 
bindungen luftdicht schlossen, wurde der Hahn des Aspira- 
tors geöffnet und während einiger Stunden ein trockener 
Luftstrom durch den Apparat geleitet, während die Luft 
im Trockenapparat eine Temperatur von 30° beibehielt und 
die Chlorcaleiumröhre a zu wiederholten Malen gewogen 
wurde. Als letztere an Gewicht nicht mehr zunahm, und 
man daraus schliessen konnte, dass die Korkstopfen , welche 
die Verbindung vermittelten, kein Wasser mehr verloren, 
wurden die Blasenstückchen aus der Chlorkaliumlösung her- 
ausgenommen, mit Filtrirpapier getrocknet und sehr rasch 


251 


in die (nun abgekühlte) Röhre A gethan, der Apparat dann 
wieder vereinigt und nun erst bei der normaleu und dann 
allmählig erhöhten Teinperatur ein ziemlich starker Luftstrom 
durch die Röhrenverbindung geleitet. Da die Wassermenge, 
welche so von den Biasenstückchen abgegeben wurde, be- 
deutender zu sein schien, als wir erwartet hatten, wurde 
eine zweite gewogene Chlorcaleiumröhre hinter a eingefügt; 
diese Vorsichtsmaassregel war aber überflüssig, denn diese 
Röhre hatte durchans nicht an Gewicht gewonnen, wie wir 
später erfuhren. Das Trocknen wurde endlich bei 130° Tem- 
peratur und bei einem schwachen Luftstrome beendet, und 
nachdem das Röhrchen a keine Gewichtszunahme mehr dar- 
geboten !), wurden die in A enthaltenen nun zu einem har- 
ten Klümpchen zusammengeschrumpften Stückchen Blase in 
einen Platintiegel gelegt, welcher halb bedeckt war, und so 
lange einer sehr schwachen Verkohlungshitze ausgesetzt wurde, 
als noch empyreumatische Producte entwichen. Die zurück- 
gebliebene Kohle wurde in einem Becherglase gesammelt und 
mit Wasser begossen, dann mit einem Stäbchen zerrieben, 
während langer Zeit erwärmt und endlich ohne Filtration 
mit nitras argenti titrirt. Die in der Flüssigkeit schwebenden 
Kohlenpartikeln verhinderten das richtige Erkennen des End- 
punktes der Reaction durchaus nicht °). 
Das Resultat war folgendes: 
Wassermenge —= 1,9145 Gr. (Gewichtszunahme der Chlor- 
caleiumröhre.) 
C1Ka = 0,1609 75 durch Fitriren bestimmt 
mithin 100 HO : 8,41 ClKa; 
in der ursprünglichen Flüssigkeit war dagegen diesesVerhältniss: 
100 29,74 


1) Während des Wägens wurde der übrige Theil des Apparates mit 
einem gut getrockneten Korkstopfen abgeschlossen. Uebrigens hatte 
ich mich schon vorher davon überzeugt, dass thierische Gewebe 
alles Wasser bei einer Temperatur von 130° in diesem Apparate 
abgeben konnten. 

2) Die Asche der zu diesen Versuchen benutzten Blase enthielt keine 
Chlormetalle, wie ein vorher angestellter Versuch gelehrt hatte. 


252 


Diese Bestätigung des Gesetzes von Ludwig und Cloetta 
ist für das Chlorkalium überzeugend und schlagend, und es 
ist darum erlaubt folgenden Versuch als einen Beweis zu 
betrachten, dass es allgemeingültig ist. Man thue eine durch 
feines Lycopodiumpulver getrübte, verdünnte Salzlösung in 
ein langes schmales Reagirgläschen, und stelle es dann in 
ein Schlangenglas mit Wasser, bis die Lycopodiumtheilchen 
zur Ruhe gekommen sind. Wenn man darauf in dem obe- 
ren Theile der Flüssigkeit ein Stückchen trockene aufgerollte 
Blase hält, so entsteht nach wenigen Augenblicken ein Strom 
in der Flüssigkeit, welcher durch das Lycopodium sichtbar 
gemacht wird. Die Blase entzieht der Flüssigkeit verhält- 
nissmässig mehr Wasser als Salz und die dickere Lage, 
welche demzufolge in dem oberen Theile der Flüssigkeit 
entsteht, sinkt nach unten. Auf diese Weise lässt sich die 
Erscheinung und sogar ihre relative Intensität bei einer 
Reihe von Salzlösungen anschaulich machen. Man muss na- 
türlich zu diesen Versuchen Blasenstückchen benutzen, welche 
keine in Wasser leicht und schnell löslichen Bestandtheile 
mehr enthalten, und somit in reinem Wasser keinen Strom 
seben. Man bereitet sich solche Blasenstückchen am besten, 
indem man sie während einiger Tage in Salpeterwasser legt, 
das zu wiederholten Malen erneuert wird, und indem man 
sie darauf sehr behutsam in grossen Mengen Wasser aus- 
wäscht, um sie dann in ein hohes schmales mit destillirtem 
Wasser gefülltes Glas zu hängen, dessen Inhalt von Zeit 
zu Zeit entfernt und durch neues Wasser ersetzt wird. 

Nachdem wir das erwähnte Gesetz als fudamentale Regel 
festgestellt haben, so entsteht die Frage nach der Zusam- 
mensetzung der Flüssigkeit, welche eine Blase imbibirt, die 
mit einer Lösung von verschiedenen Salzen in Berührung 
gebracht ist. Nehmen wir den einfachsten Fall, dass näm- 
lich nur zwei Salze in der Lösung sind, welche chemisch 
nicht auf einander einwirken, so dass wir voraussetzen kön- 
nen, dass die Theilchen beider Salze, jedes für sich, mit 
einer gewissen Menge Wasser zu einer Lösung verbunden 
sind, das heisst: dass die Lösung des Gemisches eine ho- 


, 


253 


mogene Mischung von Einzellösungen eines jeden der beiden 
Salze in Wasser ist. 

Es ist a priori wahrscheinlich, dass die durch Imbibition 
aufgenommene Flüssigkeit die beiden Salze in einem ande- 
ren Verhältnisse enthalten werde als die umgebende Flüs- 
sigkeit; es ist aber auch schon von Cloötta für eine 
Mischung von ClNa und SO3NaO dargethan. Die haupt- 
sächlichen Momente!, von denen Wesen und Grösse dieser 
Veränderung abhängig sind, scheinen folgende zu sein: 

1°. Der jedem Salz eigene Verdünnungscoefficient, d.i. das 
Verhältniss, welches zwischen dem Salzgehalte der Flüssig- 
keit in der Blase und dem in der umgebenden Flüssigkeit 
besteht, wenn sie durch Diffusion in den Gleichgewichts- 
zustand gekommen sind. Dieser Verdünnungscoöfficient ist 
wahrscheinlich für jedes Salz ein ihm eigenthümlicher, so 
weit sich dies nämlich vermuthen lässt, und wahrscheinlich 
nur für dieselbe Membran, bei derselben Temperatur, und 
bei demselben Concentrationsgrade constant. Mehr positive 
Data fehlen noch ganz. Ludwig’s Versuche sind für die- 
sen Zweck ganz unbrauchbar; Cloetta findet den Verdün- 
nungscoefficient für das Chlornatrium von dem Concentrations- 
grade unabhängig (bei Gehalten geringer als 25°,,) und wenig 
verschieden von dem, der aus meinem erwähnten Versuche 
für das Chlorkalium folgen würde. Für das natrium sulfuri- 
cum findet Cloetta dagegen, dass er sich mit dem Concentra- 
tionsgrade verändert. Bei einem Gemische von natrium sul- 
furieum und Chlornatrium blieb der Verdünnungscoöflicient 
des zweitgenannten Salzes derselbe, der des ersteren nahm 
aber sehr ab, und zwar umsomehr, je mehr das Chlornatrium 
in dem Gemische vorherrschte. | 

Dieses Gebiet ist, wie man sieht, so gut wie unbewan- 
delt. 

2°. Die chemische Natur der Salze scheint einen grösseren 
Einfluss auf die Veränderung der Zusammensetzung zu ha- 
ben, welche die Salzlösung bei der Imbibition erfährt. Eine 
Anzahl hierhergehöriger Versuche hat mich gelehrt, dass die 
Menge Salzlösung, welche in thierische Blase aufgenommen 


254 


werden kann, in hohem Grade von der chemischen Natur 
des in der Lösung vorhandenen Salzes abhängig ist, und 
zwar vorzüglich von der Art der Basis, wie aus Folgendem 
hervorgeht 1): 


I. 100 Th. lufttroekene Ochsenblase nehmen auf: 


aus einer gesättigt. CINa Lösung 96Jaus einer gesättigt. C]Ka Lösung 159 
a hs 34 NO-NAaO) 23204) 2 ».,NO°’KaO,.. 5, 55253 
RN 2uSOL. NAD. a »...802:Ka07 En 

Alaunlösung 62 

Sulf. cuprilösung 90 

Acet. plumbilösung 233 
Verdünnte ClCa lösung 135 


II. 100 Th. lufttrockene Ochsenblase (welche noch 13,87), 
bei 130° entweichendes Wasser enthielt) : 


dest; Wasser | .n c..ulark dal 
aus einer gesättigten CINa Lösung . 96 
NOSKaO, 2... 1.070080 
SOFKa0)ı 2. alle 
GLKa.. „00 2Dep8 


III. 100 Th. lufttrockene Kalbsblase : 


aus einer gesätt. CINa Lös. 97laus einer gesätt, ClIKa Lös. 204° 
„ „ F}) NO, NaO „ 170 ER) „ „ NO, KaO „ 332 


1) Für diese Versuche wurden Blasenstückchen von 3 bis 4 Gram ge- 
braucht, welche vorher mit einer grossen Menge destillirten Wassers 
ausgeknetet und gewaschen und darauf in der Sonne getrocknet wa- 
ren. Die Imbibitionszeit betrug nahegenug bei allen Versuchen 
24 Stunden. Die unter derselben Nummer angegebenen Versuche 
sind zu gleicher Zeit vorgenommen. Nach dem Versuche wurde das 
Blasenstück auf einen flachen Teller ausgebreitet und mit Filtrirpa- 
pier geschwinde an beiden Seiten getrocknet, ohne aber dabei irgend 
einen Druck auszüben. Die Wägung geschah in einem Porcellan- 
tiegelchen auf einer bei dieser Belastung für 2 milligr. empfindlichen 
Wage. Uebrigens lege man nicht zu viel Gewicht auf das Wort 
gesättigt; die Salzlösungen wurden so bereitet, dass die fein ver- 
theilten Salze eine Zeitlang ım Ueberfluss mit Wasser geschüttelt 
und darauf filtrirt wurden. 


255 


IV. 100 Th. lufttroekene Ochsenblase : 


aus einer Lösung von 5%, CO, NaO .„ 224 
2) ” ” BP] 5% 00? KaO . 275 


V. 100 Th. lufttroekene Ochsenblase : 


aus einer Lösung von 13%, ClNa . . 186 
„ ER) „ „ 13%, Cl Ka 5 = 241 


Wie wenig ähnliche Versuche auch geeignet sein mögen 
um numerisch genaue Resultate zu geben, so geht doch so- 
viel aus ihnen hervor, dass in dieser Hinsicht ein grosser 
Unterschied zwischen den verschiedenen Salzen besteht; ein 
Unterschied, der weder durch Differenz in der Löslichkeit, 
noch in dem Concentrationsgrade, in dem hygroscopischen 
Vermögen, in der Densität der Lösung oder durch irgend 
eine der bekannten physikalischen und chemischen Eigen- 
schaften dieser Salze erklärt werden kann. 

Wenn man Stückchen coagulirtes Eiweiss einige Tage lang 
im Exsiceator aufhebt, trocknen sie zu harten durchscheinen- 
den Stückchen ein, welche, wenn sie in destillirtes Wasser 
gelegt werden, wiederum nach einiger Zeit anschwellen, 
und durch Imbibition von Flüssigkeit undurchscheinend wer- 
den, und damit ihr ursprüngliches Aussehen wieder erlangen. 
Wenn man sie dagegen in Salzlösungen legt, so wird viel 
mehr Zeit dazu gefordert; während ein Stückchen getrock- 
netes Eiweiss schon nach einer Stunde in Wasser undurch- 
scheinend geworden ist, braucht ein ähnliches Stückchen in 
Chlorkalium, Salpeter, schwefelsaures Kali, phosphorsaures 
Natron gelegt dazu mehrere Stunden; etwas langsamer noch 
geschieht dies, wenn es in kohlensaures Natron, schwefel- 
saure Magnesia, oder schwefelsauren Kalk gelegt ist (beide 
letztere Salze wirken aber nebenbei auch chemisch auf das 
Eiweiss ein, durch die alkalische Reaction des Eiweisses auf 
das Salz, und üben dadurch Einfluss auf das Undurchscheinend- 
werden aus); noch viel langsamer geschieht das Undurchschei- 
nendwerden in schwefelsaurem Natron, Chlornatrium und Alaun. 
Eiweissstückchen können Tage lang in Alaunlösung liegen, 
ohne etwas von ihrer Durchsichtigkeit zu verlieren. 


zu 


256 


Von den mitgetheilten Ziffern müssen die, welche Kali 


oder Natronsalze betreffen, etwas näher betrachtet werden , 
da die Vergleichung dieser zwei in chemischer Hinsicht so 
ähnlichen Salzreihen in Bezug auf das eben Behandelte einen 
so bedeutenden Unterschied zeigen. In jeder der mitgetheil- 
ten Reihen fällt die Ziffer für die Kalisalze stets viel höher 
aus als für die Natronsalze, auch dann noch, wenn der Con- 
centrationsgrad beider Lösungen einander nahegenug oder ganz 
gleich war. Der Unterschied war zwar bei verschiedenen Bla- 


sen nicht gleich gross, fiel aber stets in demselben Sinne aus, 


sowohl bei verdünnten als bei mehr concentrirten Lösungen. 

Ich legte von zwei gewogenen Stückchen Blase das eine 
(I) in gesättigte Kochsalzlösnng, das zweite (II) in gesättig- 
tes Salpeterwasser; I hatte nach 24 Stunden 95°, an Gewicht 
zugenommen, II dagegen 236%. II ward nun in die Koch- 
salzlösung und I in das Salpeterwasser gethan, und nachdem 
sie nochmals 24 Stunden in offenen Gläsern verweilt hatten, 
hatte I 350%,, II 382°, an Gewicht gewonnen. Aus diesen 
Versuchen geht ganz klar hervor, dass die Kochsalzlösung, 


welche I bei der ersten Imbibition durchdrang durch die ° 


Salpeterlösung ganz verdrängt war, sodass dieses Blasen- 
stück, nachdem es erst 24 Stunden in der Kochsalzlösung 
und darauf 24 in der Salpeterlösung verweilt hatte, gerade 
so viel Flüssigkeit aufgenommen hatte, wie wenn es 2X 24 
Stunden in Salpeterwasser gelegen hätte. Die Salpeterlö- 
sung, welche II aufgenommen hatte, ist dagegen nieht durch 
die Kochsalzlösung verdrängt worden; die Blase nimmt da- 
gegen noch an Gewicht zu, bleibt schlaff und elastisch, 
während eine mit Wasser getränkte Blase in Kochsalzlösung 
gelegt, hart und steif wird. 

Wenn man auf eine mit Wasser gesättigte Blase chemisch 
reines und trockenes Chlornatrium legt, so zerfliesst es inner- 
halb sehr kurzer Zeit und die Blase bedeckt sich mit Pöckel. 
Das Wasser in der Blase löst Chlornatrium auf, und da die 
Blase viel weniger Chlornatriumlösung als reines Wasser 
aufnimmt, so muss ein gewisser Theil ausgetrieben werden 
(Liebig). Ist aber die Blase zuvor nicht mit reinem Was- 


257 


ser, sondern mit einer gesättigten Chlorkaliumlösung ge- 
‚ tränkt, so bleibt das darauf gelegte Chlornatrium ganz trocken, 


ı obgleich gesättigte ClKa Lösung noch im Stande ist CI Na 
‚ aufzulösen, wie aus der Temperaturerniedrigung hervorgeht, 
‘ welche eintritt, wenn sie damit geschüttelt wird. 

Es geht aus dem Mitgetheilten hervor, dass gelöste Kali- 
salze von thierischer Blase in grösserer Menge aufgenommen 
und mit grösserer Kraft zurückgehalten werden als die ent- 

‚sprechen Natronsalze. Da nun der imbibirte Körper nicht 
chemisch wirkt, so ist es wohl wahrscheinlich, dass alle 
thierischen Membranen diese Eigenschaft besitzen; und somit 
können wir den Unterschied dieses Verhaltens von Kali- und 
Natronsalzen wohl als eines der physico-chemischen Agentiön 
im thierischen Organismus betrachten !). 


1) Ich will hier noch folgenden Versuch erwähnen, den ich erst spä- 
ter ausgeführt habe, und welcher den directen Beweis liefert, dass 
die thierische Blase aus einer Lösung von Kalı- und Natronsalzen 
mehr Kalisalze aufnimmt. 

In eine genau gewogene Lösung von chemisch reinem Chlorna- 
trium und Chlorkalum, wurde ein Stückchen thierische Blase von 
bekanntem Gewichte gelegt, das soviel wie möglich von löslichen 
Substanzen befreit und über Schwefelsäure getrocknet war. 

Es blieb während 24 Stunden in der zusammengesetzten Lösung, 
welche in einer verschlossenen Flasche enthalten war. Nach Ver- 
lauf dieser Zeit wurde die Gewichtszunahme der Blase, und die 
Zusammensetzung der noch übrigen Flüssigkeit genau bestimmt, 
indem sowohl der ganze Salzgehalt als der Chlorgehalt erforscht 
wurde Da somit die absolute Menge Wasser und Salze vor und 
nach dem Versuche bekannt waren, konnte die Zusammensetzung: 
der in die Blase übergegangenen Flüssigkeit durch Rechnung dar- 
aus hergeleitet werden. Das Resultat war: 


Procentische Zusammensetzung 
der Flüssigkeit. 


vor der nach der in die Blase 


Imbibition. Imbibition. übergegangen. 
Chlorkalıum, 202. 2,.254.77 4.50 zZ 
Chlornatrmm. . 2.7. ... ‚2.15 2.62 1.44 
6.92 2.12 6.61 


Verhalten von ClNa:ClKa1:2,22 1:1,72 1: 3,58. 
Die Blase hatte bei diesem Versuche 334°/, an Gewicht gewonnen. 


258 


Es ist mir kein anderes Verhalten in der Physiologie der 
Kali- und Natronsalze bekannt, das einigermaassen mit dem 
Unterschiede, den sie bei der Imbibition zeigen, in Bezie- 
hung steht, als allein ihre verschiedene Diffusionsgeschwin- 
digkeit. Als Graham die Diffusionsgeschwindigkeit von 
einigen isomorphen Salzen gleich fand, hat er in der Reihe 
der Alcalisalze die Natronsalze zurückhalten müssen, da ihre 
Diffusionsgeschwindigkeit bei seinen Versuchen viel geringer 
gefunden wurde als die der entsprechenden Kali- und Am- 
moniaksalze. 

Aus 10%, Lösungen diffundiren nach Graham in 8 Ta- 
gen |): 

Chlornatrium 32,2 nitras sodae 30,7 

Chlorkalium 40,2 nitras potassae 35,5 

Chlorammonium 40,2 nitras ammoniae 35,3. 
Da aus diesen Beispielen die Correlation von Imbibitionsge- 
schwindigkeit und Diffusionsgeschwindigkeit hervorgeht, so 
muss zweifelsohne eine ähnliche Uebereinstimmung mit der 
Geschwindigkeit der Osmose bestehen, da ja die Osmose 
nur eine modifieirte Diffusion ist. Wir besitzen aber noch 
zu wenige Data, um die Kali-Natron-Ammoniakzalse in die- 
ser Hinsicht mit einander vergleichen zu können, da wie 
bekannt die osmotischen Untersuchungen bis jetzt haupt- 
sächlich die Kenntniss der osmotischen Aequivalente be- 
zweckten ?). 

Wir haben hier ein geräumiges Feld für Untersuchungen 
vor uns, das reiche Aernte für die Physiologie von Pflanzen 
und Thieren verspricht. Wenn es sich bestätigen sollte, 
dass die Imbibitions- und Diffusionserscheinungen in so naher 


1) Jahresbericht von Leibig und Kopp 1850. S. 18. 

2) Die Untersuchung nach der osmotischen Geschwindigkeit von Salzen 
ist höchst schwierig, da die Osmose sowohl aus dieser als aus dem 
osmotischen Aequivalent zusammengesetzt ist, und letzteres daher 
zu gleicher Zeit bestimmt werden muss. Eine Versuchsreihe über 
die osmotische Geschwindigkeit von Kali- und Natronsalzen habe 
ich halberwegs vorläufig aufgeben müssen, da ich nicht allen dabei 
in Acht zu nehmenden Bedingungen genügen konnte. 


259 


Beziehung stehen, dass letztere als Factor der ersten betrach- 

tet werden darf, so werden auch die chemischen Zersetzun- 
gen und Umwandlungen, welche nach Graham’s schönen 
Versuchen die Diffusion veranlassen kann, bei der Imbibition 
und der Osmose Statt finden; und die noch so dunkelen 
Funktionen der pflanzlichen und thierischen Gewebe bei dem 
Ernährungsprocesse werden dabei insoferne gewinnen, als 
sie besser durch chemische und physikalische Gesetze werden 
erklärt werden. 

Schliesslich will ich noch mit einem Worte erwähnen, dass 
das verschiedene Imbibitionsvermögen thierischer Gewebe für 
Lösungen von Kali- und Natronsalzen einiges Licht wirft 
auf die ungleiche Vertheilung dieser Basen in den Flüssig- 
keiten und Geweben des thierischen Organismus. Es ist be- 
kannt, dass die Gewebe des Thierkörpers von einer Flüs- 
sigkeit durchdrungen sind, welche relativ reicher an Kali-, 
ärmer an Sodasalzen ist, als ihre Ernährungsflüssigkeit. So 
verhalten sich z. B. die mineralischen Bestandtheile der Fleisch- 
flüssigkeit und der Blutcellen zu dem Blute. Beide sind rei- 
cher an Kalisalzen als das Blut, und dies findet seine Er- 
klärung darin, dass diese Organe keine Filtra sind , durch 
welche die Blutbestandtheile unverändert hindurchgehen, son- 
dern in und durch welche die Kalisalze in relativ grösserer 
Menge (oder mit relativ grösserer Geschwindigkeit) treten 
werden als die Natronsalze. Wenn man etwa erwarten sollte, 
dass Inhalt der Bluteellen und Blut, gerade wie zwei misch- 
bare Flüssigkeiten, welche durch eine osmosirende Wand 
getrennt sind, einander chemisch gleich werden müssten , so 
bedenke man, das die Blutcgllen nur eine kurze Existenz 
haben, welche nicht erlaubt, dass sich dieses Gleichgewicht 
herstelle, und dass ihr Inhalt somit von den Blutbestandtheilen 
am meisten aufweisen wird, deren osmotische Geschwindig- 
keit am grössten ist, d. i. sehr wahrscheinlich von denen, 
für welche die thierische Membran das grösste Imbibitions- 
vermögen hat (oder vielleicht die grösste Imbibitionsgeschwin- 
digkeit). 


rn nannAnAanannnnannnnnnnnnnnannnnnnnannnanaannan AAN nnnnnnnannannnann 


Beiträge zur Physiologie des Acidum Uricum 


nach 


Dr. B. J. STOKVIS. 


Ueber das Vorkommen von Acidum uricum 
in dem thierischen Organismus. 


D.. Stokvis hat die Resultate von Scherer und Cloetta 
über das Vorkommen der Harnsäure in der Milz, Lunge 
und Leber bestätigt gefunden. Zur Bereitung und Erkennung 
der Harnsäure in diesen Organen bediente er sich der Methode 
von v. Gorup-Besanez und von Cloötta. 

Cloötta hat die Harnsäure in der Leber des Ochsen nach 
gewiesen, Stokvis traf sie auch in der Leber des Schwei- 
nes, Hundes, säugender Kälber, Pferdes, und sogar des 
Menschen (Tod in Folge von Berstung eines aneurysma aor- 
tae) an. In den verschiedenen Lebern wurden auch Leuein, 
Tyrosin, bisweilen Inosit, und einmal (Schwein) Krystalle 
die denen des Allantoins ähnlich waren, nachgewiesen. 

Bei Kaninchen konnte kein ac. uricum in der Leber ge- 
funden werden. Ein Hund, zwei bis drei Stunden nach der 
Digestion getödtet, gab ein negatives Resultat ebenso wie 
die Leber eines während der Digestion getödteten Pferdes, 
und die Leber eines jungen Hundes, der fünf Tage gehun- 
gert hatte und darauf gestorben war. Auch bei Tauben 
fehlte die Harnsäure in der Leber. 


261 


In der Milz des Menschen, des Ochsen, des Kalbes, des 
Schweines, des Pferdes wurde Harnsäure gefunden, in grosser 
Menge beim Pferde. Die Milz von Hunden, Kaninchen, 
Tauben gab ungenügende Resultate. 

Ebenso wenig wie Clo&tta konnte St. Harnsäure in der 
Niere des Ochsen finden. Vergebens wurden auch Nieren 
von Schweinen, Pferden, Hunden darauf untersucht. Biswei- 
len, aber durchans nicht constant, wurden in den Nieren des 
Kalbes und des Menschen sehr geringe Mengen Harnsäure 
gefunden. 

Der Urin gut gefütterter sowie hungernder !) Kaninchen 
gab negative Resultate in Bezug auf das Vorhandensein von 
Harnsäure. Ebenso der Urin von Kühen und Schweinen. 

Die Frage nach der Ursache letzterer Erscheinung , wird 
für das Kaninchen einfach damit beantwortet, dass es dem 
negativen Befunde in den Organen entspricht. Das Fehlen 
der Harnsäure in dem Urine der Kuh und des Schweines 
giebt zu einem weitläufigen Raisonnement Veranlassung, das 
wir hier übergehen zu müssen glauben. Wir wollen nur 
bemerken, dass es zu dem Schlusse leitet, dass bei diesen 
Thieren ebenso wie beim Hunde (dessen Harn keine Harn- 
säure enthält) die Harnsäure in dem Blute oder in den Or- 
ganen umgesetzt werden muss. 


I. 


Ueber die Umsetzung des acid. urieum in 
dem Thierkörper. 


Neubauer?) hat die Versuche von Frerichs und Wöhler 


1) St. erwähnt hier des Vorkommens von Gallenfarbstoffen in dem 
Harne von hungernden Thieren, und glaubt dass diese Erscheinung 
darauf hindeute, dass dıe Gallen-Secretion nicht allein von der Er- 
nährung abhängig sei, und dass Gallenbestandtheile, wenigstens die 
Farbstoffe, von dem Darmkanale aus in das Blut aufgenommen 
werden können. 

2) Neubauer, Ueber die Zersetzung der Harnsäure u. s. w. Annalen 
der Chemie u. Phys. XCIX, S. 2061 

II. 18 


262 


über die Umwandlung von acid. uricum im thierischen Or- 
ganismus wiederholt. Er gab Kaninchen Harnsäure und fand 
den Harnstoff-Gehalt des darauf abgegangenen Urins stets 
erhöht. Ob neben dem Harnstoffe auch Oxalsäure gebildet 
war, konnte er nicht entscheiden, da der Urin der Kanin- 
chen auch im normalen Zustande Oxalsäure-haltend ist. Gal- 
lois!) glaubt dagegen die Resultate von Frerichs und 
Wöhler widerlegt zu haben. Unter diesen Umständen glaubte 
St. die Frage wieder aufnehmen zu müssen. Neubauer 
hat blos an Kaninchen experimentirt, in deren Organismus 
bis jetzt unter normalen Umständen keine Harnsäure nach- 
gewiesen ist. St. glaubte den Menschen und Hund als Ob- 
jecte zu seinen Versuchen wählen zu müssen, in deren 
Körper das Vorhandensein der Harnsäure nicht bezweifelt 
werden kann. 


1). Versuche an dem Menschen. 


Diese Versuche hat St. an seiner eigenen Person ange- 
stell. Er war damals 24 Jahre alt, 1,792 Meter lang, 
66,5 Kilogr. schwer; täglich war er 4—6 Stunden mit der 
Ausübung der medicinischen Praxis und 2—4 Stunden mit 
chemischen oder anderen Untersuchungen beschäftigt. Wäh- 
rend der Versuchszeit hat er stets genau dasselbe Regime 
in Bezug auf Nahrungsmittel in Acht genommen. 


1) Gazette Medicale 1857, p. 258. p. 403. 


263 


TABELLE 1. 


| 
Urin- Spec. 
Ureum | Menge ; 
menge |Gew.Re-| - , uric. | Harn- Bemerkung. 
in CC. | aktion. | !9 °/o. | Ureum. | ;n %.. | säure. 7 


ARmsmeeee mem | . 


7 März von 11 Uhr Abends 
‚bis 8 Uhr Morgens. . . 572 |1,016 | 1,63 | 9,60 Ex = 
8 März von ]]l Uhr Abends Sauer. 
‚  bis8 Uhr Morgens; um 
11 Uhr Abends 2,5 Uras 


kalice genommen... 612 !1,013°| 1,53 | 9,37 
9 März Abends 11 bis Mor- 
sens 8 Uhr... m..u..x! 557 11,013 1 1,43 | 7,96 
Morgens 8 bis Nachmit- 
tassı Uhr. se... 487 | 1,026 | 1,91 | 9,30 
1044 17,26 


‘0 März Abends 11 bis Mor- 
gens 8 Uhr, Abends 11 
Uhr. 5 Gr. Ur. NaO ge- 


MOIDMENN AL HE 631 1 1,0122) 3,33 8,39 Viel Körperbe- 
0 März Morgens 8 Uhr bis wegung. 
Nachmittags 5 Uhr. .. 647 11,012 | 1,75 | 11,31 
1278 19,70 


6 März Morgens 8 Uhr bis 


Morgens 8 Uhr... ... 977 |1,013 | 2,69 | 26,28 | 0,069 | 0,674 | Viel Bewegung 
1 März Morgens 8 Uhr bis 

Morg. 8 Uhr. Am Mor- 

gen um 8 Uhr 7,50 Gr. 

Ur. NaO eingenommen. | 1370 [1,026 | 2,16 | 29,59 | 0,067 | 0,928 | Wenig Beweg. 


Stokvis meint nun dass diese Zahlen so deutlich sprechen, 
dass sie jedes Raisonnement überflüssig machen, dass sie so- 
mit beweisen, dass ac. uric. in ureum umgewandelt wird. 
Er macht noch auf die Zunahme der Urinmenge mit Abnahme 
des spec. Gew. nach dem Gebrauche von Harnsäure auf- 
merksam. 


2.) Versuche an Hunden. 


Stokvis gab den Hunden Harnsäure enthaltende Ochsen- 
milz. Zu der in den folgenden Tabellen dargestellten Versuchs- 
reihe wurde eine trächtige Hündin gebraucht. Von den Ra- 
tionen wurden jedesmal die eine Hälfte Morgens um 7 Uhr, 

J3I* 


264 


die andere um 4 Uhr Nachmittags gereicht. Der Urin wurde 
durch Catheterisation nach der Methode von Limpricht und 
Falck gesammelt. 


TABELLE I. 
; Spec 
3 Urin- P Ureum | Menge | Ac.Ur. | Menge 
Diat. menge. Se in Ofo. Veen in of. | Ace. Ur. 
. 500 Gr.Fleisch '). 3 & 
21 Juni 955 CC HO 355 N 3,33. 13,00..120 0 
auer. 
. 500 Gr. Fleisch. 2 
22 Juni 215 CC HO. 185? | 1,039 4,28 1:90 0 
. 500 Gr. Fleisch. } 2, 
23 Juni 210 CC HO. 252 1,0405 | 4,35 | 10,95 | 0 0 


(>) 
oO 


Sour Mill a5 1,0szel "4,06° | nae 


24 Juni 949 cc HO. 


. 860 Gr. Miltz. 
25 Juni 234 CC HO. 276 1,033 3,50 9,56 | 0,049 | 0,134 


500 Er. Miltz, || 995 |'1ose | 3,87 | Lam Kolonne 


26 Juni "gu cc HO. 


Aus diesen Versuchen geht nicht beweisend hervor, dass 
Harnsäure in Harnstoff umgesetzt wird, der in dem Urin 
wiedergefunden wird. Nur geht daraus hervor, dass die 
Harnsäure aus der Milz nicht als solche in dem Urin zum 
Vorschein tritt. 


Nach Einspritzung von neutralem harnsaurem Natron star- 
ben zwei Hunde alsbald trotz aller Vorsichtmaassregeln. Die 
Ursache scheint in einer Zersetzung dieses Salzes im Blute 
gesucht werden zu müssen, wodurch saures unlösliches Salz 
niedergeschlagen wird und das Eiweiss sich mit einem Theile 
des Alkalis verbindet. Die Einspritzungen mit uras ammo- 
niae gelangen besser. 


1) Pferdefleisch. 


265 


0,8 Gr. uras ammoniae in 10 CC warmem Wasser wurden 
Nachmittags um 4 Uhr in die Vena jugularis der Hündin ge- 
spritzt, welche für Tabelle II gedient und unterdesseu Junge 
zur Welt gebracht hatte. 


TABELLE Il. 


une Spec. | Ureum Menge 
A cc. Gew. | in Ob. Ureum. 
80 Junn 8 — 8 Uhr Morgens. 
100 Gr. Milz. 
100 ©.C. Wasser. . . | 138 1,039 | 3,37 4,65 ') 


8 Uhr M.— 4 Uhr Mittags. | 125 1,024 | 2,35 3,21 
100 Gr. Milz. 
100 C©.C. Wasser. 


31 Juni 
4 Uhr Mitt. — 8 Uhr More. 
Um 4 Uhr Nachmitt. d. er- 
wähnte Einspritzung. . . | 249 |1,015 | 1,18 2,93 
ERS ABA SEUSSICH] NEIL 22 2 BEN HENBEREUNTNKRNG] (EIS nn ELF IER EL) Bee 
8 — 8 Uhr Morgens. . . . | 374 | 6,14 
! 


Die Harnsäure aus 0,8 Gr. harnsaurem Ammoniak war nicht 
in den Urin übergegangen, der Ureum- und Wassergehalt 
gross. Dieser eine Versuch soll die Ureumbildung aus Harn- 
säure am deutlichsten beweisen. Der Harnstoffgehalt war 
am slien 1,49 grösser als am 30ten; eingespritzt waren 0,8 
Gr. Uras ammoniae. Nebenbei war am 30ten wie am Slten 
Milz gebraucht worden, deren Harnsäuregehalt nicht be- 
stimmt war. 

Stokvis fragt nun ob bei der Umwandlung von acid. 
uricum zu ureum auch noch andere Stoffe gebildet werden, 
und glaubt, dass hier das Allantoin und die Oxalsäure näher 
berücksichtigt werden müssen. Wöhler und Frerichs hal- 
ten die Allantoinbildung für wahrscheinlich. Neubauer da- 


1) Der absolute Ureumgehalt ist vorzüglich in Vergleich mit Tabelle II 
sehr niedrig. Der indessen abgelaufene Puerperalprocess wird wohl 
einen Einfluss hierauf haben. 


266 


gegen bezweifelt diese Thatsache, weil er nach dem Gebrauche 
von Harnsäure kein Allantoin in dem Harne von Kaninchen 
fand. Er glaubt, dass die Harnsäure in Harnstoff und Koh- 
lensäure in dem Organismus zerlegt werde. — Er beruft sich 
dabei auf die geschwinde Oxydation der Harnsäure durch 
permanganas potassae, wobei Kohlensäure und Harnstoff, 
und kein Allantoin entsteht. 

Die Meinung von Wöhler und Frerichs ist decs wahr- 
scheinlicher ; die Einwirkung des Ozons äuf Harnsäure spricht 
nach Gorup-Besanez zu ihrer Gunst. Dabei wird doch 
Harnstoff und Allantoin gebildet; und sehr wahrscheinlich 
kommt die Wirkung des Ozons mit dem Processe im Thier- 
körper mehr überein als die von permanganas potassae. 

Dafür soll weiter das Vorkommen von Allantoin im Thier- 
körper unter gewissen Umständen sprechen. So im Urin von 
saugenden Kälbern neben grossen Mengen Harnsäure (Wöh- 
ler), und im Urin von Hunden, denen soviel Oel in die 
Lungen gespritzt war, dass eine beträchtliche Athemnoth 
entstand (Stäedeler). Die Versuche von Städeler hat aber 
Stokvis selbst mit negativem Resultate wiederholt. 

Endlich wird das oben erwähnte wahrscheinliche Auffinden 
von Allantoin in der Schweineleber zu Gunsten dieser Mei- 
nung citirt. 

Wenn man weiter bedenkt, dass das Allantoin in Bezug 
auf seinen Ursprung nur als Zersetzungsprodukt der Harn- 
säure bekannt ist, so wird die Bildung von Allantoin bei 
der Zersetzung der Harnsäure in der thierischen Oekonomie 
mehr und mehr wahrscheinlich. 

Neubauer’s Angabe, dass das Allantoin nach dem Gebrau- 
che von Harnsäure nicht in dem Urine vorkommt, fand St. 
bestätigt. W.und F. geben an, dass es im Thierkörper selbst 
zersetzt werde, Wöhler giebt weiter an, dass Allantoin 
unter dem Einflusse von Salpetersäure in Ureum umgewan- 
delt wird. Diese beiden Angaben hat St. experimentell an 
sich selbst geprüft. Die Resultate sind in der folgenden 
Tabelle enthalten. Er hat dabei Alles in Acht genommen, 
was bei Tabel I erwähnt ist. 


267 


TABELLE IV. 


; Ureum | Menge Menge 
inc.c Gew. | in °o. | Ureum. Ac. Uric. 


19 April Abends 11 — Morgens 


8.Uhrı. 2: 254 | 1,028 | 3,08 | 7,82 

20 April Abends u _ _ Morgens Sauer. 
8 Uhr. 

Abends 11 Uhr 5 Gr. Allantoin Sediment von 
genommen. . . . 204 | 1,0335] 3,55 1,24 | Uras sodae et 


ammoniae. 
18 Juni Morgens 8j— Morgens 
SHUhrN  % 865 |1,030 | 3,10 | 26,81 0,619 
19 Juui Morg. 8— Morg. 8 Uhr. 
Am Morgen um 8 Uhr, 3,9 Gr. 
Allantoin genommen. . . |1459 | 1,021 | 1,96 Bean 0,612 


Der Urin vom 20 April und 19 Juni wurden auf Allantoin 
untersucht; für 19 Juni war das Resultat negativ; die erste 
Untersuchung blieb aber unvollendet durch unvorhergesehene 
Umstände. Am 19 Juni hatte die Harnstoffmenge nach dem 
Gebrauche von Allantoin zugenommen, am 20te April da- 
gegen nicht. Der Versuch am 19ten Juni soll beweisend 
sein für die Umwandlung von Allantoin in Ureum im Thier- 
körper, der am 20ten April wird damit entschuldigt, dass 
es denkbar ist, dass die Umsetzung des Allantoins in der 
thierischen Oekonomie während der Nacht viel weniger voll- 
kommen ist als am Tage. 

Was die Entstehung der Oxalsäure aus‘ Harnsäure in dem 
Thierkörper betrifft, so haben Wöhler und Frerichs die- 
selbe bestimmt angenommen und ihre Versuche sind scheinbar 
nirgends mehr beweisend als gerade an diesem Punkte. 
Wöhler und Frerichs fanden nach dem Gebrauche von 
Harnsäure stets ein Sediment von oxalas caleis in dem Urine. 
Hoeile fand aber schon in dem Urine gesunder Menschen 
Oxalsäure, und andere Forscher haben dargethan, dass diese 
Säure in grosser Menge constant in dem Harne von Herbi- 
vora vorkommt. Trotzdem glauben aber Neubauer und 
Galiois auch an die Möglichkeit, dass Oxalsäure aus der 


268 


Harnsäure im Organismus gebildet werden und mit dem Urin 
nach aussen befördert werden kann. Stokvis hat in sei- 
nem Harne nach dem Gebrauche von Harnsäure nie Oxalate 
mit hinreichender Sicherkeit bei der mikroskopischen Unter- 
suchung auffinden können. 


Wo nun kommen im thierischen Organismus die verschie- 
denen Spaltungen der Harnsäure zu Stande? Die Zerset- 
zungsprodukte sind denen ähnlich, welche durch Einwirkung 
von peroxydum plumbi (W öhler), permanganas potassae (Neu- 
bauer), Ozon (Gorup-Besanez) mithin von stark oxydi- 
renden Substanzen erhalten werden. Man scheint daher einen 
Oxydationsprocess im Organismus annehmen zu müssen, so- 
dass das Ganze von der Aufnahme von 0 im Blute abhängig 
gemacht wird. Damit sind aber die Resultate der bei gehin- 
derter Respiration angestellten Untersuchungen nicht ganz im 
Einklange. 

Heynsius glaubt die Bildung von Ureum in der Leber 
dargethan zu haben. Es kann gewagt scheinen, die Bildung 
von ureum durch Zersetzung von Harnsäure in der Leber 
zu Stande kommen zu lassen. Harnsäure ist aber in der 
Leber nachgewiesen worden, fehlte, wie oben erwähnt, in 
der Leber von Hunden und Pferden in der Digestionsperiode, 
und die Harnsäuresecretion wurde bei Leberkrankheiten (Seir- 
rhose) vermehrt gefunden. 

Zum Beweise, dass Harnsäure in der Leber umgesetzt 
wird, wurden folgende Versuche angestellt. Frische Leber 
wurden durch Einspritzung von Wasser in die vena porta 
von Blut befreit. 20 oder 30 Gr. einer so behandelten Le- 
ber wurden fein vertheilt mit einer bekannten Menge neu- 
tralen uras sodae oder potassae während einer gewissen 
Zeit auf 30—40° C erwärmt. Nach Beendigung des Ver- 
suches wurde die Harnsäuremenge der Flüssigkeit so genau 
wie möglich nach der Methode von Gorup-Besanez be- 
stimmt. Zwei der sprechendsten Versuche werden hier an- 
geführt. 


269 


I. Leber eines Hundes der zwei Stunden nach der Mahl- 
zeit durch Einspritzung von uras sodae gelödtei wurde; 
die Leber wurde ausgespült und dann 18 Stunden. lang 
mit 10 CC uras sodae erhitzt. 

Vor der Erhitzung : Flüssigkeit trübe; Reaktion al- 
kalisch. 

Menge acıd. uric. = 0,3228 Gr. 
Nach der Erhitzing : Flüssigkeit hell, Reaction sauer. 
Alkohol praeeipitirt nichts; das alkoholische Extraet 
lässt jedoch, nachdem es verdampft ist, nach Hinzu- 
fügung von alcohol absolutus und Salzsäure, Harn- 
säure niederfallen. 

Quantität Harnsäure = 0,0039 Gr. 

II. Leber eines Pferdes während der Digestion wie oben 
behandelt und darauf während 18 Stunden mit 5 CC 
uras potassae erhitzt. | 

Quantität Harnsäure vor der Erwärmung = 0,5722 Gr. 
Flüssigkeitjtrübe, reagirt alkalisch. 
Nach der Erwärmung: Flüssigkeit hell, reagirt sauer. 
Alkohol präeipitirt nichts, das alkoholische Extraet 
wie in Versuch I behandelt lässt keine Harnsäure 
niederfallen, Murexidprobe negativ. 


Diese beiden Versuche sollen die Umsetzung von Harnsäure 
in der Leber lebender Thiere auf das positivste beweisen. 
Welche Produkte dabei erzeugt werden, ist nicht näher er- 
forscht. 

Leber von Thieren (Ochs, Pferd, Hund), welche gefastet 
hatten, auf die oben erwähnte Weise behandelt, zerlegen 
die Harnsäure nicht. Die Flüssigkeit blieb auch nach 38 
Stunden alkalisch, und filtrirte trübe gerade wie ein Gemisch 
von nicht erwärmter Leber und neutralen Uraten und zwar 
wegen Bildung von Kali-Albuminat. 


Ueber die Weise worauf das schief-verengte 
Becken mit Ankylose eines ileo-sacral 
Gelenkes entsteht. 


A. E. SIMON THOMAS, 


0. ö. Professor der Mediein in Leyden. 


Es war ein glücklicher Zufall, der mir in einem Zeitraume 
von acht Jahren zweimal ein schief verengtes Becken in der 
Praxis zu beobachten Gelegenheit gab. In beiden Fällen 
konnte ich die Beckenform während des Lebens erkennen 
und die Diagnose später auf anatomischem Wege bestätig 
finden. Als ich nun im vorigen Jahre Dr. P.M. S. Kros, 
dem ich als Promotor beim Schreiben einer Dissertation über 
diesen Gegenstand zur Seite stand, im Sammeln der betref- 
fenden Litteratur behülflich war, musste unwillkührlich der 
Gedanke bei mir rege werden, die Resultate meiner Beo- 
bachtungen mit den schon früher veröffentlichten in Verbin- 
dung zu bringen und so den Versuch zu wagen einiges Licht 
auf zweifelhafte, ungenau bekannte oder streitige Punkte in 
der Geschichte des schief-verengten Beckens zu werfen. 

Hierbei kommt zweifelsohne die Frage über die Entstehung 
des schief-verengten Beekens ‘zuerst in Betracht. 

Es ist hinreichend bekannt, dass Naegele im Jahre 1834 1), 


1) F. C. Naegele, Ueber eine besondere Gattung fehlerhaft gebildeter 
weiblichen Becken. Heidelb. Klin. Annal. Bd. 10, H. 4. 1834. 


271 


als er eine Entdeckung dieser neuen Art von Becken-Miss- 
bildung allgemein bekannt machte, und auch später, als er 
im Jahre 1839!) seine klassische Monographie herausgab, 
ihre Entstehungsweise nicht mit Gewissheit zu entscheiden 
wagte. Es schien ihm möglich, dass man es hier mit einem 
vilium primae conformalionis zu thun hatte, das vielleicht 
in einer stehengebliebenen Entwickelung der zur Bildung des 
Heiligenbeinflügels bestimmten Beinkerne seinen Grund hatte; 
er nahm aber auch an, dass die primäre Ursache in einer 
durch Druck oder Entzündung bewirkten Ankylose gelegen 
sein konnte, wodurch secundär die Entwickelung der Hälfte 
des Heiligenbeines gehemmt worden sei. Wie vorsichtig er 
sich aber auch ausspricht, so geht doch (trotz der ausdrück- 
lichen Versicherung, dass er kein entscheidendes Urtheil ab” 
geben will) aus dem ganzen Paragraphen, den er der Ent- 
stehungsweise des schief-verengten Beckens widmet, sowie 
aus verschiedenen anderen Stellen seiner Monographie deut- 
lich hervor, dass er den ersterwähnten Gedanken für den 
wahrscheinlichsten hält. Seine Beweisgründe sind: 1°) die 
innige Verschmelzung des os innominatum mit dem os sacrum, 
ohne dass Spuren von früherem Getrenntsein vorhanden sind ; 
2°) die fehlerhafte Entwickelung der ganzen Hälfte des os 
sacrum und die Formveränderungen des os innominatum; 
3°) das Vorkommen von Synostosen als angeborenen Miss- 
bildungen an anderen Skelettheilen; 4°) die Gleichförmigkeit 
aller von ihm untersuchten Exemplare; 5°) das Fehlen von 
Andeutungen früherer Krankheitszustände oder nachtheiliger 
Einwirkungen von aussen in allen ihm bekannten Fällen. 
Bald aber wurde die Allgemeingültigkeit dessen, was Nae- 
gele für das Wahrscheinlichste gehalten hatte, bestritten. 
Betschler aus Breslau war der erste, der im Jahr 1840 in 
einem ausführlichen Referat?) von Naegele’s Werk seine 
Argumente zu widerlegen versucht. Dabei erwähnt er zwei 


1) F. C. Naegele, Das schräg verengte Becken u. s. w. Mainz 1839, 
8. 64. | 
2) Neue Zeitschrift f. Geburtskunde, Bd. IX, S. 121—134. 


272 


Becken, deren jeines schon in 1838 von Prof. Otto!) be- 
schrieben war, während das andere zum erstenmale hier 
bekannt gemacht wurde, welche den Beweis liefern müssen, 
dass Verwachsung des os sacrum mit dem os innominatum 
in Folge eines späteren Fehlers auftreten und so Verengung 
so wie Schiefheit des Beckens veranlassen kann. Entschie- 
dener noch als Betschler trat Eduard Martin von Jena 
in 1841?) gegen Naegele’s Lieblingsgedanken auf und bewies 
durch die Beschreibung zweier Becken — von denen eine, 
wiewohl früher schon veröffentlicht ), Naegele entgangen 
zu sein schien, während die andere neu war, — dass die 
Ursache in einer in Folge einer Krankheit (wahrscheinlich 
Entzündung in den ersten Lebensjahren) entstanden Anky- 
lose der articulatio sacro-iliaca gelegen ist. Dies rief einen 
heftigen Streit hervor, an dem auf der einen Seite Naegele’s 
Schüler Unna*) und Moleschot), sowie Robert ®) und 
Kirehhoffer”?) Theil nahmen, während G. W. Stein), 


1) A. G. Otto, Enarratio de rariori quodam plenaria ossium pubis 
ancylosis evemplo. Vratislaviae, 1838. 

2) E. Martin, De pelvi obligue-ovata cum ancylosi sacro-iliaca. Pro- 
gramma quo caet. Jenae 1841, c. tab. aen. 4to. 

3) F. G. Voigtel, Handb. der pathol. Anat. mit Zusätzen von P. F. 
Meckel, Halle, 1804. Bd. I. S. 344, 

4) Unna, Zur Genese des schräg verengten Beckens, ın Zeitschr. f. d. 
gesammte Medicin u. s. w. von J. C. G. Fricke u. F. W. Op- 
penheim, Bd. XXIII. Hamburg, 1843. S. 281—303. 

5) D. Jac. Moleschot, Anat. physiol. aunteekeningen over het door 
Naegele beschrevene scheef vernaauwde bekken. Tijdschr. v. nat. 

“ Geschied. en Physiol., uitg. door J. van der Hoeven en W. H. 
de Vrıese, Deel XI, Leiden 1844, bl. 358—376. 

6) F. Robert. Beschreibung eines im höchsten Grade querverengten 
Beckens bedingt durch mangelh. Entw. d. Flügel des Kreuzb. und 
synostosis congen. beider Kreuzdarmbeimfugen. Mit 8 Taf., Carls- 
ruhe und Freiburg, 1842, 4°. 

7) ©. Kirchhoffer, Beschreibung e. d. Fehler der ersten Bildung querver- 
engt. Beck. Neue Zeitschr. f. Geburtsk., Bd. XIX. 1846, S. 304—342. 

8) G.W. Stein, Einiges Allgem. u. d. Meinung v. Bildungsabw. als Urs. 
der Form besonders aber als Urs. d. Verschmelzung der Synchondrosen 
u.s.w. Neue Zeitschr. f. Geburtsk. Bd. XIII. 1843. S. 369—378. 


273 


A.C.Danyau!) und auch wiederum Martin °) auf der anderen 
Seite angetroffen wurden. In Bezug auf diesen Streit, der 
noch nicht beendet heissen kann, verdienen zwei Anmerkungen 
erwähnt zu werden. Erstens gingen, wie dies öfter geschieht, 
die Schüler viel weiter als der Lehrer, so dass sie dadurch 
viel eher seine Lehre in Gefahr brachten als seine Lehre 
stützten; während Naegele z. B. vorsichtigerweise die Mö- 
glichkeit einer späteren Entstehung des schiei-verengten 


_ Beckens nicht geläugnet hatte, gab Unna die Meinung ab, 


dass dieser Fehler nur durch das ursprüngliche Fehlen der 
zur Bildung des Heiligenbeinflügels bestimmten Beinkerne ent- 
stehen kann. Zweitens wollte ich anführen, dass der Streit 
mit ungleichen Waffen geliefert wurde, denn während die 
Vertheidiger der Theorie, die Naegele für die wahrschein- 
lichste gehalten, nur theoretische und negative Argumente 
beibringen konnten, stützten sich ihre Gegner auf Thatsachen 
und thaten mehr oder weniger genügend dar, dass zweifelsohne 
Fälle vorkamen, in denen nur an eine durch Krankheit er- 
worbene Ankylose gedacht werden konnte, indem sie genau e 
Beschreibungen lieferten von Praeparaten, welche sie unter- 
sucht hatten oder die Geschichte der Individuen, denen sie 
entnommen waren, gaben. Dies hat denn auch bewirkt, dass 
fast alle späteren Autoren, die ausführlicher diese Sache be- 
handeln, die Meinung äussern, dass wenn nicht alle, so doch 
die meisten schief und quer verengten Becken einer später 
erhaltenen Abweichung ihren Ursprung verdanken. So z. B. 
von Ritgen?°) in Giessen (1850), Hayn) in Königsberg 


1) A.C.Danyau, Nouv. observ. de bassin obligue ovalaire etc. Journ. 
de Chirurg. par Malgaigne. Mars 1845, p. 75—83 und Neue 
Zeitschr. f. Geburtsk. Bd. XIX, 1846. S. 111—145. 

2) Martin, Ueber die Entsteh. einiger Beckendeform. Neue Zeitschr. 
f. Geburtsk. Bd. XV. 1844. S. 48—73. 

3) F. A. von Ritgen, Ueber die Auflager. und Einlager. der Kno- 
chenmassen im Bereich synostot. Beckenfugen. Neue Zeitschr. für 
Geburisk. Bd. XVIM. 1850. S. 1—43. 

4) A. Hayn, Beitr. zur Lehre von schräg-ovalen Becken. Mit einer 
lithogr. Tafel, Königsbergen 1852. 4to. 


274 


(1852), Seiffert!) in Prag (1852), Litzmann?) in Kiel 
(1853), Robert?) (1853), Sinelair *) in Dublin (1855) und 
Andere, während Hohl) in Halle (1852) und Lambl®) in 
Prag (1858), welche die Möglichkeit der Entstehung des schief 
verengten Beckens in Folge eines vitium primae conformationıs 
noch vertheidigen, nicht läugnen, dass Fälle vorkommen, in 
denen an eine spätere Erhaltung dieses Uebels gedacht wer- 
den kann. 

Es würde mich zu weit führen, wenn ich alle Argumente 
welche namentlich deutsche Autoren pro und contra beige- 
bracht haben, hier vorführen, und die oft sehr abweichenden 
Erklärungen auch untergeordneter Momente, wenn auch nur 
oberflächlich, auseinandersetzen wollte; ich werde mich da- 
her auf einige Hauptmomente beschränken müssen, die, 
wie mir scheint, die grösste Geltung haben zur Entscheidung 
der Frage, ob ein schief-verengtes Becken als ein vitium 
primae conformationis aufzufassen sei, oder ob man das Recht 
hat alle bis jetzt bekannten Exemplare von einem später er- 
haltenen Fehler herzuleiten. Wie oben bereits gesagt ist, 
werde ich mich dabei nicht allein auf die von Naegele be- 
schriebenen Becken beschränken können, sondern auch die 
vier Exemplare zu berücksichtigen haben, welche anderswo 
behandelt sind, sowie querverengte Becken mit Ankylose 


1) Seyffert, Ein querverengtes Becken, Beendigung der Geburt durch 
den Beckenkanal. Verhandl. der phys. med. Gesellsch. in Würzburg. 
Bd. III. 1852, S. 340. 

2) C. C. T. Litzmann, Das schräg-ovale Becken mit besond. Rück- 
sicht s. Entsteh. im Gefolge einseitiger Coxalgie. Kiel 1853. fol. « 

3) F. Robert, Ein durch mechan. Verletz. und ihre Folgen querver. 
Becken. Mit 6 lithogr. Taf. Berlin 1853. S. 39—57. 

4) E. B. Sinclair, On that pecul. deform. of the pelvis originally 
descr. by Prof. F. C. Naegele of Heidelberg as the pelvis oblique- 
ovata. Dublin quaterly Journal/of Med. Science. N’. XXXIX, 1855, 
PA. 

5) A. F. Hohl, Zur Pathologie des Beckens. — Das schräg-ovale 
Becken. Leipzig, 1852, 4to. Mit lithogr. Tafeln. 

6) W. Lambl, Reisebericht. Prager Vierteljahrsch. f. d. prakt. Heil- 
kunde, 1858. Bd. III, S. 151, 152. 


275 


der beiden Iliosacral-Synchondrosen ; ursächlich besteht jedoch 
eine vollkommene Identität zwischen diesen beiden Arten von 
Beckendeformität, der Unterschied liegt nur darin, dass in 
dem einen Falle die Deformität nur auf der einen Seite, 
‚während sie in dem anderen auf beiden Seiten besteht, 
woraus natürlich folgt, dass in letzterem Falle der Grad der 
Verengung ein grösserer ist und dass die Symmetrie mehr 
oder weniger vollständig zurückkehrt. 

F. Robert (1842) hat zum erstenmale die Entwickelungs- 
geschichte des os sacrum studirt, um diesem Studium den 
Beweis zu entlehnen, dass schief und quer verengte Becken 
als vitia primae conformationis aufzufassen seien. Er giebt 
an, dass die beiden obersten falschen Wirbel des os sacrum 
sich aus fünf Beinkernen entwickeln, deren einer für den 
Körper, zwei für die Flügel und zwei für die Bogen be- 
stimmt sein sollen; er giebt hiervon eine Abbildung !). Er 
hält danach in dem von ihm beschriebenen Falle eines quer 
verengten Beckens drei Fälle für möglich: 1° die zur Bil- 
dung der Flügel bestimmten Beinkerne können gefehlt ha- 
ben, und in diesem Falle mussten die der Bogen als ihre 
Stellvertreter fungiren, daher sind sie so fest mit den ossa 
innominata verwachsen, als ihre Flügel in einem normalen 
Becken mit denselben verwachsen wären; 2° die für die 
Flügel bestimmten Beinkerne sind zu spät aufgetreten, so- 
dass die Beinkerne der Bogen ein gewisses Uebergewicht 
erhalten haben oder 3° die Entwickelung der Beinkerne der 
Flügel ist gestört worden, so dass sie zu klein geblieben 
sind. Er wagt es nicht zu entscheideu, welche von diesen 
drei Möglichkeiten verwirklicht worden ist, hält aber doch 
die erste für die wahrscheinlichste; er eitirt dabei die Beo- 
bachtung eines Beckens, das einem neonatum entnommen 
war, in welchem Becken die Flügelkerne des ersten falschen 
Wirbels auf beiden Seiten vorhanden sind, während die des 
zweiten nur auf einer Seite beobachtet werden konnten ; er fügt 


1) Robert, Beschreib. eines im höchsten Grade u. s. w. Pl. VI, 
Kies 1,72573. 


276 


aber hinzu, dass sich die der anderen Seite auch wohl entwick- 
elt haben würden, wenn das Kind nur nicht gestorben wäre. 
Schon die Annahme von drei Möglichkeiten durch Robert 
ist im Stande Zweifel über seine Erklärungsweise rege zu 
machen; hierzu kommt aber noch viel mehr. Nach den 
neuesten und höchst genauen Untersuchungen von Schwe- 
gel!) in Prag beträgt die Anzahl der Beinkerne zur Ent- 
wickelung der Sacralwirbel nicht fünf, sondern eine viel 
höhere Zahl. Schwegel unterscheidet deren zwei Arten, 
erstens die Beinkerne, welche sich schon vor der Geburt 
entwickeln, und die er Hauptknochenpunkte nennt, und zwei- 
tens die, welehe von dem $ten bis zum 15ten Jahre auftreten, 
seine Nebenknochenpunkte. An den drei oberen Saeralwirbeln 
sind nun schon nach ihm mehr als 5 Hauptknochenpunkte 
zu unterscheiden; es kommen nämlich gewöhnlich 2 in dem 
Körper, 1 oder 2 in jeder Bogenhälfte und 2 in den Flügeln 
vor; bei normaler Entwickelung verschmelzen sie im Kindes- 
alter, nämlich vom 4ten bis zum Sien Jahre, und dann fan- 
gen die Nebenknochenpunkte an aufzutreten, deren zwei für 
die oberen und unteren Articulationslächen der Wirbelkörper 
bestimmt sind, 4 für die processus articulares, die jedoch 
nur an den oberen Sacralwirbeln vorkommen, 2 für die Apo- 
physes der proc. transversi, denen Schwegel die Flügel 
gleichstellt, während er zugleich bemerkt, dass sie oft daran 
fehlen, und 1 für den proc. spinosus, der auch vermisst werden 
kann; überdiess sind für die Entwickelung der ohrförmigen 
Gelenkfläche des os sacrum 1 bis 3 Nebenknochenpunkte 
vorhanden, welche gerade wie die an der ohrförmigen Ge- 
lenkfläche des Darmbeins mit einander verwachsen. Es geht 
aus dem Angeführten hervor, dass die Entwickelung der 
Sacralwirbel gar so einfach nicht ist, als Robert es vor- 
stellte, und dass somit das Fehlen oder die gehemmte Ent- 
wickelung der Flügelkerne nicht als Ursache für die Ent- 


1) Schwegel, Die Entwickelungsgeschichte d. Knochen d. Stammes u. 
d. Extremitäten u.s. w. m den Sitzungsber. d. math. naturw. Classe 
d. K. K. Academie d. Wissensch. Bd. XXX. Wien 1858, N°. 17, 
S. 342 u. Tab. 1. 


277 


stehung des schief- oder quer-verengten Beckens angeführt 
werden kann. Ein zweiter Einwand gegen die Hypothese 
liefert der Umstand, dass bei schief- oder querverengten 
Becken nieht nur die Sacralflügel an einer oder an beiden 
Seiten zu fehlen scheinen, sondern dass auch keine artieulatio 
sacro-iliaca vorhanden ist, was ganz unerklärt bleibt, auch 
wenn man anders die Naegele-Robert’sche Hypothese an- 
nehmen wollte; denn nichts beweist die Behauptung von Ro- 
bert, dass das Fehlen der Flügel die Abwesenheit des Gelenkes 
zur Folge hat, ja es ist sogar im Streite mit dem Vorhanden- 
sein des Gelenkes beim mehr oder weniger Fehlen der Flügel 
an manchen Becken; um aber mit Robert anzunehmen, dass 
die Beinkerne, aus denen sich die Bogen entwickeln, beim 
Fehlen der Flügel mit dem ungenannten Beine so fest verwach- 
sen müssen, als letztere in normalen Fällen mit den Flügeln, 
oder dass die Natur die geringere Ausdehnung der Artieula- 
tionsfläche durch grössere Festigkeit compensiren wollte — 
das klingt doch wohl allzu teleologisch für die jetzige 
Zeit. Wir wollen hier noch ein Argument eitiren, das der 
normalen Entwickelungsgeschichte entlehnt ist. Nach den 
mikroskopischen Untersuchungen von Luschka!) findet die 
Bildung der artieulatio sacro-iliaca viel früher statt als die 
Entwickelung der Beinkerne in den Sacralwirbeln. Luschka 
sagt nämlich ausdrücklich, dass er bei Foetus von 20 Wochen 
die Gelenkhöhle schon ganz sicher wahrnehmen konnte; 
ihre Bildung geschieht daher vor der Entstehung der Bein- 
kerne, so dass das Fehlen des Gelenkes das primäre sein 
müsste, im Falle man die Entstehung aller schief- oder quer- 
verengten Becken als ein vilium primae conformalionis be- 
trachten wollte, während dann erst in Folge ‚dessen die 
Beinkerne für die Flügel ausbleiben müssten. 

Hohl ist, wie es mir scheint, nicht viel glücklicher in 
' seiner Beweisführung gewesen. Insoferne sie mit der von 
Robert übereinstimmt, kann ich sie als bereits abgehandelt 


1) Dr. H. Luschka, Die Halbgelenke des menschlichen Körpers. Ber- 
lin, 1858. S. 134. 
I. 19 


278 


betrachten. Er hat aber noch andere neue Argumente bei- 
gebracht, worauf wir hier eingehen müssen. Er beschreibt 
verschiedene unregelmässig entwickelte Sacralknochen und 
bildet sie zu gleicher Zeit ab; er glaubt nun durch diesel- 
ben darthun zu können, dass die ohrförmige Oberfläche, 
welche in der Regel durch die Flügel der beiden oberen fal- 
schen Wirbel gebildet wird, bei unvollkommener Entwickelung 
des ersten Sacralwirbels sich auch ganz aus dem zweiten bil- 
den kann; bleibt dagegen der Flügel des zweiten zu klein, 
so übernimmt der des ersten Wirbels seine Function und er- 
hält somit eine grössere Oberfläche. Bleibt in dem einen der 
beiden Fälle der Flügel zu klein, so erhält das Becken eine 
schiefe Form, die an das schief-verengte Becken erinnert. 
Wir geben dies gerne zu, glauben aber, dass es nicht be- 
weisend ist für die von uns behandelte Beckendeformität. 
Es ist a priori mehr als wahrscheinlich, dass ein Becken mit 
einem os sacrum, dessen einer Flügel in der Entwickelung 
zurückgeblieben ist, asymmetrisch und eng sein muss, dar- 
aus folgt aber nicht, dass auch das Gelenk fehlen muss. 
Die von Hohl abgebildeten ossa sacra (Tafel II) beweisen 
im Gegentheil, dass die Natur bei fehlerhafter Entwickelung 
eines der für die Bildung der ohrförmigen Oberfläche bestimm- 
ten Theile, ein Mittel gefunden hat, um der Gelenkfläche 
eine hinreichende Ausdehnung zu geben, woraus hervorgeht, 
dass ihre Entstehung wenigstens zum grossen Theile unab- 
hängis ist von der Form und Grösse des Flügels, und dass 
zur Bildung einer Ankylose etwas mehr gehört, als das Fehlen 
der sogenannten Flügelkerne. Dasselbe wird durch ein höchst 
interessantes Becken bewiesen, das vor mir liegt und dem 
pathologisch-anatomischen Museum des hiesigen’ Krankenhau- 
ses entnommen ist. Dasselbe Becken hat Dr. Lambl!) schon 
in seinem Reisebericht, wiewohl ziemlich oberflächlich er- 
wähnt. Dieses Becken nun bietet Folgendes dar: Es besteht 
aus den beiden ossa innominata, dem os sacrum, coceygeum, 


1) Dr. W. Lambl, Reisebericht in Vierteljahrschrift f. d. prakt. Heil- 
kunde, XV Jahrg. 1858, Bd. III, S. 83. 


279 


den drei unteren Lendenwirbeln und den oberen Theilen der 
ossa femoris; die Knochen sind im Allgemeinen von zartem Bau; 
das Becken hat einer erwachsenen Frau angehört, wie aus den 
durchscheinenden Stellen im Darmbeine, aus der Form des 
arcus pubis, und aus der vollkommenen Verwachsung der 
Darmbeinkämme hervorgeht. Das Knochengewebe ist überall 
gesund ohne Spur von krankhafter Veränderung. Die Körper 
des 3ten und 4ten Lendenwirbels sind schmäler als gewöhn- 
lich, bieten übrigens keine Formfehler dar; der 5ten Len- 
denwirbel zeigt Folgendes: der Körper von vorne gesehen 
ist rechts höher als links, und damit steht die schiefe Rich- 
tung der oberen Gelenkfläche des ersten Sacralwirbels in 
Verbindung, welche links 3”’ höher ist als rechts, wenn 
nämlich das Becken auf den beiden Sitzknorren ruht; auf 
der linken Seite ist ein ziemlich normaler processus trans- 
versus, der nur mehr als gewöhnlich schief nach oben ge- 
richtet ist; durch ein ligamentum ileo-Jumbale ist er mit dem 
hinteren Theile des Darmbeinkammes, und durch ein kurzes 
Band mit dem.oberen Theile des Heiligenbeinflügels verbunden. 
Auf der rechten Seite entspringt der processus transversus 
mit einer breiten Basis aus dem vorderen Theile des Bogens, 
wo derselbe mit dem Körper zusammenhängt, und geht nach 
aussen in zwei Theile über; der eine ist nach oben und 
aussen gerichtet, und als der eigentliche proe. transversus 
zu betrachten, der kurz, breit und durch ein ligamentum 
ileo-lumbale mit dem hinteren Theile des Darmbeinkammes 
verbunden ist; der andere steht schief nach aussen und nach 
unten, und einigermaassen nach vorne, und endet in eine 
flache mit Knorpel überkleidete Oberfläche, welche mit dem 
auf dieser Seite vorhandenen Theile des Heiligenbeinflügels 
ein Gelenk bildet, während er ausserdem durch ein kurzes, 
starkes Band mit der inneren Oberfläche des Darmbeines 
gerade oberhalb der artieulatio sacro-iliaca verbunden ist !). 


1) Dr. Lamb] beschreibt an der oben erwähnten Stelle diesen queren 
Fortsatz als ein viereckiges Knochenstück, dessen als Wurzel zu be- 
trachtender Theil mit dem Wirbel zusammenhängt, während ferner 

19% 


280 


Das os sacrum scheint aus fünf Wirbeln zu bestehen, die 
aber so innig mit einander verwachsen sind, dass die Gren- 
zen der vier unteren nicht mehr so ganz leicht zu erkennen 
sind; auch die Spitze des Heiligenbeines ist mit dem oberen 
falschen Wirbel des Schwanzbeines verwachsen. Der linke 
Flügel des Heiligenbeines hat eine ziemlich normale Form; 
er wird wie gewöhnlich durch die Seitenstücke des ersten 
und zweiten falschen Wirbels gebildet, und ist durch eine 
gewöhnliche Symphyse mit dem os innominatum verbunden; 
das erste foramen sacrale anterius ist ziemlich gross; das 
zweite darunter liegende ist aber noch viel grösser und ver- 
tritt die Stelle des zweiten und dritten, welche durch das 
Fehlen des Seitenstückes von dem dritten falschen Wirbel 
zu einem Loche vereinigt sind; das 4te (am Präparate das 
dritte) hat wiederum die normale Grösse ; auf der rechten Seite 
fehlt das ganze Seitenstück des oberen Sacralwirbels, wodurch 
an die Stelle des freien Raumes zwischen dem proe. transv. 
des letzten Lendenwirbels und der oberen Fläche des Heili- 
Senbeinflügels und des foramen sacrale primum , welche im 
normalen Zustande durch dieses Seitenstück von einander 
getrennt sind, eine längliche Rinne entstanden ist, die (3” 
lang und 2” breit) längs des unteren Theiles des Körpers 
des fünften Lendenwirbels, der artieulatio sacro-lumbalis und 
des Körpers des oberen falschen Sacralwirbels verläuft; dar- 
unter liegen drei relativ kleine foramina sacralia anteriora, 
welche übrigens eine normale Form haben; aus dem Seiten- 
stück des zweiten Sacralwirbels geht ein schmales Knochen- 
stück in die Höhe, das bis an den proc. transv. des ten 
Lendenwirbels reicht, und damit durch das bereits erwähnte 


ein Winkel frei nach oben und aussen gerichtet ist, und der an- 
dere durch eine Synostosis theils mit dem Darmbeine theils mit 
dem Flügel des Heiligenbeines vereinigt wäre; eine genauere Un- 
tersuchung des übrigens ziemlich schlecht präparirten Beckens, das 
ich eine Zeit lang in Wasser liegen liess, gab mir Gelegenheit die 
oben beschriebene Art der Vereinigung zu beobachten, woraus her- 
vorgeht, dass die Schlüsse, welche L. aus der von ihm angenom- 
menen Synostosis herleitet, unrichtig sind. 


281 


‘ Gelenk zusammenhängt; dieses Knochenstück, das nur 3” 
breit ist, vertritt sehr unvollkommen die Stelle des rechten 
Heiligenbeinflügels, und ist durch eine Knorpelartieuiation , 
welche vorne eine krumme Linie beschreibt, mit der Conca- 
vität nach aussen, mit dem os innominatum verbunden. 
Wenn man das Praeparat von hinten betrachtet, so bemerkt 
man Folgendes: die Bogen, proc. articulares und spinosi des 
dritten und vierten Lendenwirbels sind normal gebildet; an 
dem fünften Lendenwirbel sieht man den proc. spinosus, 
und auf der linken Seite den oberen Theil des Bogens, aus 
dem der in die Höhe gehende Gelenkfortsatz entspringt; da- 
segen fehlt der untere Theil des Bogeus und der nach unten 
verlaufende Gelenkfortsatz,; auf derselben Seite fehlt am er- 
sten Sacralwirbel der obere Theil des Bogens und der obere 
Gelenkfortsatz , doch findet man den unteren Gelenkfortsatz an 
demselben , der mit dem oberen des zweiten Sacralwirbels 
artieulirt. Es kommt daher an di ser Stelle ein grosses Loch 
vor, das jedoch nur zum Theile als foramen sacrale posterius 
primum zu betrachten ist. Auf der rechten Seite ist ein 
grösserer Theil des Bogens des 5ten Lendenwirbels und ein 
kleinerer des Bogens des ersten Sacralwirbels entwickelt; 
beide Bogen hängen jedoch auch auf dieser Seite nicht mit 
dem Körper zusammen, so dass auch hier eine längliche Rinne 
angetroffen wird, die sich von dem proc. transversus des 5ten 
Lendenwirbels, bis an die Stelle, wo das foramen sacrale 
posterius primum vorhanden sein müsste, erstreckt, und mit 
der an der vorderen Seite neben dem promontorium vorhan- 
denen Rinne continuirlich zusammenhängt. In Folge der be- 
schriebenen Abnormität des Sacralbeines und des 5te Len- 
denwirbels, ist das ganze Becken asymmetrisch und erinnert 
an die Naegele’sche Form, wovon es sich jedoch dadurch 
unterscheidet, dass der Unterschied in der Stellung der Darm- 
beine und der Sitzknorren geringer ist; das promontorium 
steht aber sehr schief nach rechts, wie aus der unten gege- 
benen Skizze des Beckeneinganges hervorgeht, und damit 
eorrespondirt ein leichter Grad von scoliotischer Krümmung 
der Lendenwirbel. 


282 


> 
x 


Ai 


Die obenstehende zum grössten Theile schematische Figur 
soll eine Idee der Form dieses Beckens geben, wie es sich 
darthun würde, wenn es etwas unter halb und paralell mit der 
Eingangsfläche horizontal durchgesägt worden wäre; die Fi- 
sur ist auf die Hälfte der natürlichen Grösse reduecirt. 
a. Körper des ersten Sacralwirbels; b. linker Saeralflügel ; 
c. articulatio sacro-iliaca; d. oberer Rand des linken aceta- 
bulum; e. symphysis ossium pubis; f. oberer Rand des rech- 
ten acetabulum; g. rechte artieulatio sacro-iliaca; h. längli- 
ches Knochenstück, das von dem Seitenstücke des zweiten 
Sacralwirbels aus in die Höhe steigt und mit dem processus 
des fünften Lendenwirbels artieulirt; v. proc. spinosus des er- 
sten Sacralwirbels; %. rechter Bogentheil; /. linker Bogen- 
theil: m. Kanal des os saerum; n. Rinne auf der Seite des 
ersten Sacralwirbels, deren unterer Theil das foramen sacrale 
primnm vertritt. 


283 


Aus diesem Becken nun glaube ich Folgendes dedueiren 
zu können: 

1°. Wenn diejenigen Theile, aus denen sich der Heiligen- 
beinflügel bildet, in Folge eines vitinm primae conformationis 
fehlen, wie z. B. in unserem Falle das Seitenstück des ersten 
falschen Wirbels auf der rechten Seite und der Bogentheil, 
welcher mit demselben verwächst, so wird dies compensirt 
durch eine aussergewöhnliche Ausdehnung des Seitenstückes 
des zweiten Saeralwirbels, und nicht durch eine Synostosis 
vom dem Darmbeine mit dem Heiligenbeine. 

2°. Wenn sich eine abnormale Vereinigung von verschie- 
denen Knochenstücken in der Umgebung einer missformten 
 articulatio sacro-iliaca bildet, so bekommt sie, wie in unse- 
rem Falle, zwischen dem unregelmässig: gebildeten Sacraliflü- 
gel und dem proe. transv. des fünften Lendenwirbels, nicht 
den Charakter einer synostosis, sondern den einer symphysis 
oder eines wahren Gelenkes. 

Hohl') hat aber noch einen sogenannten positiven Beweis- 
grund für die Erklärung der Entstehung der quer- und schief- 
verengten Becken angeführt, auf den er grossen Werth legt. 
Er hat nämlich ein Becken eines Foetus abgebildet und be- 
schrieben, dessen beide unteren Gliedmassen, namentlich aber 
das rechte, sowie verschiedene andere Skelettheile und in- 
wendige Organe missformt waren. An dem Becken nun fehlte 
auf der rechten Seite der Beinkern, aus dem sich das Seiten- 
stück des oberen falschen Wirbels hätte entwickeln müssen 
und an seine Stelle sind zwei bandartige Häutchen getreten ; 
die Beinkerne für die Seitenstücke des zweiten und dritten 
falschen Wirbels sind zwar auf der rechten Seite vorhanden , 
aber um die Hälfte kleiner als auf der linken; sie sind wohl 
mit dem Darmbeine nieht aber mit dem Sacralbeine in Ver- 
bindung; es ist namentlich der Beinkern des zweiten Wirbels 
so innig mit dem Darmbeine verbunden, dass keine Grenze 
mehr zu entdecken ist. Auf der linken Seite dagegen stehen 
die Kerne sichtbar mit dem Darm- und dem Heiligenbeine in 


PD) LIOM ıtaNp.98. DIN TABIVE 


284 


Verbindung. Die ungleichmässige Entwickelung des Heili- - 
genbeines macht, dass das ganze Becken schief geworden 
ist und so eine Form bekommen hat, welche der Hauptsache 
nach übereinstimmt mit der Art von Asymmetrie, welche man 
an schief-verengten Becken von erwachsenen Frauen beobachtet. 

Diese Beobachtung beweist, wie mir scheint, nichts anders 
als dass das Zurückbleiben in der Entwickelung und die da- 
durch bedingte geringere Grösse des Sacralbeines sowohl bei 
Neugeborenen als bei Erwachsenen eine schiefe Form des 
Beckens verursacht. Diese Annahme ist aber auch ohne diesen 
neuen Beweiss schon sehr zu billigen, da Asymmetrie des 
unpaaren Grundbeines nothwendigerweise Asymmetrie des 
ganzen Beckenringes zur Folge haben muss. Es geht übri- 
gens aus der Beschreibung von Hohl keineswegs hervor, 
dass die artieulatio sacro-iliaca als Folge der Abwesenheit 
und geringeren Entwickelung der Flügel-Beinkerne nicht vor- 
handen war. Um dies darzuthun hätte Hohl das Beeken an 
der Stelle durchschneiden und mikroskopisch untersuchen 
müssen, was nicht geschehen ist. Hohl hat auch nicht er- 
wähnt, ob die Abbildung nach dem frischen Präparate oder 
nach dem getrockneten Skelette verfertigt ist; in letzterem 
Falle, der mir der wahrscheinlichere zu sein scheint, kann es 
nicht befremden, dass die beim Kinde noch so dünne Knorpel 
der articulatio sacro-iliaca so sehr hintrockneten, dass bei ober- 
flächlicher Betrachtung nichts übrig geblieben zu sein scheint. 
Insoferne man mithin ohne eine wiederholte Untersuchung 
über das Praeparat urtheilen kann, glauben wir keine Gegen- 
anzeige gegen die Annahme zu finden, dass das erwähnte 
Becken sich im erwachsenen Zustande demjenigen ähnlich 
verhalten würde, das wir oben aus der pathologisch-anatom. 
Sammlung des Nosocomium academicum beschrieben, an dem 
der rechte Heiligenbeinflügel auch unvollkommen entwickelt 
war, die symphysis aber nicht fehlte. Endlich spricht gegen 
die Deweiskraft von Hohl’s Beobachtung, dass das Kind 
eine Anzahl vitia conformationis darbot, während bisher bei 
keinem der bekannten Fälle von Naegele’schen Becken an 
erwachsenen Frauen andere angeborene Fehler vermeldet 


285 


werden !), woraus man das Recht hat herzuleiten, dass die 
Fälle nicht ganz gleichartig sind. 

Nachdem wir nun die hauptsächlichen Argumente wider- 
legt haben, welche zur Unterstützung der Meinung, welehe 
Naegele für die wahrscheinlichere hielt, angeführt sind, 
müssen wir noch mit einem Worte die negativen Beweise 
von Naegele erwähnen, welche seine Nachfolger von neuem 
mitgetheilt und näher entwickelt haben. Ich werde dabei 
die fünf Argumente von Naegele in umgekehrter Reihefolge 
behandeln, und zwar deswegen weil namentlich die letzteren 
leicht zu widerlegen sind. So kann gegen die Bemerkung von 
Naegele, dass in keinem der von ihm beschriebenen Fälle 
eine früher vorhanden gewesene Krankheit dargethan werden 
kann, welche Ankylose der symphysis sacro-iliaca hätte bedin- 
gen können, das Folgende eingewendet werden. Ausser den 
35 Beobachtungen, welche Naegele versammelt hat und die 
wahrscheinlich auf 30 redueirt werden müssen ?), sind mir 
noch 20 fremde und 2 eigene Beobachtungen, mithin im 
Ganzen 50 Beobachtungen bekannt geworden, welche in 
folgende Abtheilungen geordnet werden können. 

a.) Schief verengte Becken ohne Spuren von Knochen- 
krankheit, deren Geschichte hinreichend bekannt ist, um zu 
behaupten, dass die Frauen, denen sie gehört haben, nicht 
an Knochenkrankheiten gelitten haben, welche die Ankylose 
hätten bedingen können. Hierher gehören nur 4 Fälle, na- 
mentlich diejenigen, welche von Naegele sub N°.1, 3 und 


1) Der Fall von Sinclair (Dubl. Quart. Journ. of Med. Science, 
N’. XXXIX, Aug. 1855, p. 79) ist vielleicht der einzige, welcher 
eine Ausnahme macht. Neben der Ankylose wurde auf derselben 
Seite pes equinus angetroffen, der aber sowohl später entstanden 
als angeboren sein kann. Dieses Becken gehört aber zu denjeni- 
gen, deren Ankylose von einer Krankheit der Symphysis nach er- 
folgter Beleidigung entstanden ist. 

2) P. M. Kros, Over het scheef vern. bekken, etc., Acad. Proefschr. 
Leiden 1858, p.31. Die fünf Fälle von Naegele sub N°. 26—30 
werden ohne weitere Beschreibung aus Wien angeführt. Sie sind 
wahrscheinlich nie vorgekommen. 


286 


14 beschrieben sind, und derjenige, den ich im Jahre 1857 
wahrgenommen habe !). 

b.) Schief verengte Beeken ohne Spuren von Knochen- 
krankheit, deren Geschichte zu unvollkommen bekannt ist, 
als dass man mit Gewissheit behaupten könnte, dass während 
des Lebens durchans keine nachtheiligen Ankylose bedingen- 
den Einflüsse Statt gefunden hätten. Hierher gehören 28 
Fälle, nämlich die sub N°. 2, 4, 6, 7,8, 107122 
15,17, 18,20, 21,22, 23, 25,31, ON SE 273 
Naegele veröffentlichten, ein Fall von Martin, 3 Becken, 
welche in Wien sind, 1 von Bartels in Berlin und 1 von 
Nichet in Lyon ?). 

c.) Schief verengte Becken, welche neben der Ankylosis 
Reste von coxartritis auf derselben, oder der anderen oder 
auf beiden Seiten darbieten. N°. 5, 12, 24 von Naegele, 
das Becken aus der Sammlung des hiesigen Krankenhauses 
und der Danyau’sche Fall gehören hierher 3). 

d.) Schief verengte Becken mit Spuren von Periostitis, 
Exostosis oder etwas dergleichem an dem os innominatum. 
So N°. 16 und 19 von Naegele und das früher von Voig- 
tel später noch einmal von Martin besprochene Becken ‘). 

e.) Schief verengte Becken mit einem Bruche des Scham- 
beines, der vielleicht als entfernte Ursache der Ankylosis zu 
betrachten ist. Hierher gehören der Fall von Otto in Bres- 
lau5) und ein Becken, das Lambl in Marseille antraf®). 

f- Schief verengte Becken von Frauen, welche entweder 
in den Kinderjahren oder wenigstens vor dem Auffinden der 
Ankylose an Krankheiten der Beckenknochen in der Umge- 
bung der Ankylose gelitten haben. Hierher gehören die von 


1) Kros t. a. p. pag. 94. 

2) Ikid. p. 19, 31, 34, 38, 48, 92. 

3) Ibid. p. 9, 26. 

4) Ibid. p. 5. 

SNilbrd. ‚DD; 

6) Prager Vierteljahrschrift, X V*er Jahrgang 1858, Bd. IV. S. 177. 
Dieser Fall wurde erst nach dem Erscheinen der oben eitirten 
Dissertation veröffentlicht. 


2857 


Betschler, Hayn (N°. 1), von Ritgen, Simon Thomas 
(N®. 1), von Holst, Rosshirt, Sinelair, Hecker und 
Fabri beschriebenen Fälle !); vielleicht gehört auch noch 
das Becken der Frau, welche Hayn im Jahre 1858 entband, 
hierher, wenn wenigstens später die während des Lebens 
gemachte Diagnose bestätigt wird. 

Aus dieser Classification aller bisher bekannt gewordenen 
Fälle geht, wie mir scheint, hervor, dass der fünfte Grund von 
Naegele nicht mehr beweisgültig ist ; 20 Fälle sind damit im 
Streite, 28 beweisen weder pro noch conira, und nur 4 können 
mit einiger Wahrscheinliehkeit dafür geltend gemacht werden. 

Gegen das 4te Argument von Naegele sind ebenso Be- 
denken von nicht geringerem Werthe als die vorigen geltend 
zu machen. Er bespricht darin die Uebereinstimmung in 
Form der ihm bekannten Becken, und bemerkt, dass dies 
sowohl für eine gleichartige Entstehungsweise von allen spre- 
che, als auch dass dies viel eher von einem angeborenen 
als von einem später erworbenen zufälligen Fehler zu erwar- 
ten sei. Um dies zu widerlegen braucht man nur die jetzt 
bekannt gemachten Abbildungen von Na.egele'schen Becken 
neben einander zu halten, und man wird dann bemerken, 
dass, wiewohl alle schief und verengt sind und wiewohl die 
eine Symphysis sacro-iliaca fehlt, doch der Grad der Schief- 
heit, die Form des Heiligenbeines und die Abweichungen in 
der Form und Richtung der verschiedenen Theile des unge- 
nannten Beines so sehr verschieden sind, dass wenn man 
nur das Pariser Becken (Naegele N°. 4, Taf. IV und V), 
welches Madwe Lachapelle in der Praxis vorgekommen, 
und das von Rosshirt kennen würde, (das Litzmann ab- 
gebildet hat) man nicht veranlasst sein würde, beide auf 
eine und dieselbe Art von Deformität zurückzubringen. 

Auch das dritte Argument von Naegele ist leicht zu 


Ir Kos t.a.p. p. 18,21, 41.51, 69,72, 81,86, und Prager) Wer: 
teljahrschrift, XVI'® Jahrgang 1859, Bd. I. S. 214. Auch diese 
Beobachtung ist mir erst neuerdings bekannt geworden. 

DK rosıit“ a. p.'p. 47. 


288 


widerlegen. Er bemerkt, dass Synostosen als angeborene 
Fehler auch an anderen Skelettheilen vorkommen und dann 
stets Missbildungen der abnormal verwachsenen Knochen be- 
dingen, welche gewöhnlich an eine stehengebliebene Ent- 
wickelung erinnern. Was Naegele hier für die als vitia 
primae conformationis auftretenden Ankylosen beansprucht, 
gilt ebensehr für die später erhaltenen, wenigstens wenn sie 
vor dem vollendeten Wachsthume des Skelettes auftreten. 
Aber auch bei Ankylosen Erwachsener ist eine ähnliche Nach- 
wirkung keine Seltenheit. Man denke, um hier nur einige 
wenige Beispiele zu citiren, an die bedeutende Missbildung 
eines von Litzmann abgebildeten Beckens !), welche nach 
einer Ankylose des rechten Darmbeines aufgetreten ist oder 
an den von Robert beschriebenen Schädel aus dem Museum 
Clamart in Paris ?) mit Ankylose der beiden Unterkieferge- 
lenke, an dem die Gelenkköpfe und Aeste ganz fehlen, 
während der Unterkiefer auf der Höhe der Basis der proe. 
coronoidei so sehr mit den Schläfenbeinen verwachsen ist, 
dass er ein Knochenstück mit dem Schädel zu bilden scheint, 
während aus den abgenutzten Zähnen auf’s deutlichste her- 
vorgeht, dass hier an keine angeborene Ankylose, welche 
als vitium primae conformationionis zu betrachten wäre, ge- 
dacht werden kann. 

Diese Bemerkung, dass erhaltene Ankylosen auch gewöhn- 
lich Missbildung der dabei betheilisten Knochen bedingen, 
worauf ich später noch zurückkommen werde, wenn ich die 
verschiedenen Besonderheiten in der Form der schief vereng- 
ten Becken zu erklären haben werde, entkräftet auch das 
zweite Argument von Naegele, sodass mir nur noch das 
erste Argument zur Behandlung übrig bleibt. Es gilt die 
Behanptung, dass die Verschmelzung des Heiligenbeines mit 
dem Darmbeine sowohl in Bezug auf die innere Structur, 
als auch auf die äussere Oberfläche so innig und vollkommen 


MEN, Litzmann t.laıp.S. InRarı Il, Van 
2) T. Robert, Ein durch mech. Verletzung und ihre Folgen quer 
verengtes Becken, Berlin, 1853, S. 48. 


289 


sei, dass in der Umgebung der Synostosis kaum eine Spur 
von Verwachsung früher getrennter Theile aufzufinden ist. 

Um hierüber mit genügender Gründlichkeit urtheilen zu 
können, schien mir eine genaue Untersuchung einer so gross 
möglichen Anzahl sehief-verengter Becken wünschenswerth, 
und zwar am liebsten von solehen, welche nicht angeborene 
sondern später erhaltene Fehler mit grosser aprioristischer 
Wahrscheinlichkeit darboten und von anderen, deren Ge- 
schichte und auswendige Eigenschaften keine Andeutung die- 
ser Art darboten. Glücklicherweise waren drei schief-verengte 
Becken aus der anatomisch-pathologischen Sammlung des 
akademischen Krankenhauses zu meiner Verfügung, während 
mir ein viertes aus dem anatomischen Museum wohlwollend 
von meinem Collegen Halbertsma überlassen wurde. In 
Bezug auf die Geschichte und auswendige Form dieser Becken 
ist Folgendes zu erwähnen: 

N°. 1 gehörte einer Frau, welche, nchden bei ihrer er- 
sten Geburt eine yare Perforation verrichtet war, und 
nachdem sie später viermal durch pactus arte praematurus 
hier entbunden war, im Jahre 1853 starb, nachdem sie die 
wegen ruptura uteri spontanea geschehene Extraction mit 
der Zange eines erwachsenen todten aber kleinen Kindes eine 
halbe Stunde überlebt ‘hatte. Sie war verschiedene Monate 
als ambulatorische Kranke im akademischen Spitale behan- 
delt worden, als sie 7 Jahre alt war, und zwar wegen eines 
Abscess an der hinteren Fläche des Beckens; hiervon war 
eine Narbe und Verwachsung der Haut mit dem unterlie- 
genden Knochen auf der Höhe der spina post. sup. oss. il. 
sinistri übrig geblieben. Dies hatte mich veranlasst, nach- 
dem ich die Diagnose der Beckenform während des Lebens 
festgestellt hatte, eine durch Krankheit im kindlichen Alter 
erhaltene Ankylose zu vermuthen. Nachdem aber die Leichen- 
öffnung verrichtet, fing ich, als das Becken präparirt wurde, 
an daran zu zweifeln; ich fand wenigstens in der Umgebung 
der vollkommen verwachsenen Symphysis sacro-iliaea sini- 
stra, neben der bereits erwähnten Verwachsung der ver- 
narbten Haut mit dem Knochen, durchaus keine Spuren eines 


En 


290 


pathologischen Zustandes der weichen Theile; der Knochen 
selbst hat bei einem scheinbar fehlenden linken Saecralilügel 
eine ganz gesunde Oberfläche; nirgends findet sich eine Spur 
von krankhaftem Knochengewebe oder irgend eine Uneben- 
heit, wenn man wenigstens die schwache Andeutung des 
foramen nutritium des Darmbeines in der Form eines 
kaum sichtbaren Grübchens, oder das Fehlen der durch- 
scheinenden Stelle des Darmbeines auf der linken Seite (die 
aber auch auf der rechten nicht sehr ausgeprägt ist), nicht 
dafürhalten will. Das Becken gehört übrigens zu den ziemlich 
stark verengten, wie aus den folgenden Durchmessungen | 
des Einganges hervorgeht: 


Gerader Durchmesser: Mama 
Querer | N NR 
Erster schiefer A SENSE 
Zweiter „ 5 IE 
Distantia sacro-eotyloidea sinistra . 2” 

L 5 dextra', 3720 


2 

Endlich zeigt es alle charakteristischen Eigenschaften der 
schief-verengten Becken, welche von Naegele so genau be- 
schrieben worden sind. 

N°. 2 ist das Becken einer Frau, das ich als ein seiner 
Art nach kleines Naegele’sches; Becken erkannte, als 
die Geburt ihres ersten Kindes schon im Gange war. Ich 
habe darauf die seetio caesarea mit günstigem Resultate für 
das Kind, mit tödtlichem aber für die Mutter verrichtet. 
Sie hatte, soweit sie sich erinnern konnte, nie Erschei- 
nungen dargeboten, welche irgendwie auf Krankheit der 
Beckenknochen deuteten, und in der ganzen Umgebung des 
Beckens war nichts zu finden, was darauf hinwies. Auch 
an dem präparirten Becken ist nirgends eine Spur von 
Knochenkrankheit zu bemerken; der linke Flügel des Hei- 
ligenbeines scheint ganz zu fehlen; das ganze Becken ist 
noch etwas kleiner und schiefer als die meisten hierherge- 
hörigen; das promontorium berührt auf der linken Seite die 
linea innominata; auch die rechte Hälfte des Heiligenbeines 
ist schmal; der ingang ergiebt folgende Maasse: 


291 


Gerader Durchmesser. 3 ....8 0% 
Querer h a 
Erster schiefer N ER NL, 
Zweiter „ N : a. 


Distantia sacro:cotyloidea sinistra . 17107 
4 „ 2 dexira, 83.66 

Im Ganzen ist es ein Becken von dem Lambl ebenso 
wie von dem vorigen mit demselben Rechte wie von dem 
von Dr. Nichet in Lyon sagen würde: „Es fehlt hier eine 
„jede wie immer geartete Spur einer Entzündung oder sonst 
„eines pathologischen Processes; und es ist ein Muster von 
„gesunder Knochentextur an dem Becken, welches eben unter 
„dem höchsten Grade einer in allen ihren Consequenzen aus- 
„gezeichneten Difformität unterliegt, die ihren Grund in einer 
„primitiven Anweichung — in dem völligen Abgang der seit- 
„lichen Ossificationspunkte der Kreuzbeinwirbel — findet.” !) 

N°. 3 ist ein Theil eines schief verengten Beckens, das 
aus der Privatsammlung des  Profr. Broers herstammt , 
und auf einem Kirchhofe gefunden wurde. Naegele hat es 
schon gekannt und sub N°. 23 vermeldet. Es besteht aus 
dem ersten und zweiten falschen Sacralwirbel,, welche mittelst 
einer vollkommenen Ankylose mit dem rechten Darmbeine 
verbunden sind; es fehlt der aufsteigende Ast des Sitzbeines so- 
wie ein Theil des horizontalen und der ganze absteigende Ast 
des Schambeines. Der rechte Flügel des Heiligenbeines scheint 
sanz zu fehlen, sodass der seitliche Theil des promontorium nur 
2 a5” von der linea innominata entfernt ist; insoferne die Schief- 
heit aus den vorhandenen Theilen beurtheilt werden kann, 
muss sie sehr bedeutend gewesen sein, die distantia sacro-coty- 
loidea dextra beträgt wenigstens nicht mehr als 1” 6°”. Bei ober- 
flächlicher Betrachtung ist an dem Präparat keine Spur von 
Krankheit der Knochentextur wahrzunehmen , weder in der Um- 
gebung der Ankylose, noch an dem acetabulum, noch an dem 
Darmbeine. Von der Geschichte des Beckens ist nichts bekannt. 

N°. 4 rührt von der Sammlung des verstorbenen Professors 


1) Prager Vierteljahrschrift, Jahrg. XV, Bd. III, 1858. S. 152. 


292 


Brugmans her, und ist in dem anatomischen Cabinet der 
Universität aufgehoben; es scheint auch ein dem Kirchhofe 
entnommener Knochen gewesen zu sein, den Prof. Sandifort 
unter den speeimina von luxatio femoris beschrieb und der 
neuerdings Gegenstand einer Dissertation über ein neues 
Exemplar Naegele’scher Becken ward!) Es besteht aus 
dem ganzen Heilisenbeine, das mit dem os innominatum 
durch eine vollkommene Synostose verbunden ist, und bietet 
ausser dieser Anomalie sehr merkbare Spuren von Coxalgie 
dar. Die Pfanne ist in eine kleine dreieckige Grube verän- 
dert und mehr nach oben und aussen sind drei Knochenaus- 
wüchse gebildet, welche mit einander eine sehr flache, un- 
vollkommene neue Pfanne darstellen; der unterste ist abge- 
schliffen, woraus hervorgeht, dass das Individuum auch nach 
der Heilung diese Extremität benutzt hat, denn dieser Aus- 
wuchs lag auf der Höhe des Darmbeinkörpers. Das Darmbein 
zeigt an dem Vorderrande und der inneren Oberfläche überall 
Reste von Geschwürs- und Exostosebildung, die auch an 
der äusseren Oberfläche nicht ganz vermisst wird; ganz 
in der Nähe des Uebergangspunktes der Darmbeinfläche in 
den oberen Theil des Heiligenbeines ist ein Knochenplättehen 
gebildet, unter dem ein Raum von 3” Höhe frei bleibt; an 
der vorderen Oberfläche der Synostose sind keine Spuren von 
Knochenkrankheit vorhanden. Zuletzt sei vermeldet, dass 
das Präparat den Eindruck hervorruft, als ob das Heiligen- 
bein beim Verwachsen mit dem ungenannten Beine nach 
vorne geschoben wäre und zwar seiner inneren Fläche ent- 
lang, wodurch die linke innominata verkürzt und der Theil, 


welcher hinter dem Heiligenbeine verläuft, länger geworden ist. 

Wenn man die erwähnten Details mit einander vergleicht, 
so ergiebt sich daraus, dass wenn schief verengte Becken 
bestehen , die ihren Ursprung einer später entstandenen An- 


kylose verdanken, und wiederum andere, die als vitium 
primae conformationis auftreten, N°. 1 und 4 zu der ersten, 


1) A. F. van Wieringen, Diss. obst. path. ınaug. de pelvi oblique 
ovata, Lugd. Bat. 1849. 


293 


2 und 3 zu der zweiten Classe gehören. Um dies näher zu 
erhärten, entschloss ich mich alle 4 Becken so durchzusägen , 
dass die Eigenschaften des Knochengewebes an der Stelle 
der Synostose beurtheilt werden konnten. Dazu wurden N°. 1 
und 2 auf die folgende Weise behandelt. Ich fing damit an 
das linke Darmbein von der spina ant. inf. nach der spina 
post. sup. zu mit einer feinen Säge zu trennen, und führte 
den Sägenschnitt in derselben Richtung bis in die Hälfte 
des Körpers des ersten falschen Sacralwirbels fort. Ein zwei- 
ter Schnitt wurde in vertikaler Richtung durch die Mitte der 
Lendenwirbel und der oberen Hälfte des ersten Saeralwirbels 
geführt. Ein dritter Schnitt wurde endlich auf der Mitte des 
Darmbeinkammes angefangen und in schiefer Richtung nach 
unten und innen fortgesetzt; er trennte die ganze Darmbein- 
fläche, durchschnitt, indem er mit dem zweiten zusammen- 
traf, einen kleinen Theil des fünften Lendenwirbelkörpers 
und ferner das Seitenstück und den Körper des Heiligenbei- 
nes bis auf die Vereinigungsstelle des 3ten und 4ten falschen 
Wirbels. Der erste Schnitt traf die Synostose mit den an- 
srenzenden Theilen des Heiligen- und Darmbeines in hori- 
zontaler, der dritte in vertikaler Richtung, während der zweite 
Schnitt, der an der hinteren Seite dem Heiligenbeinrande 
entlang nach unten verlängert wurde, bis er dem dritten 
begegnete, nur bezweckte die durchgesägten Theile frei zu 
machen. N”. 3 und 4 wurden nur in der erstgenannten Rich- 
tung durchgesägt und dadurch in zwei horizontale Stücke 
getrennt. Wenn nun die vier horizontalen Durchschnitte ne- 
ben einander gelegt werden, so hat man Gelegenheit zu 
sehen, dass der Flügel des Heiligenbeines in allen vier Präpa- 
raten vorhanden ist; er ist durch sein mehr lockeres Knochen- 
gewebe leicht von dem Körper des Sacralwirbels, sowie von 
dem Darmbeintheile zu unterscheiden ; nach aussen ist er von 
einem compacteren Knochenstreifen begränzt, der die Stelle 
andeutet, wo früher die Heiligenbein-Darmbein-Verbindung 
war; diese Trennungslinie ist bei N°. 1 und 4 mehr auffal- 
lend als bei N°. 2 und 3, fehlt aber auch in ihnen nicht 
ganz, So dass nur von einem Unterschiede dem Grade und 
Il. 20 


294 


nicht der Art nach die Rede sein kann. Dies wird noch 
deutlicher, wenn man die vertikalen Durchschnitte von N°. 1 
und 2 mit einander und mit den horizontalen derselben Becken 
vergleicht; auch hier kann kein Zweifel über das Vorhan- 
densein des linken Heiligenbeinflügels obwalten; die ursprüng- 
liche Trennung von dem Darmbeine ist durch eine bogen- 
förmige Linie von neuem compaeten Knochengewebe ange- 
deutet, welche Linie jedoch, gerade wie in dem horizontalen 
Durchschnitte, bei N”. 1 deutlicher ausgeprägt ist als in N°. 2. 

Zur näheren Beleuchtung reihe ich hier zwei nach der 
Natur verfertigte Abbildungen der beiden Durchschnitte des 
Beckens N°. 1 an. 


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295 


Fig.2. A unterer Theil des 
durchgesägten Körpers des 
fünften Lendenwirbels; BGe- 
lenk zwischen dem dten Len- 
denwirbel und Heiligenbein; 
Ü Körper des ersten falschen 
Saeralwirbels; D, E, F er- 
stes, zweites und drittes 
Kreuzbeinloch; @ Darmbeins- 
kamm; H Streifen compaeten 
& Knochengewebes, der die ur- 
-° sprüngliche Trennung des 
Kreuzbeines von dem Darm- 
beine, d.i.diesymphysis sacro- 
iliaca andeutet; I schlecht ent- 
wickelter Flügel des Kreuz- 
beines. 

Fig. 3. A Vorderrand des 
Darmbeines, eben unterhalb 
der spina ant. inf.; B spina 
post. sup.; C. äussere Ober- 
fläche des Darmbeines; D 
dureh gesägte linke Hälfte des 
Körpers des ersten falschen 
Sacralwirbels; E linke Hälfte 
des Wirbelbogens; F Anfang 
des Canales zum Durchgange 

4 des ersten Sacralnerven; G 
Gelenkfortsatz des ersten Saeralwirbels; H Streifen von com- 
paetem Knochengewebe, der auf eine früher vorhandene sym- 
physis sacro-iliaca hinweist; I schlecht entwickelter Flügel 
des Kreuzbeines. 

Die Resultate aus der Untersuchung der 4 erwähnten Becken 
enthalten, wie mir scheint den Beweis, dass man bei allen 
schief verengten Becken !), wenn sie nur gründlich unter- 


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SL) r | 2 h 
N, 
F Sur 97 B 
u ee, 


nz, 1 
7 


1) Dr. Lambl hat an einem in Prag vorhandenen quer verengten 
20* 


296 


sucht werden : 1° deutliche Spuren von Verwachsung früher 
getrennter Theile antreffen wird, und 2° dass keiner der 
den Kreuzbeinflügel zusammensetzenden Theile fehlt, so dass 
weder ein ursprüngliches Fehlen der Beinkerne noch ein 
Zurückblieben in der Entwickelung der Symphysis sacro-iliaca 
hier in Betracht kommt. 

Noch zwei Fragen müssen hier näher erörtert werden: 
Erstens: Muss die Ankylose im allen bis jetzt beobachteten 
Fällen durch Entzündung der symphysis sacro-iliaco erklärt 
werden? und Zweitens: Wie muss die Formveränderung und 
Verengung des Beckens mit der erhaltenen Ankylose in 
Verband gebracht werden ? j 

Beim Beantworten der ersten Frage wird, wie mir scheint, 
Folgendes berücksichtigt werden müssen. So lange man 
glaubte, dass die symphysis sacro-iliaca aus zwei Knochen- 
oberflächen zusammengesetzt sei, welche durch eine zwi- 
schenliegende Knochenscheibe unbeweglich mit einander ver- 
bunden wären, konnte man mit einigem Grunde voraussetzen, 
dass die Verknöcherung dieses Knorpels eine Synostose be- 
dingen konnte, die mithin auch ohne vorhergegangene Ent- 
zündung hätte eintreten können. Man brauchte nur an- 
zunehmen, dass durch irgend eine pathologische Ursache hier 
dasselbe bewirkt werde, was z. B. beim andere der kürzeste 


Becken dasselbe gesehen und abgebildet, was ich an den durchge- 
sägten Becken zu beobachten Gelegenheit hatte. ( Vierteljahrschr. 
F. d. prakt. Heilkunde, XI. Jahrg. Prag. 1854, Bd. 4. S. 1.) Auch 
da ist, wenigstens auf der linken Seite, eine deutlich sichtbare 
durchlaufende Linie von conpactem Knochengewebe vorhanden, 
und auf der rechten Seite erkennt man die ankylosirte Stelle an 
umschriebenen Stellen von dichterem Knochengewebe; überdiess ist 
die Existenz der Kreuzbeinflügel an beiden Seiten durch sein lockeres 
Gewebe deutlich zu erkennen. Lamb] zweifelt nicht an die frü- 
here Existenz eimer Articulation auf beiden Seiten; er glaubt nur das 
dünnere Knochengewebe zwischen dem Kreuzbeinkörper und den 
ungenannten Beinen als eine sogenannte Rarefaction (Atrophie?) 
auffassen zu müssen, was mir unnöthig scheint, da die Seitenstücke 
eines jeden normalen Kreuzbeines ganz ähnliches Knochengewebe 
auf ihrem Durchschnitte darbieten. 


297 


Verwachsen der Epiphysen der Röhrenknochen mit ihren 
Diaphysen, beim Verknöchern der Schädelnäthe, beim Ver- 
schmelzen des Darm-, Scham- und Sitzbeines in der Gelenk- 
pfanne in physiologischem Zustande zu geschehen pflegt. 
Nachdem Luschka aber bewiesen hat, dass die Symphyses 
sacro-lliacae als wahre Gelenke zu betrachten sind!) an 
denen man ausser der Knorpelfläche, welche eine jede der 
Knochenoberflächen bekleidet, noch eine wahre Gelenkhöhle 
und eine Synoyialmembran zu unterscheiden hat, hat die 
Vergleichung der Ankylose des Heiligenbeines und des 
ungenannten Beines mit der physiologischen Verwachsung 
von in jugendlichem Zustande getrennten Knochenoberflächen 
jeden rationellen Boden verloren, und hat man Recht um 
anzunehmen, dass ein Krankheitsprocess der Ankylosebildung 
vorhergehen muss, wodurch zuerst die Gelenkhöhle zer- 
stört, und darauf eine Verwachsung der Knorpeloberflächen 
mit auffolgender Verknöcherung der Knorpels selbst möglich 
gemacht wird. Dass dies ohne Entzündung geschähe, darf 
man mit Recht bezweifeln. An anderen Skelettheilen ver- 
laufen die mit Ankylose endigenden Gelenkkrankheiten stets 
mit mehr oder weniger deutlichen Zeichen von Entzündung, 
und bei allen schief und quer verengten Becken, deren Ge- 
schichte genau genug bekannt ist, um über die Zeit wann, 
und die Ursache wodurch die Ankylose entstanden ist, ein 
Urtheil zu fällen, war letztere stets von der Art, dass sie 
Entzündungserscheinungen hervorrief; an verschiedenen an- 
deren Exemplaren, deren Geschichte nicht so genau bekannt 
ist, fand man aber Reste früherer Entzündung in der Form 
von Osteophyten oder Exostosen in der Nähe der Symphy- 
sis, und in einzelnen Fällen beobachtete man sogar bei der 
anatomischen Untersuchung des Beckens einen noch nicht ab- 
gelaufenen Entzündungsprocess. Wenn man weiter bedenkt, 
dass Gelenkentzündungen öfter durch einen chronischen Ver- 


1) Archiw f. pathol. Anat. u. Phys. v. R. Virchow, 1854, Bd. VII, 
Heft 2, S. 299 ff. — H. Luschka, die Halbgelenke des mensch- 
lichen Körpers, Berlin 1858, S. 132—138. 


298 


lauf und wenig auffallende Erscheinungen charakterisirt sind, 
dass dies namentlich bei einem unbeweglichen Gelenke wie 
der artieulatio saecro-iliaca der Fall sein muss, dass diese 
Stelle ausserdem der örtlichen Untersuchung weniger zugäng- 
lich ist als die meisten anderen Gelenke, und dass die 
Voraussetzung gerechfertigt ist, dass die Ankylosen bei vie- 
len schief verengten Becken schon in kindlichem Alter ent- 
stehen, während ihre Existenz erst im Erwachsenen erkannt 
oder anatomisch untersucht wird — so hat men Grund ge- 
nug für die Behauptung, dass die wenigen Fälle, in denen 
es bei einer genauen Anamnesis nicht möglich war, etwas 
zu erfahren, das auf eine frühere Entzündung der symphysis 
sacro-iliaca hindeuten kann, vollkommen unzureichend sind, 
um den Beweis zu liefern, dass keine Entzündung vorhan- 
den gewesen sein kann |). 

. Zu diesen theoretischen Betrachtungen, welche mich ver- 
anlassen jede Ankylose aus vorhergegangener Entzündung 


zu erklären, kann ich noch die Beschreibung fügen von 


zwei Becken aus dem kindlichen Alter, an denen der be- 
handelte Krankheitsprocess in verschiedenen Stadien wahr- 
genommen werden kann, und welche zweifelsohne im er- 
wachsenen Zustande schief verengte Becken geworden wären. 
Das erstzuerwähnende Becken aus der Sammlung des noso- 
comium academicum besteht aus dem ganzen Becken, 4 Len- 
denwirbeln und den oberen Hälften der Hüftbeine. Der Grösse 
nach zu urtheilen, muss es einem zehnjärigen Kinde angehört 
haben, und zwar, wie ich der Form des saecrum, dem Aus- 


1) Wenn lemand im Streite mit dem oben Angeführten noch behaup- 
ten möchte, dass das Fehlen emer jeden Mittheilung, welche auf 
eine nach der Geburt erhaltene Entzündung hinweist, in einem ge- 
geben Falle die Möglichkeit ausschliesst, dass eine solche bestanden 
habe, so wäre darauf immer noch zu antworten, dass nichts uns 
in einem solchen Falle verhindert, um die Möglichkeit einer erhal- 
tenen Entzündung während des intrauterinalen Lebens, nachdem 
die Gelenkhöhle schon gebildet war, anzunehmen, und demgemäss 
zu vermuthen, dass ein schief- oder querverengtes in diesem Sinne 
ein anzeborener Fehler sein kann. 


2939 


gangsraume und der durchscheinenden Darmbeinstelle entneh- 
me, einem Mädchen. Die linke symphysis sacro-iliaca, die 
beiden Hüftgelenke, die Gelenke der Lendenwirbel und die 
des Schwanzbeines zeigen keine Krankheitsspur. Die rechte 
symphysis sacro-iliaca dagegen ist theilweise zerstört; weder 
am Kreuzbeine noch an dem Darmbeine sind Spuren von 
Knorpel übrig geblieben und ein Theil des die ohrförmige 
Oberfläche des Darmbeines bildenden Knochengewebes ist durch 
caries zerstört, während eine Höhle entstanden ist, in welche 
der Flügel des Kreuzbeines theilweise eingedrungen ist. Um 
das Gelenk herum hat das Darmbein seine glatte Oberfläche 
eingebüsst; est ist porös und mit kleinen Osteophyten be- 
deckt. Auch an dem Flügel des Kreuzbeines ist die Kno- 
chenoberfläche poröser aber ohne Osteophytbildung. Der rechte 
Flügel ist sichtbar kleiner als der linke; der Grössenunter- 
schied ist namentlich an dem Seitenstück des ersten Kreuz- 
beinwirbels bemerkbar, das auf der rechten Seite überdiess 
inniger mit dem Körper verwachsen ist als auf der linken. 
Was die Form betrifft, so zeigt das Becken alle Kennzei- 
chen, welche erwachsenen schief verengten Becken zukom- 
men; auf der rechten Seite ist das Darmbein mehr gerade 
aufgerichet als auf der linken; die Darmbeinfläche ist klei- 
ner; das promontorium ist nach rechts verschoben; das erste 
und zweite foramen sacrale sind kleiner auf der rechten als 
auf der linken Seite; die Entfernung der spina ischii von der 
Heiligenbeinspitze ist rechts kleiner als links; der Beckenein- 
gang ist schief und zwar so, dass eine Linie, welche man 
sich der rechten Hälfte entlang gezogen denkt, am hinteren 
Ende mehr gekrümmt und am vorderen Ende gerader ver- 
läuft als an denselben Stellen auf der linken Seite. 


Der gerade Durchmesser it = . . 2” 6” 
der quere 5 F a Eh > 1 
der erste schiefe y in IT. War, TOM 
der zweite „ h 4 IIARAN. RS RB 
die distantia sacro-cotyloidea sinistra . . 27 3” 
die 3; r h dexiratu, 2 ER 


Man braucht sich kurz nur vorzustellen, dass bei einer 


300 


eventuellen Heilung des vorhandenen Knochenleidens, das 
nur mit Ankylose der rechten symphysis sacro-iliaca hätte 
geschehen können, der rechte Sacralflügel in Folge des allda 


vorhandenen kranken Knochengewebes in Entwickelung zu- 


rückgeblieben wäre, während die übrigen Theile auf die 


| 
| 
| 
| 
| 


übliche Weise fortwüchsen, und man hat das Bild eines 


schief verengten Beckens, an welchem keine der so genau 
von Naegele beschriebenen Kennzeichen fehlt. 

Das zweite Präparat befindet sich in dem anatomischen 
Universitätsmuseum und rührt von der Sammlung des ver- 
storbenen Profr. Brugmans her. Im Jahre 1827 hat Profr. 
G. Sandifort es in seinem Museum anat. erwähnt !). Es 
besteht aus dem linken ungenannten Beine, das durch eine 
unvollkommene Ankylose mit dem lten und 2ten falschen 
Kreuzwirbel verbunden ist, weiter aus dem reehten ungenannten 
Beine, das in zwei Theile und zwar das Darmbein, und 


das Sitz- und Schambein getrennt ist, aus dem rechten Hüft- 


beine und dem Gelenkkopfe des linken. Es scheint dureh 
Maceration präparirt zu sein und dadurch ist wahrscheinlich 
die untere Hälfte des Kreuzbeines mit dem Schwanzbeine, 
der Bandapparat und der Knorpel verloren gegangen. Von 
der Geschichte dieses Präparates ist nichts bekannt. Der 
Grösse nach muss es einem 12 oder 13 jährigen Kinde ange- 
hört haben; ob es aber ein Knabe oder ein Mädchen gewe- 
sen, ist nicht mit Gewissheit auszumachen. Auf der linken 
Seite war coxarthritis vorhanden, wodurch die Gelenkpfanne 
theilweise zerstört, und der Boden etwas unterhalb der Mitte 
durchbohrt ist; der obere und hintere Theil der Pfanne ist 
sehr uneben, theils durch caries, theils durch Bildung von 
Östeophyten von verschiedener Grösse; das Hüftbein zeigt 
nicht weniger deutliche Spuren von theilweiser Zerstörung 
durch caries; die rechte Gelenkpfanne dagegen und der Ge- 
lenkkopf des rechten Hüftbeines sind gesund. Das linke 
Darmbein ist durch eine noch unvollkommene Ankylose mit 


1) G. Sandifort, Museum anat. acad. Lugduno-Batavae , Lugd. Bat. 
1827, „Vel. DI1..p:,285,.N2.551,.,5524353. 


301 


den beiden vorhandeneu oberen Saecralwirbeln verwachsen; 
an der vorderen Seite des Gelenkes ist die Verbindung 
schon so innig, dass kaum eine Spur der früheren Trennung 
wahrgenommen werden kann, während oben und etwas nach 
hinten eine Rinne angetroffen wird, welche während des 
Lebens mit Gelenkknorpel angefüllt war, der bei der Mace- 
ration verloren gegangen; der liske Flügel des Heiligen- 
beines ist viel kleiner, als der rechte; dieser Unterschied 
ist namentlich an der vorderen Seite, wo die Ankylose schon 
zu Stande gekommen ist, sehr auffallend, während der hin- 
tere Theil, aus dem der Wirbelbogen entspringt wenig schma- 
ler ist als auf der rechten Seite; die ohrförmige Obertläche 
des Darmbeines ist, insoferne man darüber ohne das Prä- 
parat durchzusägen urtheilen kann, uneben und gleichsam in 
dem Darmbeine ausgehöhlt, sodass der Theil des Kreuzbein- 
flügels, der noch vorhanden ist, in die Substanz des Darm- 
beines eingedrungen sein würde, wenn man sich das Ver- 
halten der Theile so denkt, wie es sein würde, wenn die 
Ankylose vollkommen zu Stande gekommen wäre, gerade 
wie bei den schief verengten Becken von erwachsenen Frauen, 
welche ich durchsägte. Das ganze Becken hat in Folge der 
fehlerhaften Entwickelung des linken Sacralflügels eine schiefe 
Form erhalten, welche ganz mit derjenigen übereinstimmt, 
welche man an jedem Naegele’schen Becken zu beobach- 
ten Gelegenheit hat. 


Die Dimensionen des Beckeneingangs sind folgende : 


diesserade mn tag an RR 
dievigterer, mb an ng tz 


die. erste schiefe. „amd 3 
dier zweite, ditomimar don 
die distantia sacro-cotyl. sinistra 2” 4 
die n Ku, (dextman alt 967 


Wenn man diese beiden Präparate untereinander und mit 
einem erwachsenen schief-verengten Becken vergleicht, so 
bleibt nicht der geringste Zweifel darüber, dass eine erwor- 


302 


bene Krankheit der einen artieulatio sacro-iliaca, welche die 
Ankylose bedingt, als nothwendige Ursache für die Entste- 
hung der behandelten Beekenform betrachtet werden muss, 
so dass mir schliesslich nur noch die Behandlung des Zu- 
sammenhanges der Ankylose mit den übrigen Abweichungen 
des Naegele’schen Beckens übrig bleibt. 

Wenn man sich vorstellt, dass die artieulatio sacro-iliaca , 
sei es in Folge aeuter oder chronischer Entzündung, in dem 
kindlichen Alter vernichtet und durch eine vollkommene 
Ankylose ersetzt wird, so werden dadurch die betroffenen 
Theile in ihrem weiteren Wachsthume und Entwickelung ge- 
hemmt. Es findet hier dasselbe Statt, was auch an anderen 
Skelettheilen vorkommt, an denen eine unzeitige Verwach- 
sung von ursprünglich durch Knorpel getrennten Knochen 
eine Hemmung in ihrem Wachstume bedingt; in dieser Hin- 
sicht sind die schief-verengten Becken mit den schief-verengten 
Schädeln bei Cretins‘ zu vergleichen, wie dies Virchow 
schon gethan !); es treten aber bei dem Becken die Folgen 
der pathologischen Verschmelzung der Knochen in viel höhe- 


rem Grade hervor als beim Schädel, weil hier keine Verknö- 


cherung eines zeitlichen Knorpels Statt findet, sondern wohl 
eine Verknöcherung einer Artieulation, deren fortwährende 
Existenz normal ist. Dieses gehemmte Wachsthum kommt 
nicht nur in dem Heiligenbeinfiügel, sondern auch in dem 
Theile des ungenannten Beines zur Erscheinung, mit dem 
er in Verbindung steht; die Dieke des Darmbeines, welche 
in der Nähe der Symphyse im normalen Zustande 14 C. 
m. — 7’ P. beträgt, ist viel geringer; während der übrige 
Theil des Darmbeines, der ausser dem Bereiche der Anky- 
lose liegt normal fortwächst, findet man den schlecht ent- 
wickelten Heiligenbeinflügel bei manchen schief-verengten Bee- 
ken so sehr in das ungenannte Bein eingedrungen, dass 


1) R. Virchow, Ueber den Cretinismus, namentl. in Frankr. u. über 
pathol. Schädelformen in Verhandl. der phys. medic. Gesellsch. in 
Würzburg. Erlangen, 1852. Bd. I. S. 239. 


803 


man seine Existenz läugnen würde, wenn man nicht eines 
besseren belehrt würde, nachdem man das Präparat durch- 
gesägt hat. 

Das gehemmte Wachsthum, die unvollständige Entwiekelung 
eiebt sich aber nicht nur durch die geringere Dieke des 
Darmbeines an der Stelle der Ankylose Kund, sondern be- 
steht auch in einer vertikalen Riehtung und in der Riehtung 
von vorne nach hinten, so dass die Stelle der Ankylose eine 
geringere Höhe und Breite haben muss, als die Knochen an 
der Stelle haben würden, wenn das Gelenk stehen geblieben 
und die Entwickelung und der Wachsthum normal gewesen 
wären; wenn jedoch die ganze ohrförmige Oberfläche oder 
lieber der Theil des Darmbeines, an welchem sie ursprüng- 
lich vorhanden war, zu klein bleibt, so muss das ganze Darm- 
bein in gewissem Grade mitleiden, und hieraus lässt sich die 
geringere Ausdehnung der Darmbeinläche. und die engere 
ineisura ischiadiea major leicht erklären, sodass auch darin 
kein Beweis gelegen ist für die Entstehung des schief-vereng- 
ten Beckens aus einem vitium primae conformationis. Was 
ich oben als direete Fölge einer im kindlichen Alter erhalte- 
nen Ankylose darstellte, fehlt auch nieht in Fällen, bei wel- 
chen die Ankylose erst nach dem vollendeten oder beinahe 
vollendeten Wachsthume des Beckens entsteht. Hier kann 
wohl nicht von gehemmtem Wachsthume oder zurückgeblie- 
bener Entwiekelung der Beekenknochen die Rede sein, es 
steht aber nichts im Wege, um anzunehmen, dass das Zu- 
standekommen der Ankylose in diesen Fällen auch dann noch 
hinreicht, um den betreffenden Heiligenbeinflügel an Grösse 
abnehmen zu lassen, in Uebereinstimmung mit, dem, was 
man bei Ankylosen an anderen Gelenken beobachtet hat; 
zum Beweise diene, abgesehen von dem oben schon erwähn- 
Falle von Ankylose des Unterkiefers aus dem Musee Clamart 
in Paris, das von Dr. Lambl beschriebene Präparat von 
vollkommener Ankylose des Hüftgelenkes, an dem der Kopf 
des Schenkelbeines ganz verschwunden und der Hals so ver- 
kürzt war, dass das Schenkelbein unmittelbar in das unge- 
nannte Bein überging, und keine Grenze mehr zwischen 


304 


den ursprünglich getrennten Knochen zu entdecken ist !). 
Lambl glaubt diesen Process mit dem Einschrumpfen einer 
Narbe in Weichtheilen vergleichen zu können und scheint 
vorauszusetzen, dass ein erwachsenes Becken dadurch ebenso 
schief und verengt werden kann, als nach Krankheit im kind- 
lichen Alter; hierfür fehlt aber bis jetzt der direete Beweis; 
bei den einzigen zwei schief-verengten Beeken wenigstens, 
deren Ankylose erst mit grosser Wahrscheinlichkeit nach der 
Pubertät entstanden ist?), ist wohl der Heiligenbeinflügel 
schmäler geworden, aber nieht in dem Maasse als bei den 
meisten anderen derartigen Becken. 

Mit diesen diresten Folgen der Ankylose sind die übrigen 
Abweichungen leicht in Verband zu bringen; so ist die Krüm- 
mung der Wirbelsäule in der Lendengegend eine nothwendige 
Folge der Verschiebung des promontorium nach der entstal- 
teten Seite hin, ohnedies wäre das Stehen und Gehen un- 
möglich, da das Gleichgewicht nicht vorhanden wäre; durch 
diese Verschiebung drückt auch die Schwere des Rumpfes mehr 
auf das Hüftgelenk der entstalteten Seite als auf das der an- 
deren, und dadurch wird diese Beckenhälfte mehr abgeflacht, 
nähert sich die spina ischii mehr dem Heiligenbein und wird 
der arcus pubis auf derselben Seite weniger geräumig, während 
sich der Rand des Beckeneinganges auf der gesunden Seite 
mehr krümmen muss, wodurch die symphysis pubis in der 
Mittellinie (Meridianebene) des Körpers bleiben kann, wie 
ich dies in den zwei von mir beobachteten Fällen während 
des Lebens bei der Untersuchung vorfand. Dass endlich bei 
den beschriebenen Formveränderungen des ganzen Becken- 
ringes einer der schiefen Durchmesser der längste und der 


1) Lambl Reisebericht m Vierteljahrschrift für praktische Heilkunde, 
1858. X’Vter Jahrgang, S. 106. 

2) Der Fall von v. Holst (Monatschr. f. Geburtsk. 1853. Bd.I. S.1) 
und von Hecker (Ibid 1856. Bd. VI. S. 6.). Es ist wohl noch 
ein dritter Fall bekannt, in dem die Ankylose erst erworben zu 
sein scheint, nachdem die Frau schon heirathsfähig war, nämlich 
der oben von Betschler eitirte, er ist aber zu unvollkommen be- 
schrieben, um einige Schlüsse aus demselben herzuleiten. 


305 


wird, während der gerade Durchmesser nahezu unverändert 
bleibt, und der quere kürzer wird, braucht wohl nicht 
näher erörtert zu werden. 

Man sieht, dass alle beständigen Eigenschaften der Nae- 
sele’schen Becken hinreichend erklärt werden können aus 
einer erworbenen Ankylose der symphysis sacro-iliaca, welche 
in den Kinderjahren anfangend ein scheinbar vollkommenes 
Fehlen des einen Heiligenbeinflügels nach sich zieht, und in 
späterem Alter erworben ein Kleinerwerden desselben Knochens 
bedingt, und zwar durch eine Art Zusammenschrumpfen, wel- 
ches dem vergleichbar ist, was man an Narben in Weichtheilen 
beobachtet. Die nächste Ursache der Verengung und Schief- 
heit liegt mithin in der fehlerhaften Grösse des Heiligenbein- 
tlügels, und daraus folgt, dass jede andere Ursache, welche, 
auch ohne dass eine Ankylose zu Stande kommt, bedingt, 
dass der Heiligenbeinflügel zu klein bleibt, zur Folge hat, 
dass das Becken eine ähnliche Missgestaltung darbieten wird, 
wobei aber das ungenannte Bein nur in geringem Maasse 
betheiligt ist, da es direet nichts damit zu thun hat. 


(Nederl. Tijdschr. voor Geneeskunde.) 


— 


Ueber Eiweissdiffusion 


von 


A. HEYNSIUS. 


In meiner Arbeit über Urinsecretion !) habe ich dargethan, 
dass bei der Osmose von Eiweisslösung (Hühnereiweiss, Blut) 
mit einer anderen Flüssigkeit, die Reaction dieser Flüssig- 
keit einen bedeutenden Einfluss auf die Diffusionsgeschwin- 
digkeit des Eiweiss’ ausübt. War diese Flüssigkeit sauer ?) 
(angesäuertes Wasser) so trat constant weniger Eiweiss durch 
die Membran hindurch, als wenn sie neutral oder alkalisch 
war, natürlich unter gleichen Umständen und während der- 
selben Zeit. 

Die Versuche, welche zu diesem Resultate geführt haben, 
waren mit Bezug auf die Urinseeretion in der Niere unter- 
nommen, und nachdem es ausgemacht war, dass der Druck, 
wenigstens für die Membran, welche ich zu diesen Versu- 
chen benutzte, keinen Einfluss auf diese Erscheinung hatte, 


1) Nederl. Tijdschr. v. Geneeskunde, 1857, p. 509, und Archiv f. d. 
holländischen Beiträge, I, S. 265. 

2) In diesen Versuchen wurde das Amnion mit einem Theile des Cho- 
rion als Membrane gebraucht. Das Amnion allein konnte dem 
hohen Drucke, der bei manchen dieser Versuche auf dasselbe ge- 
übt wurde, nicht genügenden Widerstand leisten und darum wurde 
das Chorion nicht ganz von demselben getrennt. Auf dieselbe 
Weise wurde in den weiter unten zu vermeldenden Versuchen 
verfahren. 


307 


so trug ich kein Bedenken von der Beobachtung des Secre- 
tionsprocess’ des Urins, namentlich zur Erklärung des Man- 
gels von Eiweiss in normalem Urin Gebrauch zu machen. 

Die Beobachtung schien mir aber für noch andere Lebens- 
erscheinungen als die Urinsecretion wichtig zu sein, und mit 
Bezug hierauf wünschte ich mich noch näher von dem Ein- 
fluss der sauren Reaction auf die Diffusionsgeschwindigkeit 
unter verschiedenen Umständen zu überzeugen. Zu diesem 
Behufe wurden die folgenden Untersuchungen gethan. Sie 
sind daher eine Fortsetzung meiner früheren Mittheilungen 
über diesen Punkt. 

Bei der Untersuchung der Eiweissosmose begegnet man 
dreierlei Schwierigkeiten, welche das Erhalten genauer Re- 
sultate beeinträchtigen. Erstens die genaue Bestimmung des 
Eiweiss‘, zweitens der Eiweissgehalt der Membran und drit- 
tens die Ungleichheit der Membrane von demselben Stoff und 
ihre Veränderlichkeit während des Versuches. 

Es ist allgemein bekant, dass die Bestimmung des Eiweiss- 
gchaltes einer Flüssigkeit bei aller möglichen Sorgfalt den 
Grad von Genauigkeit nicht erreichen kann, dass ein gefun- 
dener Unterschied von einigen Milligrammen den Schluss 
auf einen wirklich verschiedenen Eiweissgehalt zulässt. Die 
Weite der Röhren, welche ich bei meinen vorigen Versuchen 
benutzte, (ungefähr 20 mm. Diameter) erlaubte unter den 
günstigsten Umstanden während 24 Stunden nur den Durch- 
tritt von höchstens einigen Centigrammen Eiweiss durch das 
Amnion und Chorion. In der sauren Flüssigkeit wurde con- 
stant weniger Riweiss angetroffen; da jedoch stets noch ei- 
niges Eiweiss überging, waren die Unterschiede nie sehr 
bedeutend. Nur dem Umstande, dass der Unterschied stets 
in demselben Sinne war, entlehnte ich ein Recht, um die 
gemachten Schlüsse aus den Versuchen herzuleiten ; zur 
_ Bestätigung der Sache schien es mir aber sehr wichtig, 
 sprechendere Resultate anführen zu können. Zur Erreichung 
dieses Zweckes habe ich verschiedene Wege betreten. Erstens 
gebrauchte ich weitere Röhren von ungefär 40 mm. Diame- 
ter; zweitens bediente ich mich jetzt nicht allein des Amni- 


308 


ons, sondern auch der Serosa der Schweinsblase, welche 
Membran viel grössere Poren hat als das Amnion, wie die 
Filtration von Eiweiss und Wasser auf überzeugende Weise 
dargethan hat !); endlich machte ich meine Versuche dies- 
mal nicht allein mit destillirtem Wasser, sondern auch mit 
Salzlösungen. Die Diffusion des Eiweiss’ wird wie die Ver- 
suche von v. Wittich ?) uns gelehrt haben durch die An- 
wesenheit von Salzen bedeutend befördert, so dass ich er- 
warten durfte auf diese Weise grössere Unterschiede zn 
erhalten. 

Die zweite oben erwähnte Schwierigkeit gilt den Eiweiss- 
gehalt der Membran. Die Membrane, deren man sich ge- 
wöhnlieh bei der Osmose von Eiweiss bedient, sind ganz 
unzweckmässig. Erstens tritt wenig Eiweiss durch eine solche 
Membran (wie z. B. die ganze Harnblase) hindurch, überdiess 
ist aber der Ursprung des Eiweiss’ noch ungewiss. In der- 
gleichen Membranen ist eine grosse Menge Eiweiss vorhan- 
den; die in der Flüssigkeit vorhandene Eiweissmenge braucht 
daher nicht einmal von der Eiweisslösung herzurühren, son- 
dern kann und wird gewiss in sehr vielen Fällen entweder 
ganz oder zum grossen Theile von der gebrauchten Membran 
geliefert sein. Brücke und v. Wittich haben diese Schwie- 
rigkeit aus dem Wege geräumt, indem sie Membrane benutz- 
ten, deren Eiweiss entfernt oder deren Eiweissgehalt so ge- 


1) Die einfache Filtration von Blutserum und Wasser deutet dies sehr 
klar an. Wenn ich eine Röhre von ungefähr 40 mm. Diameter 
mit der serosa der Harnblase abschloss, und darauf 50 CC. serum 
in dieselbe goss, (welche Menge ungefähr einer Säule von 4 Ctm. 
in der gebrauchten Röhre entsprach) so filtrirten in jeder Minute 
zwei, drei und mehr Tropfen durch, während bei dem Verschluss 
mit Amnion und Chorion dieselbe Menge während einer Stunde 
unter sonst gleichen Umständen nicht durchäiltritt. Der Unterschied 
dieser beiden Membrane ist nicht weniger auffallend, wenn man 
Wasser gebraucht. Eine Säule von einigen Centimetern Wasser 
kann mehr als eine Stunde auf dem Amnion ruhen, ohne dass 
ein einzelner Tropfen durch die Membran tritt. 

2) Müller’s Archiv, 1356, S. 286. 


309 


% 


ring war, dass es keinen Einfluss auf die Resultate üben 
konnte. Dasselbe gilt von den Membranen, deren ich mich 
bediente. Das Gewicht der ganzen Membran, mit der die 
Röhren geschlossen wurden, betrug für das Amnion in zwei 
Bestimmungen 0,020 und 0,023 Gr.; für die Serosa der 
Harnblase fiel es nicht grösser aus. Den Eiweissgehalt dieser 
Membrane kann man, wie näher gezeigt werden wird, ganz 
gut unberücksichtigt lassen. 

Die dritte Schwierigkeit gilt die Membran. Dieselbe Art 
von Membranen z. B. das Amnion zeigt sehr grosse Unter- 
schiede. Erstens ist es in vielen Fällen keineswegs gleich- 
‚gültig, welche Seite der Membran nach dem Eiweiss zu ge- 
‚richtet ist, wie v. Wittich!) dargethan hat. Darum habe 
ich in den näher anzuführenden Versuchen stets dieselbe Seite 
nach dem Eiweiss hin gerichtet gehalten, beim Amniom die 
nach dem liguor amnii hin gekehrte, bei der Serosa vesicae 
‘die nach der Muskellage hin gekehrte Seite. Trotz dieser 
Fürsorge findet man doch noch grosse Unterschiede; die 
Ursache hierfür kann theilweise in Unterschieden der Textur 
von verschiedenen Stücken derselben Membrann gelegen sein; 
sie ist aber überdiess, wie Schmidt?) dargethan hat, von 
der Spannung abhängig. Man ist daher gezwungen die Ver- 
suche mit derselben Membran vorzunehmen , wenn man brauch- 
bare Resultate erhalten will. Bei den folgenden Versuchen 
ist auch diese Bedingung nicht aus dem Auge verloren. Die 
Buchstaben A. B. C. u. s. w. geben eine und dieselbe un- 
verändert auf der Röhre befestigte Membran an; mit der- 
selben Membran, welche stets demselben Spannungsgrade 
ausgesetzt war, sind hintereinander verschiedene Bestimmun- 
gen gemacht. Die Ziffern, welehe neben den Buchstaben 
vorkommen z. B. A! A? u. s. w., geben an, dass die Mem- 
bran zum ersten, zweiten Male u. s. w. gebraucht wurde, 
‘so dass man z. B. das Resultat, welches bei dem zweiten 


B) .kösice, p. 290. 
2) Poggendorfif’s Annalen, 1856, p. Sans 
21 


310 


Versuche mit der Membran A (d. h. A?) erhalten wurde, 
mit dem vergleichen kann, welches der erste Versuche mit 
derselben Membran lieferte und umgekehrt. Aber auch auf 
diese Weise erhält man noch nicht einmal sehr genaue Re- 
sultate, denn die Membran wird während des Versuches 
verändert, trotzdem dass der Spannungsgrad derselbe bleibt. 
Schmidt!) sah bei seinen Versuchen mit Salzen die Fil- 
trationsgeschwindigkeit während des Versuches steigen; bei 
der Diffusion von Eiweiss findet gerade das Gegentheil statt, 
wie ich schon bei meinen früheren Versuchen bemerkte ?). 
Will man daher Resultate erhalten, welche untereinander 
verglichen werden können, so muss man dies nicht aus dem 
Auge verlieren, und darum ist bei jedem Versuche eine 
Bestimmung hinzugefügt, aus welcher die Abnahme der 
Diffusionsgeschwindigkeit unter denselben Umständen her- 
vorgeht. 

Die Bestimmungen brauchen nach dem Angeführten kaum 
noch näher erklärt zu werden. Das Eiweiss wurde auf fol- 
sende Weise bestimmt. Die Flüssigkeit wurde mit einer 
gleichen Menge Lackmusinfusion vermischt, neutralisirt, wenn 
Säure oder Alcali hinzugefügt war, und darauf mit zwei bis 
drei Tropfen Essigsäure angesäuert und gekocht. Ueberdiess 
wurde stets noch gelbes Blutlaugensalz zu dem Filtrate hin- 
zugefügt, um gewiss zu sein, dass alles Eiweiss vollkommen 
coagulirt war. 

Ich fange mit denjenigen Versuchen an, in welchen die 
serosa vesicae als Membran gebraucht wurde. Die Eiweiss- 
solution war Blutserum der Kuh und betrug ebenso wie die 
Flüssigkeit, mit welcher sie in Berührung gebracht wurde, 
50 CC.; das Niveau des Blutserums in der Röhre und der 
ausserhalb befindlichen Flüssigkeit war anfangs ganz gleich. 
Wo Abweichungen von dem Angegebenen Statt fanden, sind 
sie besonders vermeldet. 


1) Ibidem p. 348. 
2) le .s2% ec. p. 517. 


al 
Versuche mit der cerosa vestica. 
I. 


Umspülende Flüssigkeit: Chlornatrium-Lösung von 5°/.. 
Säure: 10 Tropfen Phosphorsäure. Alcali 10 Tropfen Kali }). 


Dauer des Versuches 23 Stunden. 


Sal Salz Sal Salz Salz 
Membran. 2. 5 und Membran. S R und und 
E Säure. IE Aleali Säure. 
A' 0,3820 A2 0,496 
B? 0,055 B2 0,240 
€: 0,802 C2 0,039 
D* 0,035 D2 | 0,218 
II. 


Umspülende Flüssigkeit: Chlorkaliumlösung von 5°/,; Säure 
10 Tropfen Phosphorsäure. 


Dauer 24 Stunden. 


Sal Salz Sal; Salz Salz 
Membran. > r und Membran. = A und und 
lo Säure. lo Alcalı. Säure. 
E* 0,859 E: 0,421 
F* 0,149 Fa 0,652 
G' 0,740 G? 0,110 
H?’ 0,184 H> 0,670 ?) 


1) Um gewiss zu sein, dass der Einfluss der Säure ganz aufgehoben 
war, fügte ich stets einige Tropfen Alcalı zu der umspülenden 
Flüssigkeit, wenn ich die Diffusion einer Membran untersuchte, 
welche in einem vorigen Versuche mit Säure in Berührung gewe- 
sen war. 

2) Die bei F? und H? durchgetretene Menge Eiweiss, nachdem diese 
Membrane aus der sauren in die alkalische Flüssigkeit übergebracht 
worden sind, ist viel bedeutender als bei B? und D? in Versuch r 

21* 


312 


IM. 


Wenn das Blutserum durch Hühnereiweiss (filtrirt, unver- 
dünnt) ersetzt wurde, so war das Resultat vollkommen das- 
selbe. 

Eiweisslösung: Hühnereiweiss. Umspülende Flüssigkeit: 
Chlornatriumlösung 5°/,; Säure 10 Tropfen Phosphorsäure. 


Dauer 6 Stunden. 


Sal Salz Salz Salz 
Membran. Bin und Membran. und uud 

5° Säure. Alcalı. Säure. 
a” 0,390 a? 0,177 
bh’ 0,370 b2 0,245 
(os 0,149 c? 0,317 

! 
IV. 


Umspülende Flüssigkeit: Chlornatriumlösung von 1°/,; Säure 
und Aleali wie früher. 


Dauer 22 Stunden. 


die Ursache liegt aber nicht in dem Salze, sondern ist nur darin. 
zu suchen, dass die Membrane in Versuch II nach Beendigung 
des ersten Versuches gereinigt sind, was in Versuch I versäumt 
wurde. Bei dem ersten Versuche mit den Membrauen E, F,G,H, 
wurde auf F und H ein bedeutendes Coagulum gefunden. Dieses 
Coagulum ‚wurde hier entfernt, ist aber in Versuch I sitzen geblie- 
ben, und daran muss es zugeschrieben werden, dass in der alea- 
lischen Flüssigkeit bei B? und D? relativ so viel weniger Eiweiss 
durchgetreten ist. In allen folgenden Versuchen sind die Membrane 
am Ende eines jeden Versuches gereinigt und mit Wasser abgespült 
worden. 


u EEE EEE EEE 


4 Salz Salz Salz 
Membran. e% und Membran. er und und 
E Säure. lo Alealı. Säure. 


A3 0,586 A4 0,464 
B> 0,426 B4 0,545 
(05 0,549 | C4 0,475 
D> 038874) uD4 0,550 
V. 


Umspülende Flüssigkeit, Chlorkaliumlösung von 1°), ; Säure 
und Alcali wie früher. 


Dauer 22 Stunden. 


Sal Salz Sal | Salz Salz 
Membran, se f und Membran. 1e Ach und und 
E Säure. lo Alcalı. Säure. 
Ran al m ——— ESDETFTCETeee een | ESEREISEESTESESTHEETESEN | EERTEEETEEEREETTTET | EEE 
| 
B3 0,561 E4 0,560 
F3 0,529 F4 0,458 
G3 0,601 | 64 0,425 
Hs 0,510 H+ 0,425 


In Versuch I, HI und IH ist der Einfluss der Säure ganz 
deutlich, in Versuch IV und V aber ist hiervon beinahe 
nichts zu bemerken. Die Eiweissmengen, welche in die Säure 
‚übergehen, sind zwar in Versuch IV noch etwas kleiner, der 
Unterschied ist aber nur sehr gering, und in Versuch V fällt 
das Resultat bei F und H sogar in entgegengesetztem Sinne 
‚aus. Wenn der Einfluss der Säure auf die Eiweissdiffusion » 
für die Erscheinungen im Organismus Bedeutung erlangen 
soll, so muss der Unterschied nicht nur bei einer Salzlösung 
von 5°), sondern auch bei einer von 1°/, noch deutlich sein, 
denn der Salzgehalt der Ernährungsflüssigkeit der Gewebe 
und der verschiedenen Secreten is gewiss 1°,, näher als 5°/,. 

Es fiel mir aber alsbald auf, dass in den Versuchen IV 
und V, im Wesen der Sache auch noch ein anderer Umstand 
durch die Verminderung des Salzgehaltes modifieirt war, 


314 


wiewohl sie scheinbar unter denselben Umständen (mit Aus- 
nahme von dem Salzgehalte der umspülenden Flüssigkeit) 


wie die früheren ausgeführt waren. Das spec. Gew. des Blut- 


serums, dessen ich mich als Eiweisslösung bediente, war 


nämlich 1,029, das der Chlornatriumlösung von 5°), 1.038 


und der Chlorkaliumlösung von demselben Concentrations- 
grade 1,034. Bei Verdünnung der Salzlösung bis auf 1°, 
fiel das spec. Gew. für das Cl Na auf 1,008 und für das ClKa 
auf 4,007 1). Bei der Verminderung des Salzgehaltes wurde 
daher zu gleicher Zeit der Druck verändert, und da die se- 


rosa vesicae in diesen Versuchen gebraucht wurde, durch 
welche, wie ich schon bemerkte, die Eiweisslösung geschwinde 
hindurchfiltrirt, da sie grosse Poren hat, so wäre es mög- 


lich, dass der geringe Unterschied in Versuch IV und V 
auch hiervon abhängig ware. Versuch I und II sprechen auch 
schon für diese Vorstellung, denn in die specifisch leichtere 
Chlorkaliumlösung ging auch hier unter übrigens gleicher 
Umständen, mehr Eiweiss über als in die Chlornatriumlösung. 

Um die Sache zu entscheiden, bereitete ich mir eine Rohr- 
zuckerlösung von 10°/,, deren spec. Gew. 1,039 war. Mit die- 
ser Flüssigkeit nun konnte ich die Salzlösung verdünnen, 
ohne ihr specifisches Gewicht zu verändern. 

So wurden folgende Resultate erhalten. 


Versuche mit der serosa vesicae. 
v1. 


Umspülende Flüssigkeit: 40 CC Zuckerlösung von 10%, 
und 10 CC Chlornatriumlösung von 5°,,, mithin Salzlösung 
von 1°/,; Säure: 10 Tropfen Phosphorsäure; Aleali: 10 Trop- 
fen Kali. 


Dauer des Versuches 22 Stunden. 


1) Ich machte von den gewöhnlichen im Handel vorkommenden was- 
serhaltenden Salzen Gebrauch. 


315 


Salz Salz Salz Salz Salz 
Membran. von und Membran. von und und 
sl, Säure. Iy, Alcali. Säure. 
T’ 0,665 I 0,512 
K' 0,500 K? 0,577 
L! 0,7198 L2 0,317 
M' 0,440 M>3 0,541 


Vu. 


Umspülende Flüssigkeit: Zuckerlösung von 10°); Säure 
und Alcali wie in Versuch VI. 


Dauer 22 Stunden. 


Zuck Zucker 7 Zucker Zucker 
Membran. DD, und Membran. ni und und 
° Säure. I Alcalı. Säure. 
N! 0,328 | N2 0,232 
O' 0,534 O: 0,570 
P’ 0,316 P2 0,398 
Q’ 0,467: Q2 0,481 
VII. 


Umspülende Flüssigkeit: Chlorkaliumlösung von 5°/,; Säu- 
re: 10 Tropfen ac. acet. glaciale und 10 Tropfen Milchsäure. 


Dauer 22 Stunden. 


Sal Salz Sal Salz 
Membran. 58 y und Membran. 2 und 
lo Essigsäure. 5) Milchsäure. 
1: | 0,494 | N® 0,462 
K3 0,288 IE 01,99 
BR 0,613 128 0,425 
M° 0,355 Q? 0,191 


316 | 


IX. 


Umspülende Flüssigkeit: 25 CC Chlornatriumlösung von 
5°), und 25 CC Zuckerlösung von 10°, somit Salzlösung 
von 23°/,; Säure: 10 Tropfen Phosphorsäure. 


Dauer 22 Stunden. 


Membran. 


T# 0,289 

K4 > 

L# 0,301 

M4 0,099 


Auch hier sehen wir auf überzeugende Weise, dass die’ 
Diffusionsgeschwindigkeit von Eiweiss in saure Salzlösungen 
viel mehr abnimmt als in neutrale, während umgekehrt, 
trotz der constanten Abnahme der Diffusionsgeschwindigkeit 
in neutralen Flüssigkeiten, stets mehr Eiweiss gefunden wird, 
nachdem Alkali hinzugefügt worden war. 

Aus diesen letzten Versuchen (VI, VII, VIII, IX) folgt nun 
weiter, dass die wirkliche Ursache des geringen Einfluss’, 
den die Säure in Versuch IV und V hatte, durch die Ab- 
nahme des specifischen Gewichtes der Salzlösung bei ihrer 
Verdünnung mit Wasser bis auf 1°), bedingt war; denn in 
Versuch VI, in dem das specifische Gewicht der umspülen- 
den Flüssigkeit durch die Verdünnung mit Zuckerlösung von 
5°), gleich geblieben war, ist der hemmende Einfluss der 
Säure auf die Eiweissdiffusion noch sehr deutlich, trotzdem 
dass auch hier nur 1°/, Cl Na in der Lösung vorhanden war. 
Es ist weiter ebenso deutlich, dass der Einfluss der Säure 
mit der Concentration der Salzlösung für die serosa vesicae 
abnimmt. Bei 5°, Salz ist dieser hemmende Einfluss am 
grössten, bei 24°) noch sehr bedeutend (Versuch IX), bei 
‘ 1°, Salz noch sehr merkbar, aber doch viel geringer als bei 


317 


5°;, Salz. Für die serosa vesieae ist weiter der Einfluss der 
Säure abhängig von dem Vorhandensein von Salz. In der 
Zuckerlösung übt die Säure keinen oder fast keinen Einfluss 
auf den Uebergang von Eiweiss aus. 

Ehe ich weiter auf die Ursache der mitgetheilten Erschei- 
nungen eingehe, will ich die Versuche mit dem Amnion und 
Chorion mittheilen. Diese Membran unterscheidet sich durch 
‚seine grosse Dichtigkeit, wie ich schon oben bemerkte, von 
der serosa vesicae. 

Es wurde wiederum Serum von Ochsenblut als Eiweiss- 
lösung gebraucht. Wie in den vorhergehenden Versuchen 
wurden 50 CC Serum, und ebensoviel umspülende Flüssig- 
keit genommen. Das Amnion, lässt wie man bald näher 
sehen wird, und wie auch meine Versuche in 1857 darge- 
than haben, nicht viel Eiweiss durchtreten; für die Genauig- 
keit der Eiweissbestimmung aber ist es wünschenwerth, wie 
ich anfangs angab, dass diese Menge nicht zu gering sei. 
Bei den Versuchen mit der serosa vesicae sahen wir fort- 
während die Diffusionsgeschwindigkeit abnehmen, wenn die 
Membran denselben Verhältnissen unterworfen blieb. Wenn 
wir Versuch I, bei dem die Reinigung der Membran unter- 
blieb, ausser Rechnung lassen, so sehen wir in Versuch HI die 
Diffusionsgeschwindigkeit bei der zweiten Anwendung der 
Membran bei E?, gerade wie in Versuch VI bei I? und Ver- 
such VII bei N? bedeutend abnehmen. Darum schien es mir 
wünschenswerth, dieselbe Membran nicht mehr als zweimal zu 
gebrauchen. Nachdem die Eiweissdiffusion von drei Membra- 
nen in die Salz- oder Zuckerlösung bei einem ersten Versuch 
verfolgt war, wurde in einem zweiten Versuch die zweite Mem- 
bran mit derselben Lösung und 10 Tropfen Phosphorsäure, 
die dritte in dieselbe Lösung mit 20 Tropfen Phosphorsäure 
(um den Einfluss von verschiedenem Säuregehalte zu studiren), 
und die erste unverändert zum zweiten Male in die ursprüng- 
liche Flüssigkeit gestellt, um die Abnahme der Diffusion durch 
Veränderung der Membran während des Versuches kennen zu 
lernen, welche Kenntniss zur Beurtheilung des Einfluss’, den die 
saure Reaction der umspülenden Flüssigkeit ausübt, nöthig ist. 


318 


Auch bei diesen Versuchen wurden die Membrane nach 
jedem Versuche mit Wasser abgespült. 


Versuche mit dem Amnion und Chorion. 


N. 


Umspülende Flüssigkeit: Chlornatriumlösung von 5°/,; Säure: 
10 und 20 Tropfen Phosphorsäure. 


Dauer 22 Stunden. 


| Salz und Salz und 


Membran. nz | Membran nz 10 Tropfen | 20 Tropfen 
5 lo 50) Sä Sä 
° äure. äure. 
R' 0,098 Ra 0,072 
5. | 0,088 S2 0,019 
m a 0,026 
RE 


Ursprüngliche Flüssigkeit: 25 CC Chlornatriumlösing von 
5°, und 25 CC Zuckerlösung von 10°, somit Salzlösung 
von 23°), wie in Versuch 10. 


Dauer 22 Stunden. 


Salz und Salz und 


Salz Salz \ 
Membran. Membran. 2 10 Tropfen | 20 Tropfen 
ae Bf; Säure. Säure. 
Li 0,096 U? 0,086 
li 0,089 v2 0,023 
w: | 0,290 w2 0,012 


XI. 


Umspülende Flössigkeit: Zuckerlösung von 10°/,, Säure wie 
in Versuch IX und X. 


Dauer .22 Stunden. 


319 


Zucker und| Zucker uud 


Membran Ay Membran. a 10 Tropfen| 20 Tropfen 
lo g Säure. Säure, 
msn | ussmmssemummmseill, | pmmmmmnempmeseuumwe | SSSSESESEENREUSEERBEN | UmmpssimsssssgeREEE 
>% 0,041 Xe 0,033 0,013 
Y° 0,049 Ne 
zZ! 0,067 2» | | 0,010 


Die mit dem Amnion erhaltenen Resultate ergeben, dass 
die saure Reaction der umspülenden Flüssigkeit, wenn die 
Membrane wenig durchdringbar sind und somit enge Poren 
besitzen, auch dann noch den Uebergang von Eiweiss er- 
schwert, wenn der Salzgehalt der umgebenden Flüssigkeit 
geringer wird als 1°. Nicht nur bei 24°, Salz, sondern 
auch bei der Zuekerlösung von 10%, ist dieser Einfluss un- 
verkennbar, und wiewohl wir die Zuekerlösung nicht für ganz 
salzfrei halten dürfen, weil die Serumsalze bald durch die 
Membran hindurchtreten, so können wir doch den Salzgehalt 
dieser Flüssigkeit sehr gering anschlagen. 

Die Ursache des hemmenden Einfluss’, welcher durch die 
saure Reaction auf die Osmose von Eiweiss geübt wird, ist 
ganz gewiss in dem unauflöslichen Zustande gelegen, in den 
das Eiweiss durch verschiedene Säuren bei Gegenwart von 
Salzen übergeführt wird. Die Coagulation des Eiweiss’ ward 
sichtbar während des Versuches als Ursache der Erscheinung 
angedeutet. Ich habe es schon erwähnt, dass bei Versuch I 
die Membrane nach Beendigung des ersten Versuches, nicht 
abgespült wurden, und die geringe Menge durchgetretenen 
Eiweiss’, welche bei B? und D? gefunden wurde, habe ich 
daran zugeschrieben. Bei diesen Versuchen war nämlich ein 
Coagulum auf der inneren Seite der Membran entstanden, 
und dieses Coagulum musste natürlich störend auf die Diffu- 
sion einwirken. Während dieses Coagulum aber bei dem 
Gebrauche von neutralen Lösungen meistens unbedeutend war, 
wurde es viel grösser bei Anwendung von sauren Lösungen, 
und darum wurden die Membrane von Versuch II an nach je- 
dem Versuche abgespült. In Versuch X war dieses Coagulum 


320 


bei Anwendung des diehten Amnion am ausehnlichsten,, bei 
S? bildete es eine feste gelatinöse Lage von 3, bei T? von 
mehr als 5 Millim. Dicke. 

Was in der Membran geschieht, muss nothwendig auch in 
den Poren Statt finden. Es ist bekannt, dass verschiedene 
Salze einen sehr grosses lösendes Vermögen auf eiweissartige 
Substanzen ausüben, und dass Verdünnung mit Wasser hin- 
reicht, um einen Theil des Eiweiss’ aus Eiweisslösungen 
niederzuschlagen. Wir glauben daher mit v. Wittich, dass 
daraus erklärt werden kann, warum in Salzlösungen je nach 
dem höheren Salzgehalte mehr Eiweiss übertritt, wie auch 
meine Versuche beweisen, und finden es darum auch nicht 
befremdend, dass Phosphorsäure, Essigsäure und Milchsäure, 
welche das Eiweiss bei Gegenwart von Salz niederschlagen, 
ein Abnehmen der durch die Membran hindurehtretenden Ei- 
weissmenge bedingen. 

Trotz dieser Coagulation von Eiweiss durch eine Säure, 
müssen wir doch nicht denken, dass die Poren der Membran 
ganz verstopft werden. Schon in meinen früheren Versuchen 
ist das Gegentheil dargethan. Obgleich die Diffusion des 
Eiweiss durch den Einfluss der Säure sehr gehemmt war, 
lieferte ich doch den Beweiss, dass noch eine bedeutende 
Menge Salz durch die Flüssigkeit hindurch getreten war, 
überdiess aber sah ich sogar bei einem grossen Druckunter- 
schiede die Menge der Eiweisslösung zunehmen und ihr Ni- 
veau steigen. Bei den jetzt mitgetheilten Versuchen, in 
denen das Niveau im Anfange des Versuches innerhalb und 
ausserhalb der Röhre gleich war, habe ich die bedeutende 
Zunahme des Blutserums, d. h. den Uebergang von Wasser 
unter dem Einflusse der Säure noch deutlicher beobachtet. 
In Versuch XII hatte die Serummenge während des Versu- 
ches bei Y? 8 C.C., bei Z? 7 C.C. zugenommen, sodass 
das Niveau des Blutserums in beiden Röhren am Ende des 
Versuches mehr als 1 Cm höher war, während das Volu” 
men in dem ersten Versuche bei X!, Y! und Z! und auch 
X? nur unbedeutende Veränderung erlitten hatte. 

Die Zunahme des Volumens der Eiweisslösung unter dem 


321 


Einflusse einer Säure ist nicht mehr zu bemerken, wenn der 
Salzgehalt der umspülenden Flüssigkeit zunimmt. Bei 1°, 
Salz nahm ich keine auffallende Veränderung im Niveau war. 
Ob in dem Fall noch endosmotischer Austausch Statt findet 
(z. B. Salze) habe ich nicht untersucht. In jedem Falle be- 
weist das Steigen im Niveau der Eiweissslösung unter dem 
Einflusse der sauren Zuckerlösung, dass die Poren beim 
Zurückhalten des Eiweiss’ nicht ganz und gar verstopft zu 
sein brauchen. 

Es braucht kaum bewiesen zu werden, das ein theilweises 
Verstopftsein zur Erklärung der Erscheinung hinreicht. Mag 
auch die Lehre der Osmose noch lange nicht aufgehellt heis- 
sen, soviel geht doch aus allen Erscheinungen hervor, dass 
die Wege, welche die Bestandtheile der osmosirenden Flüs- 
sigkeiten in den Poren der Membran durchlaufen, nicht die- 
selben sind. Wenn die Bahn für das Eiweiss versperrt ist, 
so können darum noch Wege für andere Bestandtheile frei 
sein. Bei dieser Vorstellungsweise kann es nicht befremden, 
dass der Einfluss der Säure bei dem Gebrauche einer Mem- 
bran mit weiten Poren wie die serosa vesicae, wenn der 
Salzgehalt der umspülenden Flüssigkeit niedrig ist nicht 
mehr bemerkbar ist, während sie sich an dem Amnion noch 
geltend macht. 

Wie man aber auch über die Erklärung dieses Factums 
denken möge, der Zweck, mit dem die mitgetheilten Unter- 
suchungen unternommen sind, ist erreicht. Deutlicher als in 
meinen früheren Versuchen ist der hemmende Einfluss, den 
die saure Reaction auf die Osmose von Eiweiss ausübt, dar- 
gethan; wie mir scheint, folgt aus den obigen Versuchen : 

1°. Dass die saure Reaction der umspülenden Flussigkeit 
die Eiweiss-Osmose erniedrigt, die alkalische dagegen sie 
befördert. 

2°. Dass die saure Reaction seinen hemmenden Einfluss 
sowohl in Salzlösungen von 5°/, als von 24 und 1°, geltend 
macht. 

3°. Dass dieser Einfluss bei Zunahme der Säuren (inner- 
halb gewisser Grenzen) nicht aufgehoben wird. 


(6) 


322 


4°. Dass die saure Reaction bei geringem Salzgehalt der 
umspülenden Flüssigkeit einen starken Diffusionsstrom von 
Wasser nach der Eiweisslösung hin bewirkt. 


Während ich mit den oben mitgetheilten Versuchen be- 
schäftigt war, sind die Königsberger Medicinische Jahrbücher , 
1859, Bd. 2, erschienen, in welchen v. Wittich die von 
mir vor zwei Jahren gegebene Theorie der Urinseeretion be- 
streitet, und dies hauptsächlich darum, weil er meine An- 
gaben über den hemmenden Einfluss einer Säure auf die 
Osmose von Eiweiss für unrichtig hält. Er hat meine Ver- 
suche über die Diffusion von Eiweiss in eine saure Flüs- 
sigkeit wiederholt, und dabei keine hemmende Wirkung auf 
den Uebergang von Eiweiss wahrgenommen; es ging im 
Gegentheile meistens mehr Eiweiss in die saure als in die 
neutrale Lösung über. Die beste Antwort, welche ich von 
Wittich geben kann, sind die oben mitgetheilten Versuche. 
Ich glaube dass sie hinreichen, um meine Angaben zu be- 
stätigen. | 

Trotzdem aber schien es mir nicht ganz unwichtig, um 
zu versuchen die Ursache zu erforschen, welche v. Wittich 
zu einem entgegengesetzten Resultate geleitet hat. Zu mei- 
nem Vergnügen ward mir die Sache bald klar, und jetzt kommt 
es mir nicht mehr so unbegreiflich vor, als wie beim ersten 
Lesen des Aufsatzes. v. Wittich nämlich hat niemals die- 
selbe Membran unter denselben Umständen erst mit einer 
neutralen und darauf mit einer sauren Flüssigkeit in Be- 
rührung gebracht, sondern ganz einfach verschiedene Eiweiss- 
lösungen (Hühnereiweiss , Blutserum , defibrinirtes Blut) 
vermittelst des Amnion in endosmotischen Contact mit unge- 
säuerte Wasser, saurem phosphorsaurem Natron und Urin 
gebracht, und endlich das Eiweiss nach Coagulation durch Ko- 
chen oder Salpetersäure, nur annähernd geschätzt. Auf diese 
Weise hat er nie etwas von dem hemmenden Einflusse der 
Säure bemerkt. Weiter hat er vier Bestimmungen unter den 
folgenden Umständen gemacht: 


323 


Membran. Eiweisslösung. Umspulende Flüssigkeit. Eiweiss. 
A. 6 C.C. defibrinirtes Blut. 10 C.C. Ag. destill. 0,006 
B. Idem. 10 CC. Ag. frischer sauerer H.| 0,002 
C. 6 C.C. Blutserum. Idem. 0,021 
D. 6 C.C. defibrinirtes Blut. Idem. 0,0015 


Wie schwierig auch die Bestimmung so geringer Mengen 
sein mag, wie ich oben angab, so will ich doch annehmen, 
dass diese vier Bestimmungen in jeder Hinsicht fehlerfrei 
sind; einen Beweis aber gegen meine Annahme ist aber nicht 
darin enthalten. A und B sprechen eher zu Gunsten als 
zum Nachtheile derselben, und dass mebr Eiweiss aus dem 
Bintserum als aus dem defibrinirten Biute überging, wird Nie- 
mand befremden !). Aber selbst im Falle v. Wittich in seinen 
übrigen Versuchen, in denen er das Eiweiss nicht bestimmte 
sondern nur mit dem Augenmaasse beurtheilte, ganz richtig 
sah, so glaube ich doch, dass seine Resultate nicht bewei- 
send sind, weil sie keine Vergleichung zulassen. Wenn 
man weitere Röhren benutzt, so wie ich jetzt that, so hat man 
viel mehr Hoffnung um mit verschiedenen Membranen eine ° 
im Ganzen ziemlich übereinstimmende osmosirende Oberfläche 
zu erhalten; bei engen Röhren aber, deren sich v. Wittich 
bediente (sie waren nur 5 mm. weit,) ist ein geringer Un- 
terschied in der Dieke oder Textur der Membran hinrei- 
chend, um einen grossen Unterschied zu bewirken, nament- 
lich dann, wenn das Niveau der beiden Flüssigkeiten oder 
ihr specif. Gew. ungleich ist (das Niveau der Eiweisslösung 
stand bei v. Wittich höher). Wenn v. Wittich die Rich- 


1) Bei meinen Bestimmungen in 1857 habe ich defibrinirtes Blut als 
Eiweisslösung gebraucht; weil ich damals keine hinreichende Menge 
Blutserum erhalten konnte. v. Wittich glaubt, dass hierin eine 
Ursache für meinen Irrthum gelegen sein kann; die jetzt mitgetheil- 
ten Versuche aber, die mit ganz reinem hellem Serum von Ochsen- 
blut angestellt sind, beweisen das Gegentheil. 


324 


tigkeit meiner Angaben hätte prüfen wollen, so hätte er, 
gerade wie ich, eine und dieselbe Membran unter denselben 
Umständen erst mit einer neutralen und darauf mit dersel- 
ben sauren Flüssigkeit oder umgekehrt in Berührung bringen 
müssen !). Wenn diese Bedingung erfüllt wird, so wird 
der hemmende Einfluss, welchen eine Säure auf die Eiweiss- 
diffusion ausübt, auch für v. Wittich nicht mehr zweifel- 
häft bleiben. 

Nachdem ich den hemmenden Einfluss von der sauren 
Reaction auf die Eiweissdiffusion kennen gelernt, habe ich 
dieses Faktum zur Erklärung des ‚Secretionsprocesses in der 
Niere, namentlich zur Erklärung des Fehlens von Eiweiss 
in normalem Harn angewendet. 

Aus meinen Versuchen ging hervor, dass sowohl in dem 
Glomerulus als in den Harnkanälchen eine gewisse Menge 


1) Wenn man das Niveau der Eiweisslösung höher stellt, als das der 
umspülenden Flüssigkeit, so sieht man den hemmenden Einfluss der 
Säure sehr gut in den Versuchen angegeben, in welchen die Mem- 
bran erst in die neutrale und darauf in die saure Flüssigkeit ge- 
taucht wurde (wie meine vor 2 Jahren angestellten Versuche be- 
weisen); dieser hemmende Einfluss aber wird nicht wahrgenommen, 
wenn man die Eiweisslösung erst in eine saure und darauf in eine 
alkalische Flüssigkeit taucht. Ich sorgte darum bei meinen jetzt 
mitgetheilten Versuchen dafür, dass das Niveau innen und aussen 
gleich war, weil ich gerade in diesem vermehrten Uebergang von 
Eiweiss in die alkalische Lösung, nachdem die Membran erst mit 
derselben sauren Flüssigkeit in Berührung gewesen war, trotz der 
constant beobachteten Abnahme der Diffusionsgeschwindigkeit ın 
neutralen Flüssigkeiten, den kräftigsten Beweis für die Richtigkeit 
meiner Annahme fand. 

Dass bei einem bedeutenden Niveauunterschiede die Zunahme in 


der alkalischen Flüssigkeit nicht gesehen wird, scheint mir leicht . 


erklärt werden zu können. Die Poren sind durch den Contact mit 
der Säure verstopft geworden; das Kalı, das bei gleichem Niveau 
die gebildeten Coagula entfernt, so dass die Diffusionsgeschwindig- 
keit, welche sogar in lösender Salzlösung stets abnimmt, grösser 
wird, ist bei einem einigermaassen bedeutendem Drucke nicht im 
Stande in hinreichender Menge in die Membran zu dringen, und 
darum geht meistens kein Eiweiss mehr in die Kalilösung über. 


325 


Eiweiss durchtritt. Dies lieferte aber keine Schwierigkeit. 
Ich liess es gerade wie v. Wittich zur Unterhaltung des 
bekleidenden Epitheliums dienen. Wird aber das Epithelium 
in krankhaftem Zustande abgestossen, so wird meistens 
so viel Eiweiss ausgeschieden, dass es ungereimt ist, all 
dieses Eiweiss in normalem Zustande zur Cellenbildung in 
den Harnkanälchen dienen zu lassen. Diese grosse Menge 
Eiweiss nun, welche nach Verlust des Epitheliums in dem 
Harne erscheint, schien mir durch meine Versuche erklärt 
zu werden. In normalem Zustande ist der Inhalt der Harn- 
kanälchen sauer. Diese saure Reaction ist von dem beklei- 
denden Epithelium abhängig. Ist das Epithelium vorhanden, 
so wird der Uebergang von Eiweiss in Folge der sauren 
Reaction gehemmt. Wenn aber das Epithelium verloren geht, 
so verschwindet damit auch die saure Reaction, und demzu- 
folge dringt viel mehr Eiweiss als im normalen Zustande durch 
die membrana propria hin. Es erscheint in dem Urin nicht 
nur so viel Eiweiss als im normalen Zustande zur Cellenbil- 
dung verbraucht wird, sondern ausserdem noch viel mehr, 
weil mit dem Verluste des Epitheliums auch die Bedingung 
verloren geht, welche die Diffusion von Eiweiss durch eine 
Membran hin hemmt !). 


1) v. Wittich stellt es so vor, als ob ich in der Müller’schen Kapsel 
eine saure Flüssigkeit angenommen , und darum hierbei vorzüglich den 
glomerulus und nicht das Harnkanälchen berücksichtigt hätte. Das 
ist unrichtig. Ich habe das Gegentheil deutlich genug gesagt, und 
in der deutschen Uebersetzung ist es eben so deutlich wiedergegeben. 
S. 289, ım Archiv steht: „Es ist nicht mit Bestimmtheit auszuma- 
chen, ob eine saure Reaction,” (nämlich der Epithelcellen von den 
Harnkanälchen), „auch einen Einfluss auf die Filtration von Ei- 
weiss in den Glomerulus ausübt.” Da ich annahm, dass auch im 
normalen Zustande eine gewisse Menge Eiweiss durch die membrana 
propria hindurchtritt, so war die Filtration von Eiweiss in den 
glomerulus für mich von geringerer Bedeutung. Die osmosirende 
Oberfläche der glomeruli ist gewiss gering im Verhältnisse zu der 
der Harnkanälchen. Mit dieser grossen Oberfläche war ım normalen 
Zustande eine saure Flüssigkeit, nach Verlust des Epithelium dage- 
gen eine alkalische in Berührung, und daraus leitete ich die grosse 

22 


326 


v. Wittich hatte zur Erklärung des Obenerwähten einen 
anderen Weg eingeschlagen, den ich nicht gut heissen konnte. 
Er hatte nämlich angenommen, dass die am meisten concen- 
trirte Flüssigkeit nicht im Blute der Haargefässe der Harn- 
kanälchen, sondern in dem eiweissartigen Inhalt der Epithe- 
liumcellen gesucht werden muss, und schloss darum, dass 
ein Diffusionsstrom von Wasser aus dem Blute nach den 
Epitheliumcellen und umgekehrt von fester Substanz (unter 
Anderm Eiweiss) nach dem Blute vorhanden wäre. So liess 
sich das Fehlen von Eiweiss in normalem Harn auch ge- 
nügend erklären. Hiermit ist aber die Frage nach der Ur- 
sache des Concentrationsgrades, des Ureumgehaltes des Har- 
nes innig verbunden. Ludwig hatte, um dies zu erklären, 
gerade das Gegentheil, einen Diffusionsstrom von Wasser aus 
den Harnkanälchen in das Blut angenommen. V. Wittich liess 
die Epitheliumcellen als Reservoirs für das Ureum auftreten, 
welches durch Wasser von dem Blute her ausgespült würde. 
Dazu kam er durch seine Untersuchungen an Vogelnieren. 
Er fand in diesen grosse Mengen acid. uricum in den Epithel- 
cellen deponirt. Warum sollte nicht dasselbe auf das Ureum 
angewendet werden können ? 

Ich bemerkte v. Wittich, dass so stillschweigend die Bil- 
dung von Ureum in den Epitheliumcellen der Harnkanälchen 
angenommen wäre. Wie nämlich eine Üelle, welche von 
Wasser ausgespült wird, als Reservoir für eine lösliche Sub- 
stanz (wie das Ureum) auftreten kann, wenn diese Substanz 
nicht in derselben gebildet wird, begreife ich heute noch 
ebensowenig als vor zwei Jahren. Aber abgesehen hiervon, 
fand ich seine Vorstellung ganz unhaltbar, als ich den Ureum- 
gehalt der Niere bestimmte. In Hundennieren fand ich näm- 
lich kaum 4%, Ureum, während der Harn von Thieren 
meistens mehr als 3%, enthält und ich glaube diesen Be- 
stimmungen entnehmen zu müssen, dass die Epitheliumcellen 
keine Reservoirs für das Ureum sein können. 


Menge Eiweiss her, welche bei Verlust des Epithelum in dem 
Harne erscheint. 


327 


Trotzdem betrachtete ich diese Oellen mit v. Wittich als 
den Sitz von bedeutendem Stoffumsatze; ihre saure Reaction 
doch wurde daraus erschlossen. Da ich aber in diesen Cel- 
len keine grosse Menge Ureum faud, schloss ich mich an 
Ludwig an in Betreff des Diffusionsstromes von Wasser aus 
den Harnkanälehen nach dem Blute zur Erklärung des nor- 
malen Concentrationsgrades des Harns. 

Ich helle in dieser Hinsicht noch mehr zu Ludwig’s Vor- 
stellung über, da ich in meinen Versuchen die Intensität des 
Wasserstromes unter dem Einfluss einer Säure sehr zunehmen 
sah. Auch hiervon hat sich v. Wittich nicht überzeugen 
können. In stütze mich auf die früheren und jetzigen Bestim- 
mungen. In Versuch XII betrug die Zunahme der Eiweiss- 
lösung bei Y? und Z?2 8 und 7 CC., während sie bei Hl 
und X? ebenso wie bei Y! und Z! gering war. Dav. Wit- 
tich aber auch hierfür Zahlen von Versuchen angiebt, in 
denen das Niveau der Eiweisslösung höher stand, habe ich 
meine früheren Angaben noch einmal geprüft. Ich nahm zu 
diesen Versuchen Röhren von 15 Million Durchmesser, füllte 
sie zur Höhe von 17 Ctm., nachdem sie mit Amnion und 
und Chorion abgeschlossen worden waren. 


XIH. 
Umspülende Flüssigkeit: Wasser; Säure 10 Tropfen Phos- 
phorsäure. 
Dauer 20 Stunden. 


Die Zahlen geben das Steigen des Niveaus des Blutserums 
in Millim. an. 


Wasser Wasser Wasser 
Membran. | Wasser. und | Membran. und und 
Ic DES Säure. | Alcali. Säure. 
Da N 

e? 1 
eb dire 15 Serra p »0 


328 


Bei einem Drucke von 17 Ctm. sah ich daher diesen Un- 
terscheid noch deutlicher. Dass v. Wittich diese Erschei- 
nung bei einem Drucke von 5 Ctm. nicht wahrgenommen 
hat, liegt wahrscheinlich an dem geringen Volumen der Eiweiss- 
lösung, mit welcher er experimentirte, sie betrug, wie oben 
angegeben, 6 (Ü. 

Wenn das Wasser durch Salzlösung von 1°/, ersetzt wurde, 
so wurde kein Steigen bemerkt ebensowenig wie in Versuch 
X und XI. 

Was schliesslich den Nerveneinfluss auf die Eiweiss-Diffu- 
sion anlangt, so wird hier wohl kein Meinungsunterschied 
bestehen. Wer Wiedemann’s Versuche gelesen hat, wird 
wohl die Ueberzeugung hegen, dass sie zur Erklärung von 
vielen Erscheinungen auf dem Gebiete der Physiologie sehr 
wichtig werden können. Wenn v. Wittich darthun wird, dass 
auf diese Weise der Uebergang von Eiweiss gehemmt wird, so 
wird ein Jeder diese Beobachtung als sehr wichtig begrüssen, 
aber sogar wenn von diesem Nerveneinfluss mehr bekannt 
ist, der in augenblicklich in Bezng auf die Harnsecretion 
noch so sehr dunkel ist, so bleibt es doch für den Vor- 
sang in der Niere sowie für so viele andere Lebenserschei- 
nungen wichtig, dass Eiweissdiffusion durch eine Säure ge- 
hemmt, und der Diffusionsstrom von Wasser aus schwachen 
Sälzlösungen nach dem Blutserum durch Säuren befördert 
wird. 


Veber den Tonus der willkührlichen Muskeln. 
von 


Dr. P. @. BRONDGEEST. 


lm sich über die Wirkungsweise der Nervencentra zu be- 
lehren, wird man zunächst diejenigen Organe zu berück- 
sichtigen haben, welche direct vermittelst der Nerven unter 
dem Einflusse dieser Nervencentren stehen. Zu diesen Orga- 
nen müssen die Muskeln gerechnet werden. Die Muskeln 
verkehren wie bekannt, je nachdem sie funetioniren oder 
ruhen, in verschiedenem Zustande. Die Kenntniss dieser 
Zustände ist gerade sehr wichtig für: die der Nervencen- 
tren. | 

Aus der Wirkungsweise der Muskeln hat man schliessen 
können, dass es ein Nervencentrum giebt, welches die will- 
kührlichen Bewegungen regelt, nämlich das Gehirn und ein 
anderes Centrum, das unabhängig von dem Gehirn unwill- 
kührlich wirkt, nämlich das Rückenmark. Das Gehirn wirkt 
in Intervallen nur unter dem Einfluss des Willens auf die 
Muskeln ; sie gerathen dadurch in einen vorübergehenden 
Zustand der Contraction. Wie wirkt nun aber daneben das 
Rückenmark ? Diese Frage schliesst sich enge an die nach 
der Existenz des Tonus in den Muskeln an. Uebt nämlich 
das Rückenmark eine derartige fortwährende Wirkung aus, 
dass es den Muskel dadurch in einen Zustand von anhalten- 

II. 23 


330 


der, mässiger Contraction versetzt, so wird auf der einen 
Seite eine fortwährende Wirkung dieses Nervencentrums auf 
die Muskeln, auf der anderen Seite ein Normalzustand in 
den Muskeln angenommen , den die neueren Physiologen 
Tonus genannt haben. Es würde somit nur ein gradueller 
Unterschied zwischen dem mässig contrahirten Muskel unter 
dem Einflusse des Rickenmarks — im Zustande des Tonus — 
und dem unter dem Einflusse des Willens, d. h. dem will- 
kührlich contrahirten Muskel bestehen. 

Es giebt nun in der Muskelphysiologie wirklich viele 
Beispiele, welche für die Existenz eines fortwährenden mäs- 
sig contrahirten Zustandes sprechen. So z. B. die Schliess- 
ımuskeln, von denen uns Heidenhain in neuerer Zeit ge- 
lehrt hat, dass sie sich in einem fortwährend contrahirten 
Zustande befinden, der eine unausgesetzte Wirkung im un- 
teren Theile des Rückenmarkes voraussetzt. So findet weiter 
unter dem Einflusse des N. vagus, des Hemmungsnerven 
des Herzens, eine fortwährende Wirkung statt, wodurch die 
Contraction des Herzens geregelt wird; denn sobald man 
diesen Nerven durchschneidet, nimmt die Anzahl der Herz- 
contractionen zu; diese Erscheinung deutet auf eine bleibende 
von dem verlängerten Marke ausgehende Wirkung, da der 
N. vagus aus diesem entspringt. Es giebt auch im Gebiete 
des N. sympathicus Erscheinungen, welche eine fortwährende 
Wirkung seiner Nervencentren voraussetzen lassen. Das Lu- 
men der Blutgefässe wird bestimmt durch die Wirkung ihrer 
glatten Muskeln, die vom sympathischen Nervensysteme in- 
nervirt werden. Sobald man ihre Nerven von dem Centrum 
trennt, sieht man wie die Arterien sich erweitern, zum 
Beweise dass die mässige Muskeleontraetion aufgehört hat. 
Pflüger’s Untersuchungen die von Anderen bestätigt worden 
sind, haben gelehrt, dass der N. splanchnieus ebenso für 
den Darm, wie der Vagus für das Herz Hemmungsnerv ist. 
Wir haben hier verschiedene Facta zusammengestellt, welche 
sowohl in dem Centrum des cerebro-spinalen, als auch in 
dem des sympatischen Systemes eine stets fortwährende Wir- 
kung voraussetzen. 


33l 


Heidenhain, Auerbach und Wundt haben sich in 
neuerer Zeit mit dem Tonus der Muskeln beschäftigt. Die 
Resultate ihrer Experimente und Betrachtungen sind aber 
ungünstig für die Existenz des Tonus ausgefallen, sodass 
sie keine beständige mässige Contraction der Muskeln in der 
Ruhe, von einer fortwährenden Einwirkung des Centralorga- 
nes abhängig, annehmen, sondern geradezu die Muskeln re- 
laxirt sein lassen, so lange der Wille nicht auf sie einwirkt. 
Ehe eine solche wichtige Thatsache in der Wissenschaft 
Bürgerrecht erhalten kann, muss sie wiederholt geprüft und 
auch auf anderem Wege bestätigt werden. Dies zur Recht- 
fertigung folgender Versuche und Betrachtungen. 

Die Definition des Tonus der willkührlichen Muskeln, wie 
sie oben gegeben wurde, rührt von Johannes Müller!) 
her. Sie sind demzufolge, so lange sie vermittelst Nerven 
mit dem Rückenmarke verbunden sind, in einem fortwähren- 
den Zustande mässiger Contraction,, bewirkt von dem Üentral- 
organe aus, das fortwährend auf sie einwirkt. Marshall 
Hall?) versuchte diese Annahme exprimentell zu beweisen 
und Henle’°) hat sie auf das ganze Nervensystem übertragen. 
„Ich will den mittleren Grad der Thätigkeit in den Nerven 
„während der sogenannten Ruhe den Tonus des Nerven- 
„systems nennen; dadurch dehne ich nur auf das gesammte 
„System einen Begriff aus, welchen man indireet für einen 
„Theil desselben, die Muskelnerven angenommen hat.” Die- 
ser Begriff des Tonus wurde fast allgemein adoptirt. Die 
Gründe, welche weiter dafür angeführt wurden, setzen wir 
als bekannt voraus. Es würde zu weit führen sie hier zu 
wiederholen. 


——_—— nn mn nn 


1) Lehrbuch der Physiologie, 1'% Auflage, Coblenz 1837, Bd. I. S. 361, 
Bd. U. S. 39,!40, Bd. II. S. 79—82. 

2) Marshall Hall, Ueber die Krankheiten und Störungen des Ner- 
vensystems. Aus dem Englischen von Dr. J. Behrend, Leipzig 
1842, 8. 87. 

3) Henle, allgemeine Anatomie, S. 593, 594, .720, (727-731). 
Rationelle Pathologie, Bd. I. S. 119 ete. 

23° 


332 


Ed. Weber!) leitete alle Erscheinungen der Muskelbewe- 
gung von ihrer Elastieität her und beseitigte somit ganz 
den Begriff des Muskeltonus; von nun an finden wir den 
Tonus bald geläugnet, bald wiederum angenommen. 

Wie bereits erwähnt, haben einige jüngere Forscher, näm- 
lich Heidenhain ?), Auerbach °) und Wundt ?) sich wie- 
derum ernsthaft mit dem Muskeltonus beschäftigt. Ihre Un- 
tersuchungen scheinen so sehr jede Bürgschaft der Genauig- 
keit und Wahrhaftigkeit an sich zu tragen, dass das Resultat, 
wonach es keinen Tonus mehr gäbe, auf allgemeinen Beifall 
Anspruch machen kann. 

Obwohl wir sie als bekannt voraussetzen dürfen, wollen 
wir sie hier doch kurz anführen, um so desto besser unsere 
kritischen Bemerkungen und unsere auf dieselbe Weise er- 
haltenen Resultate daneben stellen zu können. 

Heidenhain ging bei seinen Versuchen von folgendem 
Raisonnement aus: wenn die Muskeln, von dem Centralor- 
gane aus mittelst der Nerven in einen Zustand fortwährender 
mässiger Contraction und Spannung versetzt werden, so 
muss diese Zusammenziehung verschwinden, wenn die Ner- 
ven durchgeschnitten werden, die Spannung der Muskeln 
muss abnehmen, der Muskel muss daher länger werden. 

Heidenhain hat versucht diese Verlängerung der Muskeln 
experimentell zu prüfen. Er durchschnitt an einem lebenden 
Thiere die untere Muskelinsertion irgend eines Muskels mit 
Schonung der Nerven und Gefässe, während die obere In- 
sertion unbeweglich befestigt wurde. Nun wurde der Muskel 
ganz lospräparirt, und das Thier in einer solchen Stellung 


1) Ed. Weber, Artikel Muskelbewegung mn R. Wagner’s Handwör- 
terbuch der Physiologie, Bd. III. Abth. II. S. 105 u. folg. 

2) Heidenhain, Historisches und Experimentelles über Muskeltonus. 
Müller’s Archiv, 1856, S. 214. 

3} Henle und Meissner, Bericht über die Fortschritte der Anatomie 
und Physiologie im Jahre 1857, S. 438. 

4) Die Lehre von der Muskelbewegung von Dr. W. Wundt, Braun- 
schweig 1857, S. 44—57. 


333 


festgehalten, dass der Muskel ganz vertikal hängt. Weiter 
wird nun an dem unteren freien Ende ein gewisses Gewicht 
befestigt. Dadurch wird nun der Muskel nach Heidenhain 
. so lange ausgedehnt, bis die Grösse der Spannung der Grösse 
des Gewichtes entspricht. Diese Dehnung ist einestheils ab- 
hängig von und gegeben durch die Elastieität der Gewebe, 
welche den Muskel zusammenstellen, anderntheils durch den 
von den motorischen Nerven abhängigen Tonus der contrac- 
tilen Muskelfasern. Wenn nun der Muskel sein Maximum 
von Ausdehnung bei einem gewissen Gewichte erreicht hat, 
so findet Gleichgewicht statt zwischen der Kraft‘, mit wel- 
cher das Gewicht den Muskel in die Länge zu ziehen strebt 
und zwischen dem Tonus und der Elastieität, welche dem 
entgegenwirken. Hieraus folgt, dass wenn der Tonus nach 
Durchschneidung des Bewegungsnerven aufgehoben ist, das 
eben statt gefundene Gleichgewicht gestört sein muss; die 
ausdehnende Kraft des Gewichtes muss um so viel mehr 
seine Wirkung äussern, als der ihr von dem Tonus her ge- 
lieferte Widerstand betrug; der Muskel muss schliesslich 
länger werden. Wenn aber kein Tonus existirt, so kann 
auch das Gleichgewicht nach Durchschneidung des Bewegungs- 
nerven nicht gestört sein, und der Muskel wird demzufolge 
nicht mehr ausgedehnt werden als vor dieser Durchschneidung. 

Heidenhain machte nun solche Experimente sowohl an 
warm- als an kaltblütigen Thieren, und fand dass der Tonus 
im Sinne Joh. Müller’s nicht existirt. Aehnliche Resultate 
erhielten Auerbach und Wundt bei ihren fast auf dieselbe 
Weise angestellten Versuchen. 

Die Weise, wie die Versuche von Heidenhain ausge- 
führt wurden, müssen wir hier kurz etwas genauer ausein- 
andersetzen. 

Bei einem Frosche wurde erst die Art. aorta unterbunden 
und der Nervus ischiadieus blossgelegt, und gleich wiederum 
mit Muskelmasse bedeckt, um die Einwirkung der Luft ab- 
zuhalten. Darauf wurde der M. adductor magnus und semi- 
membranosus (Cuv.) auf derselben Seite präparirt, dann auf 
‘ beiden Seiten die Hüftknochen exartieulirt, und quer durch 


334 


die Gelenkpfanne hindurch ein dreieckiger stählener Spiess 
gestochen, womit das Thier unbeweglich befestigt wurde. 
Nun wurde an dem oberen Theile der Tibia (der untere 
sowie der Fuss waren entfernt worden) mittelst einer kleinen 
Klemmschraube das stählerne Stäbchen befestigt, das die 
Scala und die Schale mit den Gewichten trug. Die Scala war 
in Millimeter eingetheilt, und jeder Millimeter wiederum in 
fünf Theile. Wenn nun Gewichte auf die Schale gelegt wurden, 
so sank die Scala, sobald der Muskel dadurch ausgedehnt 
wurde. Die Grösse der Senkung wurde durch Einstellung 
des horizontalen Fadens eines Fadenkreuzes in einem auf 
die Scala gerichteten Fernrohre abgelesen. Je nachdem der 
Muskel sich ausdehnte, fiel ein anderer Theilstrich der Scala 
mit dem horizontalen Faden des Fernrohres zusammen. Nach- 
dem der Einfluss des dehnenden Gewichtes auf den Muskel 
eine Zeit lang beobachtet war, wurde nun plötzlich der 
Nerv durchgeschnitten, und darauf untersucht, ob die Deh- 
nung des Muskels dadurch modifieirt wird. Bei keinem 
Versuche wurde aber irgend ein Einfluss der Nervendurch- 
schneidung auf die Dehnung des Muskels beobachtet. Es 
traten nur Muskelzuckungen ein, die aber keinen Einfluss 
auf den Gang der Ausdehnung hatten. Heidenhain konnte 
eine Längeausdehnung von nur '% Mm. bestimmen. Wundt 
aber, der die Theilung der Scala mit einem Mikroskope ab- 
las, dessen Oculär mit einem Mikrometer versehen war, 
konnte eine Längeveränderung von %, Mm. direet ablesen und 
von "oo Mm. nahezu schätzen. Auch seine Untersuchungen 
leiteten aber, ebenso wie die von Auerbach, zu dem 
Resultate, dass der Tonus nicht existirt. 

Können nun aber nach der oben beschriebenen Experimen- 
tirmethode wirklich plötzliche Veränderungen, wie sie nach 
der Nervendurchschneidung von Heidenhain vorausgesetzt 
wurden, mit Gewissheit bestimmt werden. Wir glauben hieran 
zweifeln zu müssen. Es kommen so viele störende Umstände 
vor, dass, wie genau die Beobachtungsweise auch sonst sein 
möge, in dem Muskel eine Veränderung hervorgerufen werden 
kann, welche verhindert, dass man das Aufhören der Nerven- 


335 


wirkung wahrnehmen kann. Der Muskel und der Nerv werden | 
nämlich erstens durch ein ziemlich grosses Gewicht der Aus- 
dehnung ausgesetzt. Die geringste Belastung von Heiden- 
hain angewendet, betrug 10 Gr., (von denen 5 Gr., die der 
Apparat wog). Wundt’s geringste Belastung betrug 9 Gr. 
Die Ausdehnung wurde von Heidenhain so lange fortge- 
setzt, bis nur noch die elastische Nachwirkung wahrgenom- 
men werden konnte. In diesem Zustande wird der Nerv 
durchgeschnitten. Wundt dagegen durchschneidet den Nerven 
in den ersten Augenblicken der Ausdehnung, und beobachtet, 
ob hierdurch der Gang der Ausdehnung modifieirt wird. 

Nun muss aber in dem Heidenhain’schen Falle noch 
mehr als in dem von Wundt der Muskel ermüdet werden. 
Die Verkürzung eines ausgedehnten Muskels ist aber wenn 
sein Nerv gereizt wird, stets geringer, wenn der Muskel 
ermüdet ist; die vom Tonus abhängige Contraction ist aber 
unter denselben Umständen so gering, dass er beim Durch- 
schneiden des Nerven kaum wahrgenommen werden kann. 
Die vom Tonus abhängige Contraetion kann daher durch das 
Anhängen von Gewichten und die Ausdehnung durch die- 
selben ausgelöst werden. 

Das Durchschneiden der Nerven ist der Anwendung eines 
mechanischen Reizes aequivalent. In demselben Augenblicke 
mithin, in dem man die Folge des Aufhörens eines geringen 
anhaltenden Reizes (den vom Rückenmarke abhängigen To- 
nus) wahrnehmen will, wird ein neuer kräftiger Reiz ange- 
wendet, der kräftige Contraetion erregt und den physikali- 
schen Zustand des Muskels bedeutend verändern wird ; indessen 
will man gerade dann eine geringe Veränderung, die sich 
erst secundär kund geben kann, beurtheilen. 

Das Störende der bei der Nervendurchschneidung entstehen- 
den Zusammenziehung hat Wundt keineswegs übersehen. 
Eine geringe Verkürzung oder Verlängerung, welche selten 
fehlt, betrachtet er als ihre Nachwirkung. Er glaubt aber, dass 
der Verlauf der Ausdehnung in Folge der Durchschneidung 
keine wesentliche Modification erfahren hat, findet es aber 
trotzdem erwünscht, dieser Contraction bei der Durchschnei- 


336 


dung vorzubeugen. Dies erreicht er dadurch, dass er den 
Muskelnery während einiger Minuten durch den elektri- 
schen Strom tetanisirt. Hierdurch wurde der Muskel hinrei- 
chend ermüdet; bei der Nervendurchschneidung wurde keine 
Zuckung mehr beobachtet; nach Einwirkung starker Ströme 
verkürzte sich der Muskel noch sehr bedeutend, woraus folgt, 
dass er noch nieht ganz erschöpft war. Dadurch nun dass. 
jetzt keine Zuckung mehr bei der Durchschneidung statt 
fand, kam Wundt zu dem unbegreiflichen Resultate, dass 
die Durchsehneidung des Nerven an und für sich keinen 
Einfluss auf die mechanischen Eigenschaften des Muskels aus- 
übe. Dies kann sich doch nur auf den ermüdeten Muskel 
beziehen; die mechanischen und physikalischen Eigenschaf- 
ten des ermüdeten und ganz frischen Muskels sind aber, wie 
bekannt, sehr verschieden. Was am ermüdeten Muskel 
beobachtet wird, kann daher nicht ohne Weiteres auf den 
frischen , ganz wirkungsfähigen Muskel übertragen werden. 

Die Versuchsmethode von Heidenhain und Wundt er- 
laubt nicht den Einfluss des dehnenden Gewichtes auf den 
Muskel, der mit seinem Nerven noch in Verbindung steht 
und auf den Muskel, dessen Nerv durchgeschnitten ist, ne- 
ben einander zu vergleichen, was indessen, wie wir weiter 
unten sehen werden, keine geringe Vortheile liefern würde. 

Was nun die zum. Versuche gewählte Muskelgruppe an- 
geht, so glauben wir, dass ihre Isolation zu viel Zeit erfordert, 
sodass das 'Thier zu sehr leidet; auch kann ihre Isolation 
nicht zu Ende geführt worden, ohne dass man einige Mus- 
kelbündel durchschneidet. Gegen diese Nachtheile ist der 
Vortheil des paralellen Verlaufes der Muskelfasern nur gering 
zu schätzen. 

Das Stechen des Spiesses durch die Gelenkpfanne zur Be- 
festigung des Thieres, mag die unbewegliche Befestigung des 
Muskels an seinem Aufhängepunkt bewirken, es folgen ihm 
aber viele Zuckungen des Thieres, welche der Reinheit der 
Beobachtungen Abbruch thun. 

Das Unterbinden der Arterien an der Extremität, deren 
Muskeln man untersuchen will, das zeitliche Blosslegen des 


337 


Muskels, das Exartieuliren des Hüftbeines, das Entfernen 
des Vorderbeines, das Exartieuliren der ganzen zweiten Ex- 
tremität — dies Alles bewirkt, dass der Frosch sich nicht 
in einem normalen Zustande befindet. 

Bei der Wiederholung der Versuche von Heidenhain 
und Wundt-haben wir versucht, verschiedene der erwähnten 
Nachtheile zu vermeiden. 

Was die Wahl des Muskels betrifft, so haben wir dem Muse. 
gastroenemius den Vorzug eingeräumt. Schwann bediente 
sich schon desselben zur Bestimmung der Kraft lebender Mus- 
keln. Man kann diesen Muskel ohne irgend einen Blutverlust 
von den darunter gelegenen isoliren; Unterbindung von Gefäs- 
sen sowie Exartieulation des Vorderbeins sind dabei unnöthig 
geworden. Der Muskel kann bis auf seinen oberen Insertions- 
punkt oberhalb der Kniehöhle frei gelegt werden. Die Be- 
festigung des Hüftbeines und somit des oberen Insertions- 
punktes konnte auf folgende Weise geschehen. Auf der 
Bauchseite des Hüftbeines, wo nur eine dünne Muskellage 
vorhanden ist, wurde am oberen Drittheile ein Schnitt durch 
die Muskeln geführt und der Knochen darauf ganz von der 
umgebenden Muskelmasse isolirt. Unter den Knochen wurde 
der sich öffnende Arm einer Klemmschraube geführt. (Fig. 1.) 
Die beiden Arme der Klemmschranbe wurden darauf einander 
genähert und durch eine Schraube befestigt, so dass der Kno- 
chen nun in der von den geschlossenen Armen umgebenen 
eylindrischen Höhle lag. In dem unbeweglichen Arme war eine 
Schraube angebracht, an deren freiem Ende sich ein kleines 
rundes gezähneltes Plättchen mit rauher Oberfläche befand. 
Der Hüftknochen wurde nun vermittelst dieser Schraube in 
der eylindrischen Höhle so befestigt, dass er sich unbewe- 
glich zwischen der innern Wand des beweglichen Armes der 
Klemmschraube und dem rauhen Plättchen befand, das zu 
diesem Behufe, soweit dies nöthig, durch die Schraube vor- 
geschoben war. 

An der Klemmschraube war ein viereckiges Stückchen 
Kupfer von 3 Ctm. Breite, 3 Ctm. Länge und 1%, Mm. Dicke 
befestigt, das zwischen zwei Krampen eingeschoben wurde, 


338 


welche in einer Entfernung van 2%, Ctm. von einander sehr 
tief in das horizontale Holzstück getrieben waren, das auf 
den zwei vertikalen Stäben des Instrumenes befestigt war, 
an dem der Frosch festgebunden wurde. 

Eine zweite Verbesserung, welche wir an dem Apparate 
angebracht haben, betrifft die Aufhebung des Gewichtes von 
dem Messapparat, woran die Schale und der Flügelapparat 
befestigt waren. Das Gewicht desselben, das bei Heiden- 
hain’s Apparat 5 Gr., bei Wundt’s 7 Gr. und bei dem uns- 
rıgen 10 Gr. betrug, machte es unmöglich den Muskel auf 
die gewöhnliche Weise durch kleinere Gewichte auszudehnen. 
Auf folgende Weise nun wurde das Gewicht dieses Apparates 
aufgehoben. Der ganze Messapparat ruhte auf dem langen 
Arme eines Hebels, der seinen Stützpunkt auf einem scharfen 
stählernen Messerchen hatte, das an einem der vertikalen Stäbe 
des viereckigen Rahmens, welcher den Frosch trug, befestigt 
war; der kurze Arm des Hebeis, auf der anderen Seite des 
Stützpunktes gelegen, war mit einem verschiebbaren Gewicht- 
chen versehen, das so gestellt werden konnte, dass es mit 
dem Messapparate im Gleichgewichtszustande war; der ganze 
Hebel befand sich dann in horizontaler Lage, und so wurde 
er zu den Experimenten benutzt. Der ganze Apparat bestand 
mithin aus einem Schälchen mit ungleichen Hebelarmen, das 
auf der einen Seite durch den Messapparat, auf der anderen 
durch das Gewichtehen im Gleichgewichte gehalten wurde. 
Wenn nun der Messapparat mit einem Deeigramme belastet 
wurde, so senkte er sich schon bedeutend, — zum Beweise 
dass die kleine Wage empfindlich war. Der Messapparat 
wurde auf dem Hebelarme ruhend an dem Muskel befestigt ; 
darauf wurde ein kleines Gewicht auf das Schälchen des 
Messapparates gelegt, der lange Hebelarm sank, und der 
Muskel wurde nur durch ein kleines Gewicht ausgedehnt. 

Wir brauchen nun nicht lang mehr bei der Auseinander- 
setzung der Experimentirmethode stille zu stehen. Abgesehen 
von den eben erwähnten Verbesserungen kam sie ganz mit 
der von Wundt überein. Abgesehen von der Befestigungs- 
weise des Hüftbeines kommt der Apparat ganz mit dem von 


339 


Wundt zum Studium der Elastieität gebrauchten überein. 
Die Scala wurde mit einem Mikroskope beobachtet, in dessen 
Oeulär ein Mikrometer vorhanden war, mittelst dessen jeder 
, Millimeter der Scala nochmals in fünf Theile zerlegt wer- 
den konnte, so dass man eine Längeveränderung des Muskeis 
um ', Millimeter direet ablesen, und eine von Y. ungefähr 
schätzen konnte. 

Das Resultat unserer Versuche lehrtenun, dass der Verlauf 
der Muskelausdehnung vor und nach der Nervendurchschnei- 
dung vollkommen derselbe blieb. Bei der Nervendurchschnei- 
dung wurde jedesmal eine plötzliche Contraction wahrge- 
nommen, die neun und dreissigmal eine geringe zeitliche 
Verlängerung und siebenmal eine Verkürzung zur Folge 
hatte. Sie waren aber beide von sehr kurzer Dauer. Eine 
bleibende Verlängerung ward nur einmal nach der Nerven- 
durchschneidung beobachtet. Dieses vereinzelte positive Re- 
sultat beweist aber nichts im Gegensatze zu den vielen 
negativen. Wodurch es bedingt war, ist uns nicht klar ge- 
worden. Vielleicht war es eine Folge von vorhergegangener 
Reflexwirkung, da das Thier mit der andern Pfote starke 
Bewegungen gemacht hatte. 

Die Grösse des dehnenden Gewichtes war nicht stets die- 
selbe. Die Muskeln wurden bald mit einem, bald mit zwei bis 
fünf aber niemals mehr als 5 Gr. belastet. Auch der Augen- 
blick der Nervendurchschneidung wurde verschieden gewählt. 
Bald geschah sie während die Ausdehnung des Muskels 
durch das Gewicht noch vor sich ging, schon nach der ersten 
oder zweiten Minute der Belastung, bald wurde so lange gewar- 
tet, bis keine erwähnenswerthe Ausdehnung mehr statt fand. 

Wir werden hier den Verlauf der Ausdehnung und den 
Einfluss der Nervendurchschneidung von drei Beobachtungen 
mittheilen. 

In der ersten Reihe ist das Gewicht (G), womit der Muskel 
belastet wurde, angegeben, in der zweiten die Zeit (T) nach 
der Belastung in Minuten, in der dritten die Verlängerung 
(+) oder Verkürzung (—) in Millimetern. (MM), welche der 
Muskel bei der Ausdehnung erfuhr, 


340 


I. 
Länge des Muskels (gastroenemius) — 32,94 mm. 


G. Ap® MM. 

4 Gramm. 0 00 
1 + 0,06 

2 + 0,04 

3 + 0,05 

4 + 0,01 

> + 0,01 

6 + 0,01 

10 + 0,02 

12 + 0,02 


Durchschneidung, Zuekung. 
4 Gramm. 13 + 0,04 


14 — 0,01 

15 — 0,01 

16 —— 001 

1%. 000 
II. 


Länge des Muskels (gastroenemius) = 34,2 mm. 


G. T. MM. 

2 Gramm. 0 00 

2 + 0,02 

4 + 0,02 

5 + 0,02 

6 + 0,02 

7 + 0,02 

8 + 0,02 

12 + 0,01 

Durchschneidung, Zuekung. 

2 Gramm. 13 — 0,04 
14 + 0,05 (frühere Länge) 

15 — 0,01 


341 


G. T: MM. 

5 Gramm. 0 00 
3 + 0,06 

4 + 0,04 

5 + 0,03 

6 + 0,03 

I + 0,04 

10 0,00 


Durchschneidung, Zuckung. 


5 Gramm. 11 + 0,04 
13 + 0,05 
14 + 0,03 
16 + 0,03 
17 + 0,01 
18 0,00 
19 + 0,02 


Man sieht, dass in den beiden ersten mitgetheilten Versuchen 
die Nervendurchschneidung keine bleibende Verlängerung zur 
Folge hatte, und dass der Verlauf der Ausdehnung hierdurch 
nicht verändert wurde. In dem erstmitgetheilten Versuche 
fand eine augenblickliche Verlängerung statt; nach und nach 
verkürzte sich der Muskel wiederum, und bekam seine frühere 
Länge zurück. Im zweiten Versuche folgte eine augenblick- 
liche Verkürzung auf die Durchschneidung; der Muskel er- 
hielt aber bald seine frühere Länge wiederum zurück, und 
der Verlauf der Ausdehnung wurde wiederum derselbe. Im 
dritten endlich kam eine bleibende Verlängerung nach der 
Nervendurchschneidung vor, welche aber nur gering war; 
auch war in dem Falle die Ausdehnung nach der Durch- 
schneidung grösser. 

Die in den beiden ersten Versuchen erhaltenen Resultate 
stimmen mit denen von 43 anderen Versuchen überein, wel- 
che auf dieselbe Weise ausgeführt waren. Der letzterwähnte 


342 


Versuch ist der einzige, der ein anderes Resultat darbot. Diese 
Versuche berechtigen uns daher nicht zu der Annahme eines 
Tonus. 


Unsere Hoffnung entscheidende Resultate zu erhalten, nach- 
dem wir einige Nachtheile, welche den Heidenhain’schen 
Versuchen eigen waren, umgangen, ist, wie aus Obigem her- 
vorgeht, unerfüllt geblieben. Der nachtheilige Einfluss der 
Nervendurchschneidung blieb nirgends aus, nnd das Problem 
ist somit noch unaufgelöst. 

Wir waren daher auf eine andere Beobachtungsmethode 
bedacht, welche im Prineipe mit der Heidenhain’schen 
übereinstimmte, aber frei war von einigen Hauptnachtheilen 
letzterer, nämlich von dem, dass man unmittelbar nach und 
während der Durchschneidung beobachten muss, und von 
dem der Unmöglichkeit um einen mittelst der Nerven mit 
dem Rückenmarke in Verbindung gebliebenen Muskel und 
einen Muskel mit durchgeschnittenem Nerven zu gleicher 
Zeit zu beobachten. 

Unsere höchst einfache Methode reducirt sich darauf, dass 
man einen Frosch frei aufhängt, nachdem man ihm kurz zu- 
vor das Rückenmark etwas unterhalb des verlängerten Mar- 
kes und auf der einen Seite den nerv. ischiadieus durchge- 
schnitten hat. Wenn man alsdann die beiden Pfoten nach 
einiger Zeit mit einander vergleicht, so wird man einen gros- 
sen Unterschied in ihrem Verhalten bemerken. Die Piote, 
deren Nerv durchgeschnitten, hängt schlaff; die Gelenke der 
anderen zeigen alle einen gewissen Grad von Beugung, der 
auf eine grössere Contraction der Muskeln hinweist. 

Im Prineip stimmt diese Untersuchungsmethode, wie schon 
erwähnt, mit der ersteren überein. Hier sowohl als dort 
werden Muskeln durch ein gewisses Gewicht ausgedehnt. 
Dieses Gewicht ist aber hier kleiner, und gegeben durch den 
Körpertheil, an dem sich der Muskel inserirt, mithin die na- 
türliche Last der Muskeln, welche selbst ganz unverletzt bleibt. 
Wenn wir uns die Muskeln ganz wirkungslos denken, so 


343 


müssen die Pfoten unter dem Einfluss der Schwerkraft ganz 
 schlaff in gerader Haltung hangen, wobei sie sich, insofern 
die Gelenke dies nicht verhindern, der geraden Linie nähern 
werden. Eine Abweichung hiervon wird nun erstens durch 
die elastische Spannung, allen lebenden Muskeln eigen, 
solange ihre Insertionspunkte unverletzt sind, bedingt werden ; 
dann aber wird auch der von dem kückenmark aus bedingte 
Contractionsgrad, welcher die Tonus-Theorie voraussetzt, ei- 
nen Einfluss auf diese Richtung haben. Wenn man daher 
die Form beider Pfoten vergleicht, während nur auf einer 
Seite der Nerv durchgeschnitten ist, so ist man im Stande zu 
beurtheilen, ob der Nerv, der den Muskel mit dem Rücken- 
marke in Verbindung setzt, den Zustand des Muskels modificirt. 
Wenn sich dies nämlich so verhält, so muss ein Unterschied 
in der Haltung der Pfoten wahrgenommen werden können, 
während die Nervendurchschneidung für den Muskelzustand 
und seine Form in Beziehung der Pfoten gleichgültig sein 
muss, wenn dieser Einfluss des Rückenmarkes nicht besteht. 

Unsere Versuchsmethode, (nach welcher wir 62 Versuche 
angestellt haben) war kurz folgende. Mit einer sehr schar- 
fen Scheere wurde das Rückenmark eines Frosches in der 
Nähe des verlängerten Markes durchgeschnitten ; darauf wurde 
das Thier während einiger Zeit sich selbst überlassen, wo- 
bei es gewöhnlich eine sitzende Haltung annahm. Nun wurde 
auf beiden Seiten der N. ischiadicus blossgelegt, und dann 
ein Faden durch die Nase gezogen, woran der Frosch schwe- 
bend an einem Häkchen aufgehängt wurde. Jetzt wurde auf 
der einen Seite, meistens rechts, der N. ischiadieus durch- 
geschnitten, und darauf beide Nerven wiederum mit Muskel- 
masse bedeckt. In dieser Haltung kann das Thier während 
einiger Stunden beobachtet werden. Anfangs kamen mitunter 
einige Unregelmässigkeiten vor; die Pfoten hatten aber bald 
eine bleibende Haltung angenommen. Einige Male kamen 
nach einigen Minuten noch Contractionen auf der nicht durch- 
geschnittenen Seite vor; alsdann blieb ihre Auswirkung noch 
einige Zeit fortbestehen. 

Auf Tafel I. Fig. 2, 3, 4, sieht man drei Frösche abge- 


344 


bildet; in Fig. 2 ist der N. ischiadieus auf einer Seite, in 
Fig. 3 auf beiden und in Fig. 4 auf keiner durchgeschnitten. 
Das in Fig. 2 abgebildete Thier ist Y%, Stunden nach der 
Durchschneidung beobachtet worden. Die Pfoten bieten ei- 
nen auffallenden Unterschied in ihrer Haltung dar. Die linke 
Pfote ist mehr in die Höhe gezogen, und in allen Gelenken 
mehr gebogen als die rechte; sie hängt nicht so schlaff herab 
wie die rechte. Man sieht, dass das Hüftbein mehr in die 
Höhe gezogen ist, wodurch der Winkel in der Kniehöhle 
(a b’ c‘) kleiner ist, als derselbe auf der anderen Seite an 
dem schlaffen Beine; die Ferse c’ steht höher auf der Seite 
des unversehrten Nerven als auf der anderen. Die tibio- 
tarsal- (e’) und tarso-metatarsal-Gelenke (f) sind auf der lin- 
ken Seite mehr gebogen als auf der rechten, so dass eine 
Linie 9’ e f’ d‘, von der Hälfte des Vorderbeines an begin- 
nend, erst bei f’ gebogen wird, während die ganze Linie 
g e f d auf der rechten durchschnittenen Seite überall krumm 
ist. Die grosse Zehe hängt auf der rechten Seite niedriger 
als auf der linken. In Fig. 2. II. ist der Unterschied in der 
Stellung der beiden Pfoten durch gerade Linien angegeben, 
und durch die entsprechenden Buchstaben leichtverständlich. 
In Fig. 3 ist die Stellung beider Pfoten gleich, weil auf 
beiden Seiten der Nerv durchgeschnitten wurde. 

Wenn man einen Frosch an seiner Nase aufhängt, nach- 
dem das Rückenmark durchschnitten, alle übrigen Nerven 
aber unverletzt geblieben sind, so findet man, dass alle 
Gelenke sehr stark gebogen sind. In Fig. 4 ist ein so be- 
behandelter Frosch abgebildet. Beide Pfoten sind bedeutend 
in die Höhe gezogen; alle Gelenke befinden sich in sehr ge- 
bogenem Zustande, sogar das tarso-metatarsal Gelenk, — an 
der rechten Pfote etwas mehr als an der linken (der Frosch 
ist hier von der Bauchseite gezeichnet), wodurch die grosse 
Zehe jener Seite auch etwas höher hängt. So war es eine 
Stunde nach dem Aufhängen; eine halbe Stunde später 
war die Stellung beider Zehen wiederum gleich. Wö mithin 
keine Nerven durchgeschnitten sind, sondern nur Trennung 
des Rückenmarkes von dem Gehirne statt gefunden, hat man 


345 


Gelegenheit die Gelenke in sehr gebogenem Zustande zu 
beobachten ; sind aber die Nerven durchgeschnitten, so bleibt 
die Beugung der Gelenke aus, wie in den vorhergehenden 
Versuchen dargethan wurde. 

Wenn man die Nerven auf einer Seite unterbindet, so 
nimmt man denselben Unterscheid in der Haltung der Pfoten 
wahr als nach Nervendurchschneidung; dasselbe geschieht , 
wenn man die Rückenmuskeln zur Blosslegung des Nerven 
nur auf einer Seite durchschneidet. 

Wir wollen jetzt die Ursache aufsuchen, welche die ab- 
weichende Stellung der Gelenke der Pfote, deren Nerven 
durchgeschnitten worden sind, bedingt. Der allgemeine Un- 
terschied besteht darin, dass die Gelenke der Pfote, deren 
Nerv nicht durchgeschnitten ist, mehr gebogen sind als an 
der Pfote mit durchschnittenem Nerv. Die Stellung der 
Gelenke wurde grösstentheils durch die Muskeln bestimmt. 
Wenn diese nicht vorhanden wären, so würden die Pfoten un- 
ter dem Einflusse der Schwerkraft eine nahegenug senkrechte 
Stellung einnehmen ; die ganze Extremität würde, abgesehen 
von dem Einfluss der Bänder und Gelenkflächen, eine beinahe 
gerade Linie bilden. Da nun aber Muskeln vorhanden sind, 
welche verschiedene Länge haben und auf verschiedene Weise 
sich inseriren, deren Bündel sogar in verschiedener Richtung 
verlaufen, so werden sie es auch sein, welche die Stellung 
der Extremität bestimmen. In den Muskeln muss daher die 
Ursache für die Beugung der Gelenke an den Pfoten eines 
aufgehängten Frosches gelegen sein; sie sind es, welche 
durch den Zustand, worin sie sich befinden, die Form der 
Pfoten bestimmen; was nur ihre Form, Insertion, ihren 
physikalischen Zustand zu verändern vermag, wird auch die 
Lage der Gelenke’ und demzufolge der Pfote modifieiren. An 
beiden Pfoten beobachtet man nun eine verschiedene Stellung. 
Wenn man annimmt, dass die Muskeln an beiden Pfoten 
ganz gleich und auf dieselbe Weise inserirt sind, so wird 
man die Ursache des Unterschiedes dem Vorhandensein eines 
Einflusses zuschreiben müssen, der den physikalischen Zu- 
stand der Muskeln oder auch wohl ihre Form verändert. 

II. 24 


346 


Die Muskeln beider Extremitäten sind der Elastieität und 
der Wirkung der Schwerkraft unterworfen. Sie müssen daher 
gleiche Grösse haben, solange gleiche Kräfte auf sie ein- 
wirken. Aus der Stellung der Gelenke geht aber hervor, 
dass auf der einen Seite, auf welcher der Nerv noch mit 
dem Rückenmarke verbunden ist, eine Contraetion der Mus- 
keln vorhanden ist; die einzige Kraft, an welche man hier 
noch denken kann, ist die Wirkung der Nervencentra; man ist 
mithin berechtigt, diese Contraetion durch sie bewirkt sein zu 
lassen. Diese Contraetion dauert so lange, bis die Wirkung der 
Nervencentren gestört ist; sie ist eine fortwährend anhaltende. 

Die Beugung der Gelenke an der Pfote, welche als Folge 
einer bleibenden Zusammenziehung der Muskeln unter dem 
Einflusse des Rückenmarkes auftritt, ist nach 12, mitunter 
24 oder 36 Stunden noch zu sehen, und nach Verlauf dieser 
Zeit konnte man noch häufig Beugung der Pfote hervorru- 
fen, wenn man die Zehe kniff. An grossen Fröschen oder 
an solchen, welche viel Biut verloren hatten, ist die Dauer 
dieser Erscheinung kürzer; nach 4 oder 5 Stunden war bei 
diesen die Stellung beider Pfoten dieselbe. Dass die Zusam- 
menziehung eine geringe war, ging daraus hervor, dass, 
wenn man Gewichte von 0,5 oder 1 bis 2 Gramm. an die 
Pfote hing, deren Nerv nicht durchgeschnitten war, die Stel- 
lung ihrer Gelenke nach kurzer Zeit der der anderen Pfote 
mit durchschnittenem Nerven gleich war. 


Wenn die Muskelzusammenziehung, welche sich an ei- 
nem aufgehängten Frosche durch die Beugung der Gelenke 
kund giebt, Folge einer von dem Rückenmarke ausgehenden 
Wirkung, oder lieber eines Muskeltonus ist, so wird die 
Stellung eines Gelenkes, von: dem irgendwelcher Antagonist 
durchgeschnitten ist, mehr verändert werden an einer Pfote 
mit unversehrtem als an einer andern mit durchgeschnitte- 
nem Nerven. | 

In ersterem Falle wird die veränderte Stellung durch die 
Wirkung der Elastieität der noch an dem Gelenke verbun- 
denen Muskeln, plus die des Tonus bedingt sein. 


347 


In letzterem Falle wird die veränderte Stellung nur von 
der Wirkung der Elastieitat der nicht durchgeschnittenen Mus- 
keln abhangen. 

Das Experiment bestätigt diese Voraussetzung. Wenn man 
den m. gastroenemius, dessen Nerv noch mit dem Rücken- 
marke in Verbindung ist, an einem Frosche durchschneidet, 
so sieht man, dass die Stellung des Fusses eine grössere Ver- 
änderung erleidet, als wenn vorher der Nerv durchgeschnit- 
ten worden war. i 

Wenn man das Rückenmark eines Frosches durchschnei- 
det und ihn dann, wie oben, aufhängt, wenn man darauf die 
Sehne des ın. gastrocnemius auf der linken Seite durchschnei- 
det, nachdem man zuvor an beiden Pfoten auf der Höhe des 
Knies und der Ferse einen Einschnitt gemacht hat, so wird 
man eine bedeutende Lageveränderung des Fusses wahr- 
nehmen, sobald man ihn mit dem anderen vergleicht, des- 
sen gastroenemius noch nicht durchgeschnitten ist. 

Der linke Fuss ist mehr nach aussen gedreht, auch sind 
die Ferse und Fusssohle mehr sichtbar , sodass letztere breiter 
scheint als auf der rechten Seite; man bekommt eine brei- 
tere Fläche der planta pedis zu Gesicht, die ganze Fusssohle 
scheint breiter, während man von dem anderen Fusse nicht 
die planta sondern mehr die äussere Fläche sieht. Der Fuss 
scheint hier viel schmäler. Der Fusswurzel und das tibio- 
tarsal Gelenk ist an dem linken Fusse mehr gebogen. 

Wir haben einen so behandelten Frosch auf Tafel II. Fig. 6. 
abgebildet. Der linke Fuss A zeigt eine viel grössere Flä- 
che als der rechte A’, dessen äussere Seite man viel mehr 
sieht; auch der Mittelfuss 3 der linken Pfote ist mehr nach 
aussen gedreht als der der rechten Pfote 5’. Er bietet da- 
durch eine grössere Fläche dar. Endlich sieht man die Ferse 
C der linken Pfote mehr nach aussen gedreht, als die der 
rechten C’; der Unterschied in der Fussstellung dieser beiden 
Pfoten ist bedeutend. 

Wenn man den m. gastroenemius eines Frosches auf der ei- 
nen Seite durchschneidet, nachdem zuvor der Nervus ischia- 
dieus auf beiden Seiten durchgeschnitten worden, so gewahrt 

24* 


348 


man nur einen geringen Unterschied in der Lage der 
beiden Füsse, wie man an Fig. 5, Taf. II sieht, die eine 
Abbildung eines so behandelten Frosches giebt. Die Lage 
der Pfoten ist, wie man sieht, etwas verschieden, und die 
Art des Unterschiedes ist dieselbe als in der so eben behan- 
delten Figur. Der Unterschied ist aber viel weniger deutlich 
ausgeprägt. Der rechte Fuss A ist hier wiederum mehr 
nach aussen gerichtet als der linke A’; man sieht einen 
grösseren Theil der Plantarfläche, sodass der Fuss breiter 
zu sein scheint; die Fusswurzel DB und der Fuss € sind 
mehr nach aussen gedreht, als die der linken Seite 3’ und C’; 
das Tibio-Tarsalgelenk , so wie die übrigen Fussgelenke, 
sind an der linken Pfote mehr gebogen. Solange mithin 
Elastieität und Tonus wirken, erhält man einen grösseren 
Unterschied in der Lage, als wenn die Elastieität allein 
wirkt; wäre dies nicht so, so existirte der Tomus nicht. 
Hierin liegt mithin ein neuer Beweis für die Existenz einer 
tonischen Contraction. 

Es ist der eigenthümlichen Wirkung der Muskeln zuzu- 
schreiben, dass der Fuss nach aussen gedreht wird. Der 
M. gastroenemius ist nicht nur als extensor ein Antagonist 
der Flexoren, sondern dreht auch vermittelst seiner Ausbrei- 
tung in die fascia plantaris den Fuss einigermassen nach 
innen, und ist somit Antagonist von Muskeln, welche den 
Fuss nach aussen drehen. Letztere werden mithin den Fuss 
nach aussen drehen, sobald der M. gastroenemius durchge- 
schnitten ist, da ihre Wirkung nicht mehr durch die in ent- 
gegengesetztem Sinne wirkende des gastrocnemius vermin- 
dert wird. | 

Bei allen unseren Versuchen (62) haben wir, solange der 
Nerv den Muskel mit dem Rückenmarke in Verbindung hielt, 
stets Erscheinungen beobachtet, welche auf eine fortwährende 
Contraetion der Muskeln hindeuten. Sobald der Nerv von 
dem Rückenmarke getrennt war, verschwand auch der Zu- 
stand, der durch eine fortwährende Contraction der Muskeln 
bedingt ist. 

Es giebt mithin ein Muskeltonus der willkührlichen Mus- 


349 


keln, das heisst: es besteht eine fortwährende Contraction der 
Muskeln, solange diese mittelst der Nerven mit dem Rücken- 
marke verbunden sind. uud sie ist abhängig von einer Wir- 
kung, die ohne Unterbrechung von dem Rückenmark ausgeht. ' 
Von dem Gehirne ist sie ganz unabhängig. | 


Wir haben uns so eben bemüht darzuthun, dass die will- 
kührlichen Muskeln in einem contrahirten Zustande verkehren, 
solange sie mittelst der Nerven mit dem Rückenmarke ver- 
bunden sind. Wir müssen jetzt untersuchen, ob eine sol- 
che Contraetion Folge einer selbständigen Wirksamkeit des 
Rückenmarkes ist, oder ob die Wirksamkeit des Rückenmarkes 
durch die Wirkung der Gefühlsnerven derartig modifieirt wird, 
dass dadurch die mässige, anhaltende Contraetion entsteht, 
welche wir als Tonus bestimmt haben, mit anderen Worten, 
wir müssen jetzt untersuchen, ob der Tonus ein centraler 
ist oder ein peripherischer, der durch Reflex wirkt. 

Um dies zu entscheiden, wurde folgender Weg eingeschla- 
gen. Wir untersuchten, ob die Erscheinungen, welche uns zur 
Annahme des Tonus führten, bei Reizung peripherischer 
Nerven, sowohl Gefühls- als Reflexnerven, an Intensität zu- 
nehmen, ob die bleibende Beugung der Gelenke an der 
Froschpfote, deren Gefühlsnerv gereizt wird, intensiver ist; 
darauf, ob bei Durchschneidung der hinteren Rückenmarks- 
wurzeln der Tonus aufgehoben oder geblieben ist. In er- 
sterem Falle muss er für peripherisch, in letzterem für cen- 
tral gehalten werden. 

Aus einer Anzahl Versuche ist das Resultat erhalten wor- 
den, dass Reizung peripherischer Nerven eine Vermehrung 
der Contraction zu Stande bringt, welche man an der Pfote 
eines wie oben aufgehängten Frosches zu beobachten Gele- 
genheit hat, solange ihre Muskeln noch mit dem Rücken- 
- marke in Verbindung stehen. 

Kneift man die Zehe einer solchen Pfote, so wird man 
sehen, dass die Gelenke stärker gebogen werden; diese 


350 


Biegung nimmt darauf wiederum etwas ab, und bleibt dann 
während einiger Zeit (ungefähr einer halben Stunde) in 
höherem Grade fortbestehen als vor dem Kneifen. Dann 
nimmt sie wiederum ab, sodass die Pfote ihre anfängliche 
Stellung wieder erhält. Wenn man die Zehe etwas stark 
kneift, so wird die Pfote ganz in die Höhe 'sezogen nnd alle 
Gelenke werden so sehr gebogen und gegen den Leib hin 
geführt, dass die Lage der Pfote ganz der eines sitzenden 
Frosches ähnelt, dessen Pfote an den Bauch angelegt ist. 
Dieser Beugung folgt eine Streckung, wobei die Pfote ganz 
gerade ist, und dann geschieht wiederum eine Beugung 
wie die, welche vorhergegangen, oder eine etwas schwä- 
chere. Die Beugung wird wieder durch Streckung ab- 
gewechselt, und so kann dies sich einige Male wiederho- 
len, das Endresultat aber ist stets dasselbe, dass nämlich 
das Thier nie in einem gestreckten Zustande verharrt, son- 
dern dass stets eine Beugung übrig. bleibt, stärker als die 
ursprüngliche, und dass sie so während einiger Zeit besteht, 
um schliesslich in die normale Tonus-Beugung, welche wir 
oben kennen gelernt haben, überzugehen. 

Dasselbe Resultat erhält man, wenn man die noch mit 
dem Rückenmarke in Verbindung stehende Pfote in Medien 
von verschiedener Temperatur taucht. Wenn man z. B. die 
Froschpfote mit unversehrtem Nerven abwechselnd in Wasser 
von 8°C. und von 15°C. bringt, so wird man, sobald dies 
einige Male widerholt wurde, schon eine grössere Contraction 
der Muskeln wahrnehmen, die eine grössere Beugung be- 
dinst. Hat das erste Wasser, in welches man die Pfote 
steckt 8°C, das zweite dagegen 25—30°, so werden alle 
Gelenke stark gebeugt, und man bekommt alle soeben er- 
wähnten Erscheinungen des starken Kneifens der Zehe. Ein 
sehr intensiver anhaltender Reiz bewirkt eine bleibende Zu- 
sammenziehung, was wir in mehreren Versuchen gesehen 
haben. 

Wenn man irgend eine Stelle der Pfote, sei es am Ober- 
schenkel, Vorderschenkel oder Fuss, mit Schwefelsäure be- 
tupft, so entstehen unregelmässige Bewegungen, welche das 


351 


Abwaschen der Schwefelsäure scheinbar bezwecken. Der Reiz 
der Schwefelsäure wird aber bei diesen Bewegungen auch 
auf andere Theile der Extremität übertragen werden, und es 
werden sich wiederum verschiedene Bewegungen wahrnehmen 
lassen. Schliesslich wird ein bleibender Contraetionszustand 
entstehen, der oft vier und zwanzig Stunden anhält. 

Gegen diesen Versuch könnte man einwenden, dass die wahr- 
genommene anhaltende Zusammenziehung von Zusammen- 
schrumpfung der Muskeln herrühre; wir haben darum auch 
einige Versuche angestellt, in denen die peripherischen Ner- 
ven mit Essigsäure gereizt wurden. Wir wollen einen dieser 
Versuche mittheilen, aus dem auch hervorgeht, dass man die 
hinteren Wurzeln des Rückenmarkes durchschneiden kann, 
ohne das Rückenmark zu verletzen , worauf wir weiter unten 
noch zurückkommen werden. 

Ein Frosch wurde auf die beschriebene Weise aufgehängt, 
nachdem auf seiner linken Seite die hinteren Wurzeln, wel- 
che sich zum N. ischiadieus begeben, durchgeschnitten wor- 
den waren. Die linke Pfote hing darauf ganz schlaff, die 
rechte dagegen war mehr in den Gelenken gebogen, und 
verrieth dadurch den von uns als Tonus anerkannten Grad 
der Zusammenziehung. Nachdem auf die Seite des Bauches 
etwas verdünnte Essigsäure getröpfelt war, welche das Thier 
mit der rechten Pfote abzuwischen suchte, und auch die 
linke Pfote gebogen und gestreckt wurde, tröpfelten wir 
auch auf die Plantarseite der rechten Pfote einige Tropfen 
Essigsäure. Nun wurde die ganze linke Pfote in die Höhe 
gezogen und in allen Gelenken so sehr gebogen, dass Ober- 
schenkel, Unterschenkel und Fuss neben einander lagen, wie 
man es oft am sitzenden Froschen sieht. Die Pfote blieb wäh- 
rend fünf Minuten in dieser Lage, worauf sich der Fuss etwas 
vom Unterschenkel entfernte, und so blieben diese Theile 
noch während einer halben Stunde unverändert. Nach zwei 
Stunden war nur der Fuss etwas mehr vom Unterschenkel 
entfernt, im Uebrigen die Lage dieselbe. Nach zwei und 
vierzig Stunden war das Hüftgelenk noch in demselben ge- 
bogenen Zustande; Unterschenkel und Fuss hatten sich etwas 


352 


gesenkt. Nach diesem langen Zeitraume war daher noch 
Muskelzusammenziehung vorhanden. Aus diesem Versuche 
folgt: 

1°. dass bei anhaltender Reizung der Gefühlsnerven an- 
haltende Contraction besteht; 

2°. dass bei Reizung der Gefühlsnerven auf der einen Seite 
die Bewegungsnerven der anderen Seite in Wirkung gebracht 
werden können. 

Wenn wir nun die Resultate der zuletzt mitgetbeilten 
Versuche zusammenfassen, so geht aus denselben hervor, 
dass, wenn Gefühlsnerven lange oder kurze Zeit gereizt wer- 
den, die schon vorhandene anhaltende Contraction sehr zu- 
nimmt. Wenn man aber berücksichtigt, dass schon beim 
gewöhnlichen Aufhängen des Frosches die Gefühlsnerven ver- 
schiedenen Einflüssen ausgesetzt sind, so wird es wahr- 
scheinlich, dass die anhaltende Contraetion, der Muskelto- 
nus seine Ursache in dem Einflusse der peripherischen 
Nerven auf die Wirkung der grauen Substanz des Rücken- 
markes hat. 

Um hierüber zu entscheiden, werden wir untersuchen müs- 
sen, ob die Erscheinungen, welche die Existenz eines Tonus 
der willkührlichen Muskeln beweisen, noch fortbestehen, 
wenn die Wirkung der Gefühlsnerven unmöglich gemacht 
ist, dadurch nämlich dass man ihre Verbindung mit dem 
Rückenmarke aufhebt. Wenn dies der Fall ist, so müssen 
die Muskeln im mässigen Contractionszustande verharren, 
wenn die hinteren Rückenmarkswurzeln durchgeschnitten sind. 

Es ist allgemein bekannt, dass die von den hinteren Rü- 
ckenmarkswurzeln ausgehende Reflexbewegung unmöglich ge- 
macht wird, wenn diese durchgeschnitten sind. 

An einer Anzahl von Fröschen haben wir die hinteren 
Rückenmarkswurzeln durchgeschnitten, an keinem derselben 
aber das Experiment fortgesetzt, wenn er nicht zuvor fol- 
genden Bedingungen entsprach: 

1°.) wenn bei gestreckter Pfote das Reetum gereizt oder 
die Zehe der Pfote, deren hintere Rückenmarkswurzel durch- 
schnitten war, stark gekniffen wurde, so mussten beide Pfoten 


353 


nach dem Leibe hin in die Höhe gezogen werden, und 
der Frosch Springbewegungen machen; 

2°.) wenn beide Pfoten gestreekt dalagen, so musste die 
gefühllose, wenn sie gekniffen wurde, unbeweglich bleiben, 
die andere aber sich schon bei leisem Kneifen zurück- 
ziehen; 

3°.) wenn man die Zehen der Vorderpfoten kniff, so muss- 
ten die gestreekten Pfoten an beiden Seiten aufgezogen und 
an den Körper angelegt werden. Darin lag der Beweis, dass 
die motorischen Wurzeln auf beiden Seiten ungestört ihre Fun- 
ction verrichteten. 

Wenn nun an einem Frosche, dessen hintere Rückenmarks- 
wurzeln, welche sich zum N. ischiadieus begeben, durchge- 
schnitten sind, das Rückenmark in der Nähe des verlängerten 
Markes getrennt wird, und er darauf an dem durch die Nase 
gezogenen Faden aufgehängt wird, so hängt die Pfote, de- 
ren hintere Wurzeln durchschnitten sind, ganz schlaff, wäh- 
rend sich die andere in contrahirtem Zustande befindet. Alle 
Gelenke der ersten Pfote sind schlaff, die der zweiten dage- 
gen befinden sich in einem gebogenen Zustande, kurz im 
Zustande, der dem Tonus angehört. Wenn man jetzt den 
N. ischiadieus auf der Seite der unverletzten Rückenmarks- 
wurzeln trennt, so wird die Lage beider Pfoten gleich werden, 
sie werden beide schlaff hangen, und die Gelenke beider 
werden durchaus nicht gebogen sein. Bei einem unserer Ver- 
suche war die Pfote auf der Seite der durchgeschnittenen 
Rückenmarkswurzeln noch weniger gebogen als die auf der 
Seite, wo der ganze Nerv getrennt war, was mitunter 
Folge war einer vorhergegangenen Streckung, die ohne be- 
kannte Ursache eintrat, — vielleicht dadurch, dass das 
Rückenmark etwas verletzt war. In den meisten Fällen 
aber hingen die Pfoten an beiden Seiten in demselben schlaffen 
Zustande, und waren die Gelenke etwas gebogen. 

Am Ende einer jeden Beobachtung wurde das Rückenmark 
galvanisch gereizt; alsdann zogen sich die Muskeln der Pfote, 
welche mittelst der vorderen Wurzel mit dem Rückenmarke 
in Verbindung stand, zusammen, während die auf der anderen 


354 


Seite, deren Nerv ganz durchgeschnitten war, keine Contrac- 
tion mehr zeigten. 

Auf Tafel III, Fig. 7, haben wir einen Frosch abgebildet, 
an dem die hinteren Wurzeln des N. ischiadieus auf der lin- 
ken Seite durchgeschnitten sind. Die linke Pfote A hängt 
ganz schlaff, während die rechte mit unverletzten Nerven 
mehr gebogen ist. Das Kniegelenk und auch das Fussgelenk 
ist auf dieser Seite mehr gebogen, zum Beweise, dass die 
Muskeln noch contrahirt sind, während sie auf der anderen 
Seite als relaxirt betrachtet werden müssen. Die Kniehöhle 
und Ferse sind auf der unverletzten Seite höher gelegen, 
auch ist die Zehe etwas kürzer. 

Auf Tafel III, Fig. 8, ist ein anderer Frosch abgebildet, 
dessen hintere Rückenmarkswurzeln ebenfalls auf der linken 
Seite durchgeschnitten sind; daneben wurde aber auch der 
N. ischiadieus auf der rechten Seite getrennt. Die linke Pfote 
A hat ungefähr dieselbe Lage als in Fig. 7, während die 
rechte Pfote 3 viel weniger gebogene Gelenke hat als in 
Fig. 7; sie hängt aber nicht so schlaff als die linke Pfote, 
was wahrscheinlich daran zuzuschreiben ist, dass das Thier 
die Pfote kurz nach der Durchschneidung streckte, das Rü- 
ckenmark war aber höchst wahrscheinlich unversehrt, da das 
Thier noch starke Bewegungen mit der Pfote machte, 
wenn die Zehen der linken Pfote gekniffen wurden. Fig. 9 
auf derselben Tafel ist einem Frosche entlehnt, der wie Fig. 7, 
und Fig. 10 einem anderen, der wie Fig. 8 behandelt wor- 
den ist. Hierzu ist weiter nichts zu bemerken als dass die 
rechte Pfote B in Fig. 10 schlaffer hängt als in Fig. 8, und 
mit der linken Pfote A der Fig. 10 übereinkommt, wie dies 
gewöhnlich stattfindet, wenn auf der einen Seite die hinte- 
ren Rückenmarkswurzeln, auf der anderen der N. ischiadi- 
cus durchgeschnitten wurden. 

Wir haben diese Versuche wohl zwanzig Male wiederholt. 
Die Resultate entsprachen stets den schon mitgetheilten, so- 
dass wir darum schliessen zu können glauben, dass die Er- 
scheinungen, welche auf einen Tonus der willkührlichen 
Muskeln hindeuten, bedingt sind durch einen dem Rücken- 


355 


marke von den peripherischen Nerven aus mitgetheilten Reiz, 
der sich im Rückenmarke auf die Centra der motorischen 
Nerven fortpflanzt. Es existirt mithin ein Reflex-Tonus, d.h. 
ein mässiger Contractionszustand der Muskeln, der unab- 
hängig ist von unserem Willen, und von einer Rücken- 
marksfunction bedingt ist, welche im Rückenmarke durch 
einen fortwährenden Reizzustand der peripherischen Nerven 
aufgeweckt wird. 

Wenn die Beugung der Gelenke an der Pfote eines auf- 
gehängten Frosches nur unter dem Einflusse der Gefühlsnerven 
eintritt, wie aus obigen Versuchen hervorgeht, so werden 
auch die übrigen Erscheinungen, welche zum Beweise des 
Tonus dienen, nach der Durchschneidung der hinteren Rü- 
ckenmarkswurzeln verschwinden ‘müssen. Als solche haben 
wir früher die Lageveränderung des Fusses nach Durch- 
schneidung der Insertion des Gastrocnemius an der Ferse 
angeführt, je nachdem die Verbindung dieses Muskels mit 
dem Rückenmarke geblieben oder aufgehoben ist. In erste- 
rem Fall ist der Fuss viel mehr gebogen und nach aussen 
gerichtet als in letzterem. 

Dieser Unterschied verschwindet nun wirklich an einem 
Frosche, dessen hintere Wurzeln auf der einen, dessen Ner- 
ven aber auf der anderen Seite durchgeschnitten sind. 


Alle obenerwähnten Resultate sind an kaltblütigen Thieren 
erhalten, bei welchen die Nervenfunction sehr lange wirk- 
sam bleibt. Hiermit könnte man behaupten, wäre der Beweis 
für den Tonus der warmblütigen Thiere noch nicht geliefert. 
Darum haben wir auch einige Versuche an Warmblütern an- 
gestellt, und zwar mit denselben Resultaten, welche uns 
die Kaltblüter lieferten. An einem Kaninchen wurde der 
rechte N. ischiadieus durchgeschnitten, darauf das verlän- 
gerte Mark getrennt, und dann das Thier an den Ohren 
aufgehängt. Die Pfote mit unverletztem Nerven war nach 
aussen gedreht, sodass ein grosser Theil der inneren Seite 


356 


des Fusses und Beines sichtbar war. Dies deutete auf eine 
grössere Muskelthätigkeit als auf der anderen Seite, deren 
Nerv durchgeschnitten war. 

Wir haben auch an verschiedenen Vögeln experimentirt, 
namentlich an Tauben und Zeisigen. Wenn man diesen 
Thieren im lebenden Zustande die Federn der Flügel aus- 
rupft, sodass die Form der Gelenke gut wahrgenommen 
werden kann, und dann die Nerven, welche die Flügelmus- 
keln auf der einen Seite innerviren, durchschneidet, auf der 
anderen Seite eine ähnliche Hautwunde anbringt, das ver- 
längerte Mark trennt, und das Thier endlich an seinen Pfoten 
aufhängt, so wird der Flügel auf der unverletzten Seite (d.h. 
ohne Nervendurchschnitt) an den Leib angezogen werden , und 
die verschiedenen Knochen werden aneinanderliegen, oder 
stark in den Gelenken gebogen sein, sodass letztere mit ein- 
ander scharfe Winkel machen. Der andere Flügel ist dagegen 
ganz von dem Körper entfernt. Er bildet einen geraden Win- 
kel mit demselben, ebenso wie die Gelenke unter einander. 
Der Unterschied in der Stellung der beiden Flügel ist somit 
sehr bedeutend. Die an den Vögeln sowohl als an den 
Kaninchen beobachteten und mitgetheilten Erscheinungen ver- 
schwinden erst, wenn die Fäulniss anfängt, bleiben also wäh- 
rend der Todesstarre fortbestehen. 

Man kann den Unterschied der Lage der Flügel bei den 
Vögeln nöthigenfalls mit der durch das Rupfen bewirkten 
Reizung der Gefühlsnerven in Verbindung bringen, und ihn 
danach als Reflexerscheinung auffassen. Selbst unter dieser 
Voraussetzung lehrt der Versuch dennoch, dass der contra- 
hirte Zustand der Muskeln nach einem solchen Reize sehr 
lange anhält. 


Als Resultat unserer Untersuchungen ergiebt sich nun Fol- 
gendes: 

1°. Es existirt ein Tonus der willkührlichen Muskeln, d.h. 
die willkührlichen Muskeln verkehren unabhängig von dem 
Gehirne in einem fort währenden Contractionszustande in Folge 


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einer unabgebrochenen von den Nervencentren ausgehenden 
Wirkung, welche von diesen mittelst der Nerven auf die 
Muskeln übertragen wird. 

2°. Die Existenz des Tonus hängt auf das innigste mit 
dem unversehrten Zustande der Gefühlsnerven zusammen. 
Solange diese ihre Einwirkung auf das Rückenmark üben, 
wird eine Wirksamkeit in den Bewegungscentren (grauer Sub- 
stanz) unterhalten, welche die bleibende Contraction hervor- 
bringt, die wir Tonus nennen. Der Tonus der wilikühr- 
lichen Muskeln ist mithin ein Reflex-Tonus. Da wo die 
Gefühlsnerven durchgeschnitten sind, und die Reflexwirkung 
aufgehoben ist, ist auch der Tonus verschwunden. 


Ueber das Auffinden von Phosphor bei Vergiftung 


von 


Dr. E. MUÜLDER. 


[Be beinahe gelungene Vergiftung mit Phosphor, welche 
nur durch zufällige Umstände verhindert worden ist, war 
Veranlassung einer Untersuchung zur Auffindung von Phos- 
phor, welche ich mit Herrn Apotheker Kipp in Delft aus- 
zuführen hatte. Diese Untersuchung habe ich etwas weiter 
ausgedehnt und dabei die zur Auffindung des Phosphors an- 
gepriesenen Methoden etwas näher studirt. 

Es giebt wohl keine Substanz, Arsen ausgenommen, deren 
kleine Mengen bei Vergiftung mit grösserer Genauigkeit ange- 
wiesen werden können, als der Phosphor. Lipowitz!) und 
Mitscherlich ?) haben die Untersuchungsmethode auf die 
Höhe gebracht, welche sie jetzt erreicht hat, und, wie fast 
immer, finden wir auch hier Genauigkeit der Untersuchung 
von Einfachheit begleitet. 

Wir wollen diese beiden Methoden erst jede für sich be- 
trachten, sie dann mit einander vergleichen und endlich ver- 
suchen, sie zu vereinigen. 

Es ist nicht unsere Absicht, Alles, was über die Auf- 


(1 Annal. von Pogg., Bd. 90, 1853, S. 600. 
2) J. f. prakt. Chem., Bd. 66, S. 238. Jahresbericht von Liebig 
und Kopp für 1855, S. 779. 


359 


‚findung des Phorphors bei Vergiftung geschrieben ist, hier 
‚aufzunehmen. Wir behandeln nur den chemischen Theil und 
‚zwar hauptsächlich die von Lipowitz und Mitscherlich 
‚angegebenen Methoden. 

Die Lipowitz'sche Methode beruht, wie bekannt, darauf, 
dass Stückchen Schwefel mit der zu untersuchenden Substanz 
und Wasser digerirt, Phosphor aufnehmen, wenn er vorhan- 
den, und dann im Dunkeln leuchten. 

Mitscherlich destillirt die zu untersuchende Substanz 
mit Wasser, condensirt das Destillat durch eine abgekühlte 
Röhre; ist nun Phosphor vorhanden, so sieht man an der 
Stelle, wo sich das gasförmige Gemisch anfängt abzukühlen, 
leuchtende Ringe. 


Methode von Lipowitz. | 


Die Grundidee dieser Methode ist sehr einfach. Phosphor 
verbindet sich in geschmolzenem wie ungeschmolzenem Zu- 
stande sehr leicht mit Schwefel und diese Verbindung phos- 
phoreseirt bei der gewöhnlichen Temperatur oder nach Ein- 
wirkung von Wärme. Da aber Schwefel die Eigenschaft 
besitzt seibst bei einer höheren Temperatur zu phosphoreseiren , 
so darf man den Phosphor haltenden Schwefel nicht über 
100° C. erwärmen. 

Wenn man eine Phosphor enthaltende Masse mit Schwefel 
kocht, so nimmt der Schwefel den Phosphor auf, falls letzterer 
frei ist, oder nicht so innig mit einer anderen Substanz ver- 
bunden ist, dass er nicht frei werden kann. Der Phosphor 
muss daher frei sein oder frei werden können, sonst kann 
er sich nicht mit dem Schwefel verbinden !). 

So einfach das Prineip der Methode von Lipowitz auch 


1) Wir werden später Gelegenheit haben, darzuthun, dass der Phosphor 
unter gewissen Umstgnden so innig mit andern Substanzen ver- 
bunden sein kann, dass der Versuch nicht oder nur theilweise ge- 
lingen kann. 


360 


sein möge, so fordert sie doch, wie übrigens jede Methode, 
einige Cautelen bei der Ausführung. Je niedriger die Tem- 
peratur gehalten wird, bei der sich Phosphor mit Schwefel 
verbindet, um so besser ist es. Das Kochen der Phosphor 
enthaltenden Masse, wie Lipowitz es empfiehlt, scheint 
daher weniger passend, da Phosphor dabei mechanisch mit 
dem Wasserdampf weggeführt wird und mithin für den 
Versuch verloren geht; überdiess befördert das Kochen die 
Oxydation des Phosphors auf Kosten des Sauerstoffs der 
Atmosphäre. 

Lipowitz fängt nun zwar das Destillat auf, um darauf 
reagiren zu können, bei Substanzen aber, die bei Vergiftung 
auf Phosphor untersucht werden, kommt es darauf an, den 
Phosphor soviel wie möglich abzusondern, und nicht auf 
phosphorige Säure oder Phosphorsäure zu reagiren. Darum 
darf man allein auf den abgeschiedenen Phosphor reagiren und 
nicht z. B. auf phosphorige Säure oder Phosphorsäure, weil 
man nicht weiss, ob diese Säuren als solche oder als Phos- 
phor, der später in diese Säuren umgesetzt ist, dargereicht 
wurde. 

Nun ist die Frage, ob es nöthig ist die Phosphor enthal- 
tende Masse zu kochen ? 

Berzelius, dem die Chemie die schöne Reihe von Phos- 
phor-Schwefelverbindungen verdankt, und demzufolge auch 
die ausgezeichnete Methode von Lipowitz, hat gelehrt, dass 
Phosphor und Schwefel sich ungefähr bei 60° C. verbinden 
können. Phosphor und Schwefel verbinden sich bei einer dem 
Schmelzpunkte des Phosphors nahe gelegenen Temperatur und 
darunter. 

Wenn Stückehen Schwefel mit einigen Zündholzköpfchen 
und Wasser in eine Flasche gethan wurden, so nahm der 
Schwefel bei der gewöhnlichen Temperatur Phosphor auf, 
wenn die Köpfchen fein vertheilt waren. Daraus, dass der 
Schwefel nur phosphoreseirte, wenn er erwärmt wurde, ging 
hervor, dass der Phosphor nich lose mit dem Schwefel zu- 
sammenhing, sondern wirklich damit verbunden war. 

Aus diesem Versuche geht daher hervor, dass der Schwefel 


361 


sich schon bei der gewöhnlichen Temperatur mit dem Phosphor 
verbinden kann !). 

Die Reaction auf Phosphor mit Schwefel bleibt nicht nur 
ebenso empfindlich, wenn man die Phosphor enthaltende Masse 
mit Schwefel bei 45—50° C. digerirt, anstatt sie zu kochen, 
sondern wird hierdurch sogar empfindlicher. Sie wird em- 
pfindlicher: 1°. weil weniger Phosphor- und Schwefelphosphor- 
Dampf mit dem Wasserdampfe mechanisch weggeführt wird; 
2°. weil weniger Phosphor durch Oxydation verloren Seht 
3. weil die gebildete Schwefelphosphor-Verbindung weniger 
leicht unter dem Einflusse von Wasser zersetzt wird. 

Man wird ganz richtig behaupten, dass durch das Kochen 
die Berührungspunkte der Masse, welche Phosphor vertheilt 
enthält, mit dem Schwefel vermehrt werden. Dies muss 
denn auch, wie wir später darthun werden, der Zweck des 
Kochens sein. Da aber das Kochen nicht durchaus nothwen- 
dig ist, so unterlässt man es; eine während einiger Zeit fort- 
gesetzte Digestion verdient den Vorzug. 

Lipowitz hat dargethan, dass die Reaction nach seiner 
Vorschrift äusserst empfindlich ist. Sie wird noch viel em- 
pfindlicher, wenn man die erwähnten Ursachen von Phosphor- 
Verlust umgeht. 

Man kann nun die Masse mit einem gläsernen Stabe bei 
40—50° C. in fortwährender Bewegung halten, anstatt sie 
zu kochen; noch besser ist es einen starken Kohlensäurestrom 
durch die Masse zu treiben, welche sich in einem gläsernen 
Kolben mit langem Halse befindet. So geht nahe zu kein 
Phosphor durch Verdampfung verloren; von Oxydation des 
Phosphors in Kohlensäure kann keine Rede sein, und der 


1) Die Verhältnisse waren hier insofern günstig als nicht eine mehr oder 
weniger breiige Masse, wie öfter bei der Untersuchung von Speisen, 
sondern nur Wasser vorhanden war. Je mehr Ursachen diese Schwe- 
fel- und Phorphortheile von einander entfernt halten, um so träger 
werden jene diese aufnehmen, da dies nur bei directer Berührung 
geschieht; eine Berührung, welche sogar längere Zeit währen muss, 
wenn die Zündholzköpfchen schwefelhaltend sind. 

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362 


fein vertheilte Phosphor kann sich ungehindert mit dem 
Schwefel verbinden. Wenn man so verfährt, so concentrirt 
man den Phosphor in dem Schwefel. 

Ich muss hier daran erinnern, dass Zündholzköpfehen,, 
welche Schwefel enthalten, nie all ihren Phosphor abgeben an 
die Schwefelstückchen, mit welchen die Köpfehen — z. B. 
in Speisebrei vertheilt — digerirt werden. Der Phosphor 
der Zündholzköpfehen wird sich unter den Schwefel der 
Köpfchen und die hinzugefügten Schwefelstückehen verthei- 
len, und diese letzteren werden auch unter den günstigsten 
Verhältnissen nur einen Theil des vorhandenen Phosphors 
aufnehmen können. 

Wenn die Flüssigkeit nicht auf dem Schmelzpunkte des 
Phosphors erwärmt gehalten, sondern gekocht wird, so zer- 
legt man die Verbindung, deren Darstellung man beabsich- 
tigt, nämlich den Schwefelphosphor. Dies befremdet, weil 
Lipowitz bei kleinen Phosphormengen eine deutliche Reac- 
tion erhalten hat, und doch ist das Factum wahr, dass 
Phosphor-haltender Schwefel durch kochendes Wasser zersetzt 
wird. Diese Zersetzung ist indessen nicht eine plötzliche 
Trennung, sondern ein langsames Freilassen von Phosphor. 

Wir müssen nun erwägen, welche Verbindungen von Phos- 
phor und Schwefel bei der Reaction von Lipowitz gebildet 
werden können. Berzelius erhielt beim Zusammenschmel- 
zen von Phosphor und Schwefel auf der Schmelztemperatur 
des Phosphors folgende Verbindungen : PS, PS, PS). 

Je weniger Phosphor diese Verbindungen enthalten, um 
so schwieriger werden sie durch Wasser zerlegt. 

Dass die Verbindungen von Phosphor mit Schwefel nach 
der Methode von Lipowitz keine beständigen sind, geht 
daraus hervor, dass sie alle bei der gewöhnlichen Tempera- 
tur oder bei Erwärmung phosphoreseiren; auf dieser Eigen- 
schaft beruht geradezu die Methode. Die durch Zusam- 
menschmelzen von Phosphor und Schwefel unter Wasser 


1) Dupre nannte letztere Verbindung Ph... 


363 


erhaltenen Verbindungen sind nämlich leiehter schmelzbar 
und brennbar als der Phosphor an und für sich ?). 

Nehmen wir an, dass wenig Phosphor vorhanden ist und 
die Phosphor enthaltende Masse mit relativ vielem Schwefel 
behandelt wird, welche Verbindung von Phosphor und Schwe- 
fel wird dann gebildet? Wenn der Phosphor enthaltende 
Schwefel nur bei Erwärmung phosphoreseirt, so wird viel- 
leicht nur PS!? gebildet; phosphoreseirt dagegen dieser Schwe- 
fel schon bei der gewöhnlichen Temperatur, so entsteht 
wahrscheinlich P?2S und PS oder nur PS. 

P°S und PS sind beide Flüssigkeiten, und die Entstehung 
dieser Verbindungen, wenn Schweielstückchen im Ueberflusse 
mit äusserst geringen Mengen Phosphor digerirt werden, 
scheint befremdend, denn man muss hier annehmen, dass 
diese Flüssigkeiten alsdann dem Schwefel ankleben, während 
dieser doch, auch wenn relativ viel Phosphor vorhanden 
ist, augenscheinlich wenig verändert sich vorthut. 

Berzelius fand, dass unter den erwähnten Umständen 
bei einem Ueberfluss von Schwefel PS und PS!? gebildet 
werden; er fand weiter, dass PS den Kristallen von PS!? 
stark anklebt; überdiess fand er, dass PS bei der gewöhn- 
lichen Temperatur der Einwirkung der Atmosphäre ausgesetzt 
raucht, mit anderen Worten phosphoreseirt, ebenso wie P°S. 

Wir kommen daher zu dem Schlusse, dass das Phospho- 
reseiren von Schwefel, der mit Phosphor verbunden ist, mit- 
unter von P*S, meistens aber von PS und PS!? herrührt, 
welche letztere Verbindung zwar schwieriger bei niedrigen 
Temperaturen, bei Erwärmung aber leicht zersetzt wird und 
dann phosphoreseirt. 

Ob der Phosphor sich nur mit den äusseren Lagen der 
Schwefelstückchen verbindet oder sie mehr oder weniger 
penetrirt, hängt von dem Verhältnisse der Phosphor- und 
Schwefel-Mengen ab. 

Für unseren Zweck ist es am wichtigsten über die Um- 
stände unter denen Phosphor- und Schwefel-Verbindungen 


l) Siehe Graham-Otto’s Lehrbuch der Chemie. 


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364 


gebildet und zerlegt werden, belehrt zu werden und zwar 
für den Fall, dass die Quantität Schwefel überwiegend ist. 
Wir fanden nun, dass, — wenn eine kleine Menge Phosphor 
zu Schwefel gefügt wird, der sich in warmem Wasser be- 
findet, — dass dann Verbindungen entstehen, welche beim 
Kochen langsam zerlegt werden. Bleipapier in dem Wasser- 
dampfe gehalten wurde schwarz gefärbt. Als der Schwefel 
auch bei Erwärmung nicht mehr phosphorescirte, wurde, zum 
Beweise dass die Verbindung zerlegt war, auch Bleipapier 
nicht mehr schwarz gefärbt !). | 

Lipowitz’s Reaction ist so empfindlich, dass es keinem 
Zweifel unterliegt, dass man sehr kleine Mengen Phosphor 
durch dieselbe wird entdecken können. Die Zerlegung des 
Phosphor enthaltenden Schwefels geschieht nämlich langsam 
und um so langsamer, je weniger Phosphor mit dem Schwefel 
verbunden ist. 

Jedenfalls geht aus dem Angeführten hervor, dass das Kochen 
der Phosphor enthaltenden Masse mit Schwefel zum Behufe 
der Verbindung des Phosphors mit dem Schwefel nicht zu 
empfehlen ist, sondern dass die Reaction sehr an Empfind- 
lichkeit gewinnt, wenn man die Methode nach unserer Angabe 
modifieirtt. Wenn auch der Phosphor weniger geschwinde 
aufgenommen werden wird, und der Speisebrei oder andere 
Gemische, in denen der Phosphor aufgesucht werden muss, 
etwas länger mit dem Schwefel digerirt werden muss, so 
verliert man doch so wenig möglich von dem Gifte und kann 
es mitunter sogar quantitativ bestimmen, was bei einer ge- 
richtlichen Untersuchung mit eine Hauptsache ist. 

Ehe wir weiter fortfahren, wollen wir einen Augenblick 
beim Selen stille stehen, dessen Verhalten zu dem Phosphor 
dem des Schwefels ähnlich ist. 


Der Entdecker des Selens fand schon, dass Selen sich leicht 


1) Wenn man mit Phosphor gesättigten Wasserdampf über Schwefel leitet, 
so wird kein Phosphor von dem Schwefel aufgenommen. 


365 


mit Phosphor verbindet. Wir haben das Selen in seinem 
Verhalten zum Phosphor nach der Methode von Lipowitz 
untersucht. Unsere Resultate können wir kurz fassen. Selen 
verhält sich zu Phosphor ebenso wie Schwefel, mit dem Un- 
terschiede aber, dass die Verbindungen von Selen mit Phos- 
phor weniger beständig sind, daher weniger leicht gebildet 
und leichter zerlegt werden !). Schwefel verdient daher den 
Vorzug als Reagens auf Phosphor. Das Selen ist aber in 
einer anderen Hinsicht vorzuziehen, da es an und für sich 
nicht phosphoreseirt auch nicht bei 200—250° C., während 
der Schwefel dies bei hohen Temperaturen wohl thut. Das 
Phosphoresciren des Schwefels liefert aber insofern keine 
Schwierigkeit, als man die Temperatur, bei der er anfängt 
dies zu thun sehr gut vermeiden kann, da der Phosphor- 
Schwefel bei einer weit niedrigeren Temperatur phosphores- 
eirt, ja schon bei der gewöhnlichen Temperatur, wenn hin- 
reichend viel Phosphor vorhanden ist. 


Methode von Mitscherlich. 


Diese Methode beruht darauf, dass Phosphor mechanisch 
durch Wasserdampf mit weggeführt wird. Wenn man mithin 
eine Phosphor enthaltende Masse in einem Kolben kocht, und 
den durch eine Röhre streichenden Wasserdampf durch Be- 
kühlung condensirt, so fällt der Phosphor da nieder, wo 
der Dampf anfängt abgekühlt zu werden und giebt sich da 
durch seine Eigenschaft zu phosphoreseiren zu erkennen. 
Wenn man nun den Dampf durch eine zweckmässig einge- 


1) Beim Schmelzpunkt des Phosphors verbindet sich Selen mit ıhm. 
Phosphor-haltendes Selen phosphoreseirt bei der gewöhnlichen Tem- 
peratur oder bei gelinder Erwärmung; auf dem Wasserbade hört 
das Phosphoresciren bald auf. Beim Kochen mit Wasser wird es 
nach und nach zerlegt (Berzelius); verdünnte Schwefelsäure beför- 
dert diese Zersetzung sehr. Beim Vorhandensein einer hinreichenden 
Menge Phosphor erhält das Selen eine dunkelrothe Farbe. 


366 


richtete Abkühlungsröhre streichen lässt, wie es Mitscherlich 
thut, so unterscheidet man den Phosphor im Dunkeln in der 
Form von leuchtenden Ringen, welche eine fortwährend auf- 
und abschreitende Bewegung machen, jedesmal ihre Form 
wechseln und dann durch andere Ringe abgewechselt werden }). 

Die Methode von Mitscherlich ist äusserst empfindlich , 
und der Apparat sehr einfach eingerichtet ?). 

Um die Ringe recht deutlich und reinlich zu erhalten, muss 
der Wasserdampf nicht zu wenig aber auch nicht zu viel 
abgekühlt werden, in welchen beiden Fällen die Ringe sich 
mehr vertheilen. Das Licht ist alsdann über eine grössere 
Fläche ausgebreitet und daher weniger stark leuchtend. Wenn 
man dagegen die Mitte einhält, so eoncentrirt sich das Licht 
in einem schmalen Ringe, wobei die Reaction nothwendiger- 
weise an Empfindlichkeit gewinnt. 

Die Methode von Mitscherlich theilt mit der von Lipo- 
witz die grosse Empfindlichkeit, hat aber den Vorzug, dass 
der Phosphor, der mechanisch mit dem Wasser mit wegge- 
führt wird, wenn er in nicht allzu geringer Menge vorhanden 
war, zum Theile im Destillat als solcher zurückgefunden wer- 
den kann. (Mitscherlich). 


Modification in dem Apparat von Mitscherlich. 


Bei der Methode von Mitscherlich ist das Ausschliessen 
von Licht Hauptsache, da die Reaction auf dem Wahrnehmen 
von Licht beruht. Hat man nun eine kleine Menge Phosphor, 


1) Wenn man Wasser mit etwas Phosphor in einen Kolben giesst, und 
eine gläserne (Berzelius) Röhre, die am Ende einigermaassen aus- 
gezogen ist, an den Kolben fügt, den Kolben darauf auf einem 
Sandbade erwärmt, so dass das Wasser kocht, so sieht man in der 
Atmosphäre am Ende der Röhre eine schöne Flamme von leuchten- 
dem Phosphor. Hier kühlt die Luft den Wasserdampf und damit 
auch den Phosphordampf ab. 

2) Journal f. prakt. Chem., Bd. 66; Anleitung zur Ausmittelung der 
Gifte von Jul. Otto, 1857, S. 107. 


367 


so sind die Ringe auch dann noch sehr deutlich, die Licht- 
stärke der Ringe aber ist unter übrigens gleichen Umständen 
abhängig von der Phosphormenge, welche in der zu unter- 
suchenden Masse enthalten ist. Wenn daher nur ein Minimum 
von Phosphor vorhanden ist, so sind die Ringe äusserst 
schwach. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn störende 
Einflüsse einwirken. Jedenfalls ist es erwünscht, dass das 
Lieht soviel wie möglich ausgeschlossen werde, damit man 
die Ringe so deutlich wie möglich schen könne und so die 
Empfindlichkeit der Reaction zunehme. 

Wenn man den Versuch im Finstern anstellt, so hindert 
die Flamme der Alkohollampe, womit man die Phosphor ent- 
haltende Masse kocht. Wenn man den Kolben auf einem 
Sandbade stellt, wird diese Schwierigkeit nur theilweise geho- 
ben. Wenn man Schirme von Pappdeckel zwischen den Kol- 
ben und den Abkühlungsapparat stellt, so ist auch dadurch 
das Licht nicht ganz ausgeschlossen. Ist der Kolben endlich 
‚nieht auf einem Sandbade erhitzt und hat man einen Schirm 
von Pappdeckel zwischen Kolben und Abkühlungsapparat an- 
gebracht, so wird das Licht in die gläserne Röhre reileetirt, 
welche nach der Abkühlungsröhre geht, so dass man oben und 
nicht selten in der Abkühlungsröhre Licht sieht. 

Wir haben uns bemüht alles so einzurichten, dass jedes 
fremde Licht ausgeschlossen ist. Der Abkühlungsapparat von 
Mitscherlich wird in einen Kasten von Pappdeckel gestellt, 
der auf einer Seite offen und allda mit einem Vorhange ver- 
sehen ist, der kein Licht durchlässt. Der Kolben worin sich 
die Phosphor enthaltende Masse befindet, steht auf einem 
Sandbade, die gläserne Röhre, welche nach dem in dem Papp- 
deckelkasten befindlichen Abkühlungsapparate führt, durehbohrt 
diesen Kasten nur an der hinteren Seite. An der oberen 
Wand dieses Kastens ist eine Oeffnung gemacht für die Trich- 
terröhre, durch welche das Wasser nach dem Abkühlungs- 
apparate fliesst. — Das erwärmte Wasser wird in einem Glas 
aufgefangen, das in dem Kasten steht. 

Wenn man nun den Kopf in den Kasten steckt und mit 
dem Vorhange bedeckt, so ist alles Licht ausgeschlossen, man 


368 


sieht die Lichtringe stärker leuchten, und die geringste Phos- 
phorescenz kann mit Gewissheit wahrgenommen werden. Will 
man die Empfindlichkeit dieser Reaction nicht auf’s Aeus- 
serste treiben, so ist dieser Apparat sehr geeignet um den 
Versuch von Mitscherlich am Tage auszuführen, ohne dass 
das Sonnenlicht abgesperrt ist; besser aber ist es ihn am 
Abende oder in einem dunkeln Zimmer anzustellen. 


Verbindung der Methoden von Lipowitz und Mitscherlich. 


Wenn wir auch als Vorzug der Methode von Mitscherlich 
gerühmt haben, dass abgesehen von dem Zustandekommen 
der erwähnten Ringe, ein Theil des Phosphors als solcher 
in festem Zustande in dem Destillat vorhanden ist, falls die 
Menge in dem zu destillirenden Gemische nicht zu gering war, 
so lässt die Methode von Lipowitz das Sammeln des Phos- 
phors doch viel besser zu, da bei Mitscherlich’s Methode 
Phosphor durch Oxydation verloren geht. Wenn auch das 
Gefühl eines Chemieus forensis mehr befriedigt wird, sobald 
er das Gift in Substanz vor sich hat und es auf seine Eigen- 
schaften untersuchen kann, wenn dies auch dem Ernste der 
Sache und dem Zwecke besser entspricht, so kann man doch 
auf der anderen Seite den Phosphor in dem Phosphorsehwefel 
mit Gewissheit erkennen, sobald man von den übrigen durch 
Lipowitz angegebenen Reactionen Gebrauch macht, wie von 
der mit nitras argenti, der von Phosphorsäure nach der Oxy- 
dation mit Salpetersäure, u. s. w.!). In dem Phosphorschwe- 
fel hat der Phosphor seine Eigenschaften so sehr beibehalten, 
dass es dem Forscher beinahe gleichgültig ist, ob er Phosphor 
oder Schwefelphosphor hat. Man kann aber auch den Phosphor 
aus dem Schwefelphosphor wiederum isoliren; so fand Ber- 
zelius, dass P?S und PS mit Schwefelkalium behandelt den 
Schwefel abgeben und den Phosphor zurücklassen können. 


1) 1. c. p. 602. 


&69 


Dies thun die unter warmem Wasser entstandenen Verbin- 
dungen von Phosphor und Schwefel. Mithin würde die Methode 
von Lipowitz in letztem Falle unter günstigen Verhältnissen 
angewendet in jeder Hinsicht vor der von Mitscherlich 
den Vorzug verdienen. 

Die Trennung von Phosphor und Schwefel hat wirklich keine 
Schwierigkeit. Wenn man Phosphor haltenden Schwefel un- 
ter Wasser mit Schwefelwasserstoff-Schwefelkalium !) zusam- 
menreibt, so wird der Schwefel anfänglich aufgelöst, und eine 
flüssige Verbindung von Phosphor und Schwefel bleibt zurück, 
welche wie Phosphor aussieht, nach der Bekühlung aber als 
weiche Masse auftritt. Diese Verbindung verbrennt leicht und 
phosphoreseirt sehr stark bei der gewöhnlichen Temperatur; 
wahrscheinlich ist sie ein Gemisch von PS und P?S. Sobald 
die weiche Verbindung gebildet wird oder lieber sobald das 
Uebermaass von Schwefel gelöst ist, wodurch der Phosphor 
haltende Schwefel als weiche Masse auftritt, kann sie noch 
zu wiederholten Malen durch wiederholte Anwendung von 
Schwefelwasserstoff-Schwefelkalium zerlegt werden, wodurch 
der Phosphorgehalt abnimmt. Auf diese Weise ist man im 
Stande den nach Lipowitz’s Methode mit Schwefel verbun- 
denen Phosphor darzustellen. Der Phosphor aber ist in 
Schwefelkalium löslich und dies liefert Schwierigkeiten. 

Wenn der Phosphorsehwefel unter 100° C. mit einer Lösung 
von Schwefelwasserstoff-Schwefelkalium ohne Erneuerung die- 
ser Lösung digerirt wird, so bleibt nichts zurück, alles wird 
gelöst. Dies lässt sich dadurch erklären, dass der Phosphor, 
der frei wird und erst in dem Phosphor enthaltenden Schwe- 
fel gelöst war, nun von diesem Schwefel aufgenommen wird, 
nachdem letzterer selbst in dem Schwefelwasserstoff-Schwefel- 
kalium gelöst wurde. Wenn man dagegen die Lösung ver- 
dünnt, so geht die Lösung des freigewordenen Phosphors 
nicht so leicht von Statten. Man kann jedoch einen Verlust 
dabei nicht vermeiden, verliert aber um so weniger, je öfter 


1) Dieses ist besser als Schwefelkalium, da man gewiss sein kann, dass 
kein Kalı vorhanden ist. 


370 


man die Schwefelwasserstoff-Schwefelkaliumlösung erneuert 
und in je grösserer Menge man sie anwendet. 

Die Erwärmung muss in Kohlensäure oder Wasserstoff ge- 
schehen, sobald der Phosphor einmal von dem Schwefel ge- 
trennt ist, da der Phosphor noch leicht an die Oberfläche 
gerathen und da verbrennen könnte. Man leitet z. B. durch 
den Korkstopfen eines Kolbens zwei gläserne Röhren, die eine 
zum Eintritt der Gase in, und die andere zum Austritt der- 
selben Gase aus dem Kolben. 

Man kann mithin den Phosphor aus dem Phosphorschwefel 
wirklich absondern ; viele Versuche haben uns hiervon über- 
zeugt. Wir wiederholen aber, dass man um so weniger 
Phosphor verliert, je mehr Schwefelwasserstoff-Schwefelkalium 
man anwendet; gebraucht man hiervon nur wenig, so ver- 
liert man alles, 

Wenn der Phosphorschwefel die Eigenschaft besitzt die 
leuchtenden Ringe von Mitscherlich zu liefern, so sind beide 
Methoden von Lipowitz und Mitscherlich zu einer zu 
vereinigen. Dies nun ist wirklich der Fall; die geringste 
Menge in Schwefel gelösten Phosphors giebt ausgezeichnet 
schöne Ringe in dem Apparate von Mitscherlich. Wenn 
der Schwefel nach der Methode von Lipowitz erwärmt, nur 
einigermaassen phosphoreseirt, so ist der Gehalt an Phosphor 
schon hinreichend, um die Ringe nach der Methode von 
Mitscherlich im Dunkeln hervorzubringen. 

Der Schwefel lässt den Phosphor (der wahrscheinlich mit 
ihm verbunden ist), nicht leicht los; eine kleine Menge giebt 
Veranlassung zur Entstehung von Ringen während einiger 
Stunden. Im Anfange sind die Ringe stärker, später schwä- 
cher leuchtend. 

Hat der Schwefel einmal aufgehört im Apparate von Mit- 
scherlich Ringe zu produeiren, so hat er auch zugleich die 
Eigenschaft eingebüsst, bei Erwärmung zu phosphoreseiren. 
Dies mit dem früher Angeführten zusammengehalten lehrt 
uns, dass das Kochen der Phosphor enthaltenden Masse mit 


1) Jahresbericht von Berzelius, 1839, S. 112. 


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Schwefel, damit letzterer den Phosphor aufnehme, zu ver- 
werfen ist. Beim Kochen zerlegt man wirklich die Verbin- 
dungen, welche man darstellen will; daher die Ringe in 
Mitscherlich’s Apparat beim Gebrauche von Phosphor- 
schwefel. 

Wenn man nun eine Phosphor enthaltende Masse z. B. 
Speisebrei nach der früher von aus angegebenen Methode zur 
Erhaltung von Phosphor enthaltendem Schwefel mit Schwefel 
behandelt, so concentrirt man den Phosphor so viel wie möglich 
in dem Schwefel, und desto mehr, je nachdem man länger und 
bei einer nieht zu hohen Temperatur digerirt. Es muss noth- 
wendigerweise stets etwas Phosphor verloren gehen, dieser 
Verlust wird aber wohl bei dem Gebrauche von Kohlensäure 
und einer Temperatur von ungefähr 50° C. auf ein Minimum 
redueirt sein, 

Die Reaction auf Phosphor haltenden Schwefel mit Bezug 
auf seine Eigenschaft zu phosphoreseiren ist viel empfindlicher 
in Mitscherlich’s Apparat als beim Erwärmen auf dem 
Wasserbade. Sie verdient darum auch den Vorzug. 

Bei einer chemisch-forensischen Untersuchung kommt es 
darauf an, das Gift in seinem Zustande oder in einer solchen 
Verbindung darzustellen, in welcher alle Eigenschaften des 
Giftes deutlich erkannt werden können. Man darf bei der 
Ausmittelung von Phosphor nur dann einigen Werth auf 
die Charaktere von phosphoriger Säure oder Phosphorsäure 
legen, wenn man sie unmittelbar aus dem abgeschiede- 
nen Phosphor oder dem Phosphor haltenden Schwefel dar- 
gestellt hat. Phosphorige Säure ist ein anderes Gift als 
Phosphor. Die Vergiftung kann mit phosphoriger. Säure, oder 
mit Phosphor, der zum grössten Theile in phosphorige Säure 
übergegangen ist, statt gehabt haben. 

Nach der Methode nun von Mitscherlich wird die Phos- 
phor enthaltende Masse gekocht und in dieser Masse kann 
vielerlei vorhanden sein. Darum kann man nicht genug 
Werth legen auf die Vermehrung der Beweise. Trotz der 
Methode von Lipowitz und Mitscherlich ist die chemische 
Untersuchung auf Phosphor noch nicht erschöpft. Störende 


312 


Einflüsse, welche die Gegenwart von Phosphor verhüllen, kön- 
nen vorhanden sein, es können aber auch Ursachen obwal- 
ten, welche manche Erscheinungen, wie von vorhandenem 
Phosphor bewirken, während dieser doch ganz und gar fehlt. 
Man muss bei einer chemisch-forensischen Untersuchung soviel 
wie möglich Vielseitigkeit der Beweise anstreben, um so mehr, 
da die Erfahrung gelehrt hat, dass die chemischen Unter- 
suchungsmethoden nicht frei sind von Fehlern und Irrthü- 
mern, welche um so mehr erkannt werden, je mehr sie verjähren. 

Darum produeire man lieber die leuchtenden Ringe von Mit- 
scherlich durch Erwärmung van Phosphor haltendem Schwe- 
fel, als durch Kochen der Phosphor enthaltenden Speise- oder 
Getränke-Gemische; diese Phosphor haltenden Schwefelstück- 
chen doch können wir von allen anhängenden Theilen be- 
freien, und rein machen; sie geben beim Erwärmen mit 
Wasser in dem Apparate von Mitscherlich die Ringe in 
einer Form, welche grösseres Vertrauen verdient. 

Ehe wir zur Behandlung der Substanzen, welche das Phos- 
phoresciren von Phosphor verhindern oder befördern können, 
übergehen, müssen wir einen Augenblick beim Phosphores- 
eiren von Phosphor und Phosphor in Schwefel stille stehen. 


Phosphoresciren von Phosphor. 


Das Leuchten des Phosphors hat man folgenden Ursa- 
chen zugeschrieben: dem Verdampfen des Phosphors; dem 
Oxydirtwerden des Phosphors zu phosphoriger Säure; dem 
Oxydirtwerden phosphoriger Säure zu Phosphorsäure. Es ist 
uns nicht bekannt, ob die Oxydation von Phosphor durch 
Wasser schon ihre Stelle unter den Ursachen des Leuchtens 
gefunden hat. 

Ohne die reiche Litteratur dieses Gegenstandes zu durch- 
laufen, wollen wir kurz bei jedem dieser vier Punkte stille 
stehen. 

Von Lichtentwiekelung durch Verdampfung können wir 


313 


uns keine Vorstellung machen. Wenn ein Körper verdampft, 
so fixirt er eine gewisse Menge Wärme; bei Verdichtung 
dagegen von Dämpfen oder Gasen, findet Entwickelung von 
Wärme oder Licht oder von beiden statt. Wärme und Licht 
sind einander nahe verwandt, sodass wir wohl begreifen kön- 
nen, dass bei Verdampfung Licht fixirt wird; ebensowenig 
aber als Wärmeentwickelung beim Verdampfen vorkommen 
kann, ebensowenig ist dies mit dem Lichte der Fall. 

Wenn Phosphor in reinen Gasen, welche keinen Sauerstoff 
an den Phosphor abgeben können, und welche sich nicht 
unter Lichtentwickelung langsam mit dem Phosphor verbin- 
den können, phosphoreseirt, so entsteht bei uns stets die 
Frage, ob diese Gase wohl wasserfrei waren? Wasser doch 
kann eine Sauerstoffquelle für den Phosphor sein. 

Mein Vater hat gelehrt, dass die weisse Kruste an unter 
Wasser aufgehobenem Phosphor wahrscheinlich durch Wasser- 
zersetzung entsteht. Schrötter hat bewiesen, dass Wasser 
bei erhöhter Temperatur durch Phosphor zerlegt wird und 
selbstentzündliches Phosphorwasserstoff frei wird. Diese Zerse- 
tzung darf daher auch im luftleeren Raume, sobald er nicht 
frei von Wasserdampf ist, oder in Gasen und Dämpfen, welche 
nicht wasserfrei sind, angenommen werden !). Der Phosphor- 
dampf ist dann innig mit dem Wasserdampfe gemischt, und 
es entsteht phosphorige Säure, (die wiederum Wasser zerlegt 
und darauf zu Phosphorsäure oxydirt wird,) und selbstent- 
zündliches Phosphorwasserstoffgas, das vielleicht auch unter 
diesen Umständen Wasser zerlegen und zu phosphoriger und 
Phosphorsäure oxydirt werden kann; hierbei wird Was- 
serstoff frei. 

Wenn Körper in fein vertheiltem Zustande auf einander 
einwirken so ist diese Einwirkung eine ganz andere als in 
nicht fein vertheiltem Zustande. Phosphor entzündet sich 


1) Man kann nicht einwenden, dass Wärme zur Zersetzung von Wasser 
durch Phosphor nöthig ist, unter gewissen Umständen kann das 
Entgegengesetzte wahr sein, und der Phosphor mehr Verwandt- 
schaft zum Sauerstoff als der Wasserstoff zum Sauerstoff haben. 


374 


nicht bei der gewöhnlichen Temperatur, wohl aber fein ver- 
theilter Phosphor und Phosphordampf. 

Die Zersetzung von Wasser durch Phosphor bei erhöhter 
Temperatur ist eine Ursache für das Leuchten von Phosphor 
in einer Atmosphäre, welche ganz Sauerstoff-frei zu sein 
scheint }). 

Wenn wir die Ursache des Phosphoreseirens, als einen Oxy- 
dationsprocess auffassen, so muss das Leuchten selbst wahr- 
scheinlich der phosphorigen Säure und Phosphorsäure zuge- 
schrieben werden, welche in glühendem Zustande erstere in 
Dampfform, letztere in festem Zustande, besser im Stande 
sind Wärme, welche in Folge von Oxydation frei wird, ın 
Lieht umzusetzen als Phosphordampf. 

Auch die Zersetzung von Wasser spielt wahrscheinlich beim 
Leuchten von Phosphor in einer feuchten Atmosphäre eine 
bedeutende Rolle. 

Das Phosphoreseiren des Schwefels, das, wie wir erfuhren, 
bei einer viel höhern Temperatur statt findet, können wir 
auch nur als einen Oxydationsprocess auffassen. Erwärmt man 
Stückchen Schwefel um etwas über 100° C., so fangen sie 
nach und nach an zu phosphoreseiren, und zwar um so mehr 
je mehr die Temperatur sich derjenigen nähert, bei der 
Schwefel sich entzündet, nämlich 250° C. nach Violette; der 
Uebergang vom Phosphoreseiren zum Verbrennen ist sehr 
allmählig ?). 

Dass beim Leuchten des Schwefels eine Verbrennung vor 


1) Man kann den Versuch von Mitscherlich auch in einer Atmos- 
phäre von feuchter Kohlensäure machen; das Phosphoreseiren ist 
aber dann schwächer. In eine kleine gläserne Retorte wurde etwas 
Phosphor gethan und die Retorte darauf ganz mit Wasser ange- 
füllt und der Hals unter Wasser gebracht. Nach anderthalbstündi- 
gem Kochen war das Phosphoreseiren da noch deutlich sichbar , wo 
der Hals in das Wasser tauchte und die Abkühlung des Wasser- 
dampfes statt fand; Luft war hier somit nicht vorhanden. 

2) Auch Sehwefelblumen phosphoreseiren nicht unterhalb 100° C. Es 
war nicht bedeutungslos dies zu untersuchen, da bei den Versuchen 
von Lipowitz die Schwefelstückchen oft mit Schwefelblumen be- 
deckt sind. 


375 


sich gelit ist um so wahrscheinlicher, weil der Schwefel sich 
schon bei der gewöhnlichen Temperatur mit dem Sauerstoff 
der Atmosphäre verbindet zu schwefeliger Säure, und dies 
vorzüglich in fein vertheiltem Zustande; in dem feinst ver- 
theilten Zustande, als Schwefeldampf, muss dies daher auch 
geschehen. 

Selen phosphoreseirt nicht, weil es weniger flüchtig ist und 
schwieriger verbrennt !). 

Phosphor in Schwefel phosphoreseirt bei der gewöhnlichen 
Temperatur oder bei Erwärmung. Nehmen wir an, dass nur 
PS und PS!? vorhanden sei. Ersteres wird bei der gewöhn- 
liehen Temperatur in feuchter Atmosphäre zu Phosphorsäure 
und Schwefelsäure oxydirt?). Das Phosphoreseiren von PS 
in feuehter Atmosphäre ist demnach durch das Oxydirtwerden 
von Phosphor und von Schwefel veranlasst; beide tragen daher 
jeder für sich das Ihrige zum Phosphoreseiren bei. — PS12 
wird bei der gewöhnlichen Temperatur nicht, dagegen wohl 
bei Erwärmung oxydirt, auch hier tragen Phosphor und Schwe- 
fel beide zum Phosphoreseiren bei. 

Phosphor in Schwefel kann während langer Zeit in Wasser 
aufgehoben werden, ohne die Eigenschaft des Phosphoresci- 
rens zu verlieren, vorzüglich dann, wenn das Wasser luftfrei 
war und von der Luft gut abgeschlossen gehalten wird °). 

Wir müssen die Ursache dafür hier aufsuchen; sie muss 
nothwendigerweise in den Eigenschaften der schon öfter er- 
wähnten Verbindungen von Phosphor und Schwefel gelegen 
sein. Die Verbindung P?S *) wird wie bekannt langsam durch 
Wasser zersetzt, wobei Schwefelwasserstoff gebildet wird. 
Wenn man ein Stückehen Phosphor haltenden Schwefel in 
Wasser kocht, so wird ein Stückchen Bleipapier in dem ent- 


1) Erwärmt man dagegen Selen in Sauerstoff, so muss es phosphores- 
ciren. Ebenso wenn man es bis auf die Temperatur, bei der es 
sich verflüchtigt in der Atmosphäre erhitzt. 

) Graham-Otto, S. 572. 

3) Nederl. Lancet n°. 6 en 7, Dee. en Jan. 1855, pag. 344. Dr. A. 
W. M van Hasselt, „Over vergiftiging door lucifers.” 

4) Graham-Otto, S. 571. 


316 


weichenden Dampfe schwarz gefärbt. Der Schwefelphosphor 
selbst wird nicht durch acetas plumbi geschwärzt. Beim 
Erhitzen von Phosphor haltendem Schwefel unter Wasser 
empfanden wir auch den Geruch von Phosphorwasserstoff, 
sodass wir mit einiger Wahrscheinlichkeit annehmen können, 
dass hierbei Schwefelwasserstoff durch Zersetzung von Phos- 
phor haltendem Schwefel unter dem Einflusse von Wasser 
entsteht. Ist viel Phosphor in dem Schwefel enthalten, so 
wird das Wasser beim Erwärmen trübe durch freigeworde- 
nen Schwefel, gerade so wie es beim Erwärmen von Phos- 
phor haltendem Selen durch abgeschiedenes Selen trübe wird. 
Hieraus geht hervor, dass beim Kochen von Phosphor in 
Schwefel enthalten, ein Theil des Phosphors auf Kosten des 
im Wasser enthaltenen Sauerstoffs oxydirt wird. Wir beobach- 
ten, dass die Zerlegung durch Säuren z. B. Schwefelsäure 
befördert wird. h 


Momente, welche das Phosphoresciren von Phosphor und 
Schwefelphosphor befördern. 


Wenn das Phosphoreseiren von Phosphor in festem Zustande 
durch das Oxydirtwerden des Phosphordampfes entsteht, so wird 
es befördert, wenn das Verdampfen befördert wird, natürlich 
beim Vorhandensein einer hinreichenden Menge Sauerstoff. Der 
Sauerstoff kann nicht in zu grosser Menge vorhanden sein, 
wenn nur eine hinreichende Menge Wasserdampf vorräthig 
ist, welche phosphorige Säure und Phosphorsäure binden und 
in Flüssigkeiten verändern kann, die von dem Phosphor ab- 
fliessen, wonach eine neue Oberfläche des Phosphors der 
Oxydation ausgesetzt wird. 

Ist keine hinreichende Menge Wasserdampf vorhanden, so 
wird der Phosphor mit einer Kruste von phosphoriger Säure 
und Phosphorsäure umgeben (Graham-Otto). Der Phosphor 


wird daher in reinem Sauerstoffgase stärker phosphoreseiren, 


wenn viel Wasserdampf vorhanden ist. 


377 


Was die Phosphorescenz des Phosphors befördert, hat die- 
selbe Wirkung auf Phosphor in Verbindung mit Schwefel. 


Momente, welche hemmend auf das Phosphoresciren 
von Phosphor und Phosphor-enthaltendem 
Schwefel wirken. 


Es giebt eine grosse Anzahl Körper, welche den Phosphor 
der Eigenschaft zu phosphoreseiren ganz oder theilweise be- 
rauben. Bei einer chemisch-forensischen Untersuchung ist es 
nothwendigerweise von ebenso grosser Bedeutung die Umstände 
zu kennen, unter welchen die Erscheinungen nicht auftreten, 
als diejenigen, unter welchen sie wohl vorkommen. Eskann 
eine Phosphorvergiftung wirklich statt gefunden haben, und 
trotzdem kann die Untersuchung durch störend auf die Phos- 
phorescenz einwirkende Einflüsse namentlich dann erschwert 
werden, wenn nur kleine Mengen Phosphor auszumitteln sind. 

Unter welchen Umständen nun kann das Phosphoreseiren 
des Phosphors aufhören ? 

Wenn das Phosphoreseiren auf einem Oxydationsprocesse 
beruht, so können alle diejenigen Körper, welche die Oxy- 
dation verhindern, der Phosphorescenz in den Weg treten. 

Die Oxydation kann verhindert werden, dadurch dass der 
Phosphor mit irgend einem Körper in Verbindung tritt, in 
welcher dann diese Haupteigenschaft des Phosphors verloren 
gegangen Ist. | 

Vogel glaubt gefunden zu haben, dass Chlor die Phos- 
phorescenz verschwinden mache, während sie unter dem Ein- 
fluss von Brom-Dampf nicht aufhöre zu bestehen. Das Brom 
von Vogel enthielt wahrscheinlich Wasser, oder die Atmos- 
phäre, worin der Versuch angestellt wurde, war feucht; es 
lässt sich seine Beobachtung sonst nicht begreifen. Legt man 
ein Stückchen Phosphor in eine Flasche, und schliesst die- 
selbe dann mit einem Stopfen, an dessen unterer Fläche sich 
ein Tropfen Brom befindet, so wird das Phosphoreseiren des 
Phosphors in der Atmosphäre durch hinzutretenden Bromdampf 

I. 26 


318 


anfangs sehr geschwächt, und darauf wieder so intensiv als 
erst in der reinen Atmosphäre, wenn nämlich Brom und 
Phosphor soviel wie möglich auf einander eingewirkt haben, 
d. h. wenn alles Brom zur Bildung von Bromphosphor ver- 
wendet ist, und dies unter Wasserzersetzung phosphorige 
Säure und Bromwasserstoffsäure gebildet hat, welche beide 
die Oberfläche des Phosphors verlassen haben, die nun wie- 
derum für den Sauerstoff der Luft zugänglich geworden ist. 

In verdünntem Chlor sahen wir, wie Vogel, das Phospho- 
resciren aufhören; sobald man aber einige Tropfen Wasser 
in die Flasche bringt, fängt der Phosphor wiederum an zu 
leuchten, obgleich die Flasche viel Chlor enthält. Wir sehen 
überdiess, dass das Phosphoreseiren in feuchtem Chlor oft 
aufhört, um später wiederum anzufangen, ohne dass man 
die Flasche bewegt hat. Die Ursache scheint nahe zu liegen, 
das Chlor verbindet sich mit dem Phosphor unter äusserst 
geringer Lichtentwickelung, die unter diesen Umständen für 
uns kaum wahrnehmbar ist; es wird PC]? gebildet, das durch 
das Wasser unmittelbar in Salzsäure und phosphorige Säure 
zerlegt wird; die phosphorige Säure wird unter dem Ein- 
flusse des atmosphärischen Sauerstoffes zu Phosphorsäure oxy- 
dirt, und macht den Phosphor leuchten. 

Wie dem auch sei, so werden die Verbindungen von Brom 
und Chlor mit Phosphor zerlegt, wenn Wasser vorhanden 
ist, und wird phosphorige Säure (und Phosphorsäure) gebildet. 

Das Phosphoresciren des Phosphors wird zweitens verhin- 
dert durch Körper, welche zwar den Phosphor oxydiren, 
aber so, dass keine Dämpfe der gebildeten Säuren die Ober- 
Häche des Phosphors verlassen können. Hierher gehören 
Salpetersäure u. s. w. Die Reihe dieser Körper stimmt in 
ihrer Wirkung zum Theile mit der von Brom, Chlor (und 
Jod) überein, da sie bei Hinzutritt von Wasser oxydirend 
auf den Phosphor einwirken. 

Das Phosphoresciren kann drittens durch alle Körper, 
welche in Gas- oder Dampfform mehr Verwandtschaft zum 
Sauerstoffe haben als der Phosphor, verhindert werden. 
Graham rechnet Terpentinöl u. s. w. hierher. Wenn wir 


319 


Phosphor als einen der brennbaren Körper bezeichnen, so 
bedeutet dies, dass es wenige Körper giebt, welche dem 
Phosphor hierin gleich kommen. Es ist äusserst schwierig 
um auszumachen, ob das Terpentinöl so brennbar ist wie 
Phosphor. Um dies zu entscheiden, würde man beide Kör- 
per so viel wie möglich unter dieselben Umstände bringen 
müssen, und darauf hätte man zu untersuchen, ob der Dampf 
des Phosphors leichter als der des Terpentinöls oxydirt wird. 
Wenn es auch denkbar ist, dass es Körper giebt, welche sich 
leichter mit Sauerstoff verbinden als Phosphor, so ist doch 
bis jetzt keiner bekannt, welcher diese Eigenschaft bei Gegen- 
wart von Wasser besitzt. 

Die interessante Versuchsreihe von Graham über das 
Leuchten des Phosphors können wir hier nicht mittheilen, 
wir wollen nur erwähnen, dass er den Einfluss von Terpen- 
tinöl, Etherdampf, schwerem Kohlenwasserstoffe u. s. w. auf 
das Phosphoreseiren des Phosphors nicht von Einhüllung oder 
Lösung des gebildeten Phosphordampfes in den Dämpfen 
dieser Flüssigkeiten oder in den Gasen herleitet,, sondern dass 
er ihn aus der grösseren Verwandtschaft dieser Gase oder 
Dämpfe zum Sauerstoffe erklärt. 

Alkoholdampf verhindert das Leuchten des Phosphors (V o- 
gel); Phosphor ist einigermaassen löslich in Alkoholdampf. 
Wenn man etwas Phosphor mit verdünntem Alkohol in den 
Apparat von Mitscherlich bringt, so sieht man anfangs keine 
Ringe; kaum aber ist der Alkohol abdestillirt, so werden 
die Ringe deutlich sichtbar. Anfangs geht nämlich haupt- 
sächlich Alkohol über, in dessen Dampf etwas Phosphor auf- 
gelöst ist, der dadurch nicht oxydirt werden kann. Dazu 
kommt noch, dass der flüssige Alkoholdampf nicht auf ein- 
mal abgekühlt wird, so dass der Phosphor bei der Verdich- 
tung der Alkoholdämpfe nur allmählig mit der Luft in der 
abgekühlten Röhre in Berührung kommt, und daher keine 
deutlich unterscheidbaren Ringe bilden kann. 

Ebensowenig wie Phosphor, der in einer Flüssigkeit ge- 
löst ist, phosphoreseirt, ebenso verliert der Phosphor diese 
Eigenschaft, wenn er in Dämpfen und Gasen gelöst ist, und 

20 


380 


aus dem freien Zustande in einen gebundenen übergegan- 


gen ist. 

Das Phosphoreseiren kann endlich viertens durch alle Kör- 
per, welche zerlegend auf die phosphorige Säure !) einwirken, 
verhindert werden, sowie durch diejenigen, welche durch 
ihren gebundenen Sauerstoff direct oder indireet unter dem 
Einflusse von Wasser oxydirend auf den Phosphor einwirken. 

Ammoniak verbindet sich mit phosphoriger Säure und lässt 
dadurch das Phosphoreseiren nicht zu Stande kommen. 

Lipowitz”) sagt, dass Ammoniak das Phosphoreseiren ganz 
und gar verschwinden macht. Wenn dies wirklich so ist, so 
geht daraus hervor, dass die Lichtentwickelung bei der Oxy- 
dation von Phosphor zu phosphoriger Säure für unseres Auge 
kaum wahrnehmbar ist. 

Die Einflüsse, welche nachtheilig auf das Phosphoreseiren 
des Phosphors an der Atmosphäre einwirken, haben meistens 
dieselbe Wirkung auf Schwefel, welcher Phosphor gebunden 
enthält. 


Vortheilhafte Einflüsse bei den Methoden von Lipowitz 
und Mitscherlich. 


Das Phosphoreseiren des Phosphors sowie des Phosphor- 
haltenden Schwefels, kann man verhindern, aber auch be- 
fördern. Bei der Methode von Lipowitz kann man, wie er 


dies selbst empfiehlt, das Phosphoreseiren des mit Schwefel 


verbundenen Phosphors durch Erwärmen namentlich in einer 
feuchten Atmosphäre befördern. Aber auch bei der Methode 
von Mitscherlich kann man die Intensität der Lichtringe 
erhöhen. Die Intensität des Lichtes doch hängt von der Menge 
Phosphor, welche auf einmal mechanisch mit dem Wasser- 
dampfe mit weggeführt wird, ab, und diese wiederum von 


1) Es ist doch vorzüglich der Uebergang der phosphorigen Säure zur 
Phosphorsäure, welche das Leuchten bewirkt. 
2) S. 0. 8. 604. 


= > 


381 


der Menge und der Temperatur des Wasserdampfes. Wenn 
man daher unter übrigens gleichen Umständen die Phosphor- 
enthaltende Masse mit vielem Wasser kocht, so geht in der- 
selben Zeit mehr Phosphor über und erhält man stärker leuch- 
tende Ringe. Erhöht man den Kochpunkt der Phosphor- 
enthaltenden Masse, z. B. durch Hinzufügung von Kochsalz, 
so findet dasselbe statt, denn es destillirt nun nicht gerade 
mehr Dampf, sondern Dampf von einer höheren Temperatur ab, 
der mehr Phosphor verflüchtigen lässt. Wenn man in dem 
Apparat von Mitscherlich etwas Phosphor in Wasser thut 
und Salz hinzufügt, so erhält man, je nachdem das Wasser 
bei einer höheren Temperatur kocht, auch stärker leuchtende 
Ringe. | 
Man ist daher im Stande, die Reaction empfindlicher zu 
machen. Es braucht kaum erwähnt zu werden, dass eine 
gute Abkühlung des Dampfes Hauptsache ist, und dass die 
Weite der abgekühlten Röhre nicht gleichgültig ist u. s. w. 
Dasselbe gilt für Phosphor enthaltenden Schwefel, wenn 
dieser die Ringe von Mitscherlich liefern soll. 


Störende Momente ın den Methoden von 
Lipowitz und Mitscherlich. 


Lipowitz erwähnt hauptsächlich einer störenden Ursache in 
seinen Versuchen, nämlich des Vorhandenseins von Ammoniak. 
Mitscherlich sagt, dass alle Körper, welche die Phosphores- 
cenz nieht entstehen lassen, auch die Ringbildung verhindern. 
Wenn man daher seine Methode in Anwendung bringt, und kei- 
nen Phosphor ermittelt, so hat man nach störenden Einflüssen 
zu suchen. Dann ist es aber wichtig, um die Destillation 
lange fortwähren zu lassen, damit die flüchtigen Körper erst 
entfernt werden; wenn dies erreicht ist, so kommen, wenn 
anders Phosphor vorhanden ist, die Ringe endlich zu Stande, 
falls nämlich die Erwärmung zur Entfernung der schädli- 
chen flüchtigen Substanzen nicht so lange gedauert hat, dass 
dabei zugleich aller Phosph or dampfförmig verflüchtigt ist, 


382 


was bei flüchtigen Körpern mit hohem Kochpunkte vorkommen 
kann. Störende Dämpfe oder Gase hindern die Untersuchung 
nach Mitscherlich gewöhnlich nicht sehr, da die Ringe, 
wie er behauptet, auch wenn nur wenig Phosphor vorhanden 
ist, nach einer halben Stunde oder später zu Gesicht kommen. 
Terpentinöl aber verhindert nach Mitscherlich die Ring- 
bildung ganz und gar. Wo dies daher vorkäme (andere 
etherische Oele werden sich wohl ähnlich wie das Terpentinöl 
verhalten), da würde die Methode von Mitscherlich erst 
nach dessen Entfernung in Anwendung kommen können. Wir 
fanden es nicht unwichtig dies näher zu untersuchen. Alltäglich 
gebraucht man ziemlich allgemein etherische Oele unter ver- 
schiedenen Formen. Wenn geringe Mengen die Ringbildung 
von Mitscherlich verhindern könnten, so würde diese Me- 
thode in vielen Fällen nicht zu gebrauchen sein. Im Senf 
(von schwarzen Saamen) z. B. ist ein etherisches Oel vor- 
handen, das bekannte Senföl. Fügt man etwas von diesem 
Senfe zu einer Phosphor enthaltenden Masse, so werden keine 
Ringe gebildet, auch wenn ziemlich viel Phosphor vorhanden 
war. Wenn man lange gekocht hat, so dass die grösste Menge 
des Senföls mechanisch in dem Wasserdampfe verflüchtigt 
ist, so sieht man endlich ein schwaches Leuchten aber keine 
Ringe !). 

Wir lassen es unentschieden, ob man mit Graham an- 
nehmen muss, dass Senföl ebenso wie Terpentinöl den Sau- 
erstoff an sich zieht, und demzufolge das Phosphoresciren 
des Phosphors verhindert; es scheint hinreichend hier anzu- 
nehmen, dass die äusserst geringe Menge Phosphor in den 
Dämpfen des Senföls (oder Terpentinöls u. s. w.) gelöst wird. 
Phosphor doch ist einigermaassen in den Dämpfen von ethe- 
rischen Oelen löslich, und in den Lösungen nothwendiger- 
weise schwieriger oder nicht oxydirhar. Die Eigenschaft der 


1) Erhöht man den Kochpunkt der Phosphor enthaltenden Masse durch 
Hinzufügung z. B. von Kochsalz, so ist man im Stande diese andern 
leicht flüchtigen Körper geschwinde zu entfernen. Mit Terpentinmöl 
aber gelingt dies nicht, oder wenigstens äusserst schwierig. 


383 


etherischen Oele begierig Sauerstoff aufzunehmen, wirkt un- 
streitig mit, um die Oxydation des Phosphors zu verhindern. 
Es ist nun gerade darum, dass das Phosphoresciren eines 
Gemisches von Wasser mit Phosphor und einem etherischen 
Oele im Allgemeinen mehr und mehr zunimmt, je nachdem 
die lösend auf den Phosphor einwirkenden Flüssigkeiten 
durch Verdampfung mehr und mehr an Menge abnehmen. 
Dauert dies aber, das muss ich hier wiederholen, zu lange, 
erfordert die Vertreibung der Dämpfe des etherischen Oels zu 
viel Zeit, so kann auch wohl aller Phosphor ausgetrieben sein. 

Bei Alkohol, Ether und anderen flüchtigen Substanzen, 
die einen niedrigen Kochpunkt haben, begegnet man dieser 
Schwierigkeit nicht. 

Das Senföl deutet durch seine Wirkung darauf, dass die 
Eigenschaft, welche es mit dem Terpentinöl theilt, wahr- 
scheinlich allen etherischen Oelen zukommt. 

Die Sache ist wichtig; es hat z.B. Vergiftung statt gefun- 
den, dadurch dass Phosphor in die Mittagspeise gethan wor- 
den ist; der Giftmenger hat den Phosphorgeruch durch Sen- 
föl unmerkbar machen wollen. Man untersucht nun den 
Magen nach der Methode von Mitscherlich und findet nichts. 
Man versäumt das Kochen der Phosphor enthaltenden Masse 
während einer halben Stunde fortzusetzen, und glaubt mit 
der grössten Gewissheit gefunden zu haben, dass kein Phos- 
phor vorhanden ist. 

Wer kennt die Körper alle, welche das Eee 
des Phosphors beseitigen ? 

Die Möglichkeit der Entfernung solcher schädlichen Ein- 
flüsse darf nicht bezweifelt werden; sie ist aber oft mit 
grossen Schwierigkeiten verknüpft. Sind es Körper, welche 
den Phosphor direct oder indireet oxydiren, die Entstehung 
der phosphorigen Säure verhindern oder sieh damit alsbald 
verbinden, so ist eine Entfernung dieser Körper nothwen- 
dig. Dies kann gewöhnlich nur dadurch erreicht werden, 
dass man diese Körper in andere verwandelt oder sie mit 
anderen verbindet, was, wo es nur einigermaassen möglich 
und gut ist, vermittelst organischer Körper geschehen muss. 


384 


Wenn der Körper eine Base ist, wie z. B. Ammoniak, 
so empfiehlt Lipowitz bei seiner Methode die Anwendung 
von etwas Schwefelsäure. Auch Mitscherlich wendet sie an. 
Wenn man bei der Methode von Mitscherlich die Schwe- 
felsäure umgehen kann, so soll man es nicht lassen; ein 
Körper weniger ist eine Irrthumsquelle weniger. Mitscher- 
lich gebraucht die Schwefelsäure, um das Ammoniak unter 
gewissen Umständen zu binden. Er scheint es vorzüglich 
bei Vergiftung von Mehl und Brod zu empfehlen, um die 
Masse durch Verwandlung von Amylum in Dextrin und 
Zucker flüssiger zu machen. 

Es geht aus dem Angeführten hervor, dass die Methode 
von Mitscherlich ziemlich allgemein mit günstigem Resul- 
tate Anwendung finden kann, dass es aber trotzdem Fälle 
giebt, in welchen sie weniger passend ist. Wir wollen jetzt 
zusehen, inwiefern dies mit der Methode von Lipowitz 
der Fall ist. ' 

Das Absondern des Phosphors aus Zündholzköpfehen bietet 
grosse Schwierigkeit für die Methode von Lipowitz. Es 
ist äusserst schwer den Phosphor ohne Schwefel von den 
Zündhölzchen zu entfernen. Der Giftmischer, der Zündholz- 
köpfchen gebraucht, macht die Untersuchung nach der Me- 
thode von Lipowitz dadurch höchst schwierig, da der 
Schwefel der Zündholzköpfehen mehr oder weniger mit dem 
Phosphor verbunden ist. Ist die Schwefelmenge gross und 
der Phosphorgehalt der Zündholzköpfehen gering, so kann 
uns die Methode von Lipowitz sogar ganz im Stiche las- 
sen. Die Gründe dafür haben wir oben S. 361 angegeben. 
Ein soleher Fall kommt nur ausnahmsweise vor. Ist der 
Schwefel der Zündholzköpfchen in nicht zu grosser Menge 
vorhanden, so vermischt er sich nämlich mit dem Phosphor zu 
einer Flüssigkeit oder einer leicht schmelzbaren Verbindung, 
welche durch die Stückchen Schwefel, die man hinzufügt, 
um daran später das Phosphoreseiren zu beobachten, leicht 
aufgenommen wird. 

Bei der Methode von Mitscherlich bietet der Schwefel, 
der neben Phosphor in den Zündholzköpfehen vorkommt, 


385 


keine Schwierigkeit, da Phosphor von Schwefel aufgenommen 

auch leuchtende Ringe giebt. 

In Bezug auf den den Phosphor begleitenden Schwefel ver- 
dient die Methode von Mitscherlich jedenfalls der von Li- 
powitz vorgezogen zu werden. 

Nicht so in Bezug auf andere Substanzen. 

Alle Körper, welche direet oder indireet den Phosphor 
oxydiren, verhindern die Verbindungen von Phosphor und 
Schwefel und stehen daher der Methode von Lipowitz im 
Wege. Alle Körper, welche lösend auf den Phosphor ein- 
wirken, bilden störende Momente, da sie auch beinahe 
alle, wiewohl in geringerem Grade, lösend auf den Schwefel 
einwirken. Wenn sie aber auch nur ihre Wirkung auf den 
Phosphor beschränken, wie Ether und etherische Oele, so 
sind sie doch der Bildung von Phosphor-Schwefel und somit 
der Methode von Lipowitz ungünstig. Bei der Digestion 
von Schwefelstückehen in solchen Flüssigkeiten, in welchen 
der Phosphor mehr oder weniger gelöst ist, tritt nicht aller 
Phosphor an den Schwefel. 

Man kann diese Schwierigkeit nicht aus dem Wege räu- 
men. Man kann nur dafür sorgen, dass keine schädlichen 
Substanzen an den gebrauchten Stückchen Schwefel ankle- 
ben; man wasche daher den Schwefel, nachdem er, während 
der Digestion mit der suspeeten Masse digerirt, Phosphor auf- 
genommen hat, gehörig ab, und sorge, dass das Zurückblei- 
bende später noch durch Erwärmung verdampfe. 

Es kann nicht in unserer Absicht liegen alle Körper zu 
durchmustern, welche einen bedeutenden Einfluss auf das 
Phosphoreseiren von Phosphor und Schwefelphosphor, sowie 
auf die Bildung des letzteren ausüben können. Wir erwäh- 
nen nur die am meisten vorkommenden, und behandeln 
die Sache nur im Allgemeinen. Citiren wir daher hier zwei, 
welche bei einer chemisch-forensischen Untersuchung sehr 
berücksichtigt zu werden verdienen, weil sie beim Faulen 
von Pflanzen und Thieren entstehen, nämlich Ammoniak 
und Schwefelwasserstoff. 

Lipowitz hält Ammoniak für sehr wichtig, und räth 


386 


darum die Phosphor enthaltende Masse mit einem geringen 
Uebermaasse von Schwefelsäure zu sättigen, ehe sie mit 
Schwefelstückehen digerirt wird. Ganz unschädlich ist dieses 
Mittel nicht, denn wir fanden, dass es die Zerlegung von 
Schwefelphosphor unter dem Einflusse von Wasser beför- 
dert, und daher die Entstehung dieser Verbindung nicht 
befördert. Die angewendete Menge Schwefelsäure kann aber 
so gering sein, dass der Einfluss dieser Säure, namentlich 
wenn die Masse nicht gekocht wird, dadurch nahegenug auf- 
hört. Uebt aber Ammoniak wirklich einen nachtheiligen 
Einfluss auf die Entstehung von Schwefelphosphor und sein 
Phosphoreseiren aus ? 

Lipowitz !) behauptet dass 1 Th. Phosphor in 140,000 
Th. eines Phosphor enthaltenden Gemisches (Mehl u. s. w. 
mit Wasser) nach seiner Methode noch mit Gewissheit er- 
kannt werden kann. Von dieser Reaction kann man aber 
kaum etwas mehr sagen, als dass sie äusserst empfindlich 
ist. Nun sagt er, dass der Phosphor noch durch Schwefel 
ermittelt werden kann, wenn Ammoniak oder Chlorwasser 

®(1 Th. Phosphor auf 70,000 Th. enthaltendes Gemisch) zu- 
gegen ist. Chlorwasser aber wirkt durch das Chlor indireet 
oxydirend auf den Phosphor ein, und verhindert dadurch 
die Reaction von Lipowitz. Wir können daher seiner Be- 
hauptung mit Bezug auf Chlorwasser keinen grossen Werth 
beilegen. Wie verhält sie sich aber nun in Bezug auf Am- 
moniak ? 

Kali und Natron zerlegen die Schwefelphosphor-Verbin- 
dungen; wie verhält sich aber Ammoniak ? | 

Wenn Schwefel mit etwas Phosphor mit verdünntem Am- 
moniak digerirt wurde, so leuchteten die Schwefelstückchen 
doch sehr deutlich. 

Kali und Natron zerlegen die Phosphor-Schwefel-Verbindun- 
sen, da sie sowohl den Schwefel als den Phosphor an sich 
heranziehen. Schwefel wird nun zwar in Ammonia liquida 
gelöst, Phosphor ist aber darauf wirkungslos; überdiess wirkt 


1) 1. ce. S. 603, 604. 


387 


Ammonia ligquida auf Schwefel viel weniger kräftig als Kali 
und Natron. Wenn Ammonia liquida überdiess sehr verdünnt 
ist, wie dies gewöhnlich bei chemisch-forensischen Unter- 
suchungen statt findet, in denen man faulende Substanzen 
auf Phosphor untersuchen muss, so ist nach dem vorherge- 
henden Versuche die Furcht ungerechtfertigt, dass Ammonia 
die Bildung von Phosphorschwefel verhindern oder den be- 
reits gebildeten zerlegen würde. 

Das Ammoniak kann aber Einfluss üben auf das Leuchten 
des Schwefelphosphors.. Wenn man dies in einem gegebenen 
Falle vermuthet, so wasche man die Schwefelstückehen mit 
einer flüchtigen organischen Säure z. B. Essigsäure, welche 
keinen nachtheiligen Einfluss auf das Phosphoreseiren hat 
und darauf mit Wasser. Man hat somit wirklich keine 
Schwefelsäure nöthig, um dafür zu sor 5on, dass die Reaction 
empfindlich bleibe. 

Der nachtheilge Einfluss von Ammoniak kann auch darum 
nicht gross sein, weil er sich verflüchtigt, wenn die mit 
Phosphor imprägnirten Schwefelstückchen,, nachdem sie zuvor 
abgewaschen worden, erwärmt werden. Wir haben uns zwar 
davon überzeugt, dass Ammoniak für das Phosphoreseiren un- 
günstig wirkt, dass aber auch seine Flüchtigkeit die Schwie- 
rigkeiten aufhebt, welche es liefern kann. 

Wir brachten etwas Phosphor mit verdünntem Ammoniak 
in den Apparat von Mitscherlich. Man sah das Phos- 
phoresciren sehr gut, wiewohl die Ringe anfangs nicht 
sehr deutlich gebildet wurden; die Ringe wurden deutlich 
nachdem das Ammoniak verflüchtigt war. — Wenn die Lösung 
von Ammonia ın Wasser sehr verdünnt ist, so wird ihr 
Einfluss auf das Phosphoreseiren äusserst gering sein, da 
das Ammoniak zum grossen Theile in dem zuerst abdestil- 
lirten Wasser verflüchtigt wird. 

Das Schwefelwasserstoffgas hemmt, nach Vogel, das Phos- 
phoreseiren des Phosphors. Im Allgemeinen sei hier erwähnt, 
dass ohne Erwähnung der Umstände ein Ausspruch als ob 
dieses oder jenes Gas, dieser oder jener Dampf das Phos- 
phoreseiren des Phosphors hindere, keinen Werth hat. So 


388 


wird Schwefelwasserstoff z. B. das Phosphoreseiren von Phos- 
phor in einer wenig feuchten Atmosphäre aufhören machen, 
aber nicht in dem Apparate von Mitscherlich, in dem ein 
Uebermaass von Wasserdampf vorhanden ist. Wir haben den 
Versuch gemacht mit Schwefelwasserstoff, Wasser und einem 
Minimum Phosphor; das Leuchten war aber noch ganz gut 
wahrnehmbar in dem Apparat von Mitscherlich. 

Wir läugnen nicht, dass Ammoniak und Schwefelwasser- 
stoffgas auch beim Uebermaass von Wasser, einen nachtheili- 
sen Einfluss auf die Intensität der Ringe ausüben, geben 
aber gestützt auf unsere Versuche als Regel an, dass alle 
Gase und Dämpfe, welche in Wasser löslich und sehr flüch- 
tig sind, wenig Einfluss haben auf das Phosphoreseiren von 
Phosphor in dem Apparate von Mitscherlich. Schwefel- 
wasserstoff kann, soviel bekannt ist, keinen Einfluss ausüben 
auf die Bildung von Phosphor enthaltendem Schwefel, auch 
nicht auf das Phosphoreseiren dieser Verbindung, wenn nur 
die Schwefelstückchen gut gereinigt sind. 

Wenn andere Körper, wie z. B. etherische Oele vorhanden 
sind, welche das Phosphoresciren verhindern, den Phosphor 
aber unangerührt lassen, so folgt man der gewöhnlichen Ver- 
fahrungsweise bei der Methode von Lipowitz nur mit dem 
Unterschiede, dass man den mit Phosphor betheiligten Schwe- 
fel soviel wie möglich von den nachtheilig auf die Phos- 
phorescenz wirkenden Substanzen zu reinigen sucht. 


——o 


Man wird nach allem Angeführten wohl zugeben wollen, 
dass eine Vereinigung der Methoden von Lipowitz und 
Mitscherlich nicht nur wünschenswerth, sondern sogar noth- 
wendig ist. Hunderterlei Einflüsse, welche im Apparate 
von Mitscherlich nachtheilig auf die Phosphorescenz ein- 
wirken, können zum grossen Theile vermieden werden, 
wenn der Phosphor vorher nach der Methode von Pu 
in Schwefel concentrirt wird. 

Man glaube nun nicht, dass die Methode von Mitscher- 
lich dadurch überflüssig gemacht wird, da die Eigenschaften 


389 


des Phosphors, nachdem er in dem Schwefel concentrirt ist, 
so gut erhalten sind, und man durch Erwärmung dieser 
Schwefelstückchen das Leuchten auch ohne den Apparat von 
Mitscherlich sichtbar machen kann. Die Eigenschaft des 
Phosphors, um mechanisch mit dem Wasser mit fortgeführt 
zu werden und die erwähnten eigenthümlichen Ringe zu bil- 
den, besitzt, soweit wir wissen, bis jetzt nur der Phosphor 
oder der mit Schwefel verbundene Phosphor. Wenn man 
daher den in Schwefel nach der Methode von Lipowitz 
aufgenommenen Phosphor in dem Apparate von Mitscher- 
lich untersucht, so kann man nachforschen, ob die Bildung 
der Ringe durch Alkohol u. s. w. verhindert wird, und wei- 
ter eine Reihe von Reactionen auf Phosphor studiren, welche 
sich weniger leicht an Phosphor, der in Schwefel aufgenom- 
men ist, ausserhalb dieses Apparates, beobachten lassen. 

Wir betrachten daher die Methode von Lipowitz mehr 
als ein Mittel, um den Phosphor zu sammeln, die Methode 
von Mitscherlich dagegen, um die Reactionen auf Phos- 
phor mit Gewissheit zu studiren. 


Ueber die Grenzen der Gewissheit der Methoden von 
Lipowitz und Mitscherlich, zur Ausmittlung von 
Phosphor. 


In Pflanzen und Thieren, in allen Thierorganen kommt 
Phosphor vor. Der Phosphor ist im organischen Reiche haupt- 
sächlich als Phosphorsäure verbreitet, macht aber zum Theile 
einen Bestandtheil des Eiweiss’ aus. Wenn man eine Un- 
tersuchung anstellt zur Beantwortung der Frage, ob Vergif- 
tung mit Phosphor statt gefunden hat, so muss der Phos- 
phor als solcher dargestellt werden oder ohne Verlust seiner 
Eigenschaften an irgend einen Körper gebunden werden. 
Reactionen von phosphoriger Säure und Phosphorsäure kön- 
nen in einem Vergiftungsfalle nur dann Werth haben, wenn 
diese Säuren durch Oxydation des vorher dargestellten Phos- 
phors entstanden sind und auf keiner anderen Weise ent- 
stehen konnten. 


390 


Nun entsteht die Frage, ob Phosphor nicht unter manchen 
Umständen aus Pflanzen und Thieren frei werden kann? 
Das Phosphoreseiren von pflanzlichen Produkten z. B. von 
faulendem Holze, sowie das Phosphoreseiren faulender Fische 
und anderer Substanzen weist auf die Möglichkeit hin. 

Die Ursache dieses Phosphoreseirens wollen wir jetzt nicht 
näher ergründen, lenken aber die Aufmerksamkeit auf das 
Factum, dass eine Menge anderer Körper, ohne dass ab- 
sichtlich Phosphor hinzugefügt ist, leuchten, was daher bei 
der Untersuchung auf Phosphor zu Irrthum Veranlassung ge- 
ben könnte. 

v. Hasselt!) macht auf die Nothwendigkeit aufmerksam, 
um zu untersuchen, ob der Schwefel z. B. bei Exhumationen 
oder in anderen Fällen im Stande ist Phosphor aus faulen- 
den organischen Körpern aufzunehmen, ohne dass sogenannter 
krimineller Phosphor während des Lebens ingerirt wurde. 

Wir können einige Versuche, welche wir hierüber mit 
phosphoreseirenden Fischen angestellt haben, anführen. Sie 
lieferten uns folgendes Resultat: Weder der Lipowitz’sche 
Versuch, noch die Methode von Mitscherlich (auch nach 
Hinzufügung von etwas Schwefelsäure) geben irgend eine 
sichtbare Reaktion auf Phosphor bei phosphoreseirenden fau- 
lenden Fischen. Sie thun dies auch nicht in einem späteren 
Stadium der Fäulniss dieser Fische, in welchem sie nicht 
mehr von selbst phosphoreseiren. 

Man kann zwar von Fischen nicht auf Mensche schliessen, 
es lässt sich aber nicht läugnen, dass beide in chemischer 
Hinsicht viele Uebereinstimmung mit einander haben. 

Jedenfalls wird es durch diese Versuche höchst wahrschein- 
lich, dass der organische Phosphor keinen wahrnehmbaren 
Einfluss auf das Resultat der Methoden von Lipowitz und 
Mitscherlich übt. 

Wiewohl es nieht wahrscheinlich war, dass eine verdünnte 
wässerige Lösung von phosphoriger Säure im dem Appa- 
rate von Mitscherlich Ringe bilden würde, so haben wir 


1) l. ec. p. 344. 


391 


uns doch davon durch einen Versuch überzeugt. Dass freier 
Schwefel es nicht thut, haben wir schon früher erwähnt. 

Wir haben bis jetzt nur von dem sogenannten gewöhnlichen 
Phosphor, dem farblosen durchscheinenden gehandelt, es fragt 
sich daher, wie sich die anderen Formen verhalten, in de- 
nen der Phosphor vorkommen kann ? Aus einem chemisch- 
forensischen Gesichtspunkt verdient bis jetzt nur der rothe 
Phosphor Berücksichtigung. Rother Phosphor phosphoreseirt 
zwar nicht, kann aber in den gewöhnlichen Phosphor um- 
gewandelt werden. Es ist mithin wichtig, die Umstände zu 
kennen, unter denen dies geschieht, insofern natürlich diese 
Umwandlung bei der Ausführung der Methode von Lipowitz 
oder Mitscherlich statt finden könnte. Wenn man in Folge 
eines glücklichen Irrthumes Zündholzköpfchen mit rothem 
Phosphor zur Vergiftung gereicht hat, so hat man einen 
vergeblichen Versuch gewagt, denn rother Phosphor ist nicht 
giftig (de Vry)! 

Die Untersuchung wird jetzt schwieriger: 1°) weil der ro- 
the Phosphor meistens absichtlich vollkommen rein dargestellt 
wird, nämlich frei von gewöhnlichem Phosphor; 2°) weil der 
rothe Phosphor unter manchen Umständen in den gewöhnli- 
chen übergehen kann. Die Methoden von Lipowitz und 
Mitscherlich sind so empfindlich, dass Spuren von ge- 
wöhnlichem Phosphor, die in dem rothen Phosphor vorkom- 
men, der Untersuchung nicht entgehen, wenn die oben er- 
wähnten Umstände beachtet werden. 

In einem solchen Falle würde man daher schliessen können , 
dass man es nur mit giftigem Phosphor zu thun hat, während 
er nur als unschuldige Verunreinigung des rothen Phosphors 
vorhanden war. Die Verunreinigung des rothen Phosphors 
mit unschädlichen Spuren von gewöhnlichem Phosphor kann 
zufälligerweise in Folge einer weniger genauen Bereitungs- 
weise des rothen Phosphors vorkommen, und nicht wohl zu 
Vergiftung Veranlassung geben. Ebenso wenig wie Jemand, 
der Schwefel in die Speisen seines Mitmenschen gemischt 
hat, der Vergiftung beschuldigt werden kann, wenn darin 
Spuren von Arsenik vorkommen, ebenso wenig verdient der- 


392 


jenige, welcher Zündholzköpfehen mit rothem Phosphor dar- 
reicht, bestraft zu werden, weil Spuren von gewöhnlichem 
Phosphor in Folge einer weniger sorgfältigen Bereitungsweise 
darin enthalten sind. 

Da aber rother Phosphor jetzt zur Bereitung von Zünd- 
hölzchen verwendet wird, so muss man jedenfalls nach rothem 
Phosphor suchen, wenn die Reactionen auf den gewöhnlichen 
Phosphor bei einer chemisch-forensischen Untersuchung nicht 
deutlich sprechen. 

Welche sind nun die Umstände, unter denen rother Phos- 
phor in den gewöhnlichen übergeht ? Kommen diese Umstände 
bei den von uns behandelten zwei Methoden vor? 

Wenn man die Untersuchung auf die verdächtige Substanz 
mit der Methode von Lipowitz anfängt, was nach unserem 
Dafürhalten stets geschehen soll, so fragt es sich: 1°. wie sich 
der rothe Phosphor bei dieser Methode zum Schwefel verhält ? 
2°, ob bei dieser Methode Umstände vorkommen können, wo- 
durch der rothe Phosphor in den gewöhnlichen übergeht? 

So weit uns bekannt ist, vermag nur Erhöhung der Tem- 
peratur rothen Phosphor in den gewöhnlichen umzuwandeln, 
aber erst bei 260° C.; so weit steigt die Temperatur aber 
nie bei den behandelten Untersuchungsmethoden. 

Wenn man den rothen Phosphor mit Wasser in dem 
Apparate von Mitscherlich kocht, so wird er nicht in ge- 
wöhnlichen Phosphor oder in irgend eine bekannte Verbindung 
des rothen Phosphors mit dem gewöhnlichen umgewandelt !). 

Es ist sehr wahrscheinlich, dass es noch andere Umstände 
giebt unter denen der rothe Phosphor in den gewöhnlichen 
übergeht; es ist aber nichts davon bekannt. Man weiss 
nur, dass der rothe Phosphor ein sehr beständiger Körper 
ist, und kräftigen Einflüssen Widerstand leiten kann, ohne 
in den gewöhnlichen Phosphor überzugehen. 


1) Wenn man Schwefel mit rothem Phosphor schmilzt, so verbinden 
sich diese Körper nicht einmal. Dies geschieht aber wohl, wenn 
man ein Gemisch von Schwefelblumen mit rothem Phosphor erhitzt 
bis auf die Temperatur, bei der rother Phosphor in den gewöhn- 
lichen umgewandelt wird. 


3 


393 


Wir können daher wohl annehmen, dass der rothe Phos- 
phor keinen Einfluss auf das Resultat der Methoden von 
Lipowitz und Mitscherlich übt, dass aber kleine Mengen 
gewöhnlichen Phosphors, in dem rothen Phosphor enthalten, 
durch beide Methoden angewiesen werden können. 

Ueber die anderen Formen des Phosphors, z. B. die, welche 
Thenard und Andere gefunden haben, ist nichts bekannt !). 


Verfahrungsweise. 


Man verfahre bei einer qualitativ chemisch-forensischen 
Untersuchung folgenderweise: 

1°.) Man fange damit an, dass man Stückchen Phosphor, 
Zündholzköpfehen u. s. w., wenn sie aufzufinden sind, sammle; 
wenn diese nicht vorhanden sind, so nehme man eine ge- 
ringe Menge der innig vermischten verdächtigen Masse, und 
digerire sie auf einem Wasserbade bei ungefähr 50°C mit 
Stückchen Schwefel in einem gläsernen Kolben mit langem 
Halse, in einem Kohlensäurestrome. Man sammle darauf 
die Stückchen Schwefel, spüle sie ab und untersuche sie in 
dem Apparate von Mitscherlich. 

Die Schwefelstückehen, deren sich Lipowitz bedient, sind 
erbsengross. Die Grösse und Form der Schwefelstückehen 
sind nicht gleichgültig. Sie müssen nicht eckig, und nicht 
mit fein vertheiltem Schwefel bedeckt sein. Am besten ist 
es, Schwefel weich zu machen, einen dünnen Drath in 
denselben zu bringen und kleine Kügelchen aus demselben 


1) Es würde nicht unwichtig sein, den schwarzen Phosphor von The- 
nard näher zu untersuchen. Die sogenannten unschädlichen Zünd- 
hölzchen mit rothem Phosphor sind nicht vorzüglich, weil rother 
Phosphor kein leicht brennbarer Körper ist. Vielleicht ıst der 
schwarze Phosphor von Thenard leicht brennbar und nicht giftig. 
Die Eigenschaften des gewöhnlichen Phosphors, um leicht brennbar 
und giftig zu sein, hangen aber so sehr zusammen, dass es zwei- 
felhaft ist, ob je eine andere Art Phosphor gefunden werden wird, 
die sich gut für Zündhölzchen wird verwenden lassen. 


11. 2/ 


394 


zu kneten. Man senkt einige derselben in den gläsernen 
Kolben, bewegt sie auf und ab, und untersucht sie von Zeit 
zu Zeit auf Phosphorescenz, indem man eines dieser Kügel- 
chen in einer porcellanenen Schale auf einem Wasserbade 
‚erwärmt. Ist Phosphoreseenz zu beobachten, so kann man 
die von Lipowitz angegebene Reaction mit nitras argenti 
und anderen Metallsalzen versuchen, welche die Verbindun- 
gen von Phosphor und Schweiel zerlegen, oder man kann 
auch das Vorhandensein von Phosphor durch Oxydation mit 
Salpetersäure nach Lipowitz darthun !). Wenn man nach 
langer Erwärmung keine Phosphorescenz beobachtet, so rei- 
nige man ein noch nicht weiter bearbeitetes Kügelehen mit 
verdünnter Säure und darauf mit Wasser; sieht man dann 
noch keine Phosphorescenz, so behandele man ein Kügelchen 
mit Alkohol und Ether, wieder mit Wasser und erwärme es 
darauf. Endlich bringe man ein Kügelchen in den Apparat 
von Mitscherlich. Erhält man einen deutlich wahrnehm- 
baren Ring, so kann man zur Bestätigung diejenigen Körper 
einwirken lassen, welche die Phosphorescenz verhindern; 
dies sind auch wichtige Reactionen. 

Erhält man die erwähnten Reactionen nach der Methode 
von Lipowitz nicht, so versuche man mit einer neuen 
Menge der verdächtigen Substanzen die Methode von Mit- 
scherlich. Erhält man dann Ringe, so kann der Fall vor- 
liegen, dass in der Phosphor enthaltenden Masse schon ein 
Uebermaass von Schwefel vorhanden war. 


Methode zur Auffindung des Phosphors von Graf’). 


Graf hält die Methode von Lipowitz für überflüssig, da 
der Phosphor ganz leicht abgesondert werden kann, wenn 


1) Man würde den Schwefel auch mit Kalı oder Natron digeriren 

.. Können, wodurch der Phosphor in Phosphorsäure übergeführt wird. 
(Graham—-Ötto.) 

2) Jahresbericht von Liebig und Kopp, für 1855, S. 781. (Vier- 
teljahresber. der Pharmacie, 4, 61.) 


395 


man den Speisebrei unterhalb der Kochhitze mit Salzsäure 
digerirt, wodurch alle Substanzen gelöst würden, und der 
Phosphor ungelöst zurückbleibe. 

Wenn dies auch wirklich unter manchen Umständen zum 
Theile geschähe, so ist darum doch nicht anzunehmen, dass 
Salzsäure alles löslich macht. Ueberdiess schlägt feinver- 
theilter Phosphor nicht, oder wenigstens nicht leicht in einer 
specifisch schwereren Flüssigkeit nieder. 

Es ist klar, dass ein Körper wie der Schwefel, der eine 
so ausserordentlich grosse Verwandtschaft zum Phosphor hat, 
sehr geeignet ist, um den Phosphor in sich aufzunehmen. 
Wenn Graf glaubt, dass die Methode von Lipowitz über- 
flüssig ist, so stimmen wir ıhm nicht bei, sondern halten 
sie geradezu für die beste. Graf scheint nur mit reinem 
Phosphor experimentirt, und wohl nicht daran gedacht zu 
haben, dass der Phosphor in dieser Form wohl nur sel- 
ten in einem Vergiftungsfalle vorkommt. Gewöhnlich wird 
wohl der Phosphor in der Form von Zündholzköpfchen , 
welche in die Speisen gethan sind, genommen werden; 
dies muss man wenigstens für möglich halten, wenn Phos- 
phorvergiftung vermuthet wird. Nun kommen aber oxydi- 
rende Körper (chloras potasse z. B., nitrum u. s. w.) in den 
Zündhölzehen vor, welche mit Salzsäure behandelt, Chlor 
liefern; dieses Chlor wirkt zum Theile indireet oxydirend 
auf den Phosphor. 

Die Methode von Lipowitz hat daher durch die Bestrei- 
tung von Graf eher gewonnen als verloren, denn durch sie 
ist es gerade klar geworden, wie bei dieser Methode bei- 
nahe alle nachtheilisen Momente, die einwirken können, 
vermieden werden, was gerade, der Hauptzweck einer guten 
chemisch-forensischen Untersuchung sein muss. 


Quantitative Bestimmung des Phosphors bei einer 
chemisch-forensischen Untersuchung. 


Es ist nicht die Qualität sondern die Quantität einer Sub- 
stanz, welche bestimmt, ob sie als Gift zu betrachten ist. 
27* 


396 


Das ganze Menschengeschlecht ist Sklave sogenannter Gif- 
te, ohne bis jetzt vergiftet zu sein. Man kann daher nicht 
sagen, dass diese oder jene Substanz ein Gift sei, ohne 
dass man die Quantität vermeldet, die drohend oder tödtlich 
ist, sowie die Umstände, welche auf diese Menge Einfluss 
haben. Wiewohl dies nun beinahe stets unmöglich ist, so 
bemüht man sich doch, diese Menge so gut wie möglich in- 
nerhalb gewisser Grenzen zu bestimmen, und es ist daher 
die Aufgabe der Chemie, die Menge, in welcher ein Gift 
dargereicht worden ist, anzuweisen. Die Bestimmung der 
Quantität ist nicht nur wichtig, wenn der Vergiftete den 
Folgen unterliegt, sondern auch wenn die Vergiftung keine 
nachtheiligen oder tödtlichen Folgen gehabt hat. 

Wir haben einen Versuch gemacht, die in einem Vergif- 
tungsfalle verbrauchte Menge Phosphor so genau wie möglich 
zu bestimmen, und dabei folgende Regel gestellt: 

1°). Dass der Phosphor als solcher abgeschieden werden 
muss, oder in Verbindung mit einem Körper, so dass seine 
Eigenschaften beibehalten werden. 

2°). Das jede Methode, welche den Phosphorgehalt zu 
hoch angiebt, verworfen werden muss, damit man dem Be- 
schuldigten die Umstände nicht erschwere, wo die Wissen- 
schaft ungewiss ist. 

Die Methode von Mitscherlich kann mit einer kleinen 
Modification zur Bestimmung der Quantität dienen, wenn 
man nämlich die Luft abschliesst. 

Man leite die Abkühlungsröhre durch einen Kork, der sich 
in einer Flasche befindet, welche das Destillat auffängt, und 
lasse durch denselben Korkstopfen noch zwei gläserne Röhren 
mit daran gebundenen Caoutchoukröhrehen gehen. Durch das 
eine dieser Röhrchen leite man Kohlensäure in die Flasche, 
die man durch die andere entweichen lässt. Da nun Luft 
in dem Apparate vorhanden ist, so lässt man eine Zeit lang 
Kohlensäure durch denselben streichen, ehe man erwärmt, 
und destillirt dann — unter einem fortwährenden Kohlen- 
säurestrome — den Phosphor ab, den man sammelt und wägt. 

Das Destilliren des Phosphors geschieht aber nach dieser 


397 


Methode sehr langsam, und wenn Schwefel in der Phosphor 
enthaltenden Masse vorhanden ist, wird der Phosphor höchst 
wahrscheinlich Schwefel haltend sein. Darum ist diese Me- 
thode sehr empfehlenswerth. 

Die Methode von Lipowitz, wenn etwas modifieirt, scheint 
uns besser für die quantitative Bestimmung zu sein. Ich 
setze voraus, dass man, durch Digestion der verdächtigen 
Masse mit Stückchen Schwefel, allen Phosphor an Schwefel 
sebunden habe. 

Man oxydire dann den Phosphor enthaltenden Schwefel 
mit Salpetersäure und bestimme so den Phosphor. Je län- 
ger die verdächtige Masse mit den Schwefelstückchen dige- 
rirt war, um so genauer kann die Phosphorbestimmung sein. 

Der Phosphorgehalt wird aber nach beiden Methoden stets 
zu niedrig ausfallen, man mag arbeiten, wie man will. 

Ich muss hier wiederholt daran erinnern, dass die Zünd- 
holzköpfehen, welche Schwefel enthalten, Phosphor in die- 
sem Schwefel zurücklassen werden. Es ist doch kein Grund 
vorhanden, warum aller Phosphor diesen Schwefel verlassen 
sollte, um sich mit dem Schwefel zu verbinden, der ab- 
sichtlich zum Behufe des Versuches in Stückchen hinzuge- 
fügt wurde. 

Enthalten die Zündholzköpfehen viel Schwefel, so kann 
die Methode von Lipowitz nicht zur quantitativen Bestim- 
mung gebraucht werden. 

Wir haben noch andere Verfahrungsweisen zur quantita- 
tiven Bestimmung des Phosphors versucht, wie z. B. die 
Lösung des in der Masse vorhandenen Phosphors in Schwe- 
felkohlenstoff oder Ether. So kann man allenfalls den Ge- 
halt des Phosphors von Zündholzköpfehen bestimmen, wenn 
man sie aus der verdächtigen Masse gesammelt hat. Phos- 
phor im Mageninhalt oder sonstigen Gemischen kann so 
nicht bestimmt werden, da zu viel von dem Lösungsmittel 
in der Masse zurückbleibt, und damit viel Phosphor verlo- 
ren geht. Vielleicht finden wir später Gelegenheit, hierauf 
ausführlicher zurückzukommen. 


Natürliches und künstliches Phosphoreseiren 
von Fischen. 


von 


Dr. E. MULDER. 


Sıkai uns bekannt ist, sind bis jetzt nie entscheidende 
Versuche über das Phosphoreseiren von Fischen im Zustande 
der Zersetzung gemacht, wiewohl viele Meinungen hierüber 
geäussert wurden. 

Das Experiment muss zur Erkenntniss der fremden oder 
schönen Erscheinung an Fischen führen, dass sie bei der 
Zerlegung leuchten, oder wie man es gewöhnlich nennt, 
phosphoreseiren ). 

Wenn man die Erklärung irgend einer Erscheinung auf 
experimentellem Wege sucht, so kann man nicht umhin da- 
bei von irgend einer Voraussetzung auszugehen, welche man 
dann an dem Resultate des Experimentes prüft, um so die 
Unwahrscheinlichkeit, Wahrscheinlichkeit oder Gewissheit der 
Voraussetzung zu bestimmen. 


1) Wenige Worte werden in verschiedener Bedeutung gebraucht als 
das Wort Phosphorescenz. Dem Leuchten doch kann eine phy- 
sikalische oder chemische Ursache zu Grunde liegen, und diese bei- 
derlei Arten von Ursachen sind höchst zahlreich. Hieraus folgt, dass 
man eine Masse Erscheinungen unter der Benennung von Phospho- 
rescenz zusammenfasst, welche meistens nur die Resultate hetero- 
gener Ursachen mit einander gemein haben, nämlich Liehtproduetion. 


399 


Beim Aufsuchen der Ursache des Phosphoreseirens der Fi- 
sche, wie es vorkommt, wenn sie einige Zeit der Luft aus- 
gesetzt werden, haben wir vorausgesetzt, dass eine gewisse 
Zersetzung dabei statt finde, wodurch Phosphor frei werden 
könnte. 

Um nicht ausführlicher zu sein als nöthig ist, und um 
zugleich die verschiedenen Versuche besser hervortreten zu 
lassen, haben wir die Versuche geordnet kurz wiedergegeben. 

Der Steinbutt (pleuroneetes maximus) mit dem wir haupt- 
sächlich experimentirt haben, phosphoreseirte in der ersten 
Zersetzungsperiode, um darauf ganz mit dem Leuchten auf- 
zuhören. Das Licht ist beweglich und nicht intensiv; es 
verschwindet jedesmal an einigen Stellen, um wiederum zu- 
rückzukehren. Das Phosphoreseiren wird namentlich am Bau- 
che wahrgenommen, aber auch an den Finnen, an denen bei 
manchen Fischen das Leuchten erst anfängt. 

Trotzdem dass der Fisch in seiner ersien Zersetzungspe- 
riode leuchtet, wurde doch dabei ein sehr ekeliger Geruch 
produeirt. Dabei wird Ammoniak in grosser Menge frei. 

Versuch I. Ein Stück eines phosphoreseirenden Fisches 
wurde nach der modifieirten Methode (S. 360) von Lipowitz 
behandelt, und der bei dem Versuche gebrauchte Schwefel 
auf Phosphor untersucht. Der Schwefel phosphoreseirte aber 
nicht, nachdem er auf dem Wasserbade erwärmt war. 

Versuch I. Ein Stück eines phosphoreseirenden Fisches 
wurde in dem Apparate von Mitscherlich auf Phosphor 
untersucht. Dabei wurden alle Cautelen (S. 367) in Acht 
genommen. Weder Ringe noch auch die geringste Spur von 
Phosphorescenz wurde wahrgenommen. 

Versuch III. Wenn etwas Schwefelsäure zur Bindung des 
frei gewordenen Ammoniaks zu der zu untersuchenden Sub- 
stanz gefügt wurde, so wurde dennoch keine Phosphorescenz 
in dem Apparate von Mitscherlich beobachtet. 

Versuch IV. Wenn ein phosphoreseirender Fisch (Stein- 
butt) auf dem Wasserbade erwärmt wird, so hört das Phos- 
phoreseiren auf. Wärme hemmt daher das Phosphoreseiren. 
Hieraus kann man aber keinen bestimmten Schluss ziehen, 


400 


da ein in Zersetzung, befindiicher Fisch einen Complex von 
chemischen Processen aufzuweisen hat !). 

Versuch V. Wenn man mit einem Blasebalge Luft auf 
einen phosphorescirenden Fisch bläst, so hört das Phospho- 
resceiren oft augenblicklich auf, um unmittelbar darauf wie- 
derum anzufangen?). In anderen Fällen wird das Licht 
während des Blasens schwächer und beweglicher. 

Wenn man einen phosphoreseirenden Fisch genau beobach- 
tet, so bemerkt man stets einige Bewegung: des Lichtes, 
weiche nach Versuch V wahrscheinlich”'durch Bewegung von 
 Lufttheilehen bewirkt wird. 

Versuch VI. Wird ein phosphoreseirender Fisch mit Al- 
kohol oder Ether angefeuehtet, oder in eine Flasche gethan, 
worin sich diese Flüssigkeiten befinden, so hört das Leuch- 
ten oft Stunden lang auf. Ebenso wirkt Terpentinöl. Das 
Phosphoreseiren hört aber bei diesen Versuchen nicht unmit- 
telbar auf, sondern erst nach einiger Zeit. 

Versuch VII. Wenn ein phosphoreseirender Fisch mit Chlor- 
wasser behandelt wird, so dauert es sehr lange, ehe das 
Leuchten aufhört. Hierbei wird, wie sich von selbst versteht, 
Chlor gebunden an Fischsubstanz. 

Davon kann man sich leicht überzeugen, da viel Chlor 
gebunden wird, und dies die Ursache sein kann, dass Chlor- 
wasser das Leuehten nicht unmittelbar unterdrückt; darum 
muss man wiederholt Chlorwasser hinzufügen , soll das Leuchten 
anders ganz aufhören. 

Versuch VIIL. Ammonia liquida verhindert das Leuchten 


1) Der Amanuensis am hiesigen chemischen Laboratorium theilte mir 
mit, dass einer seiner Freunde in Folge des Genusses von Garne- 
len, welehe nicht mehr frisch waren, krank wurde. Sowohl die 
Garnelen als auch die Exeremente des Kranken leuchteten im Dunkeln. 

Es kann daher nützlich sein, die Exeremente bei Phosphorver- 
giftung auf ihr leuchtendes Vermögen zu untersuchen. 

2) Dasselbe findet mit Phosphor und Phosphor haltendem Schwefel 
statt. Die Ursache muss in einer dabei geschehenden Abkühlung 
gesucht werden, die zur Folge hat, dass keine Oxydation statt fin- 
den kann und dabei das Verdampfen des Phosphors geschwächt wird. 


401 


\ 


der Fische nur dann, wenn er in grosser Menge vorhanden 
ist. Dies ist ganz in Uebereinstimmung damit, dass Ammonia 
während des Phosphoreseirens frei wird. 

Versuch IX. Ein Stück eines phosphoreseirenden Fisches 
wurde in eine Flasche unter Wasser gethan; das Phospho- 
resciren hielt Stunden lang an. Dieser Versuch erinnert an 
den interessanten von Berzelius, nach dem Phosphor, bei 
gehörigem Abschlusse der Luft, unter Wasser geschüttelt , 
die ganze Flüssigkeit leuchten macht. 

Aus diesen Versuchen können wir den Schluss ziehen, 
dass Phosphor als solcher wahrscheinlich nicht die Ursache 
des Leuchtens der Fische sein kann. 


II. Eine zweite Voraussetzung, welche den Gang der Un- 
tersuchung leitete, war die, ob auch Phosphorwasserstoff 
(PH°) Ursache des Leuchtens sein könne. 

Wir fingen mit dem einfachst denkbaren Falle an, ob 
nämlich Phosphor bei der Zersetzung von Fischen frei werden 
könnte. Wiewohl wir Phosphor nicht darstellen konnten, so 
folgt daraus noch nicht, dass hiermit auch diese Vorausse- 
tzung ganz abgewiesen wäre. Da wir aber nach der Methode 
von Lipowitz und Mitscherlich bei faulenden Fischen 
keinen Phosphor darstellen konnten, so wollen wir die zweit- 
genannte Meinung prüfen, ob nämlich Phosphorwasserstoffe 
und darunter PH? bei der Zersetzung von phosphoreseiren- 
den Fischen frei werden. Diese Voraussetzung schliesst sich 
enge an die erste an. Wenn nämlich beim Faulen der 
Fische Phosphor frei wird, so vereinigt er sich sehr wahr- 
scheinlich mit dem bei der Fäulniss freiwerdenden Wasser- 
stoff, ebenso wie dies der Schwefel, ja der Kohlenstoff und 
Stickstoff thun. Wenn dies wirklich der Fall wäre, so wird 
es dadurch begreiflich, warum die Methode von Mitscher- 
lich und Lipowitz keinen Phosphor’als solchen anweisen 
konnten. 

Um nun den Grad der Wahrscheinlichkeit der zweiten 
Voraussetzung zu prüfen, müssen wir wissen: 1°. unter wel- 
chen Umständen selbstentzündlicher Phosphorwasserstoff ent- 


402 


steht und 2°. unter welchen Umständen dieser Phosphor- 
wasserstoff zerlegt wird. 

Es würde nach der zweiten Voraussetzung bei der Fäulniss 
des Fisches selbstentzündlicher Phosphorwasserstoff gebildet 
werden, der sich auf der äusseren Oberfläche ansammelt und 
sich da durch die Berührung mit der Luft entzündet. 

Wir glaubten hier mit einleitenden Versuchen mit Phos- 
phorcaleium anfangen zu müssen, das, wie bekannt, in einer 
feuchten Atmosphäre phosphoreseirt, unter langsamer Bildung 
von Phosphorwasserstoff PH?. 

Versuch X. Wenn Ether auf Phosphorcaleium gethan wur- 
de, so fand keine Gasentwickelung statt. Wurde Wasser 
zum Ether gefügt, so wurde zwar Gas entwickelt, aber 
selbstentzündliches Phosphorwasserstoffgas wurde nicht sicht- 
bar gebildet. 

Versuch XI. Ebenso verhält sich Alkohol. Es war schon 
bekannt, dass Phosphor mit einer alkoholischen Kalilösung 
behandelt keinen selbstentzündlichen Phosphorwasserstoff giebt. 

Wir sagten, dass bei der Behandlung von Phosphorcaleium 
mit verdünntem Ether oder Aleohol sichtbar kein selbstent- 
zündliches Phosphorwasserstoffgas gebildet wird, halten aber 
trotzdem das Auftreten desselben für wahrscheinlich. Graham 
hat nämlich dargethan, dass PH? durch Alkohol und Ether 
seine Haupteigenschaft einbüsst, vielleicht in Folge einer 
Temperaturerniedrigung oder der Löslichkeit in Alkohol und 
Ether, wodurch PH? zurückbleibt, während nur PH? entweicht. 
Wenn man nur wenig Alkohol gebraucht, so entzündet sich 
die Flüssigkeit anfangs nicht von selbst, wohl aber später, 
wenn nämlich der Alkohol mit PH» gesättigt ist. 

Filtrirt man die Flüssigkeit, welche man durch Behand- 
lung von Phosphorcaleium mit Alkohol erhält, so haucht 
jeder Tropfen einen Dampf aus, der wahrscheinlich von 
darin aufgelöstem PH? herrührt. Es ist bekannt, dass Säu- 
ren wie z. B. Salzsäure PH? zerlegen und dadurch ihrer 
Bildung entgegenwirken. 

Versuch XII. Wenn Phosphorealeium mit Ammonia liquida 
behandelt wird, so entsteht PH? und PH?. Fügt man nun 


403 


etwas Alkohol hinzu, so hört die Bildung desselben so- 
fort auf. 

Versuch XII. Phosphorealeium in kochendes Wasser ge- 
than, giebt zur Entstehung des selbstentzündlichen Phosphor- 
wasserstoffgases Veranlassung; die Bildung wird durch Tem- 
peraturerhöhung befördert. 

Versuch XIV. Phosphorealeium in verdünnter Schwefel- 
säure oder Salzsäure entwickelt PH? und PH?; es tlut dies 
sogar in concentrirter Schwefelsäure und Salzsäure. Dieser 
Versuch muss befremden, wenn man bedenkt, dass PH” durch 
diese Säuren zerlegt wird. Aus dem Versuche aber geht 
hervor, dass Schwefelsäure und Salzsäure, wenn sie auch 
PH? zerlegen, doch seine Bildung darum nicht verhindern. 
Seine Bildung wird sogar durch Schwefel- und Salzsäure be- 
fördert; die Zersetzung von Phosphorealeium und das daraus 
hervorgehende Auftreten von PH? und PH? findet geschwinde 
statt. Diese Gase entweichen zu geschwinde, um den Säu- 
ren die Zeit zu lassen, das PH? ganz zu zerlegen. 

Versuch XV. Wenn man einen phosphoreseirenden Fisch 
mit Salzsäure anfeuchtet, so hört das Leuchten auf. 

Dieselben Ursachen, welehe das Entzünden von selbstent- 
zündlichem Phosphorwasserstoffgas verhindern, sind auch 
dem Leuchten von Phosphor hinderlich. 

Wenn wir nun die Resultate der Versuche mit Phosphor- 
caleium und derjenigen, welche wir an phosphoreseirenden 
Fischen gemacht haben, mit einander vergleichen, so wird 
es daraus wahrscheinlich, dass die Erscheinung des Leuch- 
tens an Fischen durch selbstentzündliches Phosphorwasser- 
stoffgas hervorgerufen wird. 

Das Aufhören des Leuchtens, wenn der Fisch erwärmt wird, 
macht es wahrscheinlich, dass dadurch das Freiwerden des 
Wasserstoffs, und somit die Bildung von Phosphorwasserstoff 
aufhört; Temperaturerhöhung hemmt nämlich die Fäulniss. 

Auch das Aufhören des Leuchtens der Fische, nach Ein- 
wirkung von Salzsäure, macht es sehr wahrscheinlich, dass 
dieses Leuchten durch selbstentzündliches Phosphorwasser- 
stoffgas hervorgebracht wird. 


404 


Unter welchen Umständen kann nun beim Faulen der Fi- 
sche selbstentzündlicher Phosphorwasserstoff gebildet werden ? 

Wir wollen drei Möglichkeiten annehmen: 

1°. dass Phosphor und Wasserstoff beim Faulen der Fi- 
sche frei werden, 

2°. dass dieser Phosphor von der Phosphorsäure der Fische 
herrühre, 

3°. dass dieser Phosphor von dem manchen Eiweiss- und 
anderen organischen Substanzen eigenen Phosphor 
hergeleitet werden müsse. 

Versuch XVI. Reines Zink mit verdünnter Schwefelsäure 
behandelt, gab Veranlassung zur Wasserstoffentwickelung ; 
der Wasserstoff wurde vermittelst Papierehen, die mit nitras 
argenti und acetas plumbi infiltrirt waren, auf seine Rein- 
heit untersucht. Darauf wurden Stückehen Phosphor in den- 
selben Apparat gethan. Der Geruch von Phosphorwasserstoff 
war leicht wahrnehmbar. Papier mit nitras argenti wurde 
schwarz gefärbt; Papier mit acetas plumbi verfärbte nicht. 

Sobald der Phosphor zum Zinke in Schwefelsäure gefügt 
war, wurde die Wasserstoffentwickelung sofort viel intensiver. 
Wenn der Versuch im Dunkeln gemacht wurde, so sah 
man die Oberfläche der Flüssigkeit jedesmal deutlich phos- 
phoreseiren, und von Zeit zu Zeit zeigten sich Flammen 
von selbstentzündlichem "Phosphorwasserstoff, die so intensiv 
waren, dass sie auch ohne Lichtabschluss deutlich gesehen 
werden konnten!) Die Bildung von PH? und PH? nimmt 
nach langer Einwirkung #0 zu, dass man die Erscheinung zu 
sehen bekommt, welche sich vorthut, wenn man Phosphoreal- 
cium in Wasser legt ?). 

Es ist für diesen Versuch nöthig, dass der Zink chemisch 


1) Diese Erscheinung beobachtet man auch sehr deutlich, wenn man 
ein Stückchen Phosphor an dem negativen Pole einer Batterie be- 
festigt, und beide Pole in Wasser taucht, zu dem ein wenig Schwe- 
felsäure gefügt war. 

2) Dieser Versuch ist sehr geeignet bei Vorlesungen, da man geradezu 
die Entstehung der Verbindung von Phosphor mit Wasserstoff sieht. 


405 


rein sei. Aus diesem Versuche geht daher hervor, dass sich 
Wasserstoff in statu nascenti mit Phosphor zu einer selbst- 
leuchtenden Verbindung vereinigen kann. 

Versuch XVII. Schwefel mit einer geringen Menge Phosphor 
wurde mit reinem Zinke und verdünnter Schwefelsäure behan- 
delt. Die Oberfläche der Flüssigkeit phosphoreseirte recht schön 
im Dunkeln und bisweilen wurden kleine Flammen sichtbar !). 

Aus diesem Versuche geht hervor, dass der Phosphor auch 
in Verbindungen, hier mit Schwefel, sich mit Wassersioff in 
statu nascenti zu PH? verbinden kann. 

Versuch XVII. Weder Phosphorsäure noch phosphorige 
Säure geben die erwähnte Reaction mit Zink und Schwefel- 
säure; sowie man aber eine kleine Menge Phosphor hinzu- 
fügt, sieht man in Dunkeln deutlich das Phosphoreseiren 
an der Oberfläche. 

Versuch XIX. Diese Erscheinung kommt nicht zum Vor- 
scheine, wenn ein electrischer Strom durch eine verdünnte 
Lösung von Phosphorsäure geht. Auch nicht wenn phosphor- 
saures Natron die Phosphorsäure vertritt. Ebenso wenig ge- 
schieht dies in einer mit kali oder ammonia alkalisch gemach- 
ten Lösung van Phosphorsäure. 

Phosphorsäure scheint mithin unter den genannten Umstän- 
den nicht durch Wasserstoff in statu nascenti zersetzt zu werden. 

Das Resultat unserer Versuche macht es daher wahrschein- 
lich, dass das Phosphoreseiren der Fische verursacht wird 
durch Phosphor und Wasserstoff, die als selbstentzündlicher 
Phosphorwasserstoff frei werden. 

Um dies noch näher zu beweisen, werden wir noch den 
Einfluss von Wasserstoff in statu nascenti auf frische Fische 
untersuchen, um zu erfahren, ob der Wasserstoff, der bei 
der Fäulniss von Fischen frei wird, Phosphoreseiren verur- 
sachen kann. 


1) Dieser Versuch kann auch als Reagens auf den Phosphor haltenden 
Schwefel von Lipowitz angewendet werden; dıe Bildung von Phos- 
phorwasserstoffen sowie ihre Eigensehaften sind empfindliche Reactio- 
nen auf Phosphor. 


406 


Wenn der Phosphor sowie der Schwefel in Verbindung mit 
Wasserstoff bei der Fäulniss von Fischen, anderen Thieren 
und thierischen Organen frei wird, wenn daher die Ertwicke- 
lung von Schwefelwasserstoff und Phosphorwasserstoffen durch 
das Freiwerden von Wasserstoff während des Fäulnisspro- 
cess’ bedingt sind, so muss man im Stande sein ein künst- 
liches Phosphoreseiren von Fischen zu produciren, wenn man 
nämlich frische Fische dem Einfluss des Wasserstoffs in 
statu nascenti aussetzt. 

Wenn man Eiweisstoffe mit Wasserstoff in statu nascenti 
in Berührung bringt, so wird Schwefelwasserstoff frei; das- 
selbe muss mit dem Schwefel und dem Phosphor in frischen 
Fischen geschehen, (wenn letzterer nicht als Phosphorsäure 
sondern als sogenannter organischer Phosphor in den Gewe- 
ben enthalten ist) wenn die Ursache der Phosphorescenz 
anders in dem Freiwerden von Wasserstoff und zwar in 
den Verbindungen desselben mit Phosphor gesucht werden 
muss. 

Versuch XX. Wir benutzten zu diesem Versuch ein frisches 
Stück Steinbutt. An beiden Seiten wurden zwei feine Pla- 
tindrähte von einigen Ellen Länge nach allen Richtungen in 
das Fleisch genäht; die Enden dieser Drähte wurden mit 
den Polen einer sehr schwachen Batterie verbunden (2 Bun- 
sensche Cellen). Fast unmittelbar fing das Leuchten an dem 
negativen Pole, an dem der Wasserstoff frei wird, an. Wenn 
man den Strom unterbricht, so wird das Phosphoreseiren 
schwächer, hört auf und fängt bald wiederum von neuem an. 

Man könnte glauben, dass der galvanische Strom die fau- 
lende Zersetzung befördere, und der Fisch daher im Au- 
genblicke des Phosphoreseirens im Zustande der Fäulniss sich 
befinde; das Phosphoresciren unter dem Einfluss des gal- 
vanischen Stromes war aber nur an dem negativen Pole vor- 
handen, wurde beim Unterbrechen des Stromes schwächer, 
um später aufzuhören. 

Fäulniss wird daher nicht durch diesen Strom verursacht ; 
der galvanische Strom hat wohl eine Zersetzung in dem Fi- 
sche verursacht, der zum Theile der beim Fäulnissprocess 


407 


ähnelt. Der Strom nämlich, der eine Zeit lang durch fri- 
schen Fisch geleitet wird, stört das chemische Gleichgewicht, 
welche Störung nicht hergestellt wird, wenn der Strom nicht 
mehr durch den Fisch geht; daher kommt es, dass das Auf- 
hören der Phosphorescenz nur kurze Zeit nach dem Unter- 
brechen des Stromes währt, bald aber wiederum anfängt. 

Es wird aus diesem Versuche sehr wahrscheinlich, dass 
der Wasserstoff in statu nascenti bei der Phosphorescenz eine 
Rolle spielt, ebenso wie der Phosphor der Eiweisskörper oder 
anderer organischen Verbindungen, und dass es keine phos- 
phorsauren Salze sind, welche hier selbstentzündlichen Phos- 
phorwasserstoff produeiren ). 

Wir werden diese Versuche fortsetzen, damit das Wahr- 
scheinliche mehr und mehr Gewissheit erlange. 


1) Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Fleisch und andere thierischen 
Producte auf ähnliche Weise künstlich zum Phosphoreseiren gebracht 
werden können. Ich habe es jedoch noch nicht versucht. — Es 
könnte sein, dass eigenthümliche, leicht zersetzbare Phosphorverbin- 


dungen in Fischen vorkommen. 


INNANAMAAIANANANAAAANANANANAAAANANNINNNNNIINININnnnnnNnNNnnnnAnnN ANNE NNINTNNNNNNnNAnnNN 


Ueber die Wirkung der Respirationsmuskeln 
namentlich der M. intercostales; 


Dr. W. KOSTER, 


Zweitem Prosector an der Universität in Leiden. 


m — 


Im dritten Hefte des zweiten Bandes dieses Archivs kommt 
ein Aufsatz von Herrn A. H. Schoemaker über die Wirkung 
der M. intercostales vor. Ich hatte mich schon früher von 
Zeit zu Zeit mit Beobachtungen über die Art der Respirations- 
bewegungen beschäftigt, und beschloss nachdem ich die er- 
wähnte Abhandlung gelesen, und die Resultate von Schoe- 
maker’s Arbeit mit meinen Ansichten von der Wirkung 
der Respirationsmuskeln im Streite fand, mir durch nähere 
Untersuchung und Erwägung eine Ueberzeugung über diese 
Wirkung der Respirationsmuskeln zu verschaffen. 

Die auf diese Weise erhaltenen Resultate werden hiermit 
dem Leser angeboten. 

Ueber die Wirkung der meisten Muskeln, welche mittelbar 
oder unmittelbar den Brustkasten bewegen können, herrscht 
eine allgemeine Uebereinstimmung unter den Physiologen. 
Alle betrachten das Diaphragma, die M. intereostales externi, 
den M. serratus posticus superior, die M. levatores longi et 
breves, den M. pectoralis minor, den M. serratus anticus 
major als Einathmungsmuskeln, die Bauchmuskeln, den M. 


409 


triangularis sterni, den M. serratus postiecus infer. und die 
Rippeninsertionen der langen Rückenmuskeln als Ausathmungs- 
muskeln. Zu jeder dieser beiden unmittelbar auf die Kno- 
chen des Brustkastens einwirkenden Muskelgruppen gehören 
noch einige anderen, welche namentlich bei kräftigen Respi- 
rationsbewegungen manche Knochen bewegen oder fixiren, 
an denen die Respirationsmuskeln ihren Stützpunkt haben ; 
sie werden gewöhnlich als fixatores beschrieben. Hierher ge- 
hören für die Einathmung: d. M. scaleni, der M. subelavius, 
sterno-cleidomastoideus, die Muskeln, welche das Schulter- 
blatt aufheben und fixiren (levator anguli scapulae, rhom- 
boidei, eueullaris u. s. w.); für die Ausathmung der M. qua- 
dratus lumborum und die Muskeln, welche das Becken fixiren. 
Die Bedeutung dieser Muskeln unterliegt keinem Zweifel, 
wie aus ihrer Lage, ihrem Ursprunge und ihrer Anheftung, 
sowie aus den Bewegungen, welche man künstlich mit densel- 
ben machen kann, hervorgeht. Nicht so übereinstimmend aber 
ist die Meinung über eine andere Muskelgruppe, welche auch 
eine bedeutende Rolle bei der Respiration spielt, nämlich die 
M. intercostales interni. 

Diese Muskeln hat man schon von Alters her bald als 
Einathmungs-, bald als Ausathmungsmuskeln betrachtet, und 
eine gleichzeitige oder abwechselnde Wirkung mit den M. 
externi angenommen. Der erste Theil von Schoemaker’s 
Abhandlung (pg. 197—206) giebt eine sehr vollständige 
Uebersicht der Meinungen, welche die Physiologen hierüber 
geäussert. Zu gleicher Zeit vergleicht er dabei diese Mei- 
nungen mit einander, oder prüft er sie vorläufig an seinen 
Untersuchungen. Es wird da namentlich der Streit zwischen 
Haller und Hamberger ausführlich behandelt. Ersterer nahm 
an, dass die M. intercostales externi und interni zugleich 
wirken, und dass die unteren mehr beweglichen Rippen nach 
den oberen unbeweglichen oder weniger beweglichen führen, 
wodurch die Zwischenrippenräume kleiner werden. Ham- 
berger dagegen glaubte, dass die externi bei der Einathmung, 
die interni bei der Ausathmung wirkten, und berief sich 
dabei auf das Factum, dass die intercostales externi ver- 

II. 28 


410 


kürzt werden, wenn man zwei Rippen nach oben bewegt, 
während die interni verkürzt werden, wenn man zwei Rippen 
nach unten führt. Dieses Factum erklärte er aus der mecha- 
nischen Einrichtung des Brustkastens, und bewies es mathema- 
tisch. Schoemaker erklärt sich schon beim Mittheilen dieser 
historischen Facta als Anhänger der Lehre von Hamberger. 

Schon Galenus hat die Ansicht von Hamberger vorge- 
tragen; Vesalius betrachtete aber die beiden M. intercostales 
als Ausathmungsmuskeln. Borelli hat die Sache zuerst so 
aufgefasst, wie sie später von Haller anseinandergesetzt wor- 
den ist. Als Anhänger von Haller’s Lehre wird Trende- 
lenburg vermeldet. Hutchinson dagegen nahm wiederum 
Hamberger’s Vorstellungsweise an, für die sich auch Don- 
ders und Ludwig erklärten. 

Es ist wohl hier die gepasste Gelegenheit, um anzuweisen, 
dass die Meinung von Hutchinson, als wären die M. in- 
tercostales interni zwischen den Rippen Ausathmungs-, zwi- 
schen den Knorpeln Einathmungsmuskeln schon von Galenus 
ausgesprochen worden ist. Man findet darüber in „Claudii 
Galeni opera omnia, cur. Kühn, Tom. XVII, Part. II, pe. 
988—989” Folgendes: „Ex thoracis museulis qui intercosta- 
les appellantur, duo et viginti sunt fibras naeti longitudine 
contrarias; neque enim, quemadmodum musculi a spina in 
pectoris os finiunt, ita etiam eorum fibrae; sed a costa in 
costam oblique contraria inter se positione exteriores et inte- 
riores ad X litterae similitudinem inseruntur. Exteriores ergo 
fibrae a superioribus in inferiores costarum partes proceden- 
tes, thoracem dilatant, quae vero in profundo sitae sunt, 
ipsum eontrahunt. His vero contrariae sunt, quae secundum 
cartilagineas costarum partes, eas inguam, quae ad peectorale 
os vergunt, habentur. Nam quae in superficie sunt, conlra- 
hunt, quae in profundo, dilatant. (At in notharum costarum 
musculis ad extremum usque eadem est fibrarum natura; hae 
siquidem nusquam infleetuntur.)”’ 

Der Erste, welcher, wie Schoemaker behauptet, das Pro- 
blem von dem richtigen Standpunkte aus auffasste, war Helm- 
holtz, da er zuerst die Aufmerksamkeit auf die zwei verschie- 


411 


denen Typen der Respiration lenkte, nämlich auf das Bauch- 
und Brustathmen. Die M. intercostales externi wären nach 
Helmholtz bei der respiratio thoraeica, die interni dagegen 
bei der respiratio abdominalis wirksam. Meissner erklärte 
sich aus anatomischen Gründen gegen die Lehre von Hamber- 
ser. An dem hinteren Ende der Rippen bis an die anguli 
fehlen die M. intercostales interni, und gerade da würden sie 
die Rippen am meisten nach unten bewegen. Er glaubt, dass 
sowohl die M. intercostales externi, als die interni bei dem 
Zustande des Brustkastens nach der Exspiration sehr schlaf 
sind, und dass die Rippen bei ihrer Zusammenziehung nach 
oben bewegt werden, wodurch die Zwischenrippenräume der 
Reihe nach etwas grösser werden, da die Einathmung mit 
dem Aufheben der obersten Rippe anfängt. Beide M. inter- 
costales werden daher als Einathmungsmuskeln betrachtet. 

Auch Henle verwarf die Ansicht, dass die M. intercosta- 
les abwechselnd wirken. Er wich dabei von allen anderen 
Autoren ab, indem er annahm, dass die oberen Rippen bei 
tiefer Einathmung nach oben, die unteren nach unten bewegt 
werden, wodurch vorzüglich der vertikale Durchmesser des 
Brustkastens vergrössert wird. 

Wenn wir nun erwägen, worauf der Unterschied der Vor- 
stellungen beruht, der zu so verschiedenen Meinungen und 
zu einem oft heftigen Streite Veranlassung gab, so finden 
wir, dass die Frage, ob die Rippen bei der Einathmung alle 
in demselben Maasse und in derselben Fläche nach oben be- 
wegt werden, oder ob die Beweglichkeit und die Bewegungs- 
richtung an verschiedenen Stellen verschieden ausfällt, dabei 
eine Hauptrolle spielt. 

Ist ersteres der Fall, so ist die Lehre Hamberger’s un- 
gezweifelt richtig. Seine eigene Auseinandersetzung und die 
so deutliche Erklärung des Mechanismus der Rippenbewe- 
sung und des Verhaltens der Zwischenrippenräume von 
Donders (Handboek der natuurkunde van den gezonden 
mensch, DI. II. pag. 387, 1851) sind hierfür hinreichende 
Beweise. Auch bei Versuchen an der Leiche, welche man 
täglich wiederholen kann, hat man Gelegenheit zu sehen, 

28* 


412 


dass, wenn man die obere von zwei von dem Brustbein ge- 
lösten Rippen in die Höhe zieht, und so die zwei Rippen in 
die Höhe bewegt, dass dann die M. intercostales externi er- 
schlafft, die interni dagegen gespannt werden. Die Ursache 
dieses Factums geht aus dem eitirten Schema von Donders 
deutlich hervor. Sie liegt in der schief nach unten gerichteten 
Lage der Rippen, wodurch die Zwischenrippenräume beim in 
die Höhe Ziehen von zwei oder mehreren Rippen nothwendiger- 
weise unter den genannten Umständen grösser werden müs- 
sen, bis die Richtung der Rippen gradwinkelig auf die ver- 
tikal gedachte Wirbelsäule geworden ist, während die M. 
intercostales externi, welche von hinten und oben nach vorne 
und unten verlaufen, eine mehr lothrechte Richtung annehmen 
und mithin kürzer werden. Die Sache würde sich geradezu 
umkehren, wenn man die Rippen noch weiter nach oben be- 
wegte, wobei ihre Richtung eine schief nach oben verlau- 
fende werden würde, und wobei die M. intercostales externi 
sich wiederum verlängern müssten, nachdem sie lothrecht auf 
die Rippen gerichtet gewesen sind. 

Ebenso nothwendig erfolgt bei der Bewegung nach unten 
Eschlaffung der M. intereostales interni, deren Lage von vorne 
und oben nach hinten und unten gerichtet ist, dann aber 
mehr lothrecht auf die Rippen wird. Würde man die Rip- 
pen, nachdem die Richtung der M. intere. interni lothrecht 
auf dieselben geworden ist, noch weiter nach unten bewegen, 
so würde auch wiederum das umgekehrte Verhalten eintreten. 
Es geht daraus hervor, wie richtig die Meinung von Gale- 
nus war, dass die M. intercostales, welche zwischen den 
Rippenknorpeln von unten und hinten nach oben und vorne 
verlaufen, bei diesen Bewegungen die umgekehrte Wirkung 
haben müssen von denen, welche sich zwischen den Rippen 
selbst befinden !). 


1) Wie richtig diese Bemerkung auch sein möge, so hat sie doch 
keine Bedeutung für den Mechanismus der Respiration, da die in- 
tercostales ext. zwischen den Rippenknorpeln fehlen, und überdiess, 
wie ich näher darzuthun hoffe, beide intercostales sich gleichzeitig 
bei der Einathmung zusammenziehen. 


413 


Man erhält jedoch ganz andere Resultate, wenn man eine 
Rippe nach der anderen, während sie noch mit dem Brust- 
bein verbunden sind, an der Leiche in die Höhe bewegt. 
Alsdann wird die in die Höhe bewegte Rippe um ihre Axe 
gedreht, das spatium intercostale kleiner und beide M. in- 
tercostales werden schlaff. 

Wenn mithin die Rippen, mit dem Brustbeine verbunden, 
bei der Inspiration in die Höhe bewegt werden, und die Rippen 
dabei in einer und derselben Fläche bleiben, so werden nur 
die M. intercostales externi wirksam sein. Ist die erste Rippe 
aber ganz unbeweglich oder weniger beweglich als die zweite, 
letztere wiederum weniger als die darauffolgende, so wird 
dasjenige Verhältniss gegeben sein, bei dem, wenn man 
den Versuch an der Leiche macht, beide M. intercostales 
schlaff werden, und so während des Lebens wirken. Die 
Bedingung für letzteres Verhalten besteht wirklich, was ich 
als Bestätigung der Untersuchungen von Schoemaker über 
die Beweglichkeit der Rippen bemerken kann. Die Beweg- 
lichkeit der mit dem Brustbeine verbundenen Rippen nimmt 
von oben nach unten zu (S. 212). Hieraus folgt, dass das 
Brustbein bei der Einathmung nicht gleichmässig nach oben 
gezogen, sondern um eine quere Axe bewest wird, wobei 
das untere Ende nach oben und vorne zu gehoben wird. 
Hiervon überzeugt man sich leicht, wenn man die Hand bei 
einer tiefen Einathmung auf seinen eigenen Brustkasten legt. 

Dass die Zwischenrippenräume bei dem Einathmen nach 
Schoemaker grösser werden, scheint jedoch im Streite zu 
sein mit der Annahme einer von oben nach unten zunehmen- 
den Beweglichkeit. Wenn doch die oberste Rippe wenig, jede 
der darauffolgenden aber jedesmal mehr in die Höhe geführt 
wird, so werden die Rippen einander näher rücken und die 
Zwischenräume kleiner werden. Letzteres nahm Haller 
auch an; und S. hat das Maass der Vergrösserung nicht 
mit Genauigkeit bestimmen können. Es ist schwer, beim 
einfachen Wahrnehmen der Veränderung der Zwischen- 
rippenräume bei der Respiration, mittelst des Gefühles, ganz 
unbevorurtheilt zu bleiben. S. glaubte, wenn er die Finger 


414 


während der Inspiration auf die Zwischenrippenräume legte, 
deutlich Vergrösserung derselben wahrnehmen zu können. 
Ich möchte dagegen behaupten, dass ich sie kleiner werden 
fühlte, oder wenigstens keine Vergrösserung bemerkte. Man 
fühlt, namentlich wenn man zwei Finger in zwei auf einan- 
derfolgende Zwischenrippenräume an dem seitlichen Theile 
des Brustkastens legt, und dann langsam und tief einathmet, 
dass die beiden Rippen über denen sich die Finger befin- 
den, sich gleiehmässig unter denselben wegbewegen, ja es 
kam mir sogar vor, dass die untere mehr nach oben hin 
bewegt wurde, was mit der angenommenen Bewegungsart 
der Rippen übereinstimmen würde. Das einzige Mittel um 
in dieser Hinsicht Gewissheit zu erlangen, ist das Messen 
der Rippenabstände nach der Ein- und nach der Ausath- 
mung. Dies hat Schoemaker versucht zu thun; ich stimme 
ihm aber ganz darin bei, dass die direete Messung an dem 
lebenden Körper wegen der Verschiebbarkeit der Haut des 
Brustkastens unausführbar ist. Dagegen scheint mir folgen- 
der Versuch für eine Verengung der Zwischenrippenräume 
bei der Einathmung zu sprechen. Die Entfernung von der 
Mitte des Schlüsselbeines bis an die zehnte Rippe mass ich 
mit einem grossen Zirkel. Diese Entfernung betrug weniger 
nach der tiefst möglichen Einathmung als nach der Ausath- 
mung. Es war aber nicht möglich, um die Zunahme der 
Entfernung nach der Ausathmung genau zu bestimmen, da 
die unterste Rippe alsdann weniger deutlich gefühlt wird. 
Sie betrug aber gewiss nicht weniger als 14 Centim. — 
Die Veränderung, welche die spatia intercostalia bei der 
Respiration erleiden, habe ich auf eine andere Weise mittel- 
bar zu bestimmen versucht. Auf zwei übereinander gelegenen 
Rippen befestigte ich zwei Federn mit einem Stückchen Wachs 
so lothrecht möglich auf dieselben und bestimmte die Entfer- 
nung beider Punkte, wenn so tief wie möglich ausgeathmet 
wurde (in welchem Stande die Federn befestigt wurden), 
und nach tiefst möglicher Einathmung, wobei der Athem so 
lange angehalten wurde, bis die Messung abgelaufen war. 
Es ging hieraus hervor, dass die Federn der vorderen Fläche 


415 


des Brustkastens entlang in einer Fläche in die Höhe be- 
wegt wurden, wobei die gemessenen Punkte einander etwas 
näher rückten. Nur zwischen der 2ien und 3ten Rippe ent- 
fernten sie sich etwas von einander, da der Punkt der obe- 
ren Feder etwas mehr in die Höhe geführt wurde als der 
der unteren. Die Entfernung betrug nach der Ausathmung 5 
m. m., nach der Einathmung 5,2. Zwischen der dritten und 
vierten Rippe nach der Ausathmung 5,2, nach der Einath- 
mung 5 m.m. An der Seitenwand des Brustkastens war 
der Unterschied etwas grösser. Zwischen der siebenten und 
achten Rippe z. B. war die Entfernung nach dem Ausathmen 
2,7 m.m., nach dem Einathmen 2,3, zwischen der sechsten 
und siebenten unter denselben Verhältnissen 3,7 m. m. und 
5,4. Bei dem Einathmen wurden die Federbarten zugleich 
etwas nach dem Brustbeine hingerichtet, namentlich in der 
Gegend der untersten Rippen, so dass eine genaue Messung 
an dem unteren Theile nicht möglich war. Die Entfernung 
der Anheftungsstellen der Federn an dem Brustkasten blieb 
beim Ein- und Ausathmen unverändert, sodass durch diesen 
Versuch nur die Umdrehung der Rippen nach oben und au- 
ssen deutlich wurde. Die zweite Rippe scheint dabei am 
meisten um ihre Längenaxe gedreht zu werden, da die Ent- 
fernung der Federn auf der zweiten und dritten Rippe etwas 
srösser wurde, während von den mehr unterhalb gelegenen 
Rippen die unterste stets mehr als die darüber gelegene um- 
gedreht wurde. 

Die Versuche aber, welche ich an Leichen angestellt habe, 
scheinen mir mehr Gewissheit zu verschaffen. Man hat hier 
den Vortheil, dass die Rippen bloss liegen, und feste Punkte 
an denselben aufgezeichnet werden können, von denen man 
bei der Maassbestimmung ausgeht. Die Haut und die Mus- 
keln wurden an der vorderen und seitlichen Wand des 
Brustkastens bis auf die Rippen und die M. intercostales 
entfernt. Auch der obere Theil des Brustbeins wurde bloss- 
gelegt, so dass ein Loch in demselben gebohrt werden konnte. 
Dureh dieses Loch wurde ein starkes Seil eingeführt, der 
hinteren Wand des Brustbeines entlang mit einer Pincette nach 


416 


aussen gezogen und festgemacht. Dann wurden die beiden 
M. recti abdominis von dem unteren Ende des Brustbeines los- 
gemacht, ohne aber das Diaphragma zu verletzen. Dadurch war 
man im Stande zwei Finger hinter das untere Ende des sternum 
zu bringen, und letzteres mit Kraft in die Höhe zu heben. 
Auf diese Weise war es möglich das Brustbein sowohl an 
seinem oberen als seinem unteren Ende in die Höhe. zu 
ziehen. enn nämlich die Schlüsse von Hamberger und 
Donders richtig sind, so muss die Dimension der Zwischen- 
rippenräume grösser werden, wenn das Brustbein in der 
Richtung seiner eigenen Längsaxe an seinem oberen Ende 
in die Höhe gezogen wird, wobei die Rippen passiv folgen. 
Die M. intereostales sind hier nicht wirksam, und die Rip- 
pen bewegen sich mithin nicht um ihre Axe. Wenn dagegen 
ein Brustkasten in den Zustand gebracht wird, in dem er 
während des Lebens, in Folge der von oben nach unten 
zunehmenden Beweglichkeit der Rippen, nach einer tiefen 
Einathmung sich befindet, so müssen die Zwischenrippen- 
räume kleiner werden. Das Resultat entsprach ganz der Er- 
wartung. Wenn die Leiche befestigt war und darauf kräftig 
an dem in dem oberen Theile des Brustbeines befestigten 
Seile in der Richtung des letzteren gezogen wurde, so wür- 
den die Zwischenrippenräume etwas grösser. So betrug die 
Entfernung der fünften und sechsten Rippe auf der rechten 
Seite, in einer Entfernung von 73 Cm. von dem Knorpel, 
17% m. m., nachdem aber das Brustbein in die Höhe gezo- 
gen war, 19 m. m. Zog man dagegen das Brustbein an sei- 
nem unteren Ende in die Höhe, wobei letzteres von selbst 
nach vorne gedreht, von der Wirbelsäule entfernt wird , so 
betrug die Entfernung derselben Punkte 164 m. m. — Die 
Distanz der dritten und vierten Rippe betrug, 9 Cent. von 
den Knorpeln entfernt, auf der linken Seite 254 m. m. Nach 
dem Heben des Brustbeines auf erstere Weise wurde sie 264, 
auf die zweite 25 m.m. Auf der Mitte des spatium inter- 
cartilagin., zwischen der fünften und sechsten Rippe betrug 
der Zwischenraum 28”; in ersterem Falle wurde er 283”, 


? 
in dem zweiten 27”. Das spatium intercostale zwischen der 


417 


zweiten und dritten Rippe wurde weder auf die eine noch 
auf die andere Weise der Brustbein-Hebung verändert. — Ein 
zischender Laut bei diesen Versuchen bewies das nach innen 
und aussen Treten der Luft der Lungen, namentlich beim 
in die Höhe Ziehen des Brustbeines an seinem unteren Ende. 
Letztere Bewegung erfordert überdiess nur wenig Kraftauf- 
wand, während die Hebung des Brustbeines an seinem obe- 
ren Ende viel Mühe kostet, und nur in geringem Maasse 
möglich war, wegen der Unbeweglichkeit der ersten Rippe. 

Wir glauben aus dem Angeführten den Schluss ziehen zu 
durfen, dass man die Veränderungen, welche die Zwischen- 
rippenräume bei der Respiration erleiden, zu hoch angeschlagen 
hat. Es geht daraus hervor, dass die Vergrösserung, welche 
dadurch entstehen könnte, dass die mehr nach unten gelegenen 
Rippen grössere Bogen nach aussen beschreiben, als die höher 
gelegenen, dass diese Vergrösserung durch die grössere Be- 
wegung der untersten Rippen und das Aufheben des unteren 
Theiles des Brustbeines compensirt wird, wodurch die Rippen 
einander genähert werden. Bei dem Versuche doch an der 
Leiche, der noch am meisten die Bewegung des Brustkastens 
während des Lebens nachahmt, fand eine geringe Verkürzung 
der Zwischenrippenräume statt !. Man kann sich denn auch 
sehr gut vorstellen, dass der Brustkasten in jeder Richtung 
bedeutend erweitert wird, trotzdem dass die Länge der spatia 
intercostalia bei der Einathmung etwas abnimmt. Wenn wir 
die erste Rippe, wie auch aus den Versuchen von Schoe- 
maker hervorgeht, als unbeweglich oder beinahe unbeweglich 
annehmen, so werden alle darunter gelegenen Rippen einen 
Bogen nach oben und aussen beschreiben, wobei sie zu glei- 
cher Zeit so um ihre Axe gedreht werden, dass der untere 
Rand mehr nach aussen, der obere mehr nach innen gerichtet 


1) Auch Vierordt theilt die Meinung, dass die Zwischenrippenräume 
bei der Respiration nur geringe Veränderungen erleiden. „Diese 
Muskeln (die intercostales) haben die Aufgabe, die Rippenintersti- 
tien nahezu constant gross zu erhalten.” Grundriss der Physiologie 
des Menschen, 1'* Lief., S. 160. 


418 


ist. Die Befestigung der Rippen zwischen der Wirbelsäule 
und dem Brustbeine ruft diese Bewegungsweise hervor. Durch 
diese Bewegung der Rippen wird der quere (frontale) und 
durch das gleichzeitige Aufheben und Drehen des Brustbeines 
der von vorn nach hinten verlaufende (sagittale) Durchmesser 
grösser werden, während der lothrechte Durchmesser durch 
die Zusammenziehung und das Senken des Diaphragma sehr 
zunimmt. Die Zusammenziehung des Diaphragma wird die 
unteren Rippen, an denen es befestigt ist, nach oben führen 
und mithin die Wirkung der M. intereostales unterstützen, 
während das Senken der pars tendinea diaphragmatis, an der 
die pars costalis ihren Stützpunkt findet, namentlich durch 
die Zusammenziehung der pars lumbalis bewirkt wird, wel- 
che ihren festen Punkt in der Wirbelsäule hat, an der sie 
inserirt ist. Man vergleiche für diese Beschreibung der Wir- 
kung des Diaphragma die Abbildungen in „Henle’s Muskel- 
lehre, S. 82 und 83.’ Der Stand des Diaphragma, die bei- 
nahe lothrechte Richtung der pars costalis und namentlich 
die Insertion an der Wirbelsäule liefern hierfür hinreichende 
Beweise. | 

Aber ausserdem ist der Druck der Unterleibsorgane, welche 
durch die Zusammenziehung des Diaphragma nach unten 
gepresst werden, von grosser Bedeutung für die Ausdehnung 
des unteren Theiles des Brustkastens.. Der Druck doch wird 
auch auf die Seitenwände des Bauches einwirken und so 
die Bewegung der unteren Rippen nach oben und aussen 
befördern. Viele Physiologen haben sogar angenommen, dass 
das Vorhandensein der Eingeweide in der geschlossenen Bauch- 
höhle unentbehrlich für die genannte Wirkung des Diaphragma 
ist, da die Rippen bei leerer Bauchhöhle nach Zusammen- 
ziehung des Diaphragma nach innen gezogen werden würden. 
Um hierüber Gewissheit zu erlangen, haben direete Versuche 
grössern Werth als alle Raisonnirungen, welche Bezug haben 
auf das Verhalten der Knochen und Muskeln. Es geht denn 
auch aus den Versuchen von Duchenne!) hervor, dass 


1) De l’electrisation localisee.. Paris, Part. II. Chap. II. 


419 


das Diaphragma sich bei Reizung der N. phreniei durch 
einen galvanischen Strom so contrahirt, dass die pars ten- 
dinea sinkt, während ausserdem die unteren Rippen nach 
oben und aussen geführt werden. Dagegen zieht das Dia- 
phragma die Rippen bei leerer Bauchhöhle wirklich nach 
innen. Obgleich nun Beau und Maissiat!) nach ihren 
Versuchen behaupten, dass die Rippen auch nach geöft- 
neter Bauchhöhle durch das Diaphragma nach oben ge- 
führt werden, so darf man doch wohl annehmen, dass der 
Druck der Eingeweide, so lange diese vorhanden sind, ein 
bedeutendes Hülfsmittel abgiebt. Dies wird auch von Dr. 
Gerhardt in seiner eben erschienenen Verhandlung über 
das Diaphragma angenommen. Er macht auch darauf auf- 
merksam, dass die M. intereostales dadurch, dass sie sich 
zugleich mit dem Diaphragma zusammenziehen, letzteres na- 
mentlich in der Bewegung der unteren. Rippen nach oben 
und aussen unterstützen werden, was mit der oben von mir 
gegebenen Beschreibung ganz übereinstimmt. Da nun die 
unteren Rippen in die Höhe bewegt werden, so wird die 
Zusammenziehung der pars costalis nicht mit so viel Kraft 
auf das Senken der pars tendinea einwirken können als die 
pars lumbalis, welche an der Wirbelsäule einen Insertions- 
punkt hat, der nicht von seiner Stelle rückt. 

Bei tiefer Inspiration können nun die Muskeln, welche 
ich früher als fixatores bezeichnet habe, mitwirken. 

Die M. scaleni werden die erste und zweite Rippe fixiren, 
und soweit ihre geringe Beweglichkeit es zulässt, in die 
Höhe führen; der sterno-eleidomastoideus fixirt das Schlüs- 
selbein und dadurch mittelbar die erste Rippe. Dabei nun 
können d. M. serratus antic. major und der pectoralis minor 
das Aufheben der Rippen befördern, wenn das schulter- 
blatt feststeht. Auf letztere Weise versuchen Emphysematiei 
noch soviel Luft wie möglich in den Lungen zu bewegen. 


1) Archives genrales de medecine. 1843. IV Serie. Tom. II. p. 256. 
2) Der Stand des Draphragmas, Physikalisch-Diagnostische Abhandlung. 
Tübingen 1860. 


420 


Oft findet man sie aufrecht sitzend, beide Hände auf den 
Rändern des Bettes gestützt und die Schultern hoch aufge- 
hoben. | 

Da man sich nun einmal bei der Betrachtung der M. in- 
tercostales als Anhänger der Lehre von Haller oder von 
Hamberger, die zwei grössten Vorkämpfer auf diesem Ge- 
biete, zu erklären pflegt, so bin ich im Gegensatz zu Schoe- 
maker eher geneigt, mich unter die Fahne des Ersteren zu 
stellen, obschon in Besonderheiten Meinungsunterschied vor- 
kommen kann. Es fällt mir dabei nicht ein, den Werth und 
die Wahrheit der Demonstrationen von Hamberger und 
Donders, deren Beweisgründe auch Schoemaker benutzt, 
verkürzen zu wollen. Wenn die Respiration wirklich während 
des Lebens so statt fände, als die Schemata und Instru- 
mente, welche man zur deutlicheren Vorstellung der ab- 
wechselnden Wirkung der M. intercostales verfertigt hat !), 
dies voraussetzen, so würde die Lehre von Hamberger 
unwiderlegbar sein. Haller hat aber schon bemerkt, dass 
die Beweglichkeit aller Rippen nicht dieselbe ist. Nur in 
diesem Falle, und wenn sie in einer Fläche in die Höhe gin- 
sen, würden die Zwischenrippenräume bei der Einathmung 
grösser, bei der Ausathmung kleiner werden, und die M. in- 
tereostales abwechselnd wirken; „sed hujusmodi costas Deus 
nobis non dedit,” würde ich mit Haller sagen dürfen, und 
annehmen, dass die gesammte Contraction der Zwischenrippen- 
muskeln die Rippen in die Höhe führt, wodurch die Zwischen- 
rıppenräume elwas kleiner werden. 

Sehon a priori darf eine abwechselnde Wirkung der M. in- 
tercostales, wie namentlich Henle schon demonstrirte, als 
unwahrscheinlich betrachtet werden. Bei der Einathmung doch 
würde die hintere Portion der äusseren und die vordere 
Portion der inneren Lage einer dünnen Muskelausdehnung, 


1) Ein dergleiches Instrument hat auch Groux bei seinem letzten 
Besuche vorgezeigt. Profr. Halbertsma hat ein viel einfacheres 
und zweckmässigeres verfertigt, das sich im der Instrumenten-Ver- 
sammlung des anatomischen Kabinets in Leiden befindet. 


421 


und bei der Ausathmung würde der hintere Theil ihrer in- 
nersten und der vordere ihrer äusseren Lage thätig sein 
müssen! Ueberdiess fehlt dem hinteren Theile der Rip- 
pen die innere Lage, gerade da, wo sie am kräftigsten 
wirken könnte, und an der vorderen Seite wird die äus- 
sere Lage durch eine starke sehnenfaserartige Ausdehnung 
ersetzt. Spricht aber nicht auch die Gegenwart der liga- 
menta coruscantia gegen eine Vergrösserung der spatia in- 
tercostalia? Sie würden dabei ausgedehnt werden müssen. 
Und welch’ eine zusammengesetzte scheinbar verwirrte Ein- 
richtung, während die Muskeln, welche so verschieden wir- 
ken müssen, durch einen Nerven versehen werden! Wie 
viel einfacher und deutlicher wird die Vorstellung, wenn 
man die gleichzeitige Wirkung der beiden intercostales an- 
nimmt. Es bleibt dann nur die grosse Schwierigkeit, dass 
eine Verkleinerung, oder wenigstens gewiss keine Vergrö- 
ssesung der Zwischenrippenräume statt finden muss. Die Ver- 
srösserung dieser Räume beruht bis jetzt aber viel weniger 
auf positiven Messungen als auf den mathematischen Demon- 
strationen von Hamberger. Auch Schoemaker’s directe 
Messungsversuche sind nicht gelungen und meine Beobach- 
tungen und Versuche, die ich oben erwähnt, sprechen eher 
für eine Verkleinerung der Zwischenrippenräume bei der Ein- 
athmung. Ueberdiess hat er seinen Gegnern eine gefährliche 
Waffe gegeben, indem er behauptet, dass die M. intercos- 
tales interni auch bei der Einathmung die Wirkung der 
externi unterstützen können, wiewohl sie ausgedehnt werden 
(S. 224). Ebensogut wie er annimmt, dass die gespannt 
werdenden interni bei der Einathmung mitwirken, weil seine 
Antagonisten kräftiger wirken, darf ein Anderer annehmen, 
dass die externi bei der Ausathmung wirksam sind, auch 
wenn sie gespannt werden, da die Bauchmuskeln und an- 
dere M. exspiratorii auch stärker sind als sie. Auf diese 
Weise würden die beiden M. intercostales bei der In- und 
Exspiration wirken und die ganze Frage würde auf das An- 
nehmen oder Läugnen einer abwechselnden Spannung des 
einen oder anderen Muskels redueirt sein. So würden Ham- 


422 


berger und Haller einander über dem Grabe die versöh- 
nende Hand reichen können, und auch meine Vorstellung 
würde nur darin von der Schoemaker’s abweichen, dass 
ich eine Verkleinerung. der spatia intercostalia bei der Ei- 
nathmung annehme, und nur unter besondern Umständen, 
wie bald näher ausgeführt werden wird, die M. intereostales 
als Ausathmungsmuskeln auftreten lasse !). 

Wenn die Einathmung auf die beschriebene Weise statt 
findet, (wobei wir vorläufig das Problem der Brust- und Bauch- 
athmung noch unberücksichtigt lassen) welche Muskeln be- 
wirken dann das Ausathmen ? Ich möchte mich hier ebenso 
wie Schoemaker ganz an Helmholtz anschliessen, der 
annimmt, dass gewöhnliches ruhiges Ausathmen kaum einige 
Muskelwirkung erfordert. Die Elasticität des Lungengewe- 
bes, die Torsion der Rippenknorpeln und das Aufhören der 
Contractionen der Einathmungsmuskeln sind hier gewiss hin- 


1) Auch Gerhardt kommt in seinem oben citirten Werkchen zu dem 
Schlusse, dass die M. intercostales gleichzeitig wirken: „Genossen 
der Thätigkeit des Zwerchfells, Muskeln. die mit den Brustkorb 
erweitern helfen, sind bei ruhigem Athmen vorzüglich die M. in- 
tercostales, jedenfalls die äusseren, möglicher-, ja wahrscheinlicher- 
weise auch die inneren.” Dabei verweist er um seine Meinung zu 
unterstützen auf dıe Beobachtungen von Ziemsen (Deutsche Kli- 
nik, 1858, N°. 16), welche auch Schoemaker erwähnt. Ziem- 
sen hatte Gelegenheit an einem Individuum, dessen M. pectoralıs 
major und minor fehlten, Versuche anzustellen. Er fühlte hier 
sehr deutlich, dass die Rippen sich einander nähern, wenn sie 
sich bei der Emathmung nach oben bewegen, sodass sogar die Brust- 
wand in den Zwischenrippenräumen ein wenig einsinkt. Nament- 
lich durch das Hervorrufen von kräftigen Contractionen der inter- 
costales durch einen galvanischen Strom überzeugte er sich von 
der Verkleinerung der Zwischenrippenräume, während sie bei der 
Ausathmung etwas grösser und nach aussen gewölbt werden. Wenn 
7. den Strom nur auf die M. intercostales internı einwirken liess, 
erhielt er dasselbe Resultat: die Rippen werden auch durch ihre 
Zusammenziehung in die Höhe geführt. Der apodietische Ausspruch 
von Schoemaker. „Diese Beobachtung beweist daher nichts ge- 
gen die Lehre von Hamberger,” scheint mithin nicht sehr be- 
gründet. 


425 


reichend. Es können aber der M. triangularis sterni, die 
subcostales, der sacrolumbalis unä die Insertionen des longis- 
simus dorsi an die Rippen, der serratus post. inf. und bei 
kräftigem Ausathmen, namentlich die Bauchmuskeln und der 
M. quadratus lumborum allen Forderungen genügen. Eine 
andere Frage ist es, ob die M. intercostales ihre Wirkung auch 
umkehren können, und die oberen Rippen nach unten ziehen, 
wenn die untere Rippe fixirt ist? Diese Frage muss bejaht 
werden, so dass eine Rippe, welche an und für sich am mei- 
sten beweglich ist, zeitlich zum festen Punkte gemacht werden 
kann, wie Schoemaker richtig annimmt; er lässt dabei 
aber nur die M. intercostales interni wirken. Die geringe 
Vergrösserung der Zwischenrippenräume, welche wegen der 
geringeren Beweglichkeit der oberen Rippen hierauf folgt, 
wird hinreichend eompensirt durch die Verengerung des Brust- 
kastens, indem die Rippen der Mittellinie näher rücken, wenn 
sie nach unten geführt werden. Ueber die Bedeutung der 
Bauchmuskeln als Ausathmungsmuskeln äussert S. nichts von 
der herrschenden Meinung Abweichendes.. Wie muss man 
aber damit in Einklang bringen, dass, wie er will, beim 
Baucheinathmen die unteren Rippen nach unten geführt, und 
die Zwischenrippenräume kleiner werden ? Wenn letzteres 
wahr ist, so müssen die Rippen beim Ausathmen in die 
Höhe gehen und die Zwischenrippenräume an Grösse zuneh- 
men, während die Bauchmuskeln die Rippen doch wohl stets 
nach unten ziehen werden. Auf diese und einige andere 
Widersprüche kommen wir weiter unten zurück. 

Die ausgedehnten und genauen Untersuchungen von S. über 
die Knochen, welche den Brustkasten zusammensetzen und 
ihre Bewegungen (S. 206-213) sind sehr lobenswerth; ebenso 
wenig wie ich mich jedoch mit seiner Meinung über die Wir- 
kung der M. intercostales vereinigen kann, ebenso unwahr- 
scheinlich kommt mir seine Betrachtung über die zwei ver- 
schiedenen Weisen der Respiration und die Muskeln, welche 
dabei wirken, vor. Nach meinem Dafürhalten hat er zu 
srossen Werth auf den Unterschied von Bauch- und Brust- 
athmen gelegt, obschon es wirklich vorkommt, und hat er 


424 


sich dadurch verleiten lassen, für jede dieser Respirations- 
typen, Bewegungen und Muskelwirkungen anzunehmen, deren 
Möglichkeit sehr zweifelhaft ist. Dadurch haben sich einige 
Ungenauigkeiten in die Betrachtungen von S. eingeschlichen, 
und wenn ich versuchen werde, diese hier anzudeuten, so 
geschieht dies nicht um mit ängstlicher Genauigkeit alles 
aufzusuchen, was gegen seine Arbeit einzuwenden wäre, 
sondern nur, um meine so eben geäusserte Behauptung zu 
motiviren. 

Schon die Worte Drust- und Bauchathmen rufen einige 
Bemerkung hervor. Es ist klar, dass die Brust oder der 
Bauch nicht Athem holen, wie es diese Worte anzudeuten 
scheinen, sondern dass die Brust- und Bauchmuskeln, zu 
welchen letzteren auch das Diaphragma gehört, bei der Re- 
spiration in grösserem oder geringerem Maasse wirksam 
sind. Wenn aber die Brust- und Halsmuskeln sich wenig 
bewegen, das Diaphragma aber sich stark eontrahirt, sodass 
die Bauchwand in hohem Maasse nach aussen gewölbt wird, 
so hat man diese Modification der Respirationsbewegungen 
uneigentlich Bauchathmen genannt. Wenn dagegen der obere 
Theil des Brustkastens stark gewölbt wird, während die 
Bewegung des Diaphragma in geringerem Maasse geschieht, 
so spricht man von Brustathmen. Richtiger werden diese 
Modificationen der Respirationsbewegungen auch wohl respi- 
ratio diaphragmalica nnd coslalis genannt. Dieser Unterschied 
in den Respirationsbewegungen steht in Verband mit dem 
Geschiechtsunterschiede. Bei Männern findet gewöhnlich die 
erste Athmungsweise statt, bei Weibern die zweite, wie 
-schon der wellentragende Busen andeutet. Dies wurde na- 
mentlich von Hutchinson und Helmholtz bemerkt und 
auseinandergesetzt. Ersterer lieferte, wie bekannt!) Abbildun- 
sen von den verschiedenen Formen, welche Brust und Bauch 
dabei annehmen, ohne viel über den Unterschied in der 
Muskelwirkung beizubringen. Seine Meinung über die Wir- 
kung der M. intercostales und ihr umgekehrtes Verhalten 


1) Donders en Bauduin, Natuurkunde u. s. w. D. U, S. 377. 


425 


zwischen dem knöchernen und knorpeligen Theile der Rip- 
pen ist schon vermeidet. Für das Bauchatımen muss man 
eine grössere Wirksamkeit des Diaphragma und Zunahme 
des vertikalen Durchmessers des Brustkastens, und für das 
Brustathmen eine ergiebigere Bewegung der Rippen und 
Zunahme der frontalen und sagittalen Durchmesser des Brust- 
kastens annehmen. Schoemaker schliesst sich aber an Helm- 
holtz an, nach welchem die M. intercostales externi beim 
Brust-, die interni beim Bauchathmen wirksam sind. Die 
Arbeit von Helmholtz konnte ich nicht einsehen, und muss 
es darum unentschieden lassen, ob Helmhoitz triftige Gründe 
für diese Meinung beibringt. Was Schoemaker darüber 
mittheilt (S. 200), entbehrt derselben. Man lese, was er über 
die Meinung von Helmholtz über die Beweglichkeit der 
Rippen, ihre Elastieität, ihre Neigung sich von der Median- 
fläche zu entfernen, anführt, und wie er darauf mit einem 
wahren salto mortale daraus den Schluss zieht, dass die M. 
intercostales interni beim Bauchathmen wirksam sind. Auf 
Seite 215 u. f. finden wir seine eigenen Beobachtungen über 
die verschiedenen Verhältnisse bei den beiden Respirationstypen. 
Danach würde die Wirbelsäule beim tiefen Brusteinathmen 
gestreckt werden. Es wäre wünschenswerth, dass hierbei die 
Körperhaltung angegeben , in welcher dies geschieht. Wenn 
man doch so tief möglich im aufgerichteten Stande einath- 
met, so geschieht am Ende des Einathmens keine Streekung 
sondern eine geringe Beugung der Wirbelsäule, wovon ich 
mich durch wiederholte Beobachtungen an mir selbst und an 
Anderen überzeugt habe. Man kann zwar, da die Respira- 
tion willkührlich modifieirt werden kann, (was bei allen der- 
gleichen Versuchen eine grosse Schwierigkeit liefert) die Wir- 
belsäule strecken und doch tief einathmen, es kommt mir 
aber vor, dass bei der vollständigsten und tiefst möglichen 
Weise des Einathmens der Körper zuletzt ein wenig vorüber 
sebogen wird. Aber auch wenn wir annehmen, dass die Wir- 
belsäule beim tiefen Brusteinathmen gestreckt wird, so scheint 
mir doch die Meinung von Schoemaker über den Einfluss, 
den diese Streckung auf die Grösse der Zwischenrippenräume 
Jul 2) 


426 


hat, unrichtig zu sein. Ihre Grösse würde nach ihm dadurch 
zunehmen, da die Stützpunkte der Rippen an der Wirbelsäule 
auseinanderweichen, welche Meinung auch Donders!) ver- 
theidist. Wenn man aber bedenkt, dass die artieulatio costo- 
vertebralis ganz bestimmt hinter der Achse gelegen ist, um 
welche sich zwei Rückenwirbel auf einander nach vorne und 
hinten beugen, so würde man gerade annehmen müssen, dass 
die Rippen sich beim Strecken der Wirbelsäule einander 
nähern. Schoemaker’s Meinung würde wahr sein, wenn 
das Hypomochlion bei der Streckung der Wirbelsäule in den 
processus obliqui, welche hinter den Rippengelenken sich 
befinden, gelegen wäre, sodass diese processus nicht über 
einanderweg glitten, und die Flächen von zwei zusammen 
verbundenen Wirbelkörpern überall von einander entfernt 
würden. Es findet aber ganz zweifellos ein Uebereinander- 
gleiten der proc. obliqui statt, sodass sich die hinteren Theile 
von zwei Wirbelkörpern einander nähern, während die carti- 
lago intervertebralis daselbst zusammengedrückt wird, und die 
vorderen Theile der zwei Wirbelkörper von einander abwei- 
chen, während die Knorpelscheiben ausgedehnt werden. Da 
nun die Artieulationen der Rippen mit den Wirbeln sehr nahe 
bei den proe. obliqui gelegen sind, so werden sie sich dabei 
einander etwas nähern müssen. Dies wird noch wahrschein- 
licher, dadurch dass die Muskeln, welche den Rücken stre- 
cken, nämlich der M. longissimus dorsi und sacrolumbalis, 
sich an den Rippen inseriren, wodurch die Rippen nach un- 
ten geführt werden werden, wenn sich die Muskeln zusam- 
menziehen. Hierbei doch findet, wie S. annimmt, Verenge- 
rung der spatia intercostalia statt. Vollkommene Gewissheit 
erhält man aber erst durch Versuche mit einer präparirten 
Wirbelsäule, und zwar schon ohne dass die Rippen mit der- 
selben verbunden geblieben sind. Wenn man die Seite der 
Wirbelsäule betrachtet, so sieht man die foramina interver- 
tebralia beim Beugen grösser, beim Strecken kleiner werden. 
Wenn mithin der obere und untere Rand des foramen interver- 


DALE, S. 3705 


A427 


tebrale einander näher rücken, so muss dies auch mit den 
Gelenken der Rippen der Fall sein, namentlich mit den artie. 
costo-transversal., welche hinter den foramina intervetebralia 
gelegen sind. Bei Versuchen mit einer Wirbelsäule, an der 
die Rippen befestigt geblieben waren, erhielt ich anfangs ein 
Resultat, das mich überraschte. Die Halswirbelsäule nahm 
ich in die eine, die Lendenwirbelsäule in die andere Hand, 
und streckte und bog den Rücken dann abwechselnd. Dies 
hatte scheinbar gar keinen Einfluss auf die Rippen. Sie hiel- 
ten ihre Stellung bei, die Zwischenrippenräume blieben un- 
verändert, die Rückenwirbel bewegten sich in den artieulat. 
costo-vertebrales und costo-transversales. Hierbei war aber 
das Brustbein weggenommen, und um nun zu sehen, wel- 
chen Einfluss Beugung und Streekung haben würden, wenn 
diese Verbindung mit dem Brustbeine noch vorhanden ist, 
wiederholte ich den Versuch unter diesen Umständen. An der 
Rückenseite einer Leiche nahm ich Haut und Muskein soweit 
weg, bis die hintersten Enden der Rippen bloss lagen, wo- 
bei auch die Insertionen des M. sacro-lumbalis und longissi- 
mus dorsi und die levatores costarum zu Gesicht kamen. 
Die Leiche wurde nun in eine aufrechte Stellung gebracht, 
und dann streckte ein Gehülfe die Rückenwirbelsäule, indem 
er die Halswirbelsäule befestigte und auf die proc. spinosi 
der Rückenwirbeln drückte. Hierbei wurde auf das Ueber- 
zeugendste wahrgenommen, dass die hintersien Theile der hip- 
pen sich überall nähern, sodass die Zwischenrippenräume kleiner 
werden. Der M. sacrolumbalis und longiss. dorsi werden 
hierbei erschlafft. Wenn mithin diese Muskeln sich während 
des Lebens zusammenziehen,, so werden die Stützpunkte der 
Rippen an der Wirbelsäule, durch die Streckung lelzterer zu 
einander geführt werden. Dies verhindert aber nicht, dass 
die Zwischenrippenräume beim Ausatlhımen während des Le- 
bens, wenn die Rippen durch die Zusammenziehung des M. 
sacrolumbalis nach unten geführt werden, wiederum soviel 
an Grösse gewinnen, als sie nach meiner Auseinandersetzung 
beim Einathmen kleiner werden. Hierbei doch werden die 
Rippen selbst nach unten geführt, und zwar die untersten 

29% 


428 


mehr als die höher gelegenen. Es ist nur die Annahme un- 
richtig, dass die Stützpunkte der Rippen durch die Streekung 
der Wirbelsäule von einander entfernt werden. 

beim Brustathmen würde nach Schvemaker die Bauch- 
wand stark eingezogen werden (S. 216), während die Zu- 
sammenziehung des Diaphragma nur sehr gering wäre (S. 222). 
Ersteres möge wahr sein; letzteres lässt sich aber schwierig 
damit in Uebereinstimmung bringen, dass die Bauchmuskeln 
bei dem darauf folgenden Brustausathmen sich kräftig zu- 
sammenziehen und das Diaphragma sehr nach oben drängen 
(S. 225). Wenn doch das Diaphragma sich beim Bruslein- 
alhmen nur ein wenig senkte, und die Bauchwand stark ein- 
fiele, und wenn sich die Bauchmuskeln beim Ausathmen mit 
Kraft zusammenzögen und das Diaphragma stark nach oben 
drängien, so würde bei fortgesetztem Brustathmen der ganze 
Inhalt der Bauchhöhle in die Brusthöhle gedrängt werden 
müssen, wenn dies anders möglich wäre. — Indem ich an 
mir selbst Beobachtungen anstellte, erfuhr ich, dass man die 
Respiration wirklich so modifieiren kann, dass beim Einathmen 
ein” geringes Einfallen der Bauchwand und trotzdem beim 
Ausathmen Contraetion der Bauchmuskeln, und noch weiteres 
Einfallen des Bauches vorkommt, während die Bauchwand 
nach beendetem Ausathmen wiederum plötzlich gewölbt wird. 
Letzteres muss auch wohl von S. angenommen werden, ob- 
gleich er es nicht angiebt. Es ist aber eine sehr gezwun- 
gene und schwierige Bewegung; man lässt gleichsam auf eine 
Brustrespiration sogleich Bauchathmen folgen. Wenn man aber 
eine tiefe und so reine respiratio costalis wie möglich aus- 
führt, ohne willkührlich die Respirationsbewegungen zu mo- 
difieiren, so beobachtet man stets im Anfange eine geringe 
Wölbung der Bauchwand (Contraetion des Diaphragma) , wor- 
auf kräftige Bewegungen der Rippen und starke Wölbung des 
Brustkastens folgen. 

Dabei nun kann es geschehen, dass die Bauchwand ein- 
gezogen wird, namentlich wenn man den Körper willkührlich 
nach hinien bewegt, und somit den ganzen Brustkasten in 
die Höhe führt. In dem Falle doch wird die Längedi- 


429 


mension der Bauchwand vergrössert werden. Da nun das 
Diaphragma selbst sich nicht mehr ceontrahirt, so muss die 
Bauchwand durch die Wirkung des athmosphärischen Druckes 
nothwendigerweise grösser werden, da sonst der Raum in 
der Bauchhöhle grösser werden müsste. Die nun folgende 
Ausathmung wird hauptsächlich durch die Elasticität des 
Lungengewebes, die Torsion der Rippenknorpeln, das Sen- 
ken des Brustkastens u. s. w. zu Stande kommen; die Zusam- 
menziehung der Bauchmuskeln wird nur insofern dabei be- 
theiligt sein, als dadurch das Diaphragma, das im Anfange 
der Einathmung etwas sank, wiederum nach oben geführt 
wird. Trotzdem wird der Bauch hier durch das Senken des 
Brustkastens und das Vorüberbeugen des Körpers mehr ge- 
wölbt werden, wodurch der Längedurchmesser der Bauch- 
höhle wieder etwas kleiner wird. Auf diese Weise kann man 
sich eine Reihe von aufeinander folgenden Brustathmungen 
vorstellen, da nach dem beschriebenen Verlaufe des Ausath- 
mens wiederum erst eine geringe Wölbung des Bauches, 
dann Aufhebung der Rippen und des ganzen Brustkastens, 
Einfallen des Bauches u. s. w. folgen, während die Verhält- 
nisse beim Brustathmen, wie S. sie beschreibt, nur unter 
den oben erwähnten willkührlichen und gezwungenen Ver- 
hältnissen möglich sind. Es kommt mir aber vor, dass tiefes 
Brustathmen in der Form, in welcher sie wirklich gesche- 
hen kann, doch nur selten wahrgenommen wird, ohne dass 
Willenseinfluss mit im Spiele ist. In dieser Hinsicht schliesse 
ich mich ganz an Gerhardt an, der in seiner oben erwähn- 
ten Abhandlung $. 97 Folgendes sagt: „Bei willkührlichen 
Respirationsbewegungen ist es jedoch, wie die Resultate der 
Percussion zeigen, möglich, Athembewegungen mit lebhafter 
Erweiterung des Brustkorbes etwa von der Art vorzunehmen, 
wie sie Schauspieler, um stürmische Respirationen während 
lebhafter Affekte vorzustellen, anwenden; — Respirationsbe- 
wegungen, bei welchen das Zwerchfell, wie die kesultate 
der Percussion zeigen, unbeweglich bleibt, oder noch etwas 
durch Adspiration oder durch den Druck der Bauchmuskeln 
nach oben bewegt wird." 


430 


Während sich das Diaphragma somit beim sogenannten 
Brustathmen nur wenig zusammenzieht, ist die Contraetion 
dieses Muskels das hauptsächlichste Hülfsmittel für die Erwei- 
terung der Brusthöhle beim Bauchathmen. Letzteres fängt mit 
einer starken Wölbung des Bauches und Bewegung der un- 
teren Rippen an, während die oberen später und nur in ge- 
ringem Maasse bewegt werden. Obschon daher Unterschied 
in der Quantität der Oontraction der verschiedenen beim Res- 
piriren wirksamen Muskeln besteht, so giebt es nach meinem 
Dafürhalten keine Ursache um anzunehmen, dass die Art der 
Bewegungen, welche die den Brustkasten zusammensetzenden 
Theile ausführen, von derjenigen abweicht, welche beim 
Brustathmen statt findet. Dies geht namentlich aus den Wi- 
dersprüchen in den Angaben von Schoemaker hervor, der 
annimmt, dass die Bewegungen der Rippen und die Verän- 
derungen der Zwischenrippenräume beim Bauchathmen denen 
entgegengesetzt sind, welche beim Brustathmen vorkommen. 
So lesen wir S. 217: „Beim Baucheinathmen werden die 7 
oder 8 unstersten Rippen nach oben bewegt, während die 
Zwischenräume kleiner werden;”’ 8.218: „Beim tiefen Bauch- 
einathmen bewegen sich alle Rippen nach unten.’ Ferner 
S. 227: „Beim gewöhnlichen Baucheinathmen werden, wie 
wir gesehen haben, die Rippen nach aussen und oben be- 
wegt, und endlich 5. 230: „Die M. intercostales verengern 
beim Baucheinathmen die Zwischenrippenräume, während sie 
die Rippen nach unten ziehen !’’ 

Bei der Beschreibung der Rippenbewegungen während des 
Brustathmens hat S., wie wir gesehen haben, angenommen, 
dass die Zwischenrippenräume beim in die Höhe Gehen der 
Rippen grösser werden müssen. Er kann nicht behaupten : 
gerade weil die M. intereostales interni, durch deren Con- 
traction Verengerung der Zwischenrippenräume bei der Respi- 
ration geschieht, beim Bauchathmen wirksam sind, geschieht 
hier Verkleinerung dieser Räume. Dies würde ein hysteron 
proteron sein, da die Wirkung der intercostales interni noch 
bewiesen werden muss. Wenn wir mithin annehmen, dass 
die Rippen beim Bauchathmen nach oben bewegt werden, 


431 


so müssen auch nach der Tieorie von Schoemaker die 
Zwischenrippenräume grösser werden. In dem Verhalten 
doch der Rippen zu einander besteht kein Unterschied. Bei 
dem Brustathmen ist die erste Rippe unbeweglich und alle 
Rippen werden in die Höhe geführt. Beim Bauchathmen 
werden nach S. die 4 oder 5 oberen Rippen nicht merkbar 
bewegt, sondern nur die untersten nach oben geführt. Hier 
sind mithin die 7 unteren Rippen mit Bezug auf die 4 oder 
5 oberen in demselben Verhältnisse, als die elf unteren zur 
obersten beim Brustathmen. Wahrscheinlich wird man daher 
nur auf die Angaben von S. Werth legen, nach welchen 
die Rippen beim Bauchathmen nach unten geführt und die 
Zwischenrippenräume kleiner werden. Ich glaube mich aber 
gegen diese Vorstellungsweise erklären zu müssen und stütze 
mich hierbei auf meine früher erwähnten Versuche, nach 
welchen die Zwischenrippenräume, wenn die Rippen sich ın 
die Höhe bewegen unter Umständen, welche denen des ge- 
wöhnlichen Athmens am nächsten kommen, kleiner werden, 
und weiter stütze ich mich hierbei auf wiederholte Beobach- 
tungen an mir selbst und Anderen, bei denen ich nie ein 
Senken der Rippen beim Bauchathmen beobachten konnte. 
Beim Einathmen werden die Rippen stets gehoben, und der 
Unterschied besteht nur in der Anzahl der Rippen, welche be- 
wegt werden und in der Quantität der Bewegung einer jeden 
Rippe. Bei dem deutlichsten männlichen Athemholen, wo- 
bei der Bauch durch die Zusammenziehung des Diaphragma 
stark gewölbt wird, bewegen sich die unteren Rippen durch 
die Contraetion des Rippentheiles des Diaphragma nach oben 
und aussen, wobei natürlich auch die M. intercostales wirk- 
sam sein werden, und zwar beide zugleich, wie aus dem 
oben Gesagten hervorgeht. Wären hier, wie S. will, nur die 
interni wirksam, so würde nach seiner auf Hamberger’s 
und Donders’ Beweissründen fussenden Theorie eine Mus- 
kelecontraction trotz der Muskelverlängerung statt finden wie 
beim Brusteinathmen !). Dass er Letzteres nicht annimmt, 


1) Nachdem dieser Aufsatz schon ganz fertig für die Presse war, sah 


432 


geht aus der Beschreibung eines Versuches auf S. 228 her- 
vor, bei dem er die Zwischenrippenräume durch Zusammen- 
ziehung der intereostales interni /leiner werden fühlte. Letzt- 
genannte Muskeln waren an einem lebenden Hunde bloss- 
gelegt, und bei jeder Contraetion wurde die erwähnte Ver- 
kleinerung wahrgenommen. S. versichert, dass dies beim 
Einathmen statt fand, giebt aber leider nicht dabei an, ob 
die Rippen nach oben oder unten bewegt wurden, so dass 
wir in derselben Ungewissheit über seine Meinung bleiben: 
ob die Rippen beim Bauchathmen in die Höhe geführt wer- 
den oder nicht. 

Wir können aber ruhig annehmen , dass die Rippen bei dem 
erwähnten Versuche während der Einathmung nach oben ge- 
führt wurden. Ich will mich nieht einmal auf das berufen, 
was ich für die Wahrscheinlichkeit dieses Factums ange- 
führt habe, da S. selbst diese Meinung bestätigt. Er sagt, 
dass er sich von der Richtigkeit der Beschreibung der 
Versuche von Haller durch eigene Anschauung überzeugt 
habe. Wenn wir nun die Beschreibung von Haller’s Ver- 
suchen consultiren, so finden wir, dass dieser ganz gewiss 
das Aufheben der Rippen beim Einathmen beobachtet hat. 
In der Beschreibung des Versuches, den Schoemaker selbst 
als Type mitgetheilt hat, kommt Folgendes vor: „Eodem 
tempore adparuit rotatio manifestissima costarum super binos 


ich ın der deutschen Originalsausgabe der Physiologie des Men- 
schen von F. ©. Donders, Leipzig 1859, dass dieser Gelehrte 
von seiner früheren Meinung über den Werth von Hamberger’s 
Theorie zurückgekommen ist. Seine Beschreibung der Wirkung 
der M. intercostales und der Veränderungen der Intercostalräume 
kommt in der Hauptsache mit dem von mir Angeführten überein : 
„In der grösseren Biegsamkeit der untern Rippen liegt nun auch 
der Grund, dass dieselben, obschon sie mit dem Brustbeme ver- 
bunden sind, um einen grösseren Winkel gehoben werden können, 
als die obern. Hieraus erhellt aber das Unzureichende der Ham- 
berger’schen Beweisführung : es geht daraus hervor, dass die In- 
‚ tercostalräume da, wo die intercostales interni gelagert sind, beim 
Heber sich nähern können.” 


433 


cardines, vertebrarum sternique. Partes earum cartilagineae 
majorem angulum eum sterno faciebant, et ad lineam hori- 
zonti parallelam accedebant. Id in costis sub inspiratione 
fit (bei einem Hunde, bei dem, wie $. will, auch Bauch- 
athmen statt findet) eodemque tempore, quo musculi inter- 
costales interni contrahuntur.’ Da nun diese Beschreibung 
vollkommen richtig ist, und $. nnr gegen die Schlüsse und 
Räsonnirungen von Haller opponirt, so werden wir auch 
wohl annehmen dürfen, dass die Rippen bei dem von ihm 
beschriebenen Versuche aufgehoben wurden, auch wenn er 
es nicht erwähnt. 

Wenn dies sich so verhält, so würde der Versuch von 
S. wohl geeignet sein, um die Wahrheit der Beschreibung 
zu bestätigen, welche ich oben von der Bewegung der Rip- 
pen, der gesammten Wirkung der M. intercostales, dem Ver- 
halten der Zwischenrippenräume und der Bedeutung davon 
bei den beiden Modificationen der Respirationsbewegungen 
gegeben habe. Die Zwisehenrippenräume doch werden klei- 
ner, die intereostales interni ziehen sich zusammen, und wä- 
ren die intereostales externi vorhanden gewesen, so würden 
ihre Insertionspunkte einander genähert worden sein und sie 
sich mithin zusammengezogen haben. Jedenfalls sind die 
Widersprüche in den Angaben von S. nicht geeignet, um das 
Vertrauen in seiner Meinung über die ausschliessliche Wir- 
kung der intercostales interni beim sogenannten Bauchathmen 
zu vergrössern. 

Auf Seite 228 sagt Schoemaker, dass das nach vorne 
Beugen des Kopfes beim Bauchathmen der Wirkung der M. 
sterno-cleido-mastoidei zugeschrieben werden muss. Es ist aber 
bekannt, dass diese Muskeln nieht mehr den Namen von 
„Rathsherinmuskeln” verdienen, da sie den Kopf nieht nach 
vorne hin beugen. Ihre weit hinter dem proc. mastoideus 
gelegene Insertion, welche sogar schon in der verlängerten 
Richtung der Axe gelegen ist, um welche die Bewegung des 
Kopfes nach vorne und nach hinten statt findet, macht diese 
Bewegung unmöglich, und bewirkt, dass er den Kopf eher 
nach hinten beugen wird. Seine Wirkung besteht vielmehr 


434 


in dem Drehen des Kopfes in der artieulatio epistrophico- 
atlantica !). Eine nähere Behandlung des Unterschiedes von 
Brust- und Bauchathmen halte ich nach dem bereits Ange- 
führten für überflüssig, um so'mehr als es nicht in meiner 
Absicht lag, eine vollständige Abhandlung über den Mecha- 
nismus der Respiration zu schreiben. Es scheint mir wirklich 
kein wesentlicher Unterschied in der Art der Muskelwirkung 
und der Bewegungen zu bestehen. Für die mehr ausführ- 
liche Beschreibung der Erscheinungen, welche männliche und 
weibliche Respiration darbieten, glaube ich auf das Hand- 
buch von Donders und Bauduin, Di. II, p. 380 (Hollän- 
dische Ausgabe) verweisen zu können, wo auch die Frage 
behandelt wird, ob der Unterschied durch das Tragen von 
Schnürbrüsten oder andern Kleidungsstücken, welche hem- 
mend auf die Wirkung des Diaphragma wirken, oder durch 
den Körperbau selbst bedingt ist. Obgleich ich die Möglich- 
keit des Einfluss’ des letzteren gerne zugebe, so scheint mir 
doch erstgenannte Ursache die wichtigste zu sein, da der 
Unterschied in der Jugend weniger bemerkt wird, und da die 
respiratio diaphragmatica des Mannes durch Druck auf den 
Bauch und den unteren Theil des Brustkastens in die respi- 
ratio costalis der Frau verändert werden kann. 

Am Ende meiner Arbeit erlaube ich mir dem Beispiele 
Schoemaker’s zu folgen, um die Resultate, welche ich 
über die Wirkung der Respirationsmuskeln erhalten habe, in 
einigen Sätzen zusammenzufassen : 

1°. Die M. intercostales externi und interni und die pars 
costalis diaphragmatis führen die Rippen beim Einathmen 
nach oben; dabei werden die Rippen zugleich nach aussen 
gedreht und die Zwischenrippenräume, namentlich an der 
seitlichen und hinteren Fläche der Brust, etwas verkleinert. 

2°. Der sehnige Theil des Diaphragma bildet, während er 
selbst durch die Zusammenziehung der pars lumbalis sich nach 
unten bewegt, den festen Punkt für die Wirkung der pars costalis. 


1) Vergleiche Henle, Muskellehre, S. 110, und Nederl. Tijdschrift 
voor Geneeskunde, 1858, p. 23. 


435 


3°. Durch die sub 1° erwähnten Bewegungen wird der 
quere und der von vorne nach hinten verlaufende Durch- 
messer, durch die sub 2° der vertikale Durchmesser des 
Brustkastens vergrössert. 

4°. Jede Einathmung fängt mit einer Contraction des Dia- 
phragma an. i 

5°. Beim sogenannten Brustathmen ist diese Contraction sehr 
gering und wird alsbald durch eine kräftige Contraction der 
Zwischenrippenmuskeln gefolgt, wodurch der obere und vor- 
dere Theil des Brustkastens gewölbt wird (weibliche Respi- 
rationstype). 

6°. Beim sogenannten Bauchathmen ist die Zusammenzie- 
hung des Diaphragma sehr kräftig, während die Zwischen- 
rippenmuskeln, namentlich die oberen , nur wenig wirken. Der 
Bauch wird hierbei stark gewölbt (männliche Respirationstype). 

7°. Die Bauchmuskeln sind die hauptsächlichsten Ausath- 
mungsimuskeln. 

8. Bei kräftigem Ausathmen können die Zwischenrippen- 
muskeln die Rippen mit nach unten bewegen, wenn die un- 
teren Rippen durch die Bauchmuskeln und den M. quadratus 
lumborum festgesetzt sind. 

Schliesslich fühle ich mich gedrungen Herın Schoemaker 
die Versicherung zu geben, dass dieser Aufsatz, in welchem 
eine Kritik seiner Arbeit nicht umgangen werden konnte, 
dem Umstande seinen Ursprung verdankt, dass ich mich 
selbst früher schon mit einigen Untersuchungen über die 
Wirkung der Respirationsmuskeln beschäftigt hatte. Später 
blieb meine Arbeit aus verschiedenen Ursachen unvollendet. 
Als ich nun nach dem Erscheinen von S. Arbeit die Unterschiede 
in den Resultaten entdeckte, die er erhalten, und zu denen 
ich vorläufig gekommen, so war ich genöthigt unsere Beobach- 
tungen und Untersuchungen mit einander zu vergleichen. Wo 
mithin nur die Sache uns beschäftigt, kann das grösste Wohl- 
wollen mit dem grössten Meinungsunterschiede gepaart gehen: 


Hanc veniam pelimusque, damusque vicissim. 


————— 


IAAAAIAITIRAERITIARADARAAARANIAAAAANNNIITINAATIRAAIINNAANAANNANAANATIRNInnNAnnnnARnnannnnang DET nnnen 


Veber die Periodiecität der Lebenserscheinungen. 


von 


A. HEYNSAD 


Di. oberflächlichste Betrachtung der Lebenserscheinungen 
lehrt uns ganz klar, dass das Functioniren der verschiedenen 
Körpertheile nicht unabänderlich in demselben Grade statt 
findet. Unabhängig von dem Einflusse der Wissenschaft kam 
man zu der Ueberzengung, dass auf einen Zeitraum von in- 
tensiverer Wirkung, von Bewegung, ein Zeitraum geringer 
Wirkung folgt, dass ein Wechsel in der Wirkungsweise in- 
nig und untrennbar mit dem Leben verbunden ist. 

Diese Ueberzeugung, welche die ungekünstelte Beobachtung 
der am meisten auffallenden Lebenserscheinungen hervorrief, 
ist durch wissenschaftliche Untersuchungen der Neuzeit ganz 
und gar bestätigt geworden. 

Dieser Wechsel in der Wirkungsweise, diese Aufeinander- 
folge von Bewegung und Ruhe, wurde nicht nur in denjeni- 
gen Organen, deren erhöhte Wirkung das Gefühl der Ermü- 
dung nach sich schleppt, sondern auch in anderen Organen, 
in denen das Bedürfniss der Ruhe nach erhöhter Wirkung 
nicht subjectiv wahrnehmbar ist, über jeden Zweifel erhoben. 
Man lernte den Stoffwechsel in den Organen als die Quelle 
der Wirksamkeit, welche sie offenbaren, kennen, und die 
Produkte des Stoffwechsels betrachtete man als Maassstab die- 
ser Wirksamkeit. Der erhöhte Stoffwechsel nach willkührlicher 


457 


Anstrengung unserer Muskeln und Nerven wurde dargethan; 
daneben aber wurde das periodische Steigen und Failen des 
Lebensprocesses, das heisst die Ermüdung der Organe nach 
einer Periode intensiver Wirkung durch Vermehrung und Ab- 
nahme der Umsetzungen, auch in anderen Organen bewiesen, 
bei denen von keiner willkührlichen Anstrengung die Rede 
sein kann. | 

Die wissenschaftliche Untersuchung ergab überdiess noch 
ein anderes Resultat von keiner geringeren Bedeutung. Durch 
diese doch wurde es erst deutlich, dass die Ursache des 
Wechsels in der Wirkung, welche wir beobachten, innig mit 
dem Leben verbunden ist. Dieser periodische Wechsel von 
lebhafter und geringer Wirkung, von Bewegung und Ruhe, 
wird nicht aufgehoben durch den Einfluss von äusseren Um- 
ständen auf die Wirkung des Körpers, mögen diese auch noch 
so bedeutend sein, nicht durch künstliche Modification des 
Entwickelungs- und Ernährungsprocess’, nicht durch Verän- 
derung in der Function der Organe, durch Uebung und Ge- 
wöhnung bewirkt. Die Perioden können länger und kürzer, 
der Rythmus modifieirt werden, die Periodieität aber bleibt 
fortbestehen. Unser Nervensystem, unsere Sinnesorgane kön- 
nen ja durch Uebung soweit gebracht werden, dass sie 
Anstrengungen längere Zeit ertragen; so kann das durch 
gsymnastische Uebung oder körperliche Thätigkeit gestärkte 
Muskelsystem eine erhöhte Wirksamkeit leisten, so können 
die Perioden von erhöhter Thätigkeit der zu der Verdauung 
gehörenden Organe durch Uebung verlängert oder verkürzt 
werden, stets aber folgt nach Anstrengung des Nerven- und 
Muskelsystems, so wie der Verdauungsorgane verminderte 
Thätigkeit, Ermüdung, Ruhe. 

Es muss daher unabhängig von den auswendigen Einflüssen 
in den Organen selbst die Ursache der periodischen Steige- 
rung und Abnahme ihrer Thätigkeit gelegen sein; der ein- 
zige Wegweiser zur Erklärung dieser Periodieität ist die 
Kenntniss des Stoffwechsels. Wenn ich mich anders nicht 
täusche, so setzt uns die Kenntniss, welche wir jetzt von 
diesen Stoffwechsel erlangt haben, in Stand, um wenigstens 


438 


eine der Ursachen anzugeben, durch welche periodische Zu- 
und Abnahme des Stoffwechsels in den wichtigsten Organen 
des Thierkörpers hervorgerufen wird, eine der Ursachen da- 
her, durch welche bewirkt wird, dass in den meisten Organen 
des Thierkörpers ein Zeitraum der Ruhe auf einen Zeitraum 
von lebhafter Thätigkeit folgt. 


Bei oberflächlicher Betrachtung scheint der vermehrte Stoff- 
Verbrauch hinreichend zur Erklärung der verminderten Thä- 
tigkeit, welche auf jede Periode lebhafter Function folgt. 
Diese Vorstellung wird aber als einseitig erkannt werden 
müssen, wenn man gründlicher auf dieselbe eingeht. Die 
geringere Thätigkeit doch, die Ermüdung eines Organs ist 
dureh diesen vermehrten Stoffwechsel bei lebhafter Wirkung 
nicht erklärt, denn wenn die Anfuhr von neuen Nahrungs- 
mitteln gleichen Schritt mit dem vermehrten Stoff-Verbrauche 
hielte, so wäre der vermehrte Stoff-Verbrauch in dieser Hin- 
sicht ganz gleichgültig. 

Es muss daher neben dem vermehrten Umsatze auch die 
in Bezug auf den Verbrauch unzureichende Anfuhr nachge- 
wiesen werden. Gerade hier aber begegnet man einer gro- 
ssen Schwierigkeit. Alle Erscheinungen , die bei erhöhter 
Thätigkeit der Organe zur Beobachtung kommen, deuten 
vielmehr auf gesteigerte als auf verminderte Anfuhr; überall 
tritt alsdann Hyperämie auf. Ueberdiess ist aber der Vor- 
rath von Nahrungsstoff bei dem meist intensiven Umsatze in 
jedem Organe des Körpers gewiss noch unendlich gross im 
Vergleiche zur Menge, die in Folge erhöhter Thätigkeit ver- 
loren ging. 

Der Stoffumsatz an und für sich reicht daher nicht aus zur 
Erklärung der Periodität, welche wir beobachten. Es muss 
abgesehen von dem erhöhten Stoffwechsel noch eine Ursache 
vorhanden sein, welche die weitere Umsetzung des noch vor- 
handenen Nahrungsmaterials verhindert, oder die Zufuhr des 
zur Erhaltung der ‚kräftigen Wirkung des Organes Nöthigen 
verhindert. 


a a u a ne 


439 


Es kann nicht geläugnet werden, dass die Producte des 
Stoffwechsels, welche bei erhöhter Wirkung in den Organen 
angehäuft werden, die fernere Umsetzung des noch vorhande- 
nen Materiales verhinderen können, und dass so die verminderte 
Thätigkeit bewirkt würde, weiche wir nach jeder Periode er- 
höhter Wirkung wahrnehmen. Das Vorhandensein einer gros- 
sen Menge Gährungsprodukte hemmt den Gährungsprocess }). 
Es wäre daher möglich, dass die Anhäufung der Umsetzungs- 
produete auf diese Weise direct den Umsatz hemmen und 
den Stoffwechsel mässigen würde, es ist aber nicht auszu- 
machen, ob dies wirklich statt findet. 

Es kommt mir dagegen vor, dass eine geringere Anfuhr 
von neuem Nährungsmaterial bei erhöhter Thätigkeit mit 
Gewissheit dargethan werden kann. 

Wie bekannt sind die Elementarformen, aus denen die 
verschiedenen Organe bestehen, der Sitz des Stoffwechsels. 
Der Inhalt dieser Elementarformen ist aus sehr verschiedenen 
Substanzen zusammengesetzt; darunter befindet sich aber eine, 
welche für alle Organe ohne Unterschied von sehr hoher 
Bedeutung ist. Es ist die eiweissartige Substanz, welche 
überall auftritt, und bei der Function der Organe umgesetzt 
wird, mehr bei erhöhter, als bei geringerer Thätigkeit. Die 
eiweissartige Substanz muss daher, wenn anders das Gleich- 
gewicht erhalten werden soll, in grösserer Menge angeführt 
werden bei erhöhter Function als bei der Ruhe der Organe. 
Die Quelle, welche das Eiweiss liefern muss, ist natürlich 
das Blut; es ist aber nicht genug, dass Eiwess in dem Blute 
enthalten ist, das Eiweiss muss in hinreichender Menge durch 
die Wände der Capillargefässe und die umhüllenden Membrane 
der Elementarformen hindurchtreten. 

Die Kenntniss der Osmose des Eiweiss’ ist daher sehr wich- 
tig für die Erklärung des Ernährunssprocess’. Von Wittich 
hat dargethan, dass die Eiweissmenge, welche durch eine 


Tee 


1) Hoppe findet hierin die Erklärung für die verminderte Zuckerbil- 
dung in der Leber bei reichlicher Zufuhr von Kohlhydraten (Vir- 
chow’s Archiv, 1856, S. 162). 


440 


Membran hindurchtritt, innerhalb gewisser Grenzen mit dem 
Salzgehalte der umgebenden Flüssigkeit zunimmt, und aus 
meinen neulich mitgetheilten Versuchen geht hervor, dass 
diese Menge durch den Einfluss von Säuren abnimmt. Wir 
sahen den Uebergang des Eiweiss’ constant gehemmt werden, 
wenn eine gewisse Menge Säure vorhanden war (Phosphor- 
säure, Milchsäure, Essigsäure) bei sehr verschiedenem Salz- 
sehalte der umspülenden Flüssigkeit. 

Wenns daher bei der Function der Organe eine Säure ge- 
bildet würde, so würde der Uebergang von Eiweiss in die 
Elementarformen, in denen die Thätigkeit vor sich geht, 
sehemmt, die Ernährung daher gestört werden. Wenn doch 
diese Säure Folge der Function der Organe ist, so nimmt 
ihre Menge bei erhöhter Wirkung zu, und wird es nun nicht 
in demselben Maasse entfernt, so wird die Reaction des Ge- 
webes bald eine saure sein. Während die Eiweissmenge, 
welche umgesetzt wird, bei erhöhter Wirkung grösser wird, 
würde unter diesen Umständen die neue Anfuhr geringer 
werden. Der Verbrauch würde daher zunehmen nnd die Ein- 
nahmen abnehmen, und die Erschöpfung der Organe nach 
jedem Zeitraume erhöhter Wirkung auf diese Weise erklärt 
werden. 

Die Sache scheint sich wirklich so zu verhalten. Die er- 
höhte Funetion der Organe hat eine saure Reaction derselben 
zur Folge und verursacht dadurch selbst eine der Ursachen 
der Ermüdung, geringeren Thätigkeit oder Ruhe, welche 
nach jeder Periode lebhafter Wirkung in fast jedem Organe 
nachgewiesen ist !). 

Dass der Stoffwechsel in dem Muskelgewebe die Entwicke- 
lung einer Säure (Milchsäure) veranlasst, wurde schon im 


1) Es giebt noch andere Umstände als die erhöhte Thätigkeit, durch 
welche eine saure Reaction in dem Gewebe bewirkt werden kann. 
Die Ernährung hat einen bedeutenden Einfluss darauf. Diesen Ein- 
fluss der Ernährung werde ich separat in einer folgenden Mittheilung 
behandeln. Zur Vereinfachung der Sache wird dies hier nicht näher 
behandelt. 


441 


Jahre 1807 von Berzelius dargethan; dass dieser Säure. 
gehalt zunimmt, je nachdem die Muskelanstrengung grösser 
wird (natürlich unter übrigens gleichen Umständen), wurde 
schon seit langer Zeit von Niemand bezweifelt, erst neuer- 
dings aber hat Dubois-Reymond gelehrt, dass die saure 
Reaction nicht constant, sondern nur nach Muskelanstrengung 
angetroffen wird. Im Zustande der Ruhe reagirt das Mus- 
kelgewebe neutral oder alkalisch. 

Wird nun aber in dem ruhenden Muskel wirklich keine 
Säure entwickelt? Wenn die Frage bejahend beantwortet 
werden könnte, so würde die Sache keiner näheren Beleuch- 
tung bedürfen. Die Frage muss aber verneint werden. Auch 
im Zustande der Ruhe hört die Säureentwiekelung nicht auf; 
es ist wenigstens kein triftiger Grund dafür anzuführen, dass 
bei dem geringeren Thätigkeitsgrade, den wir gewöhnlich 
als Ruhe auffassen, keine Säure bei dem Stoffwechsel in dem 
Muskelgewebe gebildet werden sollte. Trotz dieser fortwäh- 
renden Säureentwickelung aber reagirt das Muskelgewebe 
fortwährend neutral oder alkalisch, und zwar ganz einfach 
darum, weil die Muskeln und ihre Ernährungsflüssigkeit mit 
dem Blute in Berührung sind, das alkalisch reagirt, sodass 
die entwickelte Säure dadurch immerwährend neutralisirt wird. 

Gerade hierin ist die Ursache gelegen, warum die neu- 
trale Reaction der Muskeln so lange unbemerkt geblieben ist. 
Es ist allgemein bekannt, dass die Muskeln — wenigstens 
bei einem plötzlichen gewaltsamen Tode der Thiere, deren 
Fleisch man gewöhnlich unter diesen Umständen untersucht — 
noch einige Zeit lang selbständig fortleben; denn man kann 
noch lange Zeit nach dem Tode Zusammenziehungen in den- 
selben hervorrufen. 

In diesen Muskeln nun fand man constant eine saure Reac- 
tion, trotzdem dass noch eine gewisse Menge alkalisches 
Blut in denselben enthalten war, und man zog daraus mit 
scheinbarem Rechte den Schluss, dass das Muskelgewebe 
stets eine saure Reaction hat. Dies war aber, wie wir schon 
erwähnten, ein Irrthum, weil man vergass, dass den noch 
lebenden Muskeln des getödteten Thieres eine Bedingung 

II. 30 


442 


abgeht, welche im lebenden Thiere vorhanden ist: die fort- 
währende neue Anfuhr von alkalischem Blute. In den Mus- 
keln des getödteten Tbieres bleibt wohl einiges Blut zurück, 
die Menge ist aber jedenfalls gering im Verhältnisse zu der 
fortwährenden Anfuhr von frischem Blute während des Lebens. 
Da die Muskeln nun noch einige Zeit nach dem Tode des 
Thieres fortieben, und daher Säure entwickeln, so kann 
es uns nicht befremden, dass diese Säure bald vor dem 
Alkali des noch in den Muskeln enthaltenen Blutes vorwiegt 
und die Reaction von frischem Fleische schon sauer gefunden 
wird. 

Das baldige Auftreten der sauren Reaction bei dem ge- 
wöhnlichen Tode wird überdiess noch durch Verblutung sehr 
begünstigt. Es kommen, wie bekannt, bei dieser Todesart 
heftige Convulsionen vor, sodass die saure Reaction der 
Muskeln, sogleich nach dem Tode, unter diesen Umständen 
die Anwesenheit von freier Säure im Ruhezustande nicht 
beweisen kann. 

Diese beiden Umstände waren Schuld daran, dass die 
saure Reaction des Muskelgewebes im Zustande der Ruhe 
bis vor kurzer Zeit unbekannt blieb, und jetzt sogar, nach- 
dem Dubois die Aufmerksamkeit auf diese Erscheinung ge- 
richtet hat, geschieht es, dass man sich nicht mit Gewissheit 
von der neutralen Reaction überzeugen kann. Die alkalische 
Reaction des vorhandenen Blutes steht hier im Wege; wenn 
aber auch dieses durch Einspritzung von Zuckerwasser ent- 
fernt ist, so liefert das Lakmuspapier, das einzige uns zu 
Gebot stehende Mittel, keine überzeugenden Resultate bei 
der Untersuchung sehr geringer Mengen Alkali oder Säure. 

Trotzdem mögen wir doch annehmen, dass die Reaction 
des Muskelgewebes im Zustande der Ruhe neutral ist in Be- 
zug auf die Menge Säure, welche darin nach Muskelanstren- 
sung vorkommt. Im Zustande der Ruhe ist daher die Be- 
dinsung für die Osmose von Eiweiss durch die Gefässwand 
und das Sarcolemma der Muskelbündel günstig. Das Blut 
und die Ernährungstlüssigkeit treten in Wechselwirkung mit 
einer Salzlösung von neutraler Reaction, sodass eine be- 


443 


deutende Menge Eiweiss aus dem Blute zu den Muskelbündeln 
übergehen wird !). 

Während der Bewegung werden aber die Verhältnisse mo- 
difieirt. Es wird mehr Säure gebildet. Trotzdem dass die 
Blutzufuhr bei dieser Anstrengung grösser wird, und dass 
diese grössere Menge Blut, welche während derselben Zeit 
das Muskelgewebe durchströmt, im Anfange noch im Stande 
ist die grössere Säuremenge zu neutralisiren; trotzdem dass 
unter dem Einflusse des intensiveren Diffusionsstromes, wel- 
chen ich bei meinen Diffusionsversuchen mit Flüssigkeiten 
von niederem Salzgehalte gegen eine Säure beobachtete, 
mehr Säure als im Zustande der Ruhe entfernt wird, trotz 
alledem erhält die saure Reaction im Muskelgewebe nach 
und nach das Uebergewicht. Der Uebergang von Eiweiss 
wird daher mehr und mehr verhindert, und während der 
Verbrauch grösser ist, nimmt die Zufuhr ab. Kann es an- 
ders, als dass Erschöpfung darauf folgen muss? 

Man sieht, dass die Erscheinungen im Muskelgewebe sehr 
gut mit der gegebenen Vorstellung harmoniren. Während 
der Ruhe, welche nach erhöhter Wirkung eintritt, nimmt 
die Säureentwickelung mehr und mehr ab, und somit die 
neutralisirende Wirkung des Blutes zu. Hierdurch wird die 
Bedingung für neue Zufuhr allmälig günstiger. Im Zeitraume 
der Ruhe wird das während desjenigen der Anstrengung ent- 
standene Defieit gedeckt, und hiermit ist die Bedingung 
für neue Kraftentwickelung gegeben. 

Es bleibt aber eine Schwierigkeit zur Behandlung übrig. 
Die Einathmungsmuskeln und das Herz ermüden nicht; An- 
strengung und Ruhe wechseln sich nicht in denselben ab. 
Erstere übergehe ich mit Stillschweigen, weil der Grad der 
Anstrengung der verschiedenen beim Einathmen betheiligten 
Muskeln nicht beständig derselbe ist, obwohl sie keinen so 
bestimmten Wechsel von Ruhe und Bewegung darbieten, wie 


1) Schlossberger Vergleichende Thierchemie, S. 249, nımmt dasselbe 
an und stützt sich dabei auf das grössere Diffusionsvermögen der 
Säuren, das Jolly und Graham nachgewiesen haben. 

30* 


444 


die willkührlichen Muskeln. Die Function des Herzens aber 
muss näher berücksichtigt werden. Auch dieser Muskel ver- 
kehrt abwechselnd im Zustande der Ruhe und Bewegung, 
diese periodische Ruhe aber ist nicht dieselbe wie die unserer 
willkührlichen Muskeln. Warum aber wird das Herz denn nicht 
erschöpft? Es wird hier doch auch wohl eine Säure während 
der Function entwickelt werden, und warum wird denn auch 
hier nicht der Uebergang von Eiweiss allmählig beschränkt. 

Zur Beurtheilung der Sache müssen hier zwei Umstände 
erwähnt werden : erstens die Stromgeschwindiskeit des Blutes 
im Herzen, und zweitens die eigenthümliche Structur der 
Muskelbündel. 

Ich bemerkte schon, dass die neutrale Reaction des Mus- 
kelgewebes im Zustande der Ruhe durch den neutralisi- 
renden Einfluss des alkalischen Blutes bedingt ist. Wenn die 
Blutmenge, welehe ein Muskel erhält, grösser ist als dieje- 
nige, welche während derselben Zeit einen anderen durch- 
strömt, so wird die Reaction in ersterem noch neutral sein 
können, während sie in dem anderen schon sauer ist, trotz- 
dem dass beide dieselbe Anstrengung gemacht haben. Wenn 
diese Menge so gross ist, dass ihr neutralisirendes Vermögen 
der Säuremenge, welche bei der erforderten Muskelanstren- 
gung gebildet wird, gleich ist, so wird die Bedingung für 
den Uebergang von Eiweiss stets günstig bleiben, und die 
Ernährung wird trotz der fortwährenden Function unterhalten 
werden. Die Blutmenge, welche einen Muskei durchströmt, 
ist daher von grosser Bedeutung für die Dauer seiner An- 
strengung. Diese Menge nun ist für das Herz viel grösser 
als für andere Muskeln. Der Weg durch die art. coronaria 
ist kurz, die Geschwindigkeit gross. Trotz der häufigen 
Contraetionen des Herzens bei gewaltsamem Tode, trotz sei- 
ner erhöhten Wirkung nach der Durchsehneidung der N. vagi, 
wird die Reaction des Herzens mit Lakmuspaprer nicht deut- 
lich sauer angetrojfen. 

Aber auch die eigenthümliche Struetur der Muskelbündel 
des Herzens muss hier näher berücksichtigt werden. Der 
Einiluss der Membrane anf die Eiweiss-Osmose ist hinreichend 


445 


bekannt, und auch bei meinen letzten Versuchen deutlich 
bervorgetreten. Eine Säuremenge, welche beim Gebrauche 
des Amnion als Membran noch hemmend auf den Eiweissü- 
bergang wirkte, übte unter übrigens gleichen Umständen durch- 
aus keine Wirkung, wenn ich die serosa vesicae an der 
Stelle des Amnion gebrauchte. Die Bündel des fortwährend 
angestrengten Muskels (des Herzens) haben nun gerade ein 
sehr zartes Sarcolemma. Es ist viel schwieriger zu sehen als 
bei andern Muskeln; man kann sich nur nach lange fortge- 
setzter Digestion in verdünnter Salzsäure von seiner Anwe- 
senheit überzeugen !). 

Es ist der sauren Reaction des Nervengewebes im Zustande 
lebhafter Thätigkeit ebenso ergangen, wie der neutralen Re- 
action der Muskeln im Zustande der Ruhe, sie blieben beide 
lange verborgen. Die Nerven und namentlich das Gehirn 
und Rückenmark sind von einem diehten Netze von Blutge- 
fässen durchwebt. Man trifft daher in der Nervensubstanz 
überall alkalisches Blut an, und diese alkalische Reaction des 
Blutes war Schuld daran, dass die saure Reaction des Gewe- 
bes lange verborgen blieb. Ich habe schon vor einigen Jahren, 
als ich eine Untersuchung über die Eiweisssubstanz des Ge- 
hirnes mittheilte, auf diese saure Reaction aufinerksam gemacht. 
Zur Entfernung der Eiweisssubstanzen des Blutes spritzte ich 
so lange lauwarmes Wasser in die art. carotis, bis die Flüs- 
sigkeit farblos aus der V. jugularis abfloss.. War das Gehirn 
so von alkalischem Blute befreit worden, so war an demselben 
eine neutrale oder saure Reaction deutlich zu beobachten ?). 


1) Siehe Donders, Over den bouw van het hart, Nederl. Lancet, 
1852, S. 559. 

2) In meinem Onderzoek naar de kennis der eiwitachtige ligchamen, 
1853, p. 164, findet mau Folgendes: „Nachdem das Gehirn mit 
Wasser zerrieben war, war die Flüssigkeit alkaliısch, während fri- 
sches Gehirn von der Kuh, dem Kalbe, dem Schafe vielmehr sauer 
als alkalisch reagirt. Es ist wegen des vorhandenen Blutes hier keine 
Gewissheit zu erlangen; aber auch Gehirn mit Wasser ausgespritzt 
(siehe oben) reagirt, obwohl äusserst schwach, eher sauer als alka- 
lisch. 


446 


Funke!) hat neulich, wahrscheinlich nach Veranlassung 
von Dubois-Reymond’s Untersuchung der Muskeln, die 
Reaction des Nervengewebes geprüft, und auch hier eine 
saure Reaction bei erhöhter Wirkung, eine neutrale oder al- 
kalische im Zustande der Ruhe angetroffen. 

Es kommt daher auch in der Nervenröhre bei erhöhter 
Wirkung des Nerven ein saure Reaction zu Stande, wodurch 
der Uebergang von Eiweiss gehemmt wird. Wir finden dabei 
auch hier dieselben Verhältnisse, welche oben bei den Mus- 
keln als eine der Ursachen von Erschöpfung, Ermüdung, 
verminderter Wirkung behandelt wurden, welche bei den 
Nerven local nach Anstrengung einzelner Nerven, oder mehr 
allgemein nach der Function des ganzen Nervensystems nach 
jedem Zeitraume erhöhter Wirkung auftreten. 

Aber auch bei andern Organen atısser den Muskeln und 
Nerven, in denen die erhöhte Wirkung willkührlich hervor- 
gerufen wird, ist die Entwickelung einer Säure dargethan. 

Berzelius giebt an, dass schon Braconnot an dem 
Leberdecocte eine saure Reaction wahrnahm, wie an den 
Muskeln. Diese Reaction ist aber in der Leber ebensowenig 
constant als in den Muskeln. Gewöhnlich reagirt das Le- 
berdecoct sauer, wie die Muskeln, weil auch jenes Organ 
einige Zeit nach dem Tode funetionirt, und somit die Säure, 
welche beim "Stoffwechsel in dem Organe auftritt, nicht durch 
das alkalische Blut neutralisirt wird, wie im Leben; unter- 
sucht man die Leber aber unmittelbar nach dem Tode, so 


1) Siehe das Referat von v. Deen in Ned. Tijdschrift voor Geneeskun- 
de, 1859, p. 651. Aus dieser Mittheilung (das Original ist nıcht 
zu meiner Verfügung) geht hervor, dass Funke eine Hypothese 
macht, welche sehr gut mit den Erscheinungen im Einklange ist. 
Man könnte nämlich annehmen, dass die bei der Funetion der 
Muskeln und Nerven gebildete Säure electrolytisch zerlegt werde, 
und erst dann, wenn das eleetromotorische Vermögen verloren ge- 
gangen, fortbestehen bleibe. Auch auf diese Weise könnte im An- 
fange die neutrale Reaction und damit der Uebergang des Eiweiss’ 
befördert und so die Periode erhöhter Thätigkeit verlängert 
werden. 


447 


überzeugt man sich leicht, dass ausserhalb der Digestions- 
periode die Reaction nicht oder wenigstens in geringerem 
Grade sauer ist. Es ist hier wie bei den Muskeln schwierig, 
mit den unvollständigen Hülfsmitteln, welche uns zu Gebote 
stehen, die Existenz einer stärker sauren Reaction nach er- 
höhter Wirksamkeit bei der Gegenwart des alkalischen Blutes 
darzuthun, wir haben aber bei der Leber vieleher als bei 
einem anderen Organe, das Recht, während der Digestions- 
periode oder wenigstens am Ende derselben eine stärker saure 
Reaction des Inhaltes der Lebercellen anzunehmen. Es kommt 
doch in dieser Periode eine sehr grosse Quantität Zucker in 
derselben vor, und es lässt sich kaum bezweifeln, dass 
dieser Zucker zum Theile in Milchsäure übergeht. Auch 
hier wird daher durch den Stoffwechsel des Organs selbst 
eine der Ursachen der Periodieität dargeboten, die wir in 
der Function der Leber beobachten. 

Was von der Leber gilt, lässt sich ebenfalls auf andere 
zur Verdauung gehörenden Organe anwenden. Die Periodi- 
eität der Labdrüsen, welche den Magensaft liefern, ist auf- 
fallend. Um kräftig wirkenden künstlichen Magensaft zu er- 
halten, gebraucht man den Magen von fastenden oder nüch- 
ternen Thieren. Unter diesen Umständen ist eine grosse 
Menge Pepsin in diesen Drüsen vorhanden. Die Quelle die- 
ses Pepsins ist zweifelsohne die Eiweisssubstanz in dem Blute. 
Bei der Function der Drüse wird diese Eiweisssuhstanz in 
Pepsin verwandelt, gleichzeitig hiermit entwickelt sich aber 
eine saure Reaction, welche den ferneren Uebergang von 
Eiweiss hemmt, und so die Thätigkeit der Drüse allmälig 
geringer werden lässt. Nachdem der Inhalt der Drüsen wäh- 
rend der Digestion zum grossen Theile entleert ist, so wird 
die zurückbleibende Säure weniger als zuvor den Uebergang 
von Eiweiss in die Labdrüsen hemmen, und so wird die 
Anhäufung eines {rischen kräftig wirkenden Pepsins möglich 
gemacht werden !). Die Periode der erhöhten Funetion der 


1) Brücke hat neulich (Chemisches Centralblatt, October 1858), Ver- 
suche über die Secretion des Magensaftes mitgetheilt. Er kommt 


448 


Labdrüsen trifft daher nicht mit dem Anfange, sondern mit 
dem Ende der Digestion zusammen. 

Die Untersuchung des Stoffwechsels in den wichtigsten 
Organen unseres Körpers ergiebt fast überall, dass erhöhte 
Function von Entwickelung einer sauren Reaction begleitet 
ist. Wenn es auch bei der Gegenwart von Blut nicht mö- 
giich ist, mit Lakmuspapier eine kleine Menge Säure, oder 
Alkali, oder eine vollkommene Neutralität anzuweisen, so 
ist doch die Zunahme freier Säure bei erhöhter Wirkung nicht 
zu bezweifeln, und die Zunahme 'des Säuregehaltes reicht 
für unseren Zweck hin. 

Wie wahrscheinlich nun aber auch nach Allem, was ich 
neulich über den hemmenden Einfluss‘ der Säure auf Eiweiss- 
osmose mittheilte, die Hypothese ist, dass auf diese Weise 
der Uebergang von Eiweiss in die Elementarformen der Or- 
gane bei erhöhter Wirkung gehemmt wird, so hätte ich doch 
gerne den geringeren Eiweissgehalt bei erhöhter Wirkung 
direct dargethan. Für den Magensaft ist es erwiesen, aber 
auch für andere Organe, wie z. B. die Muskeln hätte ich 
mich gerne direct! von der Abnahme des Eiweisses nach Er- 
müdung überzeugt. Die Ausführung dieser Bestimmung liefert 


dabei zu dem Resultate, dass das Pepsin und die Säure beide in 
den Drüsen gebildet werden. Er sah die Säure bei Erwärmung der 
Schleimhaut auf dıe Temperatur des Körpers zunehmen. Die Säure 
muss wohl eine organische, Milchsäure, sein. Die Quelle der freien 
Salzsäure wird daher hierdurch nicht angegeben, und, wie viele An- 
deren sieht sich Brücke gezwungen, hierfür die Zerlegung von Chlor- 
metallen unter dem Einfluss des Nervensystemes anzunehmen. Es 
ist denn auch wirklich dargethan, dass man nach Durchschneidung 
der N. vagi einen alkalischen Magensaft erhält. Der Einfluss der 
Nerven auf die Secretion des Magensaftes ist auch deutlich genug 
aus anderen Beobachtungen; und nur in diesem Nerveneinflusse kann 
man nach meinem Dafürhalten die Erklärung finden für das Faetum, 
dass hier in diesem Falle soviel Wasser mit diesem stark sauren 
Secret ausgeschieden wird, während bei der Diffusion von Eiweiss 
in saure Flüssigkeiten von niederem Salzgehalte stets ein starker Dif- 
fusionsstrom von Wasser nach dem Blutserum, mithin in umgekehr- 
tem Sinne, wahrgenommen wird. 


449 


aber so viele Schwierigkeiten, dass ich vorläufig von dersel- 
ben absehen musste. Es hätte natürlich die Abnahme des 
Eiweisses in dem .Üuskelgewebe bestimmt werden müssen ; die 
Muskelbündel aber sind nicht isolirt zu erhalten. Man kann 
die eiweissartigen Bestandtheile des Blutes nicht aus den- 
selben entfernen, ohne dass man gleichzeitig den löslichen 
Inhalt der Muskelbündel modifieirt. Man muss daher zu 
gleicher Zeit das Eiweiss des Blutes bestimmen, und der Ver- 
such an kaltblütigen Thieren, an welchen man, wie bekannt, 
im Stande ist, wegen der langen Erhaltung ihrer Reizbarkeit 
nach dem Tode einige Muskelgruppen eine Zeit lang in Con- 
traction zu versetzen, daher zu ermüden, während andere 
Muskeln im Ruhezustande verharren, kann hierfür kein hin- 
reichendes Resultat liefern, da der Stoffwechsel hier gewiss 
gering ist !). Man wird daher an warmblütigen Thieren ex- 
perimentiren müssen; bei diesen aber geht die Reizbarkeit 
nach dem Aufhören des Kreislaufes sobald verloren, dass 
man auch hier nicht erwarten kann, den Unterschied beim 
Vorhandensein des Blut-Eiweisses darthun zu können. Man 
muss daher an verschiedenen Thieren experimentiren, von 
denen das eine im Zustande der Ruhe, das andere nach leb- 
hafter Muskelanstrengung untersucht wird, hier tritt aber wie- 
derum die Ernährung in den Weg. Ich hoffe bald näher 
auseinanderzusetzen, welehen bedeutenden Einfluss die Ernäh- 
rung ausübt. Man wäre daher genöthigt, zur Erhaltung guter 
Resultate, eine Reihe Versuche an Thieren von demselben 
Alter, Grösse und Gewicht, zu machen, welche ohnedies 
während einiger Zeit dieselbe Nahrung erhalten; bei diesen 
Thieren wäre nun der Eiweissgehalt gleichnamiger Muskeln 
nach einem Zeitraume von Ruhe und von grosser Ermüdung 
zu bestimmen. 


1) Helmholtz schreibt es daran zu, dass er bei seinen Versuchen, 
welche bei electrischer Reizung Zunahme des Alkoholextraetes und 
Abnahme des Wasserextractes lehrten, keine entscheidenden Re- 
sultate in Bezug auf die Eiweisssubstanzen erhielt (Müller’s Ar- 
chiv 1845.) 


450 


Zu meinem Bedauern fehlte mir die Gelegenheit, diesen 
Versuch zu machen, und ich muss mich darum darauf be- 
schränken, noch einige Gründe anzuführen, zum Beweise, dass 
die Resultate, welche die Untersuchung über die Diffusion 
von Eiweiss geliefert hat, wirklich auf die Ernährungserschei- 
nungen im Thierkörper, auf die Diffusion von Eiweiss durch 
die Hüllen der Elementarformen angewendet werden dürfen. 

Ich will mit Bezug hierauf zuerst die Transsudate erwähnen. 
Diese Flüssigkeiten ‘reagiren alkalisch und ihr Eiweissgehalt 
ist gross, und zwar gewöhnlich um so grösser, je grösser 
der Salzgehalt. Einzelne Male werden saure Flüssigkeiten 
in Höhlen, welche von Membranen umgeben sind, angetrof- 
fen; dann enthalten sie auch viel weniger Eiweiss. Vor ei- 
niger Zeit wurde hier an einem Patienten mit scheinbarem 
hydrothorax, wegen der zunehmenden Beklemmung, die Pa- 
racenthesis ausgeführt. Die entleerte Flüssigkeit reagirfe sauer 
und enthielt nur Spuren von Eiweiss. Diese Eigenschaften 
machten die Vermuthung rege, dass die Flüssigkeit nicht 
von der Brusthöhle herrühre, und die weitere Untersuchung 
sowie der Verlauf der Krankheit gab mehr und mehr Ge- 
wissheit, dass man bei der Paracenthesis das Diaphragma 
durehbohrt und eine Lebereyste angestochen hatte. 

Ich will ferner mit einem Worte auf die Entwiekelungs- 
jahre hinweisen — eine Lebensperiode, während welcher 
die Ernährung nicht nur das Verlorene restituirt, sondern 
noch überdiess neue Substanz und darunter in erster Instanz 
Eiweisssubstanz zurückgehalten wird. Wenn die saure Reac- 
tion in den Elementarformen, welche noch wachsen müssen, 
den Uebergang von Eiweiss hemmt, so wird wahrscheinlich 
während dieser Zeit relativ viel Ruhe genossen. Und ist 
denn nicht während dieser Periode vieles Schlafen ein gro- 
sses Bedürfniss ? Ist die fehlerhafte Entwiekelung eines Kin- 
des, das zu wenig schläft, nicht allgemein bekannt? 

Endlich zum Schlusse die Milchdrüse. Unter bekannten 
Umständen wird Milchsäure in derselben entwickelt. Ein 
Eiweiss-enthaltendes Transsudat tritt durch die membrana 
propria der Drüse hin, und daraus wird unter dem Einfluss 


‘ 


451 


der Cellenbildung Mileh. Unter manchen Umständen, z. B. 
wenn das Kind stirbt, muss die Milchsecretion plötzlich anf- 
hören, und das einfache Mittel hierfür, ist allgemein be- 
kannt. Man thut nichts. Sobald nicht mehr gesäugt wird, 
hört (wenigstens in der Regel) die Milchsecretion auf. Die 
Erklärung hierfür liegt nahe. In der Milch ist Milchzucker 
vorhanden und dieser Milchzucker wird bei der Temperatur 
des Thierkörpers und der Gegenwart von Käsestoff leicht 
und baldig in Milchsäure umgesetzt !). Diese Milchsäure, 
welche das Uebergewicht in der Milchdrüse erhält, sobald 
das Kind nicht mehr angelegt wird, hemmt den Durchgang 
von Eiweiss in die Drüse, und verursacht das Aufhören 
der Secretion. 

Diese saure Flüssigkeit, welche auf diese Weise in der 
Milchdrüse entsteht, bewirkt weiter einen Diffusionsstrom 
von Wasser nach dem Blute. Die Drüse wird trocken, und 
auch hierdurch wird daher der Secretionsprocess gestört. 

Wir haben daher in dem Stoffwechsel selbst eine der Ur- 
sachen kennen gelernt, welche die Thätigkeit der Organe 
regelt, und ein periodisches Steigen und Sinken dieses Stoff- 
wechsels bewirkt. Die saure Reaction, welche bei erhöhter 
Wirkung auftritt, ist als eine der Ursachen zu betrachten. 
Diese saure Reaction ist abhängig von der Wirkung der 
Organe, und steht in Verbindung mit der Menge Blut, wel- 
che während einer gewissen Zeit durch die Organe strömt. 

Jedes Organ besitzt daher, unabhängig von äusseren Ein- 
flüssen, eine Periode lebhafter und geringer Wirkung, An- 
strengung und Ruhe; die Dauer dieser Perioden ist von den 
beiden genannten Faetoren abhängig: dem Stoffwechsel des 
Organes und der Blutzufuhr. Die Selbständigkeit der Organe 
tritt hierdurch von neuem in den Vordergrund. 

Es braucht kaum erwähnt zu werden, dass in der sauren 
Reaction und der dadurch bewirkten Verminderung der Os- 


1) Die übliche Methode, Milchsäure darzustellen, ist vollkommen die 
selbe. Man mischt Zucker mit Milch und faulendem Käse und er- 
wärmt diese Mischung bis auf die Temperatur des Thierkörpers. 


452 


mose von Eiweiss nicht die einzige, sondern nur eine der 
vielen Ursachen für die Periodieität gesucht werden muss. 
Ohne den noch so geheimnissvollen Nerveneinfluss weiter zu 
erwähnen, ist es hinreichend, zu bemerken, dass wir nur 
die Eiweisssubstanz betrachtet haben, und dass die Organe 
aus sehr verschiedenen Stoffen zusammengesetzt sind, deren 
An- oder Abwesenheit jedenfalls nicht ohne Einfluss auf den 
Stoffwechsel sein wird. Für die vollkommene Lösung des 
Problems wird die vollständige Kenntniss des Stoffwechsels 
in allen Organen unseres Körpers gefordert, und die Kennt- 
niss des Einflusses, welchen die Umsetzungsprodukte der 
Organe an dem Orte ihres Entstehens, oder wo sie hinge- 
führt werden, hierauf ausüben. Nur wenige dieser Produkte 
sind bekannt, und von diesen kennt man wiederum nur 
theilweise den Einfluss, den sie.auf den Stoffwechsel haben 
und dann noch sehr unvollständig. Aus den gelieferten 
Untersuchungen geht aber hervor, welche Bedeutung diese 
Stoffe haben; bald hoffe ich meine Leser noch weiter hiervon 
zu überzeugen, wenn ich den hemmenden Einfluss, den 
eine Säure auf die Osmose von Eiweiss ausübt, mit der 
verschiedenen Nahrung des Menschen, mit dem Stoffwechsel 
von Carnivoren und Herbivoren in Verbindung bringen, und 
dann zugleich mit einem Worte den Einfluss von Uebung 
und Gewohnheit behandeln werde, welchen ich jetzt nicht 
näher angerührt habe, weil seine Erklärung nur in der ver- 
schiedenen Nahrung gesucht werden kann. 


(Nederl. Tijdschrift voor Geneeskunde.) 


en u = A mn mn nn 
a Te nn a DArNInAnAnannan. mann ananananananannannnnn 


Paralytische Symptome nach Diphtheritis 
faucium, 


von 


F. C. DONDERS. 


Am 26tcn Mai dieses Jahres kam Fräulein v. D., 26 Jahre 
alt, zu mir, indem sie über Störung des Sehvermögens 
klagte. Aus der erfolgten Untersuchung ging hervor, dass 
die Störung durch Abnahme des Accommodationsvermögens 
bedingt war: entfernte Gegenstände wurden nämlich voll- 
kommen scharf gesehen (Distanz des Fernpunktes r = un- 
endlich = ©); die Entfernung des Nahepunktes p (bei nor- 
maler Accommodationsbreite des emmetropischen Auges im 
26ten Jahre — 4% & 5 Par. Zoll.) betrug für das rechte 
Auge ungefähr 24”, für das linke 12”. Bei dem Gebrauche 
von Gläsern von ',!) war p — $” für das linke Auge und 
p= 12” für das rechte. Die Pupillen waren grösser als 
gewöhnlich, vorzüglich auf der rechten Seite; die Reilexbe- 
wesung nach einfallendem Lichte war ziemlich gut; die 
Accommodationsbewegung war namentlich an dem rechten 
Auge sehr beschränkt. 

Die Kranke hatte vor ungefähr 5 Wochen, als sie in 
Bennekom logirt war, an angina gelitten. Erst nachdem sie 


1) Der Ausdruck: Gläser von ",, Yn. u.s. w. bedeutet Gläser von 24, 
n, u.s. w. Paris. Zoll positiver Brennweite u. s. w.; Gläser von — ”n 
sind dıe von » Pariser Zoll negativer Brennweite. 


454 


nach Utrecht zurückgekehrt war, hatte sie vor ungefähr 14 
Tagen bemerkt, dass sie nicht mehr scharf in der Nähe sehen 
konnte; sie konnte nur einige Zeilen, und zwar in relativ 
grosser Entfernung, lesen, darauf lief Alles durcheinander; 
die Buchstaben wurden unkenntlich, die Zeilen erschienen als 
Streifen; die Augen waren wie ermüdet. 

Diese Erscheinungen erinneren an die von asthenopia oder 
hebeludo visus. Es ist mir früher aus unzähligen Fällen klar 
geworden, dass dieser so häufig vorkommenden Krankheits- 
form Hypermetropie!) zu Grunde zu liegen pflegt. Hyper- 
metropie wird aber dadurch bedingt, dass die brechende Kraft 
des Auges im Zustande der Ruhe zu gering ist in Beziehung 
zu der Lage der Netzhaut; das Accomodationsvermögen muss 
schon activ wirken, wenn das Auge für parallele Strahlen 
eingerichtet werden soll; ohne diese Anstrengung ist das 
Auge im Zustande der Ruhe nur für convergirende Strahlen 
eingerichtet. Die Existenz der Hypermetropie ist mithin be- 
wiesen, wenn das Auge convexe Gläser erfordert, um in der 
Ferne scharf zu sehen, oder, wenn es, mit solehen Gläsern 
versehen, in grosser Entfernung wenigstens ebenso scharf 
unterscheidet als mit dem unbewaffneten Auge. 

Der Versuch wurde ausgeführt; Hypermetropie war nicht 
vorhanden — wenigstens keine manifeste. 

Hypermetropie kann aber latent sein; sie kann durch eine 
unwillkührliche, instinetmässige Anstrengung des Accommo- 
dationsvermögens verhüllt werden. Dies geschieht aber sel- 
ten in 26jährıgem Alter, wenigstens nicht in hohem Grade, 
und zwar am allerwenigsten, wenn der Nahe»unkt sehr 


1) Der Brennpunkt des dioptrischen Systems liegt im normalen Auge, 
wenn, sich das Accommodationsvermögen im Ruhezustande befindet, 
in der Netzhaut. Ein solches Auge nannte ich emmetropisch. Liegt 
der Brennpunkt dagegen hinter der Retina, so ist das Auge hyper- 
metropisch; wenn vor .erselben, myopisch (brachymetropisch). Myo- 
pie ist durch eine zu kurze, Hypermetropie durch eine zu lange 
Gesichtsaxe bedingt. In beiden Fällen ist das Auge ametropisch. 
(Siehe Ametropie en hare gevolgen, door F. C. Donders, Utrecht 
en Amsterdam 1860). 


455 


entfernt, die Accommodationsbreite gering ist. Es war daher 
in unserem Falle /afente Hypermetropie kaum vorauszusetzen. 
Dennoch wurde darauf untersucht. Einträufelung von Atropin 
hebt das Accommodationsvermögen auf; die Hypermetropie kann 
dann nicht länger durch dasselbe verhüllt werden; ist sie 
anders vorhanden, so muss sie jetzt manifest werden. Aber 
auch nach artificieller Mydriasis des rechten Auges konnte 
kaum % Hypermetropie constatirt werden !). Diesen Grad 
pflegt man ungefähr bei vollkommener Paralyse der Accommo- 
dation in dem emmetropischen Auge anzutreffen; er wird schon 
durch den Tonus des Accommodationsapparates allein aufge- 
hoben. Der Bau der Augen war demzufolge nicht hyperme- 
tropisch. 

Hieraus ging hervor, dass nur bedeutende Abnahme der 
Accommodationsbreite die Symptome in unserem Falle beding- 
te ?). Sie beträgt für 26jähriges Alter % oder %; hier war 
sie für das rechte Auge auf %., für das linke auf Y, redu- 
eirt. Es lag hier somit nicht die gewöhnliche Asthenopie 
oder hebetudo visus vor. Weder die vorhandenen Symptome, 
noch die Anamnese liessen auch eine solche voraussetzen. 
Was Letztere betrifit, so war die Störung fast plötzlich aufge- 
treten, wenigstens innerhalb weniger Tage, ohne dass je 
zuvor, sogar bei angestrengter Arbeit, eine ausserordentliche 
Ermüdung empfunden wurde; die lästigen Symptome bei 
hebetudo visus ex Hypermetropia treten dagegen entweder sehr 
langsam, anfangs gleichsam periodisch, auf, oder nach beson- 
deren schwächenden Umständen. Und was die Erscheinungen 
selbst betrifft, so war der Nahepunkt zu weit von dem 
Auge entfernt, das Lesen u. s. w. schon anfangs zu schwie- 
rig und auf die Ruhe des Auges folgte zu wenig zeitliche 


1) Gerade so wie Gläser von 60°’ positiver Brennweite durch '/,, an- 
gegeben werden, wird der Grad der Hypermetropie, welche durch 
Gläser von ',, neutralisirt wird, ebenfalls = ,, angedeutet. 

2) Wenn die Entfernung des Nahepunktes von dem Auge = p, des 
Fernpunktes = r ist, so ist die Accomiodationsbreite A = Yp — "r. 
(Siehe Ametropie u. s. w.). 


456 


Besserung; überdiess fehlte das eigenthümliche drückende 
Gefühl in der Stirngegend, das unwillkührlich die Hand nach 
derselben hinzieht: und — die weiten bei Aeccommodationsan- 
strengung zu wenig beweglichen Pupillen wiesen geradezu 
auf Parese hin. 

Die Ursache aber der geringeren Accommodationsbreite war 
indessen nicht aufgehellt. Bei Kindern kommt, nach meiner 
Erfahrung, Verlust oder Abnahme der Accommodation, ohne 
Parese der Augenmuskeln, an beiden Augen zugleich , nicht 
so selten vor, und wird meistens innerhalb zwei oder drei 
Monate genesen; die Ursache ist dabei ganz unbekannt ge- 
blieben (Würmer sind „ewiss ganz unschuldig daran), und 
die Genesung erfolgt, ohne dass man etwas Wesentliches 
gethan hat. Ganz anders verhält sich die Sache bei Erwach- 
senen: Lähmung der Accommodation an beiden Augen zugleich 
ist eine grosse Seltenheit bei denselben, und zwar noch sel- 
tener ohne weitere Paralyse von Augen- oder Augenlid- 
muskeln. Ich konnte mithin keine gewisse Prognose auf die 
Erfahrung basiren. Günstig durfte sie jedoch nicht sein, 
insofern die gleichzeitige Entstehung auf beiden Seiten eine 
centrale Ursache vermuthen liess, welche Vermuthung durch 
Symptome von Eingenommensein des Kopfes, leichtem Grade 
von Schwindel, und mitunter sogar von heftigen Kopfschmer- 
zen unterstützt wurde. Es wurden Derivation nach dem Darm- 
kanale, Fussbäder, reizende Einreibung der Stirngegend 
verordnet und Ruhe anempfohlen. Später wurden Gläser von 
Y fir das Sehen in der Nähe erlaubt, welche jede Schwie- 
rigkeit bei der Arbeit aufhoben. 

Eine eigenthünliche Störung der Sprache war mir bei der 
Untersuchung der Kranken nieht entgangen. Ich verinuthete, 
dass ein angeborner Fehler Schuld daran sei, und liess mich, 
um das Zartgefühl nicht zu verletzen, nicht weiter darauf 
ein; auch sprach die Kranke nicht darüber. 

Beinahe vierzehn Tage später (4 Juni) kam ein Jüngling 
R. zu mir, der 15 Jahre alt, blond, bleich und ziemlieh ma- 
ger war. Seine Klagen stimmten ganz mit denen von Fräu- 
lein v. D). überein. Das Accommodationsvermögen war jedoch 


457 


noch mehr beschränkt; er sah scharf in die Ferne (er un- 
terschied Buchstaben von 1 Centim. Länge in einer Entfernung 
von 6 Metern); in der Nähe konnte er dagegen den gewöhn- 
lichen Druckbogen durchaus nicht lesen ; der Nahepunkt liess 
sich nicht direet bestimmen ; mit Gläsern von % las er auf 7”. 
Die Pupillen waren gross, die Reflexbewegung gering, ac- 
commodative Bewegung kaum bemerkbar. 

Es fiel mir auf, dass dieser Jüngling dieselbe Störung der 
Sprache aufwies, welche ich bei Fräulein v. D. bemerkt 
hatte. Er hatte auch an Angina gelitten. Ueberdiess kam 
er von Ede, einem unmittelbar in der Nähe von Bennekom 
gelegenen Dorfe. Ja, ich erfuhr sogar bei dieser Gelegenheit, 
dass in demselben Dorfe Bennekom noch einige Anderen, die 
auch an Angina gelitten hatten, sowohl Störung im Sehen 
als Schwierigkeit im Sprechen empfanden. Dieser Umstand 
schien mir wirklich wichtig zu sein. 

Ich untersuchte nun bei R. Alles, was sich auf die Modifi- 
cation von Stimme und Sprache bezog. Die Störung war bei 
diesem Kranken unmittelbar nach der Kehlentzündung aufge- 
treten; bei Fräulein v. D. dagegen hatte sie sich wie ich 
erst später erfuhr, einige Zeit, nachdem die Angina schon 
geheilt war, entwickelt. 

Die Schleimhaut der Mund- und Rachenhöhle war normal, 
mehr blass als roth; die Tonsillae waren kaum geschwollen. 
Die uvula hing jedoch ausserordentlich lang und war durchaus 
unbeweglich. Wenn man den Gaumen in normalem Zustande 
beobachtet, während die Zunge etwas nach unten gedrückt 
und die Nase geschlossen ist, sodass durch den weit geöff- 
neten Mund geathmet werden muss, so sieht man, dass der 
Gaumen in die Höhe gezogen, die Uvula meistens ab- 
wechselnd länger und kürzer wird. Bei einem Schluck- 
versuche, der in dieser Lage am besten gelingt, wenn man 
den Unterkiefer gut befestigt, steigt der weiche Gaumen noch 
mehr in die Höhe, die Bogen werden enger, und das erste 
Mal wenigstens wird auch die Uvula dabei in die Höhe gezogen. 
Dasselbe beobachtet man ungefähr bei jedem Versuche um zu 
sprechen; am besten lasse man den Vocal a aussprechen , was 

I: 3l 


458 


bei weitgeöffnetem Munde und niedergedrückter Zunge sehr 
wohl möglich bleibt. Die Zusammenziehung der Bogen und das 
Aufsteigen des weichen Gaumens, mit Zurückziehung der 
Uvula, sind noch intensiver bei anfangender Brechbewegung, 
welche man durch Reizung des Pharynx mit einer feinen 
Feder hervorrufen kann. — Die Uvula unseres Patienten blieb 
nun bei allen diesen Bewegungen gleich lang und unbeweg- 
lich; das Steigen des Gaumens war sehr beschränkt und 
die Arcus pharyngso-staphylini näherten sich nur wenig zu 
einander. Es war mithin klar, dass der M. azygos uvulae 
paralysirt war, und dass die übrigen Muskeln des weichen 
Gaumens mehr oder weniger durch Paresis affieirt waren. 

Die beobachteten Störungen fanden ihre völlige Erklärung 
in diesem subparalytischen Zustande. 

Zuerst die Sprache. In ihrer Hinsicht lag eine doppelte 
Abweichung vor: das Sprechen nämlich durch die Nase und 
die Begleitung eines schnurrenden oder schnarchenden Geräu- 
sches bei vielen Lauten. Das schnurrende Geräusch war of- 
fenbar abhängig von einer Schwingung der mit der Zungen- 
wurzel in Berührung stehenden Uvula. Sehr stark wurde es 
bei den tönenden Reibungsconsonanten v und z, schwach bei 
& (holländische Aussprache, ungefähr = y? von Bruecke) 
gehört; aber anch bei den nicht tönenden f und s wurde es 
wahrgenommen, bei k sehr stark, bei h und w aber nicht. 
Es war ferner bei den tönenden Verschlusslauten b und d deut- 
lich, namentlich bei g (französische Aussprache vor 0, a 
und u); bei den tonlosen Verschlusslauten p, t und k, so- 
wie bei den Resonanten fehlte es ganz und gar; auch bei r 
schien es nicht vorzukommen. Der 1 ward unvollkommen 
pronuneirt. Von den Vocalen war nur e von einem stark 
schnurrenden Laute begleitet. 

Das Sprechen durch die Nase bewies schon an und für 
sich, dass die Nasenhöhle in Folge der Paresis des weichen 
Gaumens nicht völlig abgeschlossen wurde. Bei allen Lauten 
der holländischen Sprache, mit Ausnahme der Resonanten 
m, n und ng, muss dieser Schluss ein völliger sein. Der 
Nasenlaut wurde am stärksten bei o gehört; bei allen Vocalen 


459 


aber kam es mehr oder weniger vor, und auch bei allen 
tönenden Consonanten machte er sich geltend. Man kann 
sich übrigens auf verschiedene Weise von der Communication 
zwischen Nasen- und Rachenhöhle überzeugen. Die Flaumfe- 
dern, welche in der Nähe des Schaftes feiner Vogelfedern vor- 
kommen, sind ein sehr empfindliches Mittel. Wenn man sie 
unmittelbar vor die Nase hält, während ein gegen die Ober- 
lippe anliegender Bogen Papier die durch die Mundhöhle 
austretende Luft abhält, so werden sie in normalem Zustande 
nur beim: Aussprechen der Resonanten in Bewegung gesetzt. 
Bei dem in unserem Falle fehlenden Verschluss der Nasen- 
höhle, wurde jeder Laut, wenn er auch noch so leise her- 
vorgebracht war, von einem Zurückweichen der Flaumfedern 
begleitet, welche erst dann vermöge ihrer Elastieität in ihre 
ursprüngliche Lage zurückkehrten, wenn der Laut aufhörte. 
Ein zweites Mittel liegt in dem Zusammendrücken der Nase 
mit der Hand. Bei der gewöhnlichen Aussprache mit hinten 
abgeschlossener Nasenhöhle erfährt der Laut dadurch durchaus 
keine Veränderung: nur muss man der Neigung nicht zuge- 
ben, durch Oeffnung das Gleichgewicht der Luftspannung in 
Nasen- uud Rachenhöhle festzuhalten. Dagegen wird bei be- 
stehender Communication der Nasen- und Rachenhöhle, wenn 
die Nase zusammengedrückt wird, nicht nur das Nasale des 
Lautes stärker gehört, sondern fällt auch die Tonhöhe dabei 
etwas herab; dies ist namentlich beim Singen eines bestimm- 
ten Tones sehr deutlich. Man weiss, dass auch der bei der 
Percussion des Larynx erhaltene Ton etwas fällt, wenn die 
Nasenflügel, bei Communication der Nasen- und Rachenhöhle, 
zusammengedrücht werden, sodass man hierin ein Mittel ge- 
funden hat, auch bei jungen Kindern zu bestimmen , 
ob der normale Weg durch die Nase verschlossen ist (Win- 
trich). — Bei unserem Patienten wurde nun das Fallen des 
Tones bei jedem Laute sowie die Zunahme des Nasentons 
deutlich eonstatirt, wenn die Nasenflügel zusammengedrückt 
wurden. -— Endlich fand ieh noch ein höchst empfindliches 
Mittel in der verhinderten Aussprache der Verchlusslauten 
unter manchen Umständen, um die gehemmte oder verlang- 
31* 


460 


samte Bewegung des Gaumens zu beweisen. Dieses Ver- 
hältniss war wirklich frappant. Die Verschlusslaute entstehen 
durch Abschliessung der geöffneten oder Oeffnung der ge- 
schlossenen Mundhöhle. Beim Verschlusse zwischen den Lip- 
pen entsteht p, bei dem zwischen dem vorderen Theile der 
Zunge und dem vorderen Theile des harten Gaumens oder 
den Zähnen t, bei dem zwischen dem mehr nach hinten ge- 
legenen Theile der Zunge und des Gaumens k. Wenn die 
Stimme dabei tönt, so treten b, d und G an die Stelle von 
p, t und k. Um diese Laute aber zu produeiren, muss die 
Nasenhöhle von der Rachenhöhle durch das Gaumensegel ab- 
gesperrt sein. Fehlt dieser Schluss, so werden die Resonan- 
ten m, n und ng anstatt b, d und G produeirt !) Dies war 
nun wirklich bei unserem Knaben der Fall; ein tönender Ver- 
schlusslaut wurde am Ende eines Wortes durch einen ent- 
sprechenden Resonanten ersetzt. In der holländischen Spra- 
che ist im Auslaute der Wörter kein Verschlussconsonnant 
tönend. Selbst wenn ein tönender geschrieben steht, wird er 
doch als nicht tönend ausgesprochen: so wird heb als hep, 
rood als root gehört. Für den dritten tönenden Verehlusseon- 
sonant @ (das g der Franzosen vor a, o und w) besitzen wir 
kein Zeichen; wir schreiben daher auch immer das Zeichen 
des nicht tönenden. Der Holländer (mit Ausnahme der Be- 
wohner der nördlichen Provinzen) hört sie aber gut und spricht 
sie leicht und richtig aus; es reichte darum hin, sie deutlich 
vorzusagen, um sich zu überzeugen, dass die tönenden Ver- 
schlusseonsonanten wenigstens im Auslaute unwillkührlich 
durch Resonanten ersetzt wurden. Man kann dabei Wörter 
aus einer fremden Sprache wählen. In der englischen Spra- 
che werden die Consonanten im Auslaute mehr als in irgend 


a nn en 


1) Den dritten Resonanten schreiben wir mit dem Zeichen ng. Dies gab 
unglücklicherweise Veranlassung, dass dieser einfache Laut von Man- 
chen als zwei Consonanten ausgesprochen wurde. Daran waren die 
Pedanten schuld, welche glauben, so sprechen zu müssen, wie man 
schreibt, anstatt dass es ihr Bestreben sein müsste so zu schreiben, 
wie man spricht. 


461 


einer anderen mit dem Klange der Stimme ausgesprochen , 
z. B. in rub, head, eg u. s. w. Wenn R. nun diese Worte 
gut aussprechen wollte, so sagte er jedesmal: rum, hen, eng; 
auch wohl rump, hent und enk. ‘Nachdem er selbst gehört, 
wie diese Laute von den vorgesagten abwichen, sagte er 
bisweilen rup, het und ek. Wenn man aber nur darauf in- 
sistirte, dass der Verschlusseonsonnant im Auslaute mit deut- 
lichem Stimmklange ausgesprochen werde, so kam jedesmal 
wiederum rum, hem und eng zum Vorscheine. Kamen die 
tönenden Verschlusseonsonnanten nicht im Auslaute der Wör- 
ter vor, so wurde der Ton der Stimme zwar deutlich gehört, 
aber doch ein Resonant vorausgeschickt; band wurde wie 
mband, daar wie ndaar, ik doe !) wie in(r doe ausgesprochen. 
Dagegen wurde bei dem Aussprechen der nicht tönenden 
Verschlussconsonanten p, t und k kaum irgend eiue wahr- 
nehmbare Abweichung vernommen. 

Die Ursache aller dieser Eigenthümlichkeiten liegt nahe; 
ich werde dies nun näher auseinandersetzen. 

Wenn auf einen durch die Nase gesprochenen Vocal der 
tönende Verschlussconsonant folgen soll, so muss die Nase in 
demselben Augenblick von der Rachenhöhle abgeschieden 
werden, in welchem die Mundhöhle zwischen den Lippen (b) 
oder zwischen der Zunge und dem Gaumen (d und 6) ab- 
geschlossen wird. Findet dies nicht Statt, so hört man die 


1) Unsere Grammatiei behaupten, dass der holländischen Sprache das G 
ler Franzosen, (wie es vor a, 6 und u in gant, got, guerre aus- 
gesprochen wird) abgeht. Dieses ist aber ein Irrthum. Wenn dem 
k die tönenden Verschlussconsonante 5 und d folgen, wird k als G 
ausgesproehen. Dieses G ist unser k mit Stimmlaut. Da in unserer 
Sprache (und vielleicht allgemein) zwei auf einander folgende Con- 
sonanten stets beide entweder tönend oder tonlos ausgesprochen 
werden, so muss sich, bei Verschiedenheit, der erste nach dem zwei- 
ten oder der zweite nach dem ersten richten. In unserer Sprache 
nun wird das k vor 5 und d tönend; dagegen verlieren v, z und 
9 (auch r und /; dieses hört man aber weniger und darum fehlt 
auch wohl das doppelte Zeichen) das Tönen, wenn sie auf k fol- 
gen. Ik doe, ik beef wird pronuncirt IG doe, IG beef; dagegen 
ik vouw, ik zend, ik geef, wie ik fouw, ik cent, ik cheef. 


462 


Resonanten m, n und ng anstatt der Verschlussconsonanten b, 
d und 6 Der Mechanismus doch ist für beide derselbe, — 
nur mit dem Unterschiede, dass die Nasen- und Rachenhöhle 
bei den Resonanten communieiren, und dass diese Gemein- 
schait bei den Verschlussconsonanten durch das Gaumensegel 
aufgehoben ist. Nun ist es, sogar bei ungestörter Function 
des weichen Gaumens, schwer, einen tönenden Consonanten 
auf einen Nasalvocal folgen zu lassen. Die Franzosen, welche 
die Vocale so gewöhnlich durch die Nase aussprechen, schei- 
nen dies auch fast nicht zu thun, wenn ein b, d oder @ 
auf den Vocal folgt !), weil die dabei erforderte gleichzeitige 
Absperrung der Nase und Schluss der Mundhöhle Schwierig- 
keiten liefert. Wie viel mehr muss dies der Fall sein, wenn 
die Muskeln des Gaumens mehr oder weniger paralysirt sind. 
Liegt hierin schon die Ursache dafür, dass bei keinem ein- 
zigen Vocale die Nase völlig abgeschlossen ist, dass alle mithin 
einen mehr oder weniger nasalen Klang haben, so sieht man 
leicht ein, dass bei dem Versuche, um unmittelbar darauf 
einen tönenden Verschlussconsonanten auszusprechen, die 
Communication fortbesteht, oder wenigstens unvollkommen 
aufgehoben wird. Unser Patient spricht darum rum, hen und 


0 mn 


1) Oben bemerkte ich, wıe das Tönen oder nicht Tönen eines Conso- 
nanten durch den darauf folgenden in der holländischen Sprache 
modifieirt werden kann. So wird auch im Französischen das Na- 
sale oder nicht Nasale eines Vocales durch den darauf folgenden 
Laut bestimmt. Erfordert derselbe Communication mit der Nase 
(die Resonanten), so wird der Vocal stets nasal; erlaubt er die er- 
wähnte Communication, wie die Reibungs- und Zitterlaute, so hört 
man meistens den Vocal noch nasal; — nie aber, wenn ein tönen- 
der Verschlussconsonant darauf folgt, dessen Laut bei der Commu- 
nieation von Nasen- urd Rachenhöhle so ganz modifieirt oder viel- 
mehr durch einen Resonanten ersetzt wird. — Man sieht hieraus, wie 
unwillkührlich der einfachste Mechanismus gewählt ist, um eine Reihe 
aufeinander folgender Laute zu verbinden, und wie sogar die Bestän- 
digkeit des Klanges eines Wort daran aufgeopfert wird. Wichtig ist 
weiter, wie die Tonhöhe des Geräusches eines Consonanten durch die 
vorangehenden und folgenden Vocale nothwendig modifieirt wird. 
Hierauf näher einzugehen, gehört aber nicht hieher. 


463 


eng, anstatt rub, head und egg. Strengt er sich mehr an, so 
wird es rump, heni, enk (eigentlich engk — denn n vor % ist 
stets ng): der nicht tönende Verschlussconsonant tritt hinzu. 
Dieser Mechanismus liefert keine Schwierigkeit. Nachdem 
der Ton der Stimme aufgehört hat, braucht nämlich der Ver- 
schluss des Mundes nur mit einigem Drange von Luft auf- 
gehoben zu werden, um die nicht tönenden Verschlusseon- 
sonanten hören zu lassen. Die Nase bleibt dabei zwar of- 
fen,‘ das Geräusch eines Verschlussconsonanten ist aber bei 
nicht tönender Stimme stärker als das eines Resonanten, und 
darum hört man ersteren deutlich, letzteren nicht. Das Um- 
gekehrte findet Statt, wenn die Stimme tönt; dann ist näm- 
lich der tönende Resonant viel stärker, als der Verschluss- 
consonant, der beim Offenbleiben der Nasenhöhle nicht einmal 
durch das sogenannte blähgelaut von Purkinje verstärkt 
und karakterisirt werden kann. So wird es klar, warum un- 
ser Patient die Stimme unwillkührlich aufhören liess zu 
tönen, ehe er den Verschlussconsonanten angab. Man begreift 
nnn auch, dass das Aussprechen von rup, hei und eh ihm 
keine Schwierigkeit machte, und dass er diese dem rum, 
hen und eng als weniger abweichend für das Gehör bald 
vorzog. Dazu brauchte die Stimme nur unmittelbar nach 
dem Vocale zum Schweigen gebracht zu werden, wann der 
Resonant ausblieb, und das Aufheben des Mundverschlusses 
den nicht tönenden Verschlussconsonanten hören liess. Fragt 
man endlich, warum die tönenden Verschlussconsonanten bes- 
ser am Anfange eines Wortes als am Ende produeirt werden 
konnten, so ist die Antwort einfach die, dass dabei der 
Schluss der Mundhöhle und die Absperrung der Nasenhöhle 
von der Muudhöhle nicht gleichzeitig zu Stande gebracht zu 
werden brauchte. Beim Sprechen von band, daar u. Ss. w. 
wurde die Mundhöhle erst geschlossen, und noch ehe die 
Stimme sich hören liess, eine kräftige Anstrengung gemacht, 
um den Weg nach der Nase durch das Gaumensegel abzu- 
schliessen. Wenn dies zum grossen Theile gelang, so wurde 
ein Laut vernommen, der die Mitte hielt zwischen dem Ver- 
schlussconsonanten und dem Resonanten, oder lieber es war, 


464 


da der Schluss noch während des Stimmklanges fortwährte, 
als ob ein Resonant dem Verschlusslaut vorherging: mband, 
ndaar u. s. w. Es braucht nicht bewiesen zu werden, dass, 
wenn die Gemeinschaft gleich offen geblieben wäre, auch bei 
dem Anfange der Wörter nur der Resonant anstatt des Ver- 
chlussconsonanten gehört worden wäre. 

Der semiparalytische Zustand des Gaumens gab der Ver- 
muthung Raum, dass auch das Schlucken nicht normal sein 
würde. Als wir den Patienten danach fragten, erfuhren wir, 
dass er feste Speisen nur mit grosser Anstrengung hinabschlu- 
cken konnte, und dass er beim Trinken langsam und vorsichtig 
verfahren musste. Die Flüssigkeiten gingen sehr leicht in die 
Nase und von da herab nach dem Larynx, sodass Husten 
darauf folgte. 


Soviel vorerst von dem Knaben R. 

Bald darauf kam Fräulein v. D. wiederum zu mir. Die 
vollkommene Uebereinstimmung der Erscheinungen an dem Gau- 
men, in der Sprache und dem Schlucken mit Allem, was oben 
von R. angegeben wurde, war wirklich schlagend. Sie klagte 
nur mehr über Secretion eines zähen Schleimes im Halse, der 
nicht ohne Mühe entfernt werden konnte. 


Die beiden oben beschriebenen Fälle interessirten mich sehr. 
Es konnte, wie mir schien, kein Zweifel über den Zusam- 
menhang der paralytischen Erscheinungen mit der vorherge- 
gangenen Angina bestehen. Eine nähere Untersuchung kam 
mir aber doch wünschenswerth vor, und so begab ich mich 
nach Bennekom, wo mir sowohl Dr. Thomas, practisirender 
Arzt in dem nahegelegenen Dorfe Eden, als auch der Herr 
S. Ketting, Arzt in Bennekom, mit der grössten Bereitwil- 
ligkeit die erwünschten Aufklärungen gaben, und mir über- 
dies die Gelegenheit boten, noch einige Patienten zu un- 
tersuchen, bei denen secundäre paralytische Erscheinungen 
aufgetreten waren. 


465 


Es freuet mich, diesen geschätzten Collegen hier nochmals 
meinen Dank dafür abstatten zu können. 

Folgendes ist ein kurzer Bericht desjenigen,, was ich erfuhr 
und aufzeichnete. 

Bennekom ist ein ziemlich grosses Dorf, mit ungefähr 1500 
Einwohnern , 3 Stunden westlich von Arnhem, und eine gute 
Stunde vom Rhein entfernt gelegen. Die Lage ist ziemlich 
hoch. Der Boden ist gemischtes Diluvium mit einer nicht 
dicken Humuslage überzogen. Nördlich grenzt das Dorf an 
die Heide, welche hier und da mit Tannenbäumen, im 
Uebrigen aber ziemlich durftig mit Ericaeae versehen ist. 
Catarrhale Angina kommt hier nicht selten vor. Auch im 
Winter 1859—60 und namentlich im Frühjahre war diese 
Krankheit sehr vorherrschend. Mehr als ein Viertel der Be- 
völkerung litt an derselben. Solche Fälle wurden in grosser 
Zahl beobachtet, ehe noch ein einziger Fall von diphtheriti- 
scher Angina vorkam. 

1. Der Erste, welcher von diphtheritischer Angina befallen 
wurde, war ein starker Bauernknecht, der auf einem 15 Mi- 
nuten von dem Dorfe entfernten Hofe wohnte. Bei seinem 
ersten Besuche am 2öten Februar 1860 fand Herr Ketting 
denselben schon sterbend. Man erzählte, dass er schon 
vierzehn Tage an geschwollenen Mandeln, Deglutitionsbe- 
schwerden mit belegter Zunge und unreinem Geschmacke ge- 
litten. Seit den letzten zwei bis drei Tagen war das Schlu- 
cken unmöglich geworden; dabei hatten sich Erscheinungen 
von Schwindel , Schläfrigkeit, Eingenommensein des Kopfes 
gefügt; über Schmerz wurde nicht geklagt. 

2. Am folgenden Tage (26 Februar) erkrankte die Haus- 
frau; schon vier Tage lang war ihr das Schlucken schwierig 
gewesen; sie behauptete jedes Frühjahr eine solche Angina 
gehabt zu haben, — dieses Jahr aber zum ersten Male ohne 
irgend ein Gefühl von Schmerzen. Die Fauces waren ziemlich 
geschwollen, die Zunge leicht gastrisch belegt, der Puls 
frequent. Nach einigen Tagen wurde die Deglutition auch 
schwieriger; Uvula sehr, Tonsillae nur wenig geschwollen, 
Zunge unverändert. Am 4ten März roch der Athem sehr un- 


466 


angenehm; auf den Tonsillen sah man weisse Flecken , welche 
sich bald als harte Stellen, auf der rechten Seite zur Grösse 
eines Oentimeters, links etwas kleiner begränzten; die Mucosa 
war roth und empfindlich; die Schwellung mit Ausnahme 
der Uvula gering. Nach 8 Tagen waren diese Flecken stel- 
lenweise abgestossen,, sodass eine enthäutete Oberfläche übrig 
blieb; die Empfindlichkeit hatte nur zugenommen und die 
Deglutition war schwieriger. Nach und nach jedoch wurden 
alle Symptome besser, mit Ausnahme des Schluckens, das 
fortwährend schwierig blieb. 

Am 23sten März wurde die Kranke nach einem erquicken- 
den Schlafe plötzlich sehr beklemmt in der linken oberen 
Brustgegend, und erlag 20 Minuten darauf. Die Behandlung 
war im Anfange resolvirend, später roborirend gewesen; 
überdiess wurden Gargarismen von acid. hydro-chlorieum, 
borax, ag. caleis und alumen der Reihe nach verordnet. 

3. Ungefähr gleichzeitig mit dieser Frau erkrankte ihr 
Bruder, der auch ungefähr 15 Minuten von dem Dorfe ent- 
fernt wohnte. Am 26sten Februar Abends klagte er über eine 
beklemmende Schwellung der Kehle, welche seit ungefähr vier 
Tagen entstanden war. Die Tonsillen waren stark geschwollen, 
bleich und schlaff, die Uvula roth, sehr vergrössert, wodurch 
ein röchelndes Athmen bedingt wurde, das beim Liegen sehr 
schwierig war; die Zunge war dick belegt, der Athem stinkend. 
Wiederholte Scarificationen gaben zeitlich Erleichterung; das 
Schlucken blieb aber schwierig; es entwickelte sich auch aus- 
wendig am Halse eine bedeutende Schwellung. Dieser Patient 
starb Abends im 32jährigen Alter, nachdem er kurz zuvor 
eine bedeutende Menge eiteriger Masse ausgeworfen hatte. 

4. Der vierte Fall kam erst nach einiger Zeit im Dorfe 
selbst vor. Am Abende des 4ten April nämlich klagte Herr 
P. über Erkältung. Er fieberte und litt an Schmerzen im 
Halse. Nach einer sehr profusen Transpiration schien sein 
Zustand am folgenden Tage verbessert zu sein, des Nachmit- 
tags aber wurden die Schmerzen in der Kehle nnd die Ent- 
zündung intensiver; Hirudines und Cataplasmata gaben aber 
Erleichterung. Am 7ten April waren Tonsillen und Uvula 


467 


blass und stark geschwollen, Einathmung und Schlucken sehr 
schwierig. Searifieationen und andere Mittel blieben ohne 
Erfolg; am S$ten hatte die Beklemmung zugenommen, das 
Schlucken war ganz unmöglich, die Inspiration sehr hörbar. 
Es war eine bedeutende Schwellung der Unterkieferdrüsen hin- 
zugekommen. Am Abende starb der 37jährige Kranke, wie 
es schien, an Erstickung. 

5. Fräulein E.v.N., 17 Jahre alt, von einer zarten Con- 
stitution, seit langer Zeit chlorotisch, wohnte bei ihren El- 
tern im Dorfe. Am ten April klagte sie über Schmerzen im 
Halse. Bei der objectiven Untersuchung wurde nichts ge- 
funden. Schon am vorigen Abend empfand sie Schwierig- 
keit beim Schlucken und Schmerz in der Kehle. Am den 
war die Zunge dick belegt, der Athem roch sehr unangenehm, 
Stullgang war ausgeblieben, die rechte Tonsille war nun 
geschwollen und beinahe ganz mit einer weissen Lage bedeckt. 
Die Kranke war sehr ängstlich. Vorgeschrieben wurde ein 
rerolvirendes Laxans und ein Gargarisma mit Borax. Am Yten 
hatte die Schwellung zugenommen, und auch die Uvula aflı- 
eirt, die leicht roth war. Die weisse Lage war zu einem 
festen, durch ein rothes Rändehen begrenzten Stücke gewor- 
den, das deutlich und scharf umschrieben war, und sehr ver- 
schieden von dem übrigen Verhalten der Kehle war; das 
Schlueken war sehr schwierig; Zunge und unangenehmer 
Athem zeigten keine Besserung. Der Stuhlgang musste durch 
Clysmata unterhalten werden. — Am 10ten derselbe Zustand. 
Ein Gargarisma mit acid. hydrochlorieum wurde verordnet. 
Das weisse Stück wurde nun nach und nach abgelöst und 
entfernt, und liess eine sich enthäutende Stelle zurück. Darauf 
nun nahm die Schwellung sehr bald bei dem Gebrauche einer 
solutio aluminis ab, und schon am 20ten April konnte die 
Kranke als genesen betrachtet werden. Im ganzen Krankheits- 
verlaufe waren keine Fiebererscheinungen beobachtet worden. 

Am 10ten Juni besuchte ich die Patientin in Bennekom. 
Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, dass schon unmittelbar nach 
der Halsentzündung eine geringe Störung der Sprache zu be- 
stehen schien, dass sie aber erst 14 Tage darauf bedeutend 


468 


geworden, und dass dann erst das schnurrende Geräusch ge- 
hört, und das Näseln der Stimme deutlich geworden war. 
Erst 3 Tage nach dem Verlaufe der Krankheit wurde einige 
Schwierigkeit beim Lesen bemerkt. Auch dieses Symptom 
hatte schnell zugenommen; sie konnte aber noch immer einige 
Zeilen lesen. Während des Monates Mai waren die Erschei- 
nungen des Gesichtes und der Sprache beinahe unverändert 
geblieben. Anfangs Juni trat deutliche Besserung ein. 

Bei meinem Besuche am 10ten Juni schienen die Bewe- 
gungen des Gaumens normal zu sein; denn auch die Uvula 
wurde unter den gewöhnlichen Umständen gut in die Höhe 
gezogen; ein schnurrendes Nebengeräusch der Stimme war 
nicht mehr zu hören. An den Vocalen war aber doch noch 
Nasenklang zu bemerken; rub, head, egg wurden noch 
als rump, hent und engk gehört; einige Male wurde rub gut 
ausgesprochen; head nie; be klang meistens wie pe; wenn 
die Nase auswendig geschlossen gehalten wurde, so konnte 
sie be, de und Ge besser aussprechen. — Das Accommoda- 
tionsvermögen hatte seine normale Breite noch lange nicht 
erreicht. Es war Myopie ungefähr = /. vorhanden !) Der 
Nahepunkt lag indessen nur 6” weit. Die Accommodations- 
breite betrug daher % — Yo = gut %; für das Alter der'Pa- 
tientin musste sie ungefähr % betragen, sodass sie auf bei- 
nahe die Hälfte redueirt war. Es fiel ihr auch noch schwer, 
das Lesen oder irgend eine feine Arbeit eine Zeit lang fort- 
zusetzen. Im Allgemeinen waren die Erscheinungen denen 
der gewöhnlichen Asthenopie gleich, — es war nur insofern 
ein Unterschied zu bemerken, als das Lesen sehr erleichtert 
wurde, sobald das Buch sich in grösserer Entfernung befand. 
Reflex- und Accommodationsbewegung der Pupillen waren 
wenig gestört. 

Nach meinem Besuch hat die Besserung stets zugenommen. 
Am Tten September empfing ich folgenden Bericht von Herrn 


1) Der Ausdruek M. = ”Ys bedeutet, dass Gläser von 40 Par. Zoll 
negativer Brennweite erfordert werden, um das Auge für parallele 
Strahlen einzurichten, d. h. um die Myopie zu neutralisiren. 


469 


Ketting: E. v. N. sieht wiederum vollkommen gut aus; die 
Aussprache von rub, hend, egg ist aber noch nicht ganz rein. 
Tonische Nahrung und Behandlung. 

6. Fräulein v. D. ist die Kranke, mit welcher diese Mit- 
theilung anfängt, und welche zuerst zu mir kam. Sie war 
vor einiger Zeit in Bennekom logirt, ist übrigens in Utrecht 
wohnhaft. Herr Ketting erzählte mir, dass sie am 15ten 
April von ihm zuerst gesehen wurde, dass die Symptome in 
jeder Hinsicht mässig waren, wenig Halsschmerz, wenig un- 
angenehmer Athem, geringe Schwellung; es waren aber doch 
diphtheritische kleine Stellen in der Kehle vorgekommen ; 
dagegen waren auch in diesem Falle acid. mineralia ange- 
wandt, worauf Ablösung und baldige Genesung folgte. Im 
Anfange des Monates Mai kehrte sie denn auch wiederum 
nach Utrecht zurück. Es wurde oben ausführlich mitge- 
theilt, wie einige Zeit darauf Verlust des Accommodations- 
vermögens und Störung beim Schlucken und in der Sprache 
auftraten. Auch hierin ist allmählig Besserung gekommen. 
Ich sah sie am lten September. Das schnurrende Geräusch 
war ganz verschwunden, die Uvula gut beweglich, Schlucken 
normal. Die Vocale hatten noch einen schwachen Naselaut; 
die Tonhöhe veränderte noch eiu weinig bei auswendigem 
Verschluss der Nase. Rub und head wurden noch oft als rump 
und hent gehört; egg wurde besser ausgesprochen. Das Ac- 
commodationsvermögen ist zurückgekehrt; bei genauer opto- 
metrischer Untersuchung wird der Nahepunkt für beide Au- 
gen in 5”, für das rechte in 5,1, für das linke in 5”, 3 
Entfernung gefunden. Die Arbeit in der Nähe macht denn 
auch keine Schwierigkeit mehr; die Pupillen sind normal. 
Schmerz und Eingenommensein des Kopfes u. s. w. sind ganz 
gewichen. 

7.) Am 16fen April wurde Dr. Thomas zum 9 jährigen 
Knaben v. L. gerufen, der in Ede bei Herrn H. in Pension 
lag. Während der tödtlich verlaufenen Krankheit des Herrn P. 
(Beobachtung 4), was dieser Knabe in Bennekom bei seinem 
Verwandten Herrn G., Nachbar des Herrn P. logirt, dessen 
Haus er wohl nicht ganz vermieden haben wird. Die Er- 


a0 


scheinungen waren intensiv; auch die am Halse gelegenen 
Drüsen waren stark geschwollen. Es wurden Resolventia 
verordnet, und als Gargarisma dee. althaeae mit acid. hy- 
drochlorieum; im Anfange waren Hirudines applieirt worden. 
Nach 3 Wochen war der Kranke hergestellt, aber noch schwach. 
Ungefähr 14 Tage später wurde die Störung in der Sprache 
bemerkt; über das Sehen wurde wenig geklagt. Er war und 
blieb indessen schwach, und ungefähr einen Monat nach der 
Krankheit, bemerkte man, dass er anfing schlecht zu gehen. 

Am 9ten Juli hatte ich Gelegenheit den Knaben zu sehen. 
Er sah blass und schwächlich aus, war mager mit einge- 
fallenen Augen, einigermaassen herabhängendem Unterkiefer 
ungesunder, livider Hautfarbe, und schmerzhaftem Ausdrucke. 
Sein Gang ist unsicher; beim Gehen fällt er oft auf die Kniee 
und dann kostet es ihm Mühe, wiederum aufzustehen. In 
den letzten drei Tagen konnte er sich im Bette auch nicht 
umkehren; man muss ihn aufheben, um ihn auf die Seite zu 
legen. Dabei klagt er über Schmerz in der Stirne, mitunter 
auch im Nacken. Dies alles zusammen nimmt nicht weg, 
dass er sehr munter und aufgeweckt ist, gerne geht und 
spielt, und in Gesellschaft seiner Kamaraden an keine Krank- 
heit denkt. Indessen macht ihm das Kauen und vorzüglich 
das Schlucken, namentlich beim Genusse fester Speisen , grosse 
Schwierigkeit, darum will er stets dabei trinken, und stets 
verschluckt er sich, sodass das Wasser durch die Nase zum 
Vorscheine kommt, und Husten, mitunter auch Uebelkeit und 
Brechen darauf folgt. Folge dessen alles ist, dass er wenig 
Nahrungsmittel in seinen Magen bringt. Seine Stimme ist 
stark nasal, das schnurrende Nebengeräusch wird beinahe 
fortwährend gehört, — kurz, diese Störung ist ganz die- 
selbe, wie sie oben ausführlich beschrieben wurde, und die 
beschränkte Bewegung des Gaumensegels spricht zu Gunsten 
eines semi-paralytischen Zustandes. — Sein Accommodations- 
vermögen ist weniger gestört, als bei den übrigen Patienten. 
Er sieht gut in die Ferne und sein Nahepunkt liest in einer 
Distanz von 6°. Er müsste eigentlich auf nur 4” oder 3”, 5 
weit liegen. 


471 


Sorge für gute Nahrung und tonische Behandlung wird an- 
empfohlen. Allmählig zeigt sich Besserung in allen Erschei- 
nungen. Am Tten September erhalte ich folgende günstige 
Nachricht: „P. v. L. geht wiederum in die Schule, spricht 
rub, head und eyg, wie ein Engländer, schwankt oder fällt 
nicht mehr beim Gehen; alle Bewegungen geschehen leicht 
und frei; seine Esslust ist besser als je zuvor; Uebelkeit 
ist durchaus nicht mehr vorhanden.” 

8.) In derselben Pension erkrankte am 27sten April der 
Schüler R., mithin elf Tage später als P. v. L. Andere 
Fälle sind in Ede nicht vorgekommen. Es ist daher mehr 
als wahrscheinlich, dass Contagion mit einer Incubationszeit 
von elf Tagen angenommen werden muss. R. ist derselbe, 
dessen Zustand ich oben ausführlich beschrieb, und der sich 
am 4ten Juni zu mir in Utrecht verfügte. Der Krankheits- 
verlauf war intensiv, mit bedeutender Schwellung der Kehle 
und der Speicheldrüsen und hatte einen deutlich diphtheriti- 
schen Charakter. Die Convalescenz verlief sehr glücklich. 
Bald aber trat die Störung der Sprache und einige Zeit dar- 
auf die des Accommodationsvermögens auf. Uebrigens schien 
er ziemlich gesund zu sein. Indessen trat Schwäche der Glied- 
maassen auf, nachdem ich ihn in Utrecht gesehen hatte; die 
Arme wurden so kraftlos, dass er sich weder selbst aus- 
noch anziehen konnte. Er wurde magerer und die Respira- 
tion war nicht selten sehr erschwert. Ein erster Anfall von 
Dyspnoea ging glücklicherweise vorüber. Einige Wochen später 
folgte ein zweiter. Trotz allen versuchten analeptischen Mit- 
teln wurde die Respiration bald röchelnd, und der Patient 
starb an sogenannter Paralysis pulmonum. — Die Leichen- 
öffnung wurde nicht gestattet. 

9.) Ich habe noch einen letzten Fall aus Bennekom zu 
erwähnen. Eine Bauernmagd v. D., 26 Jahre alt, kam am 
10tn Mai zu Herrn Ketting, über eine eigenthümliche 
Taubheit, ein Gefühl von Ameisenlaufen in Armen und 
Beinen, Schwäche in den Muskeln, und so hohen Grad von 
Ermüdung klagend, dass sie ihre Arbeit aussetzen musste. 
Sie wohnte bei dem im dritten Falle beschriebenen Patienten, 


472 


und hatte gleichzeitig mit demselben an der bösartigen Kehl- 
krankheit gelitten; sie hatte aber keine ärztliche Hülfe 
eingerufen. Der Anfall war nun regelmässig verlaufen, bald 
aber entwickelte sich Störung in der Sprache, und, wie es 
scheint, im dem Gesichtsvermögen, wozu später das Gefühl 
von Schwäche und Ermüdung kam, das sie zwang zum 
Arzte zu gehen. Ich sah sie am 10ten Juni. Das Gefühl 
in Armen und Bienen war viel verbessert; das Accommoda- 
tionsvermögen war jetzt ganz normal (das Auge war emme- 
tropisch und der Nahepunkt lag 4° weit); der Gaumensegel 
schien ziemlich gut beweglich zu sein; der unvollkommene, 
Verschluss der Nase wurde aber deutlich beim Aussprechen 
von Wörtern, welche mit einem tönenden Verschlussconsonan- 
ten endigten; dabei wurde der Resonant regelmässig gehört. 
Am Tten September schrieb mir Herr Ketting, dass die Kranke 
wiederum ganz hergestellt war; am längsten war ihr das ei- 
senthümliche Gefühl in den Armen und Beinen beigeblieben. 


Soweit die beobachteten Facta: ich habe nur relativ we- 
nig hinzuzufügen. Offenbar hat in Bennekom eine diphthe- 
retische Halsentzündung geherrscht. Sie ist in den letzten 
Jahren öfter, vorzüglich in Frankreich !), aber auch in England 
zur Beobachtung gekommen. Die Litteratur enthält zahlreiche 
Mittheilungen darüber. Auch in unserem Lande sind in die- 
sem Jahre an verschiedenen Orten Fälle vorgekommen, wie 
im Haag, wo einige Fälle tödtlich verliefen, in Elst, ın 
Utrecht u. s. w. Jetzt (November 1860) werden mir aus den 
Provinzen Friesland, Noord-Brabant und besonders aus Gel- 
derland (Nijmegen) Fälle mitgetheilt. Die historischen For- 
schungen haben bewiesen, dass diese Form von bösartiger 
Halsentzündung den Alten schon bekannt war. In der zweiten 
Hälfte des sechszehnten Jahrhunderts herrschte sie ebenfalls 
in den Niederlanden; P. Foreest hat uns eine Beschreibung 
dieser Epidemie hinterlassen. — Ihr ansteckender Charakter 


1) Vergl. Hirsch, Ueber die Leistungen im Gebiete der med. Geo- 
graphie, m Schmidt’s Jahrbücher, B. 96, S. 101. 


475 


ist auch in der Epidemie der letzten Jahre ziemlich allge- 
mein anerkannt worden, und wird von neuem durch die 
Bennekom’sche bestätigt. Sie scheint indessen dahin nicht 
von anderswo angeführt zu sein, sondern sich selbständig 
entwickelt zu haben — auch ohne Zusammenhang mit Sear- 
latina und anderen Krankheiten. Es ist schwer zu entscheiden, 
ob die vorher und gleichzeitig herrschende gutartige Hals- 
enzündung von derselben unbekannten Ursache herrührte. Man 
fühlt sich aber geneigt, einen ähnlichen Zusammenhang 
zwischen gutartiger und bösartiger Halsentzündung wie z. B. 
zwischen den Diarrhoeae cholericae, Cholerine und Cholera 
asiatica anzunehmen , wenn sie gleichzeitig herrschen. 

Die Erscheinungen, der Verlauf, namentlich aber das Con- 
tagiöse dieser Krankheit deuten an, dass sie als ein Allge- 
meinleiden aufgefasst werden muss. 

Einen neuen Beweis hierfür liefern die paralytischen Er- 
scheinungen, welche secundär wahrgenommen werden. Sie 
sind es hauptsächlich, welehe meine besondere Aufmerksam- 
keit auf diese Epidemie lenkten. Als ich sie beobachtete, 
‚war es mir nicht bekannt, dass das Vorkommen von secun- 
därer Paralyse nach Diphtheritis schon erwähnt worden war. 
Später aber habe ich gesehen, dass sie schon von verschiede- 
nen Seiten beobachtet worden war. Beiläufig ist dies schon 
von Bretonneau, Trousseau und Blache angegeben 
worden; und eine ausführliche Beschreibung eines von ihm 
beobachteten Falles, mit kurzer Erwähnung von sechs anderen, 
hat Faure vor etwa drei Jahren gegeben !). Wiewohl die all- 
gemeinen paralytischen Erscheinungen mit Schwäche in den 
Extremitäten und den Halsmuskeln dabei in den Vordergrund 
treten, so wird doch Lähmung des Gaumens (einmal ohne wei- 
tere paralytische Erscheinungen) und Schwäche des Gesichtes 
ganz bestimmt erwähnt; die eine Pupille war dabei weiter als 
die andere, und ausserdem war Strabismus vorhanden, sodass 
Parese des N. oculomotorius sich auch auf andere als die in- 
wendigen Augenmuskeln ausdehnte. — Kurz darauf gab 


1) L’Union medicale, 1857, N°. 15 u. 16. 
Il: 32 


474 


Dr. Dehainne !) an, dass er selbst, zufolge einer Contagion 
durch ein Kind, an Angina diphtheritica gelitten habe, wor- 
auf Störung in der Sprache und dem Schlucken vorkamen; 
letztere wird genau von ihm beschrieben. Die paralytischen 
Erscheinungen waren erst nach drei Monaten ganz verschwun- 
den. Etwa um dieselbe Zeit beobachtete er ungefähr das- 
selbe zweimal an Anderen. — In Eisenmann’s Jahres- 
bericht f. 1858 werden noch verschiedene Fälle mitgetheilt, 
welche hierher gehören. So zwei Fälle von Gull, in welchen 
nach Angina diphtberitica Parese der Halsmuskeln, schwie- 
rige Respiration, Lähmung des N. phrenieus und Störung 
der Sprache wahrgenommen wurden; von den beiden Pa- 
tienten starb einer. Weiter drei Fälle von Dr. Richard; der 
erste betrifft eine Frau, bei welcher starke Dyspnoea und 
Aphonie, Ameisenlaufen im Fusse und Schwäche der unter- 
sten Extremitäten auftraten; der zweite Fall wurde an einem 
geistlichen Herrn beobachtet, der erst Dyspnoea, bald Läh- 
mung des Blasenhalses und des Rectums, darauf Ameisen- 
laufen und allgemeine Parese darbot, während auch zeitlich 
das Gesichtsvermögen gestört, die Zunge gelähmt und ver- 
schiedene Stellen im Gesichte gefühllos waren; alle diese 
Erscheinungen wichen allmählig, So verschwand in einem 
dritten Falle bei einer Frau die Paraplegie auch wieder voll- 
kommen, von welcher sie im Reconvolescenzstadium von Diph- 
theritis befallen worden war. Endlich drei interessante Fälle 
von Dr. M. Mayer. Dr. H. wurde nach einer Wunde, die er 
an einem croupösen Kinde sich selbst gemacht hatte, von 
Halsentzüudung befallen, mit einer gangränösen Stelle auf 
der linken Tonsille; hierauf folgten Schwäche und Schmerz 
der unteren Extremitäten. Die Frau des Dr. H. erkrankte 
auf dieselbe Weise. Nachdem das örtliche Leiden abgelaufen 
war, entstanden Aphonie und Lähmung des Gaumens, Stö- 
rung der Deglutition und gewiss auch der Sprache. Gefühl 
und Bewegung waren auch in den unteren Extremitäten 
krankhaft affieirt, und es entwickelte sich eine besondere 


1) L’Union medicale, 1357, N°. 41. 


475 


Schwäche des Gesichtes (gewiss wohl Aceommodationsparese). 
In einem dritten Falle trat vierzehn Tage nach der Gene- 
sung gangränöser Stellen an den Mandeln, Lähmung des 
weichen Gaumens auf, welche in vierzehn Tagen genas. 

Man sieht hieraus, dass die secundären paralytischen Er- 
scheinungen keineswegs übersehen worden waren. Ihre Mit- 
theilung scheint aber wenig Eindruck gemacht zu haben; 
ich fand wenigstens darüber bei andern dieselbe Unwissen- 
heit als bei mir. Es schien mir darum schon desswegen bei 
der Wichtigkeit des Factums, das nun vollkommen consta- 
tirt ist, wünschenswerth, das Beobachtete zu veröffentlichen. 

Die Epidemie von Bennekom hat das Beachtenswerthe, 
dass bei allen Genesenen ohne Ausnahme paralytische Er- 
scheinungen folgten, dass dagegen bei hunderten Fällen von 
gewöhnlicher Angina, welche ungefähr zu derselben Zeit vor- 
kamen, diese Erscheinungen constant ausblieben. Es scheint 
daher wohl eine conditio sine qua non zu sein, dass ein ört- 
licher diphtheritischer Process vorhergegangen sei, obgleich 
dieser, wie uns einzelne Fälle, in denen nur sehr kleine weisse 
Stellen abgestossen wurden, ohne irgend einen putriden 
Geruch, lehren, — keine ausgedehnte Entwickelung zu er- 
halten brauchte. 

Die nächste Ursache der paralytischen Erscheinungen ist 
wahrscheinlich in dem Centralsystem zu suchen. Selbst die 
Lähmung des Gaumens kann man wohl nicht der Entzün- 
dung zuschreiben, da sie sich manchmal erst Wochen lang 
nach dem Verschwinden der Halsentzündung bemerkbar machte. 
Die von Dehainne gemachte Vergleichung mit Paralyse der 
Blase nach Cystitis ist daher nicht annehmbar. Noch weni- 
ger scheint die Annahme einer Ausdehnung der Entzündung 
auf den Haistheil des Rückenmarkes gerechtfertigt, woran 
Gull gedacht hat, indem er dabei auf Paraplegie nach Ent- 
zündung der Blase und anderer im Becken gelegenen Theile 
verwies, welche er durch Fortpflanzung der Entzündung auf 
den Lendentheil der Medulla erklärt. Die Voraussetzung 
Bretonneau’s, welcher die Lähmung als eine secundäre 
Erscheinung der diphtheritischen Intoxication betrachtet, 


476 


ähnlich den secundären Erscheinungen der Syphilis, scheint 
wenigstens sehr gewast zu sein. Vielleicht darf man an- 
nehmen, dass die Halsaffeetion nur eine der örtlichen Er- 
scheinungen der Blutvergiftung bei Diphtheritis ist, und dass 
ein mehr ehronischer Process im Centralnervensystem hinzutre- 
ten kann, der in einer späteren Periode nach scheinbarer Ge- 
sundheit die subparalytischen Erscheinungen hervorruft, — oder 
es entwickelt sich vielmehr eine secundäre Blutanomalie. Man 
würde hierüber viel speculiren können. Ich wünsche aber 
hierbei nicht länger zu verweilen, da ich einen Wiederwillen 
gegen Probabilitätsspeculationen habe, welche die Wissenschaft 
nicht gedeihen machen; ebensowenig werde ich mehr über 
den Sitz und den Charakter dieses Processes auführen, der 
wohl so lange im Dunkelen bleiben wird, bis ihn das Licht 
der pathologisch-anatomischen Untersuchung beleuchtet. 

Im Allgemeinen jedoch, auch in Bezug auf die Natur der 
Krankheit, muss es hervorgehoben werden, dass kein ein- 
ziger Muskel vollkommen paralysirt ist (es ist mehr Muskel- 
schwäche als wirkliche Paralyse), und dass fast in den 
meisten Fällen vollkommene Genesung folste. 

Was die Form und Ausbreitung der Paralyse betrifft, so 
pflegt sie in den Muskeln des Palatum molle ana ; 
auf welche sie beschränkt bleiben kann. Meistens aber kommt 
Parese der inneren Augenmuskeln (Sphineter iridis und M. 
Brückianus) hinzu. Diese sonderbare Combination traf ich 
ohne weitere Paralyse in verschiedenen Fällen an. Solange 
die Parese sich hierauf beschränkt, ist die Gefahr noch nicht 
drohend; gewöhnlich erfolgt sogar vollkommene Genesung. 
Werden aber auch die Halsmuskeln affieirt, und ist allge- 
meine Schwäche vorhanden, so wird die Prognose schon 
weniger günstig, wiewohl alle Erscheinungen innerhalb eini- 
ger Monate auch jetzt wieder zurücktreten können. Wenn 
endlich die Lähmung sich auch auf die Brustmuskeln aus- 
dehnt, und die Respiration gestört wird, so scheint das Le- 
ben in Gefahr zu schweben. Die Paralyse hatte aber nur in 
einem der von mir beobachteten Fälle (N°. 8) diesen unglück- 
lichen Ausgang. 


a7 


Ich sagte so eben, dass die Paralyse sich nicht selten auf 
die Muskeln des Gaumensegels und die inneren Augenmus- 
keln beschränkt. Gerade heute, nachdem das Obenstehende 
schon geschrieben war, besuchte mich Fräulein V., von Weesp, 
20 Jahre alt, welche mich schon früher consultirt hatte. Als 
ich nun in meinem Register nachsah, las ich buchstäblich: 
„Abnahme der Accommodationsbreite; der Hebetudo ähnliche 
Erscheinungen, Hypermetropie = /.; sie hat auch an Aphonie 
gelitten, war heiser gewesen, Nasen- und Rachenhöhle com- 
munieirten bleibend, — Erscheinungen, welche nach Halsent- 
zündung mit intensiver auswendiger Schwellung, ohne Schmerz 
aber mit Fieber und Beklemmung, aufgetreten waren.’ In 
diesem Falle hatte ich auch Versuche über die Aussprache 
verschiedener Laute gemacht, und, wie die Kranke jetzt mit- 
theilte, eonstatirt, dass sie b, d und G im Auslaut schwierig 
aussprach. Damals aber hatte ich weder den Zusammenhang 
der Paralyse der inneren Augenmuskeln mit denen des Gau-. 
mens, noch den Zusammenhang dieser beiden mit der vor- 
hergegangenen Angina erkannt, — und daher kam es, dass 
dieser Fall keine deutliche Erinnerung bei mir zurückgelassen 
hatte. Sie war jetzt vollkommen genesen, sowohl von der 
Störung im Sehvermögen als von der in der Sprache. Die 
Hypermetropie war gewichen. — Solche Kranken melden 
sich, wie man sieht, bei dem Augenarzte an. Die Kenntniss 
ihrer Krankheit ist für denselben wichtig. Er versäume bei 
Accommodationsparese nie über das Vorhergehen von Angina 
nachzuforschen. Meine Freunde v. Graefe, in Berlin, und 
Bowman, in London, erinnerten sich nicht je solche Fälle 
sesehen zu haben, wiewohl in England, wie Bowman mir 
mittheilte, ziemlich viel Angina diphtheritica vorgekommen ist. 

Der zuletzt erwähnte Fall des Mädehens aus Weesp be- 
weist, dass solche Fälle auch sporadisch vorkommen können. 
Gerade heute theilt mir auch mein Freund Dr. Fles mit, 
dass er in Utrecht bei einem Knaben consultirt wurde, der 
nach Angina (welche, wie später bei der Untersuchung ge- 
funden wurde, diphtheritisch war) von Paralyse des Gaumens 
und der Accommodationsmuskeln befallen wurde, zugleich 


478 


mit Ptosis incompleta und Strabismus divergens, was Alles 
auf Lähmung des N. oculomotorius hinweist; dazu hatte sich 
Kraftlosigkeit der Extremitäten, der Hals- und auch der Kau- 
muskeln gefügt. Nur die Schwäche der Muskeln der Extre- 
mitäten ist zurückgeblieben ; die übrigen Erscheinungen von 
Parese sind wiederum gewichen. Jetzt ist er vollkommen 
gesund. Auch andere Aerzte haben mir in der letzten Zeit 
einige Fälle solcher Paralyse nach Angina mitgetheilt; sie 
waren aber nicht sorgfältig genug beobachtet. Es ist daher 
hinreichend ausgemacht, dass sie sporadisch vorkommen kön- 
nen. Wird die Angina dabei nicht jedesmal einen diphtheri- 
tischen Karakter gehabt haben? Die Vermuthung scheint 
wohl begründet. Wir finden doch nur Paralyse der Muskeln 
des Gaumens nach gewöhnlicher Angina erwähnt (Eisen- 
mann). Wie dem auch sei, so ist die Nothwendigkeit ge- 
nauer Inspection in allen Fällen von Angina, auch wenn die 
Erscheinungen nicht von grosser Bedeutung zu sein scheinen, 
sehr geboten. 

Ueber die Behandlung der Paralyse nach Angina diphthe- 
ritica kann nur noch wenig gesagt werden. Bei jeder charak- 
teristischen Abweichung, der wir zum ersten Mal begegnen, 
wird die rafıo uns leiten müssen. Sie schien hier Tonica zu 
empfehlen, — deren im allgemeinen die Kranken und, wie 
mir scheint, viele gesunden Menschen unserer Zeit bedürfen. 
Hat die Erfahrung auch schon gesprochen? Ich möchte es 
nicht behaupten. Es ist aber klar geworden, dass gute Nah- 
rung, wofür bei der bestehenden Schwierigkeit im Kauen 
und Schlingen besonders Sorge getragen werden muss, un- 
terstützt durch tonische Heilmittel, in fast den meisten Fällen 
Genesung zur Folge hatten. Was weiter einen günstigen 
Ausgang versichern könne, wo die Paralyse der Respiration 
droht, möge einmal die Empirie lehren. Nur sie kann ent- 
scheidend auftreten. 


ERRATA. 


S. 82, Zeile 12 v. unten, statt vena hepatica |. venae hepaticae. 

OD MEHR. Vak. „  hepatica „ portarum. 

„86, „ 12 „ oben, „  vereinzeltes oder „ vereinzeltes rothes oder. 
ea ea a „  vena „„ arteria. 


AUMMNIINNI IN 


6 231 285