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Full text of "Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin"

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Library of the IHuseum 


OF 


COMPARATIVE ZOÖLOGY, 
AT HARVARD COLLEGE, CAMBRIDGE, MASS. 


Dounded bp private subscription, in 1861. 


Deposited by ALEX. AGASSIZ. 
No. 02 So 53 


ARCHIV 


FUR 


ANATOMIE, PHYSIOLOGIE 


UND 


WISSENSCHAFTLICHE MEDICIN. 
HERAUSGEGEBEN crdCL, 


VON 


D*’. CARL BOGISLAUS REICHERT, 


PROFESSOR DER ANATOMIE UND VERGLEICHENDEN ANATOMIE, DIRECTOR DES KÖNIGLICHEN 
ANATOMISCHEN MUSEUMS UND ANATOMISCHEN THEATERS, MITGLIED DER KÖNIGLICHEN 
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN, 


UND 


. D*. EMIL BU BOIS-REYMOND, 


PROFESSOR DER PHYSIOLOGIE, DIRECTOR DES KÖNIGLICHEN PHYSIOLOGISCHEN LABORA- 
TORIUMS, MITGLIED DER KÖNIGLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN 


ZU BERLIN. 


— 


FORTSETZUNG VON REIL’S, REIU’S UND AUTENRIETE’S, 
J. F. MECKEL’S UND JOH. MÜLLER’S ARCHIV. 


JAHRGANG 1861. 
"Mit zwanzig Kupfertafeln. 


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VERLAG vos VEIT ET COMP. 


u. 


Imihuscht: 


Seite 
Ueber Muskelkörperchen und das, was man eine Zelle zu nennen 
habe. Von Prof. Max Schultze in Bonn ..... ‘un 1 
Physiologische Untersuchungen über die quantitativen Verände- 
rungen der Wärmeproduction. Von Dr. Liebermeister (Fort- 
setzung und Schluss). ... . Stellolsy at wol garmilfeine Ba 
Ueber die Musculatur des Herzens beim Menschen und in der 
Thierreihe. Von Dr, August Weismann in Frankfurt a.M. 
eat IN). ee neite)e erraile ng Bratiyek ner 
Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger Netzhaut- 
eindrücke beim Sehen mit zwei Augen. VonProf.Dr.P.L.Panum 63 
Durch welchen Mechanismus wird der Verschluss der Harnblase 
bewirkt? Von Dr. med, Sauer in Breslau. (Hierzu Taf. IV.) 112 
Ueber die Harnmenge bei Bewegung der unteren und oberen Ex- 
tremitäten. Von Johannes Bergholz aus Holstein .. . 131 
Der Faltenkranz an den beiden ersten Furchungskugeln des Frosch- 
dotters und seine Bedeutung für die Lehre von der Zelle. Von 
ever ar re EEE U 133 
Ueber das Jürgensen’sche Phänomen. (Briefliche Mittheilung 
an Prof. du Bois-Reymond.) Von Prof. A.Fick in Zürich . 136 
Die Beckenneigung. (Sechster Beitrag zur Mechanik des mensch- 
liehen Knochengerüstes.) Von Prof. Hermann Meyer in 
ER nennt Se a ee aa a ae 
Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger Netzhaut- 
eindrücke beim Sehen mit zwei Augen. Von Prof. Dr. P. L. 
Panum. (Fortsetzung und Schluss.) . . . ... 178 
Die 'kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petr Sa a ihr 
Verhalten im polarisirten Lichte. Von Prof. Max Schultze 
an ;Boun: (Hierzu Taf: V: und VI). 1... ua aan 228 
Dritte Erwiederung auf Volkmann’s dritte Abhandlung über 
Muskelirritabilitä. Von Eduard Weber... ...... 248 


» Seite 
Ueber das Ausbleiben der Oeffnungszuckung bei starkem abstei- 
gendem Strome. Von Franz Obernier, stud. med. in Bonn. 269 
Ueber einen bei gänzlicher oder theilweiser Abwesenheit des 
Amnios beständig vorkommenden Anhang der Cutis am Nabel 
der Vogelembryonen. Von C. B. Reichert. (Hierzu Taf. VIL.) 278 
Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon und ihr 
Verhalten im polarisirten Lichte. Von Prof. Max Schultze in 
Bonn. (Hierzu Taf. V. und VI.) (Fortsetzung) . . . . ... 281 
Zur Einleitung in die Haemodynamik. Von Dr. Heinrich Jacob- 
son in Königsberg . .. .».- EN RT EG 504 
Ueber die Endigungsweise der Geschmacksnerven in der Zunge des 
Frosches. Von Dr. Ernst Axel Key aus Stockholm. (Hierzu 


BEN) ne ee a re E23 
Beitrag zur Erledigung der Tonusfrage. Von Dr. Ludimar Her- 
mann in Berlin. eos i.a2 Jul Bas 0) 


Einige Bemerkungen über Tomopteris. Von Dr. Wilhelm Kefer- 
stein, Privatdocenten in Göttingen. (Hierzu Taf. IX.) . . . 360 

Ueber das Verhältniss der Muskelleistungen zu der Stärke der Reize. 
Von Dr. Ludimar Hermann 'in Berlin”. Wr 29 9869 

Beitrag zur Histologie der quergestreiften Muskeln. Von Dr. 


& Otto Deiters in Bonn. (Hierzu Taf. X.) .... .. 895 
Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Keen (I). 
Von'’Dr. Hermann Munk m Berlin. ao He Pak ins 9) 


Ueber den Bau und die Entwickelung der Wirbelthier- Bier mit 
partieller Dottertheilung, Vom Professor C, Gegenbaur. 
(Hierzu Taf. XI). 3 au ANREGEN, SID AST 

Entgegnung auf Volkinn s Konshalnigt „Controle der Ermü- 
dungs-Einflüsse in Muskelversuchen“, als Nachtrag zur dritten 
Erwiederung, S. 248. Von Eduard Weber, (Hierzu Taf. XIII, 


Fig. 18.) .. NE ER ER 5830 
Beitrag zur Kenia der Gephyrea. Von Dr. Ba. es) sehe 
"zu Genf. (Elierzu Taf. xl} Fig 1-11") Zee,» url 587 
Ueber Polydora cornuta Bosc. Von Dr. Ed. Claparede zu 

Genf. (Hierzu Taf. XIII, Fig. 12—17.) . I, 0271 IRTAO 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gertnmine, Von 
Dr. Alex. Schmidt zu Dorpat . . . E Bag . . 549 
Die Augen und neue Sinnesorgane der Egel. Von Fr eyank 


in’ Tabingen *..’. ae ee 22 
Haben die Nematoden ein Narren? Bemerkungen zu dieser 
Frage von Franz Leydig in Tübingen . . . . 606 


Neurologische Studien von Professor Dr. E. Belssnet in Dorpik 615 
Ueber das Ei von Gale erminea. Von Dr. H. A. Pagenstecher 
in Heidelberg. (Hierzu Taf. XIVa., Fig. 1-3). . . W625 


r Seite 
Ueber das Ei von Atherina hepsetu. Von Dr. H. A. Pagen- 

stecher in Heidelberg. (Hierzu Taf. XIVb., Fig. 4—7.) . . 631 
Die glatten Muskelfasern in den Eierstöcken der Wirbelthiere. 

Von Dr. Ch. Aeby. (Hierzu Taf. XIVB. Fig. 1—5.) . . . 635 
Bemerkungen über die elektrischen Organe der Fische. Von Dr. 

R. Hartmann in Berlin. (Hierzu Taf. XV u. XVI, Fig. 1—11.) 646 
Die Hornborsten am Schwanze des Elephanten. Von B. Naunyn 670 
Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. Von 

Dr. Alex. Schmidt zu Dorpat. (Fortsetzung u. Schluss.) .. 675 
Neurologische Studien vom Professor Dr. E. Reissner in Dorpat. 

RR VIE) 20.0.0 30 ee ee 721 
Notiz über einen theilweise doppelten Centralkanal im Rückenmark 

des Menschen. Von Dr. Joh. Wagner in Dorpat. (Hierzu 

IE STE ee N EUER RUE 735 
Ueber den Abfall der Geweihe and seine Aehnlichkeit mit dem 

cariösen Process. Von N. Lieberkühn. (Hierzu T.XVIIIu.XIX.) 748 
Ueber die Nervenendigung in den sogenannten Schleimkanälen der 

Fische und über entsprechende Organe der durch Kiemen ath- 

menden Amphibien. Von Franz Eilhard Schulze, Stud. 


sie ans Rostock. (Hierzu Taf. XX.). . . »: . 2... a) 
Ueber den Einfluss des Vagus auf die Magenbewegung. Von J. 
Ravitsch, Magister der Thierheilkunde . ... 2.... 770 


Bemerkung zu dem Aufsatze des Herrn Dr. H. Mank. „Ueber 
die Leitung der Erregung im Nerven, II, Seite 425. Von 
Bew. Wundt. ...-. Bass . 781 
Einige Bemerkungen zu O. ride’ s an eh uber 
Turbellarien von Corfu und Cephalonia.“ Von Dr. A. Schnei- 
der, Privatdocent an der Universität zu Berlin. . . . . 783 
Zur Kenntniss des gelben Fleckes und der Fovea centralis des 
Menschen- u. Affen-Auges. Von Max Schultze. (Aus dem 
Sitzungsbericht der niederrheinischen Gesellschaft für Natur- u 
Heilkunde in Bonn, vom Verfasser mitgetheilt.) . . . . . 784 
Ueber positive Schwankung des Nervenstromes beim Tetanisiren. 
Bed Bois-Heymoand. :...... »... 020% ua 182786 


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Ueber Muskelkörperchen und das, was man eine 
Zelle zu nennen habe. 


Von 
Prof. MAx SCHULTZE in Bonn. 


Von den zahlreichen in neuester Zeit erschienenen Abhand- 
lungen über die Bedeutung der „Muskelkörperchen* ist, 
wie gewiss Viele zugeben werden, keine dazu angethan, das 
Gefühl einer befriedigenden Lösung der auf diese Gebilde sich 
beziehenden vielfach discutirten Fragen hervorzurufen, Der 
Wunsch, darüber in’s Klare zu kommen, ob im Inneren der 
Primitivbündel der Muskelu geschlossene Zellen mit ana- 
stomosirenden Ausläufern liegen, oder ob statt deren 
blosse Kerne da seien, oder endlich ob, wie Manche glau- 
ben, keinerlei abgeschlossene körperliche Gebilde 
zwischen den Fibrillen vorkommen, hat sich bei vielen geregt. 
Davon legen die zahlreichen diesen Gegenstand betreffenden 
Abhandlungen Zeugniss ab. Wie Weniges in diesen aber sich 
allgemeine Anerkennung verschaffen konnte, das lehren die 
nicht endenden Differenzen bei den stets neu auftauchenden 
Autoren. Es ist ein unbehaglicher Zustand hier wie in man- 
ehen anderen Capiteln der Gewebelehre. Zu dessen Ende bei- 
zutragen sind die nachfolgenden Bemerkungen bestimmt. 

Bei Deutung so complieirter Gewebe, wie Bindegewebe 
Muskeln und dergleichen sind, haben wir vor allen Dingen 
nach der Genese zu fragen. Für die Muskeln wollen wir 
die zuerst von Remak!) mit Nachdruck vertheidigte bei 
Froschlarven leicht zu bestätigende Ansicht, dass jedes Primi- 
tivbündel aus einer einzigen Zelle entstehe, welcher sich unter 


1) Froriep, N. Notizen. 1845, No. 768. Untersuchungen über 
die Entwickelung der Wirbelthiere. Taf. XI. | 
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv. 1861, ı* 


24 Max Schultze: 


Anderen auch Kölliker!) endlich angeschlossen hat, zu Grunde 
legen. Die Vorgänge bei der Entwickelung sind, wie ich 
hier vorausschicken will, folgende. Während die junge Mus- 
kelzelle zu einem eylindrischen oder spindelförmigen Gebilde 
auswächst, mehren sich die schon früh vielfachen Kerne durch 
fortgesetzte Theilung und gruppiren sich bei verschiedenen 
Thieren in etwas verschiedener Weise, indem sie sich entweder 
unregelmässig in der Zellsubstanz vertheilen, oder in der Längs- 
axe zu einem Strange anordnen u. dgl. m., und gleichzeitig 
wandelt sich die Zellsubstanz, der körnige sogenannte Zellen- 
inhalt, das Protoplasma,?) welches wahrscheinlich unter be- 
sonderer Mitwirkung der sich mehrenden Kerne gleichfalls an 
Menge fortdauernd zunimmt, in die contractile Fibrillen- 
substanz um, und zwar von der Peripherie nach dem Cen- 
trum, meist nicht gleichmässig von allen Seiten her, sondern 
anfänglich einseitig. Die fast undurchsichtige, stark körnige 
und wie in allen Embryonalzellen sehr dichte Protoplasmasub- 
stanz hellt sich auf, wird durchsichtiger, die Körnchen schwin- 
den allmählig, endlich tritt in ihr Längs- und Querstreifung 
auf. Das Protoplasma, dem schon vorher Contractilität 
zukam, die ungeformte eontractile Substanz, formt 
sich durch innere Veränderungen, die Disdiaklasten und ihre 
Gruppen, die sarcous elements differenziren sich als das Licht 
stark und doppelt brechende Körperchen und gruppiren sich 
in der Längsrichtung zu stäbchenförmigen Fibrillen, indem eine 
weichere, nicht doppelt brechende, der ursprünglichen Proto- 
plasmasubstanz, wie es scheint, verwandtere Zwischenmasse 


1) Zeitschr. f. wiss. Zoologie. Bd. 9. 1858. p. 139, 141. 

2) Wir brauchen für die zähflüssige oder schleimartige, meist 
körnchenreiche, stickstoffhaltige Zellsubstanz oder Zelleninhaltsubstanz 
so gut einen Namen wie die Botaniker, und es kann nicht zweifelhaft 
sein, dass wir uns der vollständigen Uebereinstimmung wegen, welche 
zwischen Thier- und Pflanzenzellen in allen wesentlichen Verhältnissen 
herrscht, desselben wie die Botaniker bedienen müssen. Remak’s 
Versuch, den von Hugo von Mohl herrührenden Ausdruck „Pro- 
toplasma“ bei thierischen Zellen einzuführen, hat nicht die verdiente 
allgemeine Nachahmung gefunden. Wir werden uns desselben fortan 
stets bedienen. 


1% 


Ueber Muskelkörperchen und das, was man eine Zelle zu nennen habe. 3 


ihre Verkittung in der Längsrichtung übernimmt. So lagern 
sich die neu entstandenen Fibrillen dicht neben einander, ohne 
aber unter einander zu verschmelzen. Es bleibt vielmehr 
zwischen ihnen noch ein Rest des unveränderten 
Protoplasma zurück. Dies ist die auch beim Erwachsenen 
noch nachweisbare Zwischensubstanz zwischen den Fi- 
brillen. Die Menge derselben ist sehr verschieden, stellen- 
weise verschwindend gering, so dass das Mikroskop sie kaum 
zeigt und nur die die Fibrillen isolirende Maceration sie nach- 
weist, in anderen Fällen sehr deutlich, entweder glashell oder 
mit feinen Körnchen durchsetzt, hier und da in etwas grösserer 
Menge angehäuft, so dass die Fibrillen zu feinen spindelförmigen 
Lücken auseinander weichen. Es ist diejenige Substanz, welche 
schon Henle!) als zwischen den Fibrillen vorkommend, er- 
wähnt, auf deren allgemeinere Verbreitung besonders Köl- 
liker,?) von Leydig°) dazu angeregt, aufmerksam machte, 
ohne aber über ihren Ursprung etwas zu sagen. In der That 
ist diese Substanz auf das Protoplasma der embryonalen 
Muskelzelle zurückzuführen, sie ist als übrig gebliebenes, 
bei der Metamorphose des Protoplasma in Fibrillensubstanz 
unverändert gebliebenes oder wenig verändertes. Protoplasma 
zu betrachten. Eine jede Fibrille ist ursprünglich immer und 
wahrscheinlich auch fortdauernd von einem Mantel dieser Sub- 
stanz umgeben, wechselnd im Laufe der Zeit in Menge, Con- 
sistenz und chemischer Beschaffenheit, so dass eine Isolirung 
der Fibrillen bald leichter, bald schwerer gelingt, wechselnd 
auch in ihrer Erscheinung, bald ganz homogen und glashell, 
bald feinkörnig oder mit zahllosen Fetttröpfchen durchsetzt. 
Die zahlreichen Kerne, welche sich während des Wachs- 
thums der jungen Muskelfaser fortwährend durch Theilung 
mehren, betten sich bei allmähliger Umwandlung des Pro- 
toplasma zwischen die Fibrillen. Lagen die Kerne zerstreut 
im Protoplasma, so finden wir dieselben auch später in sol- 
cher Anordnung in der Muskelfaser, wie z. B. beim Frosch 


1) Allgemeine Anatomie 1841, S. 580. 
2) Zeitschr. f. wiss. Zoologie. Bd. 8. S. 316. 
3) Dieses Archiv 1856, S. 156. 
1* 


A | Max Schultze: 


oder in den Herzmuskeln der Säugethiere.') Hatten sie sich 
zu einer Kernsäule in der Längsaxe der Muskelfaser aufge- 
reiht, so können sie auch diese Lage beibehalten, wie solche 
Muskelfaser aus einem 3!J, zölligen Schweinefötus schon 
Schwann?) abbilde. Auch bei erwachsenen Thieren kom- 
men dergleichen vor, wie Kölliker?) und Kühne‘) erwähnen, 
. Weismann?) kürzlich mit Hülfe der sehr empfehlenswerthen 
Macerationsmethode mittelst 35pÜt. Kalilauge beim Frosch sehr 
häufig auffand. Endlich können die Kerne auch ganz an die 
Oberfläche des Primitivbündels rücken, wo sie dann später 
dicht unter (aber nicht in) dem Sarkolemma gefunden werden, 
wie meist beim Menschen und den Säugethieren. Alle diese 
Kerne sind mit grösseren oder geringeren Mengen 
Protoplasma umhüllt, welches, da der Kern meist eiför- 
mig, die zur Aufnahme desselben bestimmte Lücke zwischen den 
Fibrillen aber spindelförmig ist, namentlich die beiden End- 
zipfel des spindelförmigen Raumes ausfüllt. Das Protoplasma 
ist dasselbe wie das überall zwischen den Fibrillen verbreitete, 
es ist aber meist in grösserer Menge angehäuft, wo ein Kern 
liegt. Hier aber, wie sonst überall im Primitivbündel, stellt 
es nur eine Ausfüllungsmasse zwischen den Fibrillen dar, 
von einer besonderen Membran ist es eben so wenig 
umschlossen, als die interfibrillären Körnchenreihen 
in mit besonderen Wandungen versehenen Röhrchen 
liegen. 

Man könnte sich zur Veranschaulichung der Anordnung 
der Theile in einem Muskelprimitivbündel demnach so aus- 
drücken, dass in einer körnigen, breiweichen Protoplasmamasse 
durch partielle Umwandlung derselben stäbchenartige Fasern, 
die Fibrillen auftreten. Alle bleiben ringsumflossen von den 


1) Vergleiche den vortrefflichen Aufsatz über den Bau der Mus- 
kelfasern von A. Rollet in den Sitzungsber. der Akad. d. Wiss. zu 
Wien. Bd. 24. S. 291. 

2) Untersuchungen u. s. w. Taf. 1V. Fig. 2. 

3) Zeitschr. f. wiss. Zoologie. Bd. 8. S. 316. 

4) Dieses Archiv Jahrg. 1859. S. 576. 

5) Zeitschr. f. ration. Medicin, 3. Reihe. Bd. X. 1860. S. 263. 


Ueber Muskelkörperchen und das, was man eine Zelle zu nennen habe. 5 


Resten des unveränderten Protoplasma. In diesem waren aber 
schon vor der Umwandlung grössere feste Körper, die Kerne 
enthalten. Sie müssen bei der Bildung der Fibrillen natürlich 
zwischen diese zu liegen kommen. Wo sich die Fibrillen 
sehr dicht aneinander legen, wie meist geschieht, weichen sie, 
um den Kern zwischen sich zu beherbergen, zu einem kleinen 
spindelförmigen Raum aus einander. Dieser Raum, ausgefüllt 
von dem Kern und von Protoplasmamassen, steht natürlich in 
freier, offener Verbindung mit dem das ganze Bündel durch- 
ziehenden interfibrillären Protoplasma. Da letzteres an vielen 
Stellen aber bis auf ein Minimum schwindet, so dass die Fi- 
brillen so zu sagen dicht aneinander liegen, so kann das spin- 
delförmige, kernhaltige Körperchen, welches, wenn wir den, 
wenn ich nicht irre, zuerst von Welcker gebrauchten Namen 
„Muskelkörperchen*“ beibehalten wollen, wohl allein die- 
sen Namen verdient und ihn im Nachfolgenden auch allein 
führen soll, als ein rings begrenztes, mehr oder weniger 
abgeschlossenes erscheinen. In der That wird es in den 
meisten Fällen so geschehen, und giebt mit seinem Kern durch- 
aus das Bild einer scharf begrenzten Zelle. Daneben kommen 
dann bei verschiedenen Thieren verschieden häufig auch andere 
spindelförmige aber kleinere Protoplasmaanhäufungen ohne 
Kern vor.') Diese werden wir, um Missverständnisse zu ver- 
meiden, unter dem Namen Muskelkörperchen nicht mit 
begreifen. 

Man wird zugeben, dass unsere Darstellung der Entwicke- 
lung und des Baues der Muskelfaser im Wesentlichen mit den 
Angaben der meisten Histiologen im Einklange stehe, wenn 
der Ausdruck und die Art der Auffassung auch etwas abweicht. 
Die Umwandlung des Protoplasma der embryonalen Muskel- 
zelle in contractile Fibrillensubstanz beschrieb Remak zuerst, 
und wenn Margo?) in neuester Zeit statt einer, unter Kern- 


1) Unter Anderen beschrieben von E. Haeckel, dieses Archiv 
1857, S. 496, und von W. Kühne, ebenda 1859, S. 574, 

2) Neue Untersuchungen über die Entwickelung u.s. w. der Mus- 
kelfasern. Sitzungsber. d. Akad. d. Wissensch. zu Wien. Bd, 36. 
S. 219. 1859. 


6 Max Schultze: 


theilung und Vermehrung des Protoplasma zu einer langen 
Muskelfaser auswachsenden Zelle, deren viele zur Bildung 
einer solchen Faser zusammentreten lässt, so ist der Wider- 
spruch vielleicht nur ein scheinbarer. Es reducirt sich die 
Margo’sche Darstellung offenbar darauf, dass er für jeden der 
vielfachen Kerne in der jungen und fortwachsenden Muskel- 
faser auch eine besondere Protoplasmaabtheilung, für jeden 
Kern ein, so zu sagen, ihm eigenes Protoplasmaklümpchen 
(Sarkoplasten) annimmt, welche alle aber unter einander zu 
einem homogenen Ganzen, dem Muskelprimitivbündel, ver- 
schmelzen sollen. Möglich, dass man durch gewissen Stadien 
der Muskelentwickelung entnommene Präparate zu einer An- 
näherung an die Margo’sche Ausdrucksweise veranlasst wer- 
den wird, zu der mir vor der Hand zwingende Gründe noch 
nicht vorzuliegen scheinen, und der ich in der einen Beziehung, 
dass die Sarkoplasten besondere Membranen haben sollen, 
bestimmt widersprechen muss. 

Die Lücken zwischen den Fibrillen im reifen Muskel sind 
in dem mehrfach missverstandenen Aufsatze von Leydig über 
Muskelstructur!) deutlich bezeichnet und sehr richtig von 
Rollet?) ausführlicher beschrieben. Dass um die Muskel- 
kerne herum bald mehr bald weniger feinkörnige Substanz 
liege, wird von allen Beobachtern zugegeben und ihr Stamm- 
baum auf die embryonalen Muskelkerne zurückgeführt. Dass 
endlich kernhaltige und kernlose spindelförmige Lücken 
zwischen den Fibrillen existiren, ist eine bekannte Sache, 
ebenso, dass der Inhalt derselben bald wasserhell, bald kör- 
nig, endlich strotzend von Fetttröpfehen erfüllt sein kann. 

In Widerspruch steht dagegen unsere Darstellung mit der 
dem Normalen nicht entsprechenden, zuerst von Böttcher?) 
vorgebrachten Ansicht, nach welcher in jedem Muskelprimitiv- 


1) Dieses Archiv 1856, $. 156. 

2) A. 2.10: & If. 

3) Virchow’s Archiv für pathol. Anatomie. . Bd, 13. 1858. 
S. 232. 


Yu 


- Ueber Muskelkörperchen und das, was man eine Zelle zu nennen habe, 7 


bündel mit deutlichen Wänden versehene und durch 
röhrenförmige Ausläufer unter einander anastomosirende, also 
scharf abgegrenzte Zellen vorhanden sein sollen. Eben so 
wenig kann sie aber als eine Bestätigung der von Stephan!) 
mit so grosser Zuversicht vorgetragenen Angaben gelten, nach 
welchen geformte Gebilde zwischen den Fibrillen so gründlich 
fehlen sollen, dass selbst die allbekannten Muskelkerne als 
Kunstproducte in das Reich der Täuschungen verwiesen wer- 
den. Auch mit Welcker?) kann ich mich nicht ganz einver- 
standen erklären. Derselbe hat in seiner neuesten mit A. Jahn 
zusammen herausgegebenen Abhandlung das Thatsächliche zwar 
ganz richtig beschrieben. Wenn derselbe aber bemüht ist, den 
bisher Muskelkerne genannten Gebilden die Bedeutung von 
Zellen zu vindieiren, so verweise ich ihn darauf, dass er selbst 
ganz richtig den Ursprung jener Kerne auf die Kerne der em- 
bryonalen Muskelfaserzelle zurückführt,?) die Consequenz aus 
seiner Ansicht also die ist, dass was früher Kern war, später, 
wenn auch erst nach vielfacher Theilung, Zelle geworden sei. 
Ganz abgesehen davon, dass im vorliegenden Falle wenig 
Grund zu dieser von der herrschenden abweichenden Ansicht 
vorliegt, indem die Muskelkerne, Weleker’s Muskelkörperchen, 
beim Erwachsenen ebenso aussehen, wie die Kerne der em- 
bryonalen Muskelfaser: so ist vor allen Dingen hervor zu heben, 
dass noch keine einzige glaubwürdige Beobachtung weder im 
Thier- noch im Pflanzenreiche existirt, nach welcher ein Zellen- 
kern als solcher, d. h. ohne Hinzunahme ihn äusserlich umge- 
benden Protoplasma’s, je zu einer Zelle geworden sei. Wenn 
also, wie bier sicherlich der Fall ist, keine zwingenden Gründe 
existiren eine Ausnahme von diesem Fundamentalsatze der 
Zellenlehre zu statuiren, so wird es, meine ich, auch dabei 
bleiben, dass man das, was seit Schwann Muskelkern genannt 
wird, auch künftig mit diesem Namen belege, aus dem einfa- 


1) Zeitschr. f. rationelle Medicin. 3. Reihe. Bd. X. 8. 204. 
2) Ebenda S, 238. 
3) A. a. ©. S. 258. 


8 Max Schultze; 


chen Grunde, weil diese Gebilde Theilproducte der Kerne 
der embryonalen Muskelzelle sind. 

Wie nun aber weiter mit den eben sogenannten Muskel- 
körperchen ? 

Die Unsicherheit und Verschiedenheit, welche in der Beur- 
theilung solcher Gebilde, wie es die Muskelkörperchen sind, 
herrscht, rührt zweifelsohne zum grossen Theile her von dem 
Mangel einer Uebereinstimmung unter den Histiologen über das, 
was man eine Zelle zu nennen habe. Es gab eine Zeit, 
wo die herrschende Definition „bläschenförmige Gebilde mit 
Membran, Inhalt und Kern“ genügte. Dass das jetzt nicht 
mehr der Fall ist, lehren die unendlichen Streitigkeiten auf ein- 
zelnen Gebieten der Gewebelehre, welche sich alle mehr oder 
weniger um den Begriff der Zelle drehen. Es wäre also wohl 
an der Zeit, einmal den Versuch zu machen, etwas Neues an 
die Stelle des Alten zu setzen. Es braucht sich dabei der 
Hauptsache nach nicht um Mittheilung neuer bis dahin unbe- 
kannter Structurverhältnisse, nicht um einen plötzlichen Um- 
schwung in den bisherigen Anschauungen, sondern nur darum 
zu handeln, das wirklich Charakteristische in den Vordergrund 
zu stellen, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen, 
etwas als Lehrsatz hinzustellen, dessen Grundlagen, soweit sie 
zum Beweise des Satzes nothwendig, bereits allgemein bekannt 
sind, etwas in Worte zu kleiden, was Vielen, nur vielleicht in 
weniger bestimmter Form, längst vorschwebte. 

Was ist das Wichtigste an einer Zelle? Daes sehr 
verschiedene Arten von Zellen giebt, so werden wir die Ant- 
wort mit der neuen Frage beginnen müssen: Welches sind 
die wichtigsten Zellen? Die wichtigsten Zellen, diejeni- 
gen, in welchen sich das Grossartige des Zellenlebens, eine un- 
umschränkte Macht in Betreff der Gewebebildung am klarsten 
abspiegelt, sind offenbar die aus der Theilung der Eizelle her- 
vorgegangenen, so zu sagen, noch zu keinem bestimmten Ge- 
webe vereinigten Embryonalzellen (oder, wenn man will, 
die Eizellen selbst). In diesen Zellen ruht die Zukunft eines 
ganzen Organismus. Sie sind zu einer unbegrenzten Fortpflan- 
zung durch immer neue Theilung fähig, in ihnen liegen alle 


Ueber Muskelkörperchen und das, was man eine Zelle zu nennen habe. 9 


die zum Aufbau der Gewebe und der verschiedenen Organe 
nöthigen Kräfte. Sie sind es, das wird Niemand bestreiten, 
die wir als das wahre Urbild von Zellen ansehen können. 
Aus ihnen kann Alles werden und wird Alles, was in einem 
normalen und was in einem krankhaft afficirten Organismus 
von Formbestandtheilen vorkommt. 

Welches sind nun die Bestandtheile dieser Zellen. Ihr Cen- 
trum nimmt, wie bekannt, ausnahmslos ein Kern ein, ein na- 
hezu homogener, kugliger, leidlich fester Körper, in dessen In- 
nerem ein stark lichtbrechendes Kernkörperchen liegt. Der 
Kern ist umgeben von der eigentlichen Zellsubstanz, einem 
zähflüssigen Protoplasma, undurchsichtig wegen der dasselbe 
dicht erfüllenden Körnchen eiweissartiger und fettiger Natur, 
zerlegbar in eine glasartig durchsichtige Grundsub- 
stanz, welche die zähflüssige Beschaffenheit hat, die dem Pro- 
toplasma als Ganzem zukommt, und in die zahlreich ein- 
gebetteten Körnchen. Dieses Protoplasma stellt einen 
kugligen Klumpen dar, der durch die ihm eigene Oonsi- 
stenz in sich selbst zusammengehalten wird. Er ist meist 
in verschiedenen Tiefen etwas verschieden consistent, die Menge 
der ihn erfüllenden Körnchen pflegt in verschiedenen Schich: 
ten zu variiren, namentlich besteht die alleräusserste Schicht 
öfter nur aus der homogenen, glasartig durchsichtigen Grund- 
masse des Protoplasma, aber eine vom Protoplasma chemisch 
differente Membran besitzen diese Zellen nicht. Sie sind 
hüllenlose Klümpchen Protoplasma mit Kern. 

Remak!) hat sich einst grosse Mühe gegeben, an den Fur- 
ehungszellen des Froscheies eine Membran zu demonstriren. 
Es gelang ihm, durch Anwendung einer eigenthümlichen, aus 
Spiritus, Holzessig und Kupfervitriol zusammengesetzten Er- 
härtungsflüssigkeit von der Oberfläche der Furchungskugeln 
eine durchsichtige Schicht abzuheben, welche er für eine vom 
Protoplasma chemisch differente Membran hielt. Ich selbst 
habe bei Wiederholung dieser Versuche an Neunaugeneiern, ?) 

1) Untersuehungen über die Entwickelung der Wirbelthiere. Ber- 
lin 1855. Fol. S. 

2) Die Entwicklungsgeschichte von Petromyzon Planeri, in den 


10 »ı Max Schultze: 


welche gleich den Froscheiern einem totalen Furchungsprozess 
unterworfen sind, solche membranöse Bildungen abheben zu 
können geglaubt und mich für die Remak’sche Ansicht aus- 
gesprochen. Neuere Versuche haben mir jedoch die Beweis- 
kraft dieser Methode sehr zweifelhaft gemacht. Wäre eine 
chemisch differente Membran an der Oberfläche der Furchungs- 
zellen vorhanden, so müsste sie sich noch auf ganz anderem 
Wege als durch die von Remak gebrauchten plötzlich wir- 
kenden Erhärtungsmittel nachweisen lassen, was nicht der Fall 
ist. Die Ursache der Täuschung, nicht nur bei den Furchungsku- 
geln, sondern auch bei späteren Generationen von Embryonal- 
zellen, wie z. B. den von Remak auf Taf. XI. Fig. 5, 6, 17 
in dem eben angeführten Werke abgebildeten, welche ich alle 
für membranlos halte, beruht in der Beschaffenheit des Pro- 
toplasma. Dasselbe besteht, wie angeführt, aus einer hya- 
linen, dickschleimigen Grundsubstanz, und aus eingebetteten 
Körnchen. Letztere fehlen oft in der äussersten Rinde, und 
kann dadurch der Anschein einer Membran entstehen. Unter 
dem Einfluss von Wasser oder anderen das Aufquellen begün- 
stigenden Reagentien schwillt diese hyaline Grundsubstanz an, 
und tritt wie blasenartig über den körnerreichen Theil 'hervor. 
So muss ich nach meinen Erfahrungen die Remak’schen Ab- 
bildungen erklären. Remak selbst giebt zu (a. a. ©. 8. 173), 
dass das Aufblähen oft den Eindruck mache, als sei es nicht 
die Membran allein, sondern auch das Protoplasma, von wel- 
chem erstere noch nicht scharf zu scheiden. So gewiss es ist, 
dass sich zu irgend einer Zeit einmal die äusserste Protoplas- 
maschicht zu einer chemisch differenten Membran umgestalten 
kann, eben so sicher scheint es mir, dass während der Zeit, 
wo die Zellen noch als Ganzes sich durch Theilung 
vermehren, keine chemisch differente Membran da 
sei. ‘Ich halte dafür, dass dieser Satz, wie er den Botanikern, 
welche den Primordialschlauch nicht für eine besondere, vom 


Naturkundige Verhandelingen te Haarlem. Bd. XI. 1856. 4. S. 5 u. 
10. Auch als besonderer Abdruck ausgegeben. 


Ueber Muskelkörperchen und das, was man eine Zelle zu nennen habe, ]] 


Protoplasma differente Membran halten, was wohl, beiläufig 
gesagt, kaum im Ernste mehr von irgend Jemand geschieht, 
für ausgemacht gilt, auch für die thierische Gewebelehre ein 
Fundamentalsatz werde. In demselben Sinne wie ich hat 
sich’ A. Eeker Remak gegenüber, wie ich aus des letzteren 
Werk entnehme, ausgesprochen, und dabei auf die contrac- 
tilen Eizellen der Planarien verwiesen. Zweifellos sind auch 
diese letzteren nackte Protoplasmaklümpchen, durchaus ver- 
gleichbar den Amöben, deren vielen ich auch, trotz Auerbach’s 
Versuchen mit Alkohol,!) eine Membran absprechen muss, 
wie unter Anderen auch Kühne bei Gelegenheit der Mitthei- 
lung seiner wichtigen Reizversuche an Amöben?) thut. 

Die Bestandtheile der Furchungszellen waren also nach 
Obigem Kern und Protoplasma, und gestaltet sich unsere 
Definition dessen, was man eine Zelle zu nennen habe, folgen- 
dermassen: Eine Zelle istein Klümpcehen Protoplasma, 
in dessen Innerem ein Kern liegt.’) Der Kern sowohl, 
als das Protoplasma sind Theilproducte der gleichen Bestand- 
theile einer anderen Zelle. Dies haben wir hinzuzufügen, um 
den Begriff des Kernes und der Zelle anderen möglicherweise 
ähnlich aussehenden Gebilden gegenüber festzuhalten. 

Die Zelle führt ein, so zu sagen, in sich abgeschlossenes Leben, 
dessen Träger wieder vorzugsweise das Protoplasma ist, 
obgleich auch dem Kern jedenfalls eine bedeutende, freilich 
bis jetzt nicht näher zu bezeichnende Rolle zufällt. 

Das Protoplasma ist zunächst, und das ist besonders fest- 


1) Zeitschr. f. wiss. Zoologie. Bd. 7. 8. 414. 

2) Dieses Archiv, Jahrg. 1859. S. 820. 

3) Hier ist anzuführen, dass auch Leydig in seinem Handbuche 
der Histologie S. 9 die Zellmembran, welche ich für etwas ganz 
Unwesentliches bei Feststellung des Begriffes Zelle halte, aus seiner 
Definition der Zelle weglässt, indem er sagt: „Zum morphologischen 
Begriff einer Zelle gehört eine mehr oder minder weiche Substanz, ur- 
sprünglich der Kugelgestalt sich nähernd, die einen centralen Körper 
einschliesst, welcher Kern heisst. Die Zellsubstanz erhärtet häufig zu 
einer mehr oder weniger selbständigen Grenzschicht, der Membran.“ 


„> HOUR Max Schultze: 


zuhalten, nach aussen durch nichts weiter abgeschlossen, als 
durch seine eigenthümliche, von der der umgebenden 
wässrigen Flüssigkeit verschiedene Consistenz — es mischt 
sich nicht mit Wasser — und ferner durch sein, wenn ich so 
sagen darf, centripetales Leben, durch die Eigenthümlichkeit 
mit dem Kern ein Ganzes zu bilden, in einer gewissen Abhän- 
gigkeit von demselben zu stehen. So. vermag sich ohne 
Membran die Zelle äusseren Einflüssen gegenüber bis zu 
einem gewissen Grade selbständig zu erhalten. Dicht an ein- 
ander liegende derartige Zellen, wie die Furchungskugeln, 
welche von der gemeinschaftlichen Eihaut umschlossen in in- 
niger Berührung bleiben, fliessen nicht unter einander 
zusammen, trotzdem das Protoplasma der einen an das der 
anderen stösst. 

Es kann aber eintreten, dass ein solches Zusammen- 
fliessen benachbarter hüllenloser Zellen zu Stande 
kommt, dass sich Zellenmassen zu einem grossen Klumpen 
Protoplasmasubstanz vereinigen, in dessen Innerem nur die Zahl 
der Kerne die der früher dagewesenen selbständigen Zellen 
andeutet. Es sind solcher Beispiele aus den früheren Zeiten 
des Embryonallebens mehrere bekannt, zum Theil freilich un- 
sicher durch die abweichenden Angaben verschiedener Beob- 
achter. Ich habe ein unzweifelhaftes derartiges Factum wäh- 
rend der Entwickelung von Planaria lactea und torva inner- 
halb der Eikapseln beobachtet. Und täuscht mich nicht Alles, 
so werden hierher gehörige Fälle zahlreich aufgefunden wer- 
den, namentlich im Bereiche der Entwickelung der Bindesub- 
stanzen, der durch Anwesenheit grösserer Mengen sogenannter 
Intercellularsubstanz ausgezeichneten Gewebe. Wie ich 
schon in meiner Schrift über die Retina!) angeführt habe und 
jetzt durch zahlreichere Beispiele belegen kann, entsteht sicher 
der grösste Theil der sogenannten Intercellularsubstanzen aus 
umgewandelter Zellsubstanz, d. h. aus Protoplasma, 
nicht als Secret oder äussere Auflagerung auf die 


1) Observationes de retinae structura penitiori. Bonn 1859. p. 17. 


| Ueber Muskelkörperchen und das, was man eine Zelle zu nennen habe. ]3 


Zelle, wie dies in neuerer Zeit fast allgemein geglaubt wird, 
sondern ganz im. Sinne Schwann’s durch Umwandlung des 
Protoplasma. Ich muss es mir auf eine andere Gelegenheit 
versparen, meine hierauf bezüglichen Beobachtungen beizubrin- 
gen und: erwähne hier nur, dass ich Remak’s und Fürsten- 
berg’s,?) den beregten' Gegenstand betreffende, zu wenig be- 
achtete Beobachtungen im Wesentlichen bestätigen kann, nach 
welchen es möglich ist, entweder schon im frischen Zustande 
oder durch Maceration an manchen Knochen und Knorpeln die 
Grenzen der Zelien, welche nur durch allmählige Ausbildung 
von aus dem Protoplasma hervorgehenden Verdickungsschich- 
ten von einander geschieden sind, gerade so wie in einem ver- 
holzten Pflanzenzellgewebe zu erkennen. 

Es giebt aber Bindesubstanzen, bei denen eine künstliche 
Zerlegung in primäre Zellen auf keine Weise gelingt. Bei sol- 
chen kommt, wie dies neuerdings namentlich wieder von Baur’) 
für das fibrilläre Bindegewebe behauptet worden, während ihrer 
Entwickelung ein Zustand vor, wo nichts als ein ursprünglich 
homogenes, dann fibrilläres sogenanntes Blastem mit Kernen 
in bestimmten Abständen gefunden wird. Baur ist bei seiner 
im Wesentlichen ganz richtigen Darstellung nur in denselben 
Fehler wie Welcker in seiner Muskelarbeit verfallen, dass er 
die Kerne für Zellen, „Bildungszellen des Bindegewebes“, 
wie er sie nennt, gehalten. Der genannte Zustand des jungen 
Bindegewebes ist so zu deuten, dass die allmählig sich fibrillär 
umwandelnde Grundsubstanz das Protoplasma wandungs- 
loser und bis zur Verschmelzung genäherter Em- 
bryonalzellen sei. Aber wie bei der Entwickelung der 
Muskelfasern Spuren unveränderten Protoplasma’s zwischen den 
Fibrillen übrig bleiben und sich namentlich um die Kerne an- 
sammeln, so bleibt auch bei den Zellen, deren Protoplasma 
sich in fibrilläres Bindegewebe umwandelt, ausser den 
Kernen noch ein wenig unverändertes Protoplasma übrig, 
welches erstere in freilich oft nur. sehr geringer Menge um- 


1) Dieses Archiv Jahrg. 1852. S. 68. 
2) Ebenda Jahrg. 1857. S. 1. 
3) Die Entwickelung der Bindesubstanzen. Tübingen 1858, 


14 Max Schultze: 


giebt. Das sind die gleich den Muskelkörperchen wandungs- 
losen Bindegewebs- oder Sehnenkörperchen. 

Wie vollständig die Mischung des Protoplasma der ver- 
schiedenen bei diesem Verschmelzungsprozess coneurrirenden 
Zellen gewesen, soll nicht untersucht werden. Auch in dieser 
Beziehung werden gradweise Verschiedenheiten vorkommen. 
Vielleicht übt auch der Kern auf das ihn zunächst umgebende 
Protoplasma eine solche Anziehung aus, dass trotz äusserli- 
cher Verschmelzung der Protoplasmaklümpchen jeder Kern 
eine Schicht des ihm ursprünglich eigenen Protoplasma be- 
hält, und somit trotz der Verschmelzung wenigstens gewisse 
Theile des Protoplasma ihre ursprüngliche Lage und Bezie- 
hung zu ihrem Kern behalten. 

Gewebe, gebildet aus zum Theil membranlosen Zellen, die 
auf dem Punkte stehen unter einander zu verschmel- 
zen, kommen bei niederen Organismen mehrfach vor. Ich 
glaube nicht anzustossen, wenn ich die Körpersubstanz der 
Süsswasserpolypen, das Gewebe mancher Spongien hierher 
rechne. Die Zellen haben ihre Selbständigkeit zwar noch be- 
wahrt, aber es fehlt wenig, dass sie theilweise zusammen- 
fliessen. Die ausserordentliche Schwierigkeit sie zu isoliren 
oder nur die Zellengrenzen zu erkennen, was im frischen Zu- 
stande bei grösster Aufmerksamkeit und mit den besten Ver- 
grösserungen oft nicht gelingt, die Eigenthümlichkeit, durch 
Zerzupfen in Gruppen isolirt gerade eben solche amöbenar- 
tige Bewegungen auszuführen,!) wie es einzelne Zellen thun, 
spricht entschieden mindestens für eine Annäherung an den 
Zustand der Verschmelzung, wie wir ihn bei anderen Organis- 
men wirklich finden. So deute ich die contractile Substanz der 
Schleimpilze, Myxomyceten (Mycetozoen de Bary), welche von 
de Bary?) mit grossen Amöben nicht nur verglichen, son- 
dern geradezu identifieirt wurden, als aus zahlreichen ver- 

»schmolzenen hüllenlosen Zellen hervorgegangene Protoplasma- 
masse. Was de Bary von der feineren Structur und den 
Bewegungserscheinungen von Aethalium septicum aussagt, kann 


1) Vgl. A. Ecker, Zeitschr. f. wiss. Zoologie. Bd. 1. 8. 218. 
2) Zeitschr. f. wiss. Zoologie. Bd. Rx, S288: 


Ueber Muskelkörperchen und das, was man eine Zelle zu nennen habe. ]5 


ich nach 'eigenen wiederholten Beobachtungen vollständig be- 
stätigen. Besondere Zellenabtheilungen, wie in der Körper- 
masse von Hydra, existiren in den oft mehrere Quadratzoll 
einnehmenden Protoplasmaklumpen nicht, denn die Körnchen 
fliessen auf weite Strecken hin und her, was doch nicht mög- 
lich wäre, wenn auch nur die geringste Andeutung von Ab- 
grenzung einzelner Zellen vorhanden wäre. Wir haben es 
hier, wie es scheint, mit einer eben so gleichförmig gemischten 
Protoplasmasubstanz zu thun, wie wenn die ganze Masse eine 
einzige Zelle repräsentirte. Auch die beiden Bestandtheile, 
hyaline Grundsubstanz und eingebettete Körnchen, unterschei- 
det man leicht, da, wie bei vielen Zellen, die hyaline Grund- 
substanz eine oft ansehnlich breite Rindenschicht bildet. 
Dass aber unter Umständen auch hier trotz der unläugbaren 
Homogeneität der grossen contractilen Gebilde eine Zerspaltung 
in einzelnen Zellen wieder eintreten kann, lehrt de Bary’s 
Beobachtung, nach welcher die amöbenartige Masse bei sehr 
allmähligem Eintrocknen langsam in zahllose runde, hartwan- 
dige, zellige Gebilde übergeht,') in welchem Zustande sie die 
Trockenheit lange Zeit überdauert. 

Dass ferner echte kleine Amöben des süssen oder salzigen 
Wassers, die kaum anders denn als einzellige Organismen, als 
zu vollständig individuellem Leben erhobene Protoplasma- 
klümpehen (mit Kern und allen Eigenthümlichkeiten einer 
Zelle) gedeutet werden können, öfter zu zweien mit einander 
verschmelzen, ist neuerdings von Kühne?) bestätigt worden. 
Dass dies nicht in allen Fällen und bei allen Species gleich 
. leicht geschieht, kann uns nicht Wunder nehmen, wenn wir 
die Verschiedenheit in Consistenz und Resistenz, welche die 
contractile Protoplasmasubstanz der Rhizopoden bildet, in Be- 
tracht ziehen. Ich sage die Protoplasmasubstanz der 
Rhizopoden und bin damit auf ein Gebiet gerathen, auf wel- 
chem eine Verständigung im Ausdrucke und in den Anschauun- 
gen sehr noth thut. Es würde uns von unserem Thema zu 


1) A. a. ©. S. S. 133. 
2) Dieses Archiv 1859. S. 821. 


16 Max Schultze: 


weit abführen, wenn ich hier ausführlich auf die Organisation 
der Rhizopoden eingehen wollte. Doch da wir vom Proto- 
plasma und seinen Eigenschaften sprechen, halte ich es für 
vortheilhaft, einen Augenblick bei den Organisationsverhältnissen 
der genannten Geschöpfe zu verweilen, welche uns höchst auf- 
fallende Lebenserscheinungen des Protoplasma oflenbaren. Es 
handelt sich um nichts weniger, als um eine endliche Lösung 
der Frage, was eigentlich die ungeformte contractile 
Substanz der Protozoen se. Das Wort Sarkode ist mit 
Recht in Misscredit gefallen durch den viel zu weiten Ge- 
brauch, den, Dujardin an der Spitze, viele Forscher von dem- 
selben gemacht haben. Es ist, um Missverständnisse zu ver- 
meiden, wünschenswerth, dass es nicht weiter gebraucht werde. 
Dennoch ist es Dujardin als Verdienst anzurechnen, dass er 
ein Wort für eine Substanz erfand, welche im Wesentlichen 
in derselben Weise existirt, wie er sie sich vorstellte. Eine 
contractile Substanz, welche nicht mehr in Zellen 
zerlegt werden kann, auch andere contractile Form- 
elemente, als Fasern u. dergl., nicht mehr enthält. 
Eine solche Substanz ist das Protoplasma 
der Zellen, der Inhalt pflanzlicher und thierischer Zellen, 
nicht der verwässerte, tropfbar flüssige Theil, wie er in gros- 
sen, namentlich Pflanzenzellen, den grössten Theil des Zellen- 
raumes ausfüllt, sondern die zähflüssige, schleimige, mit Körn- 
chen dicht erfüllte Masse, welche wenigstens um den Kern 
herum und an der inneren Oberfläche der Zellwand stets vor- 
handen ist, und in diesem Falle meist noch vielfache, faden- 
artig ausgezogene Stränge zur Verbindung entfernterer Theile 
bildet. In den meisten thierischen, namentlich bei allen kleinen, 
jungen oder auch bei grossen Zellen, wenn denselben beson- 
ders wichtige Leistungen obliegen, wie Furchungszellen, Gan- 
glienzellen u. a. erfüllt das contractile Protoplasma die ganze 
Zellhöhle oder, da solche Zellen meist keine Membran haben, 
also von einer Zellenhöhle nicht die Rede sein kann, bildet 
vielmehr die ganze Zelle. Wie ich an einem anderen Orte 
bereits angedeutet habe,') kann nach den Beobachtungen der 


1) Dieses Archiv. Jahrg. 1858. S. 337. 


“. 
Ueber Muskelkörperchen und das, was man eine Zelle zu nennen habe. ]7 


Protoplasmabewegungen im Inneren der Zellen, z. B. 
derjenigen der Staubfadenhaare von Tradescantia, kaum ein 
Zweifel darüber obwalten, dass wir es hier mit einer in dem- 
selben Sinne contractilen Substanz zu thun haben, ‚wie 
sie den Körper vieler Rhizopoden bildet. Dass sich schon 
Botaniker (Ferd. Cohn, Unger) in ähnlichem Sinne aus- 
gesprochen haben, führte ich dort an. Die Beweise für die 
Verwandtschaft beider Substanzen haben sich bei fortgesetzt 
auf diesen Punkt gerichteten eigenen Beobachtungen nur ge- 
mehrt. Auch: von anderer Seite sind mir Beiträge zur Stütze 
für diese meine Ueberzeugung gegeben und weitere verspro- 
chen worden, und führe ich nur an, dass W. Kühne, der zu 
nahe liegender Vervollständigung seiner wichtigen Untersuchun- 
gen über das. Verhalten der Infusorienmuskeln und Amöben- 
substanz mit denselben Mitteln, wie er sie anwandte, auch die 
Protoplasmabewegungen der Pflanzenzellen näher studirt hat, 
bereits zu Resultaten gekommen ist, welche der ausgespro- 
chenen Ansicht günstig sind, und über welche wir hoffentlich 
bald das Nähere erfahren werden. 

Also an Stelle des Wortes Sarkode tritt das Wort Pro- 
toplasma, und da wir mit letzterem einen ganz bestimmten 
Begriff verbinden, was mit ersterem nie gelungen war, so ist 
der Vortheil kein geringer. Wie hüllenlose, nur aus Proto- 
plasma und Kern bestehende Zellen während ihres Lebens ganz 
gewöhnlich amöbenartige Bewegungen ausführen, auch wenn 
sie Theile eines anderen Organismus sind, oder wie das Pro- 
toplasma im Inneren starrwandiger Zellen, wo äussere Gestalts- 
veränderungen nicht mehr möglich sind, höchst complicirte 
selbständige Bewegungen ausführen kann; so dürfen wir uns 
nicht wundern, wenn diese Bewegungen noch lebhafter zu 
Tage treten an Zellen, die einzeln oder zu wenigen zusam- 
mengeschmolzen einen ganzen Organismus repräsentiren, der 
sich seine Nahrung selbst suchen muss, und alle die zum Le- 
ben nöthigen Variationen des Stoffwechsels, welehe sonst an 
bestimmte Zellengruppen vertheilt sind, in sich ganz allein 
durchzumachen hat. So ist es mit den Amöben, so ist es: mit 


allen auch den complieirtesten Formen der: Polythalamien und 
Reichert's u, du Bois-Reymond’s Archiv. 1861. 2 


a8 #8 Max Schultze: 


Radiolarien. Die bewegliche, in Form feiner Fäden ausstreck- 
bare Masse, welche die Rindensubstanz des Körpers dieser 
Thiere bildet, welche ich so ausführlich bei den einkammeri- 
gen und vielkammerigen Rhizopoden, den Monothalamien und 
den Polythalamien beschrieben habe, und in Ermangelung eines 
besseren Namens Sarkode nennen musste,') wird künftig den 
Namen Protoplasma führen müssen. Die Organismen sind 
nackte, mit durchlöcherten Schalen (wenn man will Zellmem- 
branen, etwa der dicken Zona pellucida der Eizelle analog) 
umhüllte Protoplasmaklümpchen, entweder aus einer 
oder aus der Verschmelzung mehrerer Zellen hervorgegan- 
gen, was bei verschiedenen Arten verschieden sein wird.?) In 
ihnen hat sich eine meist gefärbte, festere, ruhende, innere 
Partie von einer ungefärbten, besonders beweglichen Rinden- 
schicht geschieden, wie dies bei vielen kleinen Rhizopoden, 
Amöben, Actinophrys u. A. auch schon angedeutet ist. Die 
Rindenschicht tritt durch die Löcher der Schale in Form feiner 
Fäden überall hervor. Diese sind nackte Protoplasma- 
fäden. Sie mischen sich eben so wenig mit dem Wasser, wie 
die Fäden des Protoplasma der Tradescantiazelle sich mit dem 
umgebenden wässrigen Zelleninhalte mischen. Wo sie an- 
einanderstossen, fliessen sie zusammen. Dieses oft 
bezweifelte, geradezu für unmöglich erklärte Factum, welches 
doch so überaus klar zu beobachten ist, verliert alles Räthsel- 
hafte, wenn wir den Maassstab, welchen wir an die Beurthei- 
lung der Eigenthümlichkeiten des Protoplasma anlegen, auch 
hier benutzen. Manche Species zeichnen sich durch ein wei- 
cheres, zerfliesslicheres Protoplasma vor anderen aus. Wie es 
lebhafte Amöben (A. diffluens) und träge, äusserst langsam 
kriechende giebt, bei ersteren die Rindensubstanz feinkörnig 
und sehr vergänglich, bei letzteren ganz hyalin und gegen 
Säuren und Alkalien verhältnissmässig resistent ist, so giebt es 
auch bei den grösseren Rhizopoden Verschiedenheiten der Art 
im beweglichen Protoplasma. Am auffallendsten tritt die Ver- 
schiedenheit in der Substanz der Fäden bei den beiden von 


1) Ueber den Organismus der Polythalamien. 1854. S. 19. 
2) Vgl. meinen Aufsatz in dem Archiv für Naturgeschichte, her- 
ausgegeb. v. Troschel. Jahrg. 1860. $. 287. 


Ueber Muskelkörperchen und das, was man eineZelle zu nennen habe, 19 


mir beschriebenen Gromien hervor, Gr. oviformis und Gr. Du- 
jardini. Letztere, welche auch im Meere um Helgoland sehr 
häufig ist, wird eine Pein für den wartenden Beobachter, wel- 
cher gern das Spiel der Fäden sehen möchte. Die Bewegung 
des hier ganz hyalinen, fast starren, gegen Säuren und Alka- 
lien sehr resistenten Protoplasma ist ungemein langsam,') und 
die bei Gromia oviformis so auffallende Neigung der Fäden 
zum Zusammenfliessen fehlt hier ganz. Ich führe das nur 
an, um an unzweifelhaften Fällen von nacktem Proto- 
plasma wieder Verschiedenheiten in Bewegung, Consistenz, 
chemischer Beschaffenheit und Neigung zum Zusammenfliessen 
mit anstossender gleicher Substanz nachzuweisen, auf welche 
Verschiedenheiten wir bei nackten Zellen der Gewebe höherer 
Thiere auch stossen. Man hat sich, worauf ich wiederholt 
aufmerksam mache, das Protoplasma nicht als eine so sehr 
leicht zerfliessliche Substanz zu denken, aus welcher Zerfliess- 
lichkeit man die Nothwendigkeit einer Membran bei allen Zel- 
len demonstriren könnte. Das Protoplasma hat, namentlich wo 
es in diehten Massen, wie in den Furchungszellen oder in den 
grossen Ganglienzellen des Hirns und Rückenmarkes auftritt, 
eine ansehnliche Widerstandskraft gegen äussere Einflüsse. 
Allerdings lassen sich solche Zellen, wie die letztgenannten 
Ganglienzellen, welche ich auch (vergl. meine Schrift über die 
Retina) für wandungslose Protoplasmamassen halte, schwer 
aus ihrer Umgebung herauspräpariren, wenn sie nicht vorher 
erhärtet worden, zumal sie nach dem Tode recht leicht zer- 
fliessen, aber während des Lebens braucht man um die nack- 
ten Dinger im Hirn nicht besorgt zu sein. Ihre eigene Con- 
sistenz und die merkwürdig feine, maschige und zähe Binde- 
substanz in der Umgebung schützen hier genugsam. 

Aber noch ein Wort über die Rhizopodensubstanz,. Mit 
der, wie mir scheint, unabweislichen Annahme, dass sie Pr o- 
toplasma sei, fallen natürlich alle die Versuche, in dieselbe 
eine höhere Organisation hinein zu demonstriren. Auf Ehren- 
berg’s abweichende Ansichten einzugehen wird man mir an 


1) Vergleiche meine Schrift über die Polythalamien S. 18, 19, 53. 
2 «* 


20 Max Schultze: 


diesem Orte wohl erlassen. Reichert’s!) und Leydig’s?) 
Betrachtungen über möglicherweise in der Substanz der Poly- 
thalamienfäden enthaltene kleine Zellen erhalten eine bestimmte 
Widerlegung, wenn nachgewiesen wird, dass die Substanz der- 
selben Protoplasma oder Zelleninhaltssubstanz ist. 
So wie tüchtige Histiologen sich auf das Entschiedenste wider- 
setzt haben, die Gebilde, welche in dem Protoplasma der 
Chara-Zellen schwimmen, als Zellen anzuerkennen, weil Pro- 
toplasma nicht noch wieder Zellen enthalten kann, ebenso, 
sage ich, giebt es in dem Körper der Rhizopoden — soweit 
derselbe aus contractilem Protoplasma besteht — 
keine eingebetteten Zellen, Kerne vielleicht genug, Bläs- 
chen aller Art mit und ohne Farbstoff u. s. w., aber Zellen 
nur potentia, indem möglicher Weise die bewegliche. Proto- 
plasmasubstanz nicht einer Zelle ihren Ursprung verdankt, 
sondern vielen wandungslosen und unter einander zu einer 
homogenen Masse verschmolzenen. Was dagegen den feste- 
ren Kern der Rhizopoden oder die Marksubstanz betrifft, so 
bleibt die Möglichkeit, hier einzelne unverschmolzene Zellen 
nachzuweisen, offen. Man könnte sich denken, dass ein dich- 
ter Klumpen kleiner Zellen in verschiedenen Schichten eine 
solche Verschiedenheit besitzt, dass die Rindenzellen alle 
unter einander zu einer beweglichen Protoplasmamasse ver- 
schmelzen, dem gemeinsamen Mutterboden für die peripherisch 
auszustreckenden Fäden, während die folgenden Zellen ‘nach 
der Tiefe zu gradweise immer mehr ihre Selbständigkeit ge- 
wahrt haben, endlich im Centrum noch wahre Zellen einzeln 
neben einander liegen und vielleicht gar bestimmte Organsy- 
steme bilden. Warten wir ab, was neue Beobachtungen in die- 
ser Beziehung bringen. Bei den Radiolarien scheint, den 
Untersuchungen E. Häckel’s zufolge,?) so etwas vorzukommen, 

Wir sind etwas ausführlicher geworden, als für unseren 
Zweck, über die Bedeutung der Muskelkörperchen in’s Klare 
zu kommen, nothwendig, erschienen sein wird. . Worauf es uns 


1) Dieses Archiv Jahrg. 1857, Jahresbericht, S. 4, 5. 

2) Lehrbuch der Histologie. S. 16. 

3) Tageblatt der Naturforscher- Versammlung in Königsberg im 
September 1860, S, 19. 


Ueber Muskelkörperchen und das, was man eine Zelle zu nennen habe. 91 


ankam war nachzuweisen, dass hüllenlose Protoplasma- 
massen in der Natur eine grosse Rolle spielen, und dass zum 
Begriff einer Zelle nicht nothwendig eine Membran gehöre. 
Wir sind zu dem Resultate gekommen, dass recht wichtige, ja 
die wichtigsten unter allen Zellen membranlos seien, dass 
sie nur aus einem Kern und einem Häufchen Protoplasma rings 
um denselben bestehen, und ich möchte jetzt hinzufügen, dass 
man sogar die Behauptung vertheidigen könnte, die Bildung 
einer chemisch differenten Membran auf der Oberfläche des 
Protoplasma sei ein Zeichen beginnenden Rückschrittes, 
die Zellmembran gehöre so wenig zum Begriff einer Zelle, dass 
sie sogar als Zeichen herannahender Decrepidität oder doch 
wenigstens eines Stadiums zu betrachten sei, auf welchem die 
Zelle in den ihr ursprünglich zukommenden Lebensthätigkeiten 
bereits eine bedeutende Einschränkung erlitten habe. Ich er- 
innere nur an das eine, dass eine Zelle mit Membran als 
Ganzes sich nicht mehr theilen kann. Nur das in die 
Membran eingeschlossene Protoplasma theilt sich, wie z.B. 
bei den Knorpelzellen.') Dadurch ist natürlich der Zelle in Be- 
treff der Gewebebildung bereits eine nicht unwichtige Schranke 
gezogen. Weiss sich das Protoplasma aus dem engen Gefäng- 
niss der einschliessenden Membran wieder zu befreien, wie das 
z. B. bei der Verknöcherung durch Aufbruch der Knorpel- 
höhlen nach Resorbtion der Grundsubstanz geschieht, dann 
geht das alte Leben wieder lustig los. Theilung folgt auf 
Theilung, eine Gruppe der jungen Brut wird Mark, eine an- 
dere Bindegewebe und Blutgefässgewebe, eine dritte ver- 
dichtet sich in ihrer Rinde zu der Knochengrundsubstanz, wäh- 
rend in den sternförmigen Höhlen das Protoplasma und die 
Kerne wieder in den gesetzten, ruhigen, nur dem Stoffwechsel 
dienenden Gang zurückkehren, den früher die Knorpelzellen 
schon eingeschlagen hatten. Eine Zelle mit einer vom Proto- 
plasma chemisch differenten Membran ist wie ein enkystirtes In- 
fusorium, wie ein gefangenes Ungethüm. Dem unbefruchteten 
Eie vergleichbar kann sich das Protoplasma innerhalb der 


1) Dass dem bei den Pflanzen gerade so sei, bestätigen die, wie 
es scheint, sehr genauen Untersuchungen von Dippel, „Beiträge zur 
vegetabilischen Zellenbildung“. Leipzig 1858. 


29 Max Schultze: 


starren Membran wohl einige Male theilen, aber der Process 
bleibt auf den minimalen Raum beschränkt und läuft ohne 
allen Einfluss auf die Umgebung ab. Doch lasst das unge- 
stüm sich theilende, von dem noch ungestümeren Kerne stets 
von neuem angestachelte Protoplasma seine Hülle sprengen 
oder nehmt sie ihm durch Resorption, oder macht sie wie die 
Zona pellueida des befruchteten Säugethieres auf irgend eine 
Weise unschädlich — und das entfesselte Protoplasma wird 
zu Manches Schrecken von seiner Freiheit Gebrauch machen. 

Auch bis in ihr Alter können Zellen ganz oder nur stellen- 
weise membranlos bleiben. Brücke’s Angaben über die Epi- 
thelzellen des Darmes, nach welchen an der freien Fläche der- 
selben das Protoplasma nackt blossliegt, jedoch ausgezeichnet 
durch eigenthümliche stäbchenförmige Aufsätze, die sogenannte 
Membran mit Porencanälen halte auch ich für richtig, und 
finde bei manchen anderen Epithelzellen etwas Analoges. 

Doch wie werden wir es nun mit den Muskelkörper- 
chen zu halten haben? Verdienen sie den Namen von 
Zellen? 

Ihr Kern ist Theilproduct des Kernes der embryonalen 
Muskelzelle. Ihr Protoplasma ist ein Theil des ursprünglichen 
Zellenprotoplasma. Ihre Lebenserscheinungen sind, soweit be- 
kannt, der Art, dass wir ihnen eine hohe Bedeutung zuschrei- 
ben müssen. Wir kennen ihre Theilnahme an krankhaften 
Processen, z. B. der fettigen Metamorphose der Muskeln, wir 
wissen, dass sie bei Entzündungen, bei Pseudoplasmen, die sich 
in den Muskeln entwickeln, zu einer lebhaften Fortpflan- 
zung fähig sind, dass ihre Kerne sich vielleicht theilen und 
eine Theilung des Protoplasma um diese Kerne zur Bildung 
neuer Zellen eintritt, die nun, ungleich ihrer Erzeugerin, weil 
meist zu schnellem Untergange verurtheilt, auch besondere 
Membranen bekommen. Was kann uns also ab halten, in 
den Muskelkörperchen wirkliche Zellen anzuerken- 
‘ nen?! In der That, es hiesse die Folgerichtigkeit der ganzen 
obigen Auseinandersetzung abläugnen, wenn wir uns sträuben 
wollten, den Muskelkörperchen die Bedeutung zuzugestehen, 
welche ihnen nach Genese, Bestandtheilen und Leistungen, 


Ueber Muskelkörperchen und das, was man eine Zellezu nennen habe. 93 


wie mir scheint, nicht nur ungezwungen, sondern selbstver- 
ständlich zufällt. Dass sie keine besondere Membran haben, 
darf nach allem Vorausgegangenen gegen die Zellennatur nicht 
geltend gemacht werden, und dass sie mit den interfibrillären 
Protoplasmaresten überall in Zusammenhang stehen, indem sie 
selbst ja nur Theile desselben darstellen, kann auch keinen 
Gegengrund abgeben, so wenig als es Jemandem, der dem 
Gange unserer Betrachtungen gefolgt ist, einfallen wird, die 
kernlosen, spindelförmigen Protoplasmaanhäufungen zwischen 
den Fibrillen mit dem Namen Zellen zu belegen. Zum Be- 
griff einer Zelle gehört zweierlei, ein Kern und Protoplasma, 
und beides muss Theilproduct der gleichen Bestandtheile einer 
anderen Zelle sein. Beide Bestandtheile sind gleich wichtig, 
ein Schwinden des einen wie des anderen zerstört den Begriff 
der Zelle. Wenn die gefärbten Blutscheibehen des Säugethier- 
und Menschenblutes früher auch einen Kern besassen, so kön- 
nen sie doch später auf den Namen Zelle keinen Anspruch 
mehr machen, da ihnen der Kern fehlt, und sie durch diesen 
Mangel mindestens einer der charakteristischsten Eigenschaften 
des Zellenlebens, der Fortpflanzungsfähigkeit, verlustig 
gegangen sind.!) Ebenso wird ein nackter Kern, wie er mög- 
licherweise mal nach Resorption oder anderweitiger Verwen- 
dung des Protoplasma im Muskelprimitivbündel übrig bleiben 
und abgeschlossen liegen bleiben könnte, nie Zelle heissen 
dürfen. Zum Kern muss, ich wiederhole es, das Protoplasma 
kommen. Und wenn sich dann noch, wie in den Muskeln, 
die Fortpflanzungsfähigkeit nachweisen lässt, so ist der Begriff 
der Zelle unumstösslich fest begründet. 

Wir sind vorzugsweise durch die Botaniker, denen unstreitig 
das Verdienst zukommi, die Lehre von den einzelnen Bestand- 
theilen und den möglichen Metamorphosen der Zellen viel sorg- 
samer ausgebildet zu haben, als bis jetzt in der thierischen 
Gewebelehre geschehen ist, zu der Annahme gekommen, als 
gehöre zum Begriff der Zelle die Bläschennatur. Das ist 


1) Sie haben aber auch kein Protoplasma mehr, denn die in 
Wasser lösliche Inhaltssubstanz der Blutscheibchen ist etwas ganz an- 
deres als Protoplasma. 


24 Max Schultze: 


für die Pflanzengewebe insofern auch ganz richtig, als dort die 
Zellen verhältnissmässig sehr früh eine Membran bekommen 
und sobald sie sich zu Geweben verbinden, immer haben. Da- 
her aber auch die verhältnissmässig grosse Einfachheit der 
Pflanzengewebe, indem überall, auch bei den complicirtesten 
Innenveränderungen des Protoplasma, sich -die primären 
Membranen meist auf den ersten Blick erkennen lassen. An- 
ders ist es in dem Thierkörper. Hier verbinden sich auch 
membranlose Zellen zu Geweben — und das ist die Haupt- 
verschiedenheit zwischen pflanzlichen und thierischen Gewe- 
ben. Auf dieser Thatsache beruht die ganze Schwierig- 
keit der Deutung Vieler der letzteren. So lange wir in dem 
Vorurtheil befangen bleiben, als sei die Membran, die zum 
Begriffe des Bläschens gehört, auch für die Zelle nothwen- 
dig, werden wir nur geringe Fortschritte in der Erkenntniss 
des Zellenlebens und der Zellenmetamorphosen beim Aufbau 
‘ der thierischen Gewebe machen. 

Befreien wir uns von diesem Vorurtheil, so folgt daraus 
von selbst, dass wir die Anschauung verlassen, als sei der 
sogenannte Zelleninhalt eine Flüssigkeit. Wässrig flüs- 
sig ist der Zelleninhalt nur in grossen, alten, mit unzwei- 
felhafter Membran versehenen, physiologisch wenig wich- 
tigen Zellen, und in diesen dürfte die Verwässerung in den 
meisten Fällen auch nicht eigentlich das Protoplasma treffen, 
sondern letzteres wird sich, wie bei den Pflanzenzellen, neben 
dem aufgenommenen Wasser selbständig halten, indem es 
vor allen Dingen den Kern schützend umhüllt, sich in Form 
von Fäden durch den Hohlraum der Zelle erstreckt und als 
dünne Schicht an der inneren Oberfläche der Membran sich 
verbreitet. In allen jüngeren Zellen aber, und im Thierkörper 
in den meisten Zellen während des ganzen Lebens, ist der so- 
genannte Zelleninhalt eine diekflüssigem Schleime ver- 
gleichbare, mit Wasser nicht mischbare und in seiner 
Consistenz mehr weichem Wachs als Wasser gleichenden Sub- 
stanz, das Protoplasma allein. Dieses hält sich selbständig 
ohne einer äusseren, aus noch festerer Substanz gebildeten 
Membran zu bedürfen. Die Consistenz des Protoplasma ist 


Ueber Muskelkörperchen und das, was man eine Zelle zu nennen habe. 95 


der Art, dass sogar eine Isolirbarkeit desselben als Gan- 
zen sehr wohl möglich ist und bedarf es dazu keiner Mem- 
bran, wie so oft behauptet worden. Man kann an den Rän- 
dern dünner Knorpelschnitte die aus den Knorpelhöhlen her- 
ausgefallenen Protoplasmaklümpchen mit Kern, die Knorpel- 
zellen, leicht als selbständige Gebilde isoliren, namentlich wenn 
man die Untersuchung in Humor aqueus vornimmt, um die 
Integrität der chemischen Beschaffenheit des Protoplasma län- 
ger zu erhalten, die sich beim Aufenthalt in Wasser früher 
oder später, meist natürlich sehr schnell, verliert. Man kann 
die Protoplasmaklümpchen mit Kern aus den Lücken zwischen 
den Bindegewebsbündeln schon im frischen Zustande, viel leich- 
ter natürlich nach längerem Kochen, durch welches das 
Protoplasma sich verdichtet, die Grundsubstanz sich erweicht, 
isoliren, ohne daraus im Geringsten den Beweis einer beson- 
deren Membran entnehmen zu dürfen. Dass bei der theilwei- 
sen Umwandlung des Protoplasma in Grund- oder Parietal- 
substanz (wie Remak die Knorpelgrundsubstanz nicht übel 
nennt), die primären, secundären und tertiären Schichten ge- 
wisse geringe chemische Verschiedenheiten zeigen können, wird 
um so weniger geläugnet werden dürfen, als bei den Pflan- 
zenzellen dergleichen sehr gewöhnlich vorkommt, und die 
eoncentrischen Ringe um die Zellen und Zellengruppen, die 
man an manchen Knorpeln findet, wie Gegenbaur bei Limu- 
lus beschreibt,') ich unter anderen sehr schön an den Kopf- 
knorpeln einer in Chromsäure erhärteten Myzine sah, endlich 
die sogenannten Knorpelkapseln mit Bestimmtheit darauf 
deuten. Wenn also beim Maceriren einer Bindesubstanz in 
verdünnten Säuren die Protoplasmaklümpchen, die in derselben 
erhärten, nicht allein, sondern noch mit einer Membran, im 
Knorpel z. B. mit der sogenannten Kapsel umhüllt, frei wer- 
den, so beweist das, wie schon Fürstenberg?) hervorhob, 
nur, dass die letzte der bei der Metamorphose des Protoplasma 
äusserlich aus ihm entstandenen Verdickungsschichten von den 
älteren Verdickungsschichten chemisch verschieden sei. 


1) Abhandl. d. naturf. Ges. in Halle. Bd. IV. 1858. S. 238. 
2) Dieses Archiv 1857, S. 12. 


"m 


u. Max Schultze: 


Wenn wir von der Consistenz des Protoplasma reden, so 
haben wir noch ein anderes, sehr verbreitetes Vorurtheil zu 
bekämpfen, nämlich das, als wenn nur eine Anastomose ver- 
schiedener Zellen da zu sein brauche, um sogleich ein plas- 
matisches Gefässsystem, saftführende Canäle, in denen 
eine Circulation nach Art der Blutcirculation vorhanden sei, 
anzunehmen. Wo wir es mit lebenden Zellen zu thun haben, 
ist das Protoplasma stets von so dichter Beschaffenheit, dass 
an eine mit Circulationserscheinungen vergleichbare Ortsverän- 
derung nicht zu denken ist. Und weiter besteht ja gerade 
darin das Charakteristische des Zellenlebens, dass jedes einen 
Kern umhüllende Protoplasmaklümpchen seine Selbständigkeit 
nach aussen mit einer gewissen Hartnäckigkeit vertheidigt, also 
gerade dem widerstrebt, was von Manchen als Hauptfunction 
der Muskel- und Bindegewebskörperchen angesehen wird. 
Dass die Anastomosen ganz gleichgültig seien, will ich nicht 
behaupten, im Knochen z. B., wo sie am zahlreichsten sind, 
ist die Zwischensubstanz so hart und vielleicht undurchdring- 
lich, dass hier zur Aufrechterhaltung des Stoffwechsels die 
Anastomosen möglicherweise absolut nothwendig sind. Aber 
das bestreite ich, dass die Selbständigkeit des Zellenlebens 
durch die Anastomosen beeinträchtigt werde, und dass im nor- 
malen Zustande, bei voller Integrität der einzelnen Zellen, die 
Verhältnisse auch nur annähernd wie ein plasmatisches Ge- 
fässsystem gedeutet werden dürfen. Ob, wie bei den Pflanzen, 
wenn die Zellenwände sich unter Ausbildung strahlig auslau- 
fender Porencanäle verdicken, die Ausläufer benachbarter Zel- 
len, wenn sie direct aufeinander stossen, doch noch durch die 
primäre Zellmembran von einander geschieden bleiben, und es 
‘also zu einer wirklichen Anastomose (wenigstens in den bei 
weitem meisten Fällen) nicht kommt — oder ob die primäre 
Zellwand fehlt,') wie bei den vollständig anastomosirenden 


1) Wahrscheinlich deshalb fehlt, weil sie überhaupt nie vorhan- 
den war, indem die Zellen sich aneinander legten, ehe sie deutliche 
Membranen hatten, was bei den Pflanzen nicht oder nur höchst aus- 
nahmsweise vorkommen dürfte, indem hier vor der eigentlichen Ge- 
webebildung jede Zelle schon ihre dünne Cellulosehaut besitzt. 


Ueber Muskelkörperchen und das, was man eine Zelle zu nennen habe. 27 


Zellen der Cornea oder anderer Bindesubstanzen, wird zwar 
einen Einfluss haben, aber die Selbständigkeit der Zellen 
gewiss nur in sehr geringem Grade bedrohen. 

So, meine ich nun, sei es auch bei den Muskelkörper- 
chen. Wenn auch feine Protoplasmastränge sich zwischen den 
Fibrillen hinziehen, welche die einzelnen grösseren Protoplas- 
maanhäufungen mit Kern unter einander verbinden, wenn es 
auch im einzelnen Falle unmöglich ist, die Grenze dieses oder 
jenes Muskelkörperchens genau anzugeben, d.h. zu bestimmen, 
wie weit etwa der Einfluss seines Kernes als Oentrum des 
Zellenlebens reicht: so haben wir doch Gründe genug, uns da- 
hin zu entscheiden, dass im Inneren des Primitivbündels zwi- 
schen den Fibrillen der contractilen Substanz ein Zellenleben 
existire. Es mag Manchem, der an das alte Schema bläschen- 
förmiger, scharf begrenzter, vor Allem mit bestimmter Mem- 
bran versehener Gebilde gewöhnt ist, schwer fallen, unseren 
Vorstellungen zu folgen, deren Grundlage die Annahme ist, 
dass zum Begriffe einer Zelle ausschliesslich ein nacktes Pro- 
toplasmaklümpchen mit Kern gehöre, und dass die Membran 
um dasselbe etwas Secundäres, manchen Zellen zukommen- 
des, anderen Fehlendes, jedenfalls nichts Nothwendiges sei. 
Und mit dem Namen „Zelle“, welcher von einem mit 
deutlicher Wand versehenen Bläschen hergenommen 
ist, lässt sich vollends unsere Definition, nach welcher wir es 
nur mit einer soliden Protoplasmakugel mit Kern zu thun ha- 
ben, nicht vereinen. Doch den Namen beabsichtige ich so we- 
nig zu ändern als die Grundbegriffe über Zellenleben. Was 
ich für wichtig halte ist allein das, dass man versuche, sich auf 
den in Obigem bezeichneten Standpunkt gegenüber der Begriffs- 
bestimmung dessen, was man eine Zelle zn nennen habe, zu 
stellen und die Entwickelung der Gewebe von den angedeu- 
teten Gesichtspunkten aus zu studiren. Ein erfreulicher und 
beruhigender Erfolg wird nicht ausbleiben. 


28 Liebermeister: 


Physiologische Untersuchungen über die quantita- 
tiven Veränderungen der Wärmeproduction. 


Von 
Dr. LIEBERMEISTER, 


Assistenzarzte der medicinischen Klinik und Privatdocenten an der 
Universität Tübingen. 


(Fortsetzung. 


Dritter Artikel. 

Ueber die quantitativen Veränderungen der Wärmepro- 
duction unter der Einwirkung des warmen Bades. 
Ueber die Quantität der bei gehemmtem Wärmeverluste 

producirten Wärme sind bisher noch keine Untersuchungen an- 

gestellt worden. Die bekannten Versuche der englischen Be- 
obachter vom Jahre 1775, die Versuche von Delaroche und 

Berger, die von Hoppe!) an Thieren und die von Mosler?) 

an einem Menschen angestellten Untersuchungen geben keinen 

Aufschluss über die quantitativen Veränderungen der Wärme- 

production, da die angewandten 'Temperaturgrade zu excessiv 

waren, um eine Trennung des Effectes der Hemmung der 

Wärmeentziehung und der Wärmeaufnahme von dem umge- 

benden Medium aus zu gestatten; die in einer nicht mit Was- 

serdampf gesättigten Luft angestellten Versuche lassen aber 

' schon wegen der stattfindenden Wasserverdunstung keine auch 

nur annähernde Abschätzung der quantitativen Verhältnisse zu. 

Zwar schliesst Mosler aus der bei seinen Versuchen stattfin- 

denden bedeutenden Abnahme des Körpergewichtes, dass eine 

„Anregung des Stoffwechsels“ stattgefunden habe; doch ist ein 


1) Virchow’s Archiv. 11. Band. S. 453 ff. 
2) Ueber die Wirkung lange dauernder Vollbäder von erhöhter 
Temperatur. Virchow, Archiv, 14. Bd. 1858. 


Physiologische Untersuchungen über die Veränderungen u. 8. w. 29 


solcher Schluss natürlich ganz ungerechtfertigt, so lange nicht 
nachgewiesen ist, dass die beobachtete Abnahme des Körperge- 
wichtes im Wesentlichen auf etwas Anderem als auf dem Verluste 
von Wasser beruht habe. Ueber das Verhalten des Stoffwechsels 
und der Wärmeproduction bei gehemmter Wärmeentziehung 
oder bei Zufuhr von Wärme sind daher bis jetzt nur unsichere 
Vermuthungen möglich. 

Wenn, wie im vorigen Artikel gezeigt worden ist, eine 
Steigerung des Wärmeverlustes eine Steigerung der Wärme- 
production zur Folge hat, und wenn innerhalb der bisher 
durchforschten Grenzen die Intensität der Wärmeprodyetion mit 
der Intensität der Wärmeentziehung steigt und fällt, so liegt 
freilich die Vermuthung nahe, dass eine Hemmung des Wärme- 
verlustes eine Verminderung der Production zur Folge habe. 
Eine solche Vermuthung würde einigermassen eine Stütze fin- 
den in der früher bereits erwähnten Beobachtung von Hoppe, 
dass nämlich bei Hunden, welche nach einem kalten Bade in 
Kautschukdecken eingewickelt wurden, ein bedeutendes Sinken 
der Temperatur beobachtet wird; ebenso könnte der verhält- 
nissmässig geringe Grad der Steigerung der Körpertemperatur, 
welcher von mehreren der genannten Forscher beim Aufent- 
halt in Luft von hoher Temperatur beobachtet worden war, 
als eine Bestätigung dieser Vermuthung betrachtet werden; end- 
lich würde zur Stütze einer solehen Vermuthung noch die zu- 
erst von Crawford!) beobachtete Thatsache anzuführen sein, 
dass bei Thieren, welche sich in einem Medium befinden, des- 
sen: Temperatur die ihres Körpers übersteigt, nach einiger Zeit 
die Farbe des venösen Blutes sich der des arteriellen nähert. 
Doch können auch über diesen Punkt nur directe Versuche 
entscheiden. 

Calorimetrische Untersuchungen über die Wärmeproduction 
im warmen Bade sind bei Weitem leichter anzustellen, als die 
im vorigen Artikel mitgetheilten Untersuchungen. Zunächst 
nämlich ist ein längeres Verweilen im warmen Bade nicht in‘ 

1) Versuche und Beobachtungen. über die Wärme der Thiere 


u. 5, w. Zweite Ausgabe. Aus dem Englischen von Croll. Leipzig 
1789. Vierter Satz. S. 339: ff. 


30 Liebermeister: 


so hohem Grade unangenehm, als das ruhige Liegen im kalten 
Bade; ausserdem aber lassen sich manche Fehler, wie z. B. 
der auf der Abkühlung des Wassers beruhende, bei passender 
Wahl der Versuchsmethode, vollkommen umgehen. — Die Me- 
thode, nach welcher die Versuche angestellt wurden, war im 
Wesentlichen folgende: Wenn der ganze Körper: fortwährend 
unter Wasser getaucht war, und wenn man im Stande war, 
dem Wasser eine Temperatur zu ertheilen, welche während 
der Dauer des Versuches immer gleich war der Temperatur 
der Körperoberfläche, so’ konnte zwischen der Körperoberfläche 
und dem ‚dieselbe berührenden Wasser keine Ausgleichung von 
Temperaturdifferenzen stattfinden: es konnte von der Haut we- 
der Wärme an das Wasser abgegeben, noch Wärme von dem 
Wasser aufgenommen werden. Die Wärme also, welche wäh- 
rend der Dauer des Versuches producirt wurde, musste, so weit 
sie nicht durch den über Wasser befindlichen Theil des Ge- 
sichtes und durch die Respiration an die Luft abgegeben wurde, 
zur Erwärmung des Körpers verwendet werden. Das Product 
aus der Temperatursteigerung, welche der ganze Körper gleich- 
mässig erfuhr, in das Körpergewicht, multiplieirt mit dem Oo- 
effieienten, welcher die mittlere Wärmecapacität des Körpers 
anzeigt, ergab die Anzahl der Wärmeeinheiten, welche inner- 
halb des Körpers zurückgehalten wurden; und wurde zu dieser 
Zahl die Quantität der Wärme hinzugefügt, welche durch die 
Lungen und den unbedeckten Theil des Gesichtes an die äus- 
sere Luft abgegeben worden war, so erhielt man die gesammte 
während der Dauer der Versuches producirte Wärmequantität. 

Da aber die Temperatur der Haut an verschiedenen Stellen 
der Körperoberfläche wesentliche Verschiedenheiten darbietet, 
so konnte der Versuch erst richtige Resultate liefern, nachdem 
es gelungen war, der ganzen Körperoberfläche eine genau gleiche 
Temperatur zu ertheilen; und da die Bestimmung der Kör- 
pertemperatur in der Achselhöhle vorgenommen wurde, so er- 
schien es zweckmässig, der ganzen Körperoberfläche die Tem- 
peratur der Achselhöhle zu ertheilen. 

Die Temperatur der Achselhöhle wurde, da die ganze 
Schultergegend fortwährend von einem Medium umgeben war, 


Physiologische Untersuchungen über die Veränderungen u. s. w. 31 


dessen Temperatur der in der Achselhöhle beobachteten sehr 
nahe gleich war, in diesem Falle mit fast absoluter Genauig- 
keit von dem T'hermometer angezeigt; die Fehler bei der Be- 
stimmung derselben reduciren sich also auf die beim Ablesen 
des Thermometerstandes vorkommenden Beobachtungsfehler, 
deren Grenzen ich in der Einleitung angegeben habe. 

Ich theile zunächst den Versuch mit, welcher zuletzt ange- 
stellt wurde, da nur dieser Versuch alle zur Ausführung der 
Rechnung erforderlichen Data enthält. Der Versuch wurde an 
mir selbst angestellt; Herr Bertog führte während desselben 
das Protokoll. 


22. Versuch. 26. Februar 1360, Vormittag. 


Temperatur des Badezimmers vor dem warmen Bade = 18°, 
nach demselben = 17°,4. 

Die Badewanne war mit 260—300 Litres Wasser gefüllt, 
dessen Temperatur durch ein in demselben schwimmendes in 
Zehntelgrade getheiltes und mit dem zur Bestimmung der Tem- 
peratur der Achselhöhle benutzten vorher genau verglichenes 
Geissler’sches Thermometer controllirt und durch fortwäh- 
rendes Zulassen von warmem Wasser während der Dauer des 
Versuches möglichst genau gleich der von dem Thermometer 
in der geschlossenen Achselhöhle angezeigten Temperatur er- 
halten wurde. Das Maximum der Differenz zwischen der Tem- 
peratur der geschlossenen Achselhöhle und der Temperatur des 
Badewassers, welche während der ganzen Versuchsdauer vor- 
kam, betrug 0°2. Unmittelbar vor dem Einsteigen in das 
Bad betrug die Temperatur des Wassers 37°,47, sank nach ?°/, 
Minuten auf 37°,35 und wurde dann durch Zulassen warmen 
Wassers auf die Höhe der Temperatur der geschlossenen Ach- 
selhöhle gebracht. Im Bade war nur die vordere Hälfte des 
behaarten Kopfes, so wie das Gesicht oberhalb der Oberlippe 
ausser Wasser. Bewegung fand während der Dauer des Ver- 
suches nur so viel statt, als zur Regulirung des Wasserzuflusses 
und zum Mischen des Wassers erforderlich war. 


Puls- Respirations- Temperatur 


frequenz frequenz der Achselhöhle 
11h. 48° 87 14 - 37,50 
I1Tm320 786 13 37,54| Vor Beginn des Bades; 
11h. 56° 86 12° 37,54 entkleidet; rauchend; kein 
12h. 2 88 14 37,92 Kältegefühl. 
12h. 8° — 37,50 


Beginn des Bades um 12h. 5‘, 


32 Liebermeister: 


Temperatur der ge- 


= schlossenen Achselhöhle 
12h. 5 37,56 Im Augenblick des Einsteigens. 
12h. 54 37,51 
12h. 74° 37,43 
a ga 37,40 
12h. 15° 37,47 
Die Kugel des im Wasser schwimmenden Ther- 
mometers wird in die rechte Achselhöhle ge- 
bracht; kein Sinken des Thermometers. 
12h. 18‘ 37,50 
Die Kugel des im Wasser schwimmerden Ther- 
12h. 214‘ 37,59 mometers wird zwischen beide Kniee einge- 
klemmt; langsames Sinken um 0°,3. | 
12h. 244° 37,70 
12h. 264° 37,76 
Das Thermometer, zwischen die Kniee ge- 
bracht, sinkt nicht ganz um 0°,1. 
12h. 28° 37,81 
Pulsfr. 134. Respirationsfr. 14. 
12h. 32° 37,90 


Das Thermometer, zwischen die Knie gebracht, 
steigt um 0°,03, bei Wassertemperatur = 37°,75. 
12 h. 344° 37,98 
12h. 38° 38,12 Starkes ÖOppressionsgefühl. 
12h. 394° 38,18 
Puls 138. Respiration 14, tief. 
12h. 42! 38,28 
Starkes Pulsiren der Arterien (bei untergetauch- 
ten Ohren) hörbar. Puls 136. Respiration 16, 
sehr tief. Thermometer, zwischen die Kniee 
gebracht, steigt um 0°,07, bei Wassertemperatur 


= 38,33. 
12h. 484‘ 38,50 


12h. 53‘: Das im Wasser schwimmende Thermometer zeigt, 
unter die Zunge gebracht, während der Mund geschlossen und 
bis zum oberen Theile der Oberlippe untergetaucht ist, 38°,61, 
bei Wassertemperatur = 38°,69. 
12 h. 544‘ 38,66 
Puls 148. Oppressionsgefühl nicht mehr so stark 


als vorher. 
12 h. 57° 38,73 


Puls 140, Resp. 12, sehr tief. 
iu. .g 38,83 ö 

Um 1h.:/,‘ Aussteigen aus dem Bade ohne Wegnehmen 
des Thermometers aus der Achselhöhle. 


ih. .184 38,87 LO 17 | 
in PyT 38.83 Nass im Zimmer stehend. 
1h. 23° 38,8 Beginn einer kalten Brause, 
4‘ 
ne es ae Hin- und hergehend unter Brause. Sehr ge- 
Ih. 4r 3g.aofringes Kältegefühl; angenehmes Gefühl der Er- 


1h. 4 38,30 frischung. 


Physiologische Untersuchungen über die Veränderungen u. s. w. 33 


Temperatur der ge- 


A schlossenen Achselhöhle 
ih, 44 38,30 Ende der Brause. Langsames Abtrocknen. 
Hemd übergehängt. Zimmertemperatur = 16°,6. 
ih, 7 37,70 
X h...7 37,55 
1h. 94°: Puls 119. Respir. 13. 
1h. 104° 37,34 Anfang einer zweiten kalten Brause, 
4‘ 
ie 1 Een Intensives Kältegefühl; Zittern. 
n ’ 
ih. 124° 37,40 Ende der Brause. Haut sehr stark geröthet, 
1 iu a Während des Abtrocknens. 
1h. 154° 37,48 Während des Ankleidens; noch immer etwas 
1h. 203° 37,33 Kältegefühl und Zittern. Puls 98. 


Das Thermometer zeigte noch einige Minuten lang den zu- 
letzt notirten Stand; die weitere Beobachtung wurde unterbro- 


chen, da in Folge einer hastigen Bewegung beim Ankleiden 
das Thermometer zerbrach. 


Nach vollständigem Ankleiden, im Wohnzimmer, Puls 80, 
Resp. 17. Beim Mittagessen etwas weniger Appetit als ge- 
wöhnlich. Nachmittags Wohlbefinden; durchaus kein Gefühl 


von Maitigkeit. — Das Körpergewicht betrug am Nachmittag 
um 5'/,; Uhr 51,80 Kgr. 


Der Versuch zeigt in Uebereinstimmung mit den im ersten 
Artikel mitgetheilten Versuchen, dass, wenn die Körpertempe- 
ratur weit über die Norm gesteigert worden ist, eine starke 
. Wärmeentziehung von der äusseren Oberfläche aus!) ein rapi- 
des Sinken der Temperatur der geschlossenen Achselhöhle zur 
Folge hat, dass. aber, sobald die Temperatur wieder den nor- 
malen Stand erreicht hat, eine solehe Wärmeentziehung kein 
Sinken, sondern sogar ein geringes Steigen der Temperatur 
der geschlossenen Achselhöhle bewirkt. Ausserdem zeigte sich 
bei diesem Versuche die auffallende Erscheinung, welche auch 
sehon Currie, freilich unter anderen Umständen, beobachtet 
zu haben scheint, dass nämlich beim Uebergange aus der Luft 
in das warme Bad in den ersten Minuten ein deutliches Sinken 
der Temperatur der geschlossenen Achselhöhle stattfand. Die- 
ses Sinken der Temperatur der geschlossenen Achselhöhle giebt, 
wie es scheint, ein Beispiel von dem Verhalten der Temperatur 


1) Die Temperatur des zur Brause dienenden Wassers wurde an 
diesem Tage nicht bestimmt; 6 Tage vorher hatte dieselbe 3°,8 (Ver- 
such 20), 4 Tage vorher 3°,4 (Versuch 21) betragen. 

Reichert's u, du Bois-Reymond's Archiv. 1861. 3 


84 Liebermeister: 


tiefer gelegener Körpertheile bei gewissen Einwirkungen auf 
die äussere Haut, welches im zweiten Artikel aus theoretischen 
Gründen vorausgesetzt wurde (Jahrg. 1860 $. 591). Es scheint 
nämlich die Berührung der Haut mit sehr warmem Wasser in ähn- 
licher Weise, wie die Berührung mit-einem kalten Medium, im er- 
sten Momente der Einwirkung eine Contraction der Muskeln 
der Haut und vielleicht auch der Gefässe zu bewirken, in Folge 
deren eine „Intropulsion* des Blutes entsteht; wenigstens be- 
obachtete Bergmann!) an sich selbst und an Anderen öfters, 
dass ein Bad von 30° R. anfangs Gänsehaut bewirke. 

Für die Verwerthung des Versuches war es von grösster 
Wichtigkeit, den Zeitpunkt zu bestimmen, von welchem an die 
Temperatur der Körperoberfläche gleich der Temperatur der 
geschlossenen Achselhöhle und somit gleich der Temperatur 
des Badewassers war. Zu dem Ende wurde von Zeit zu Zeit 
die Kugel des im Wasser schwimmenden Thermometers in die 
rechte Achselhöhle und zwischen die Kniee genommen.?) Es 


1) Müller’s Archiv, Jahrg. 1845, S. 317, Anmerkung. 

2) Die bei diesem Versuche befolgte Methode ist die einzige, ver- 
mittelst deren es gelingen kann, für die Temperatur freier Flächen 
des Körpers ein zuverlässiges Maass zu erhalten, Alle anderen Me- 
thoden, vermittelst deren man versucht hat, die Temperatur der Ober- 
fäche zu bestimmen, leiden an dem Fehler, dass entweder nicht die 
ganze Thermometerkugel gleichmässig die zu bestimmende Temperatur 
annimmt und in Folge dessen die Angaben des Thermometers bei 
Weitem zu niedrig (oder bei höherer Temperatur des umgebenden 
Mediums zu hoch) ausfallen, oder dass die freie Fläche durch Bedek- 
kung oder durch Umwandlung in eine Höhle (Achselhöhle, Hohlhand) 
eine Temperatur erhält, welche sehr verschieden ist von der zu be- 
stimmenden Temperatur. Ich bin überzeugt, dass die für diesen be- 
stimmten Fall sehr nahe liegende Methode auch für andere Fälle einen 
grossen Werth erlangen wird; namentlich wird es möglich sein, nach 
dieser Methode über die bisher durchaus ungenügend erforschten Ver- 
hältnisse der Temperatur der Oberfläche im Frost-, Hitze- und Schweiss- 
Stadium von Fieberanfällen, über die Verschiedenheiten der Tempe- 
ratur der Oberfläche bei schweren Cireulationsstörungen, bei Entzün- 
dungen oberflächlich gelegener Theile, über die Temperatur der Haut 
im Stadium algidum der Cholera u. s. w. Aufschlüsse zu erhalten, die 
ein grosses theoretisches und vielleicht auch praktisches Interesse dar- 
bieten würden. Man würde die Bestimmung der Temperatur einer Stelle ' 


Physiologische Untersuchungen über die Veränderungen u. s. w. 35 


zeigte sich, dass die Ausgleichung der Temperatur der rechten 
Achselhöhle bereits erfolgt war zu einer Zeit, als noch ein 


der äusseren Haut, z. B. der Oberfläche eines Fingers, etwa in fol- 
gender Weise ausführen: In ein nicht zu kleines Gefäss bringt man 
Wasser, dessen Temperatur möglichst nahe gleich ist der vorauszu- 
setzenden Temperatur der zu untersuchenden Fläche; in dieses Was- 
ser wird die Kugel eines empfindlichen Thermometers eingetaucht, und, 
wenn das Thermometer die Temperatur des Wassers anzeigt, berührt 
man die Thermometerkugel unter Wasser während einiger Secunden 
in möglichst grosser Ausdehnung mit der Oberfläche des Fingers. Ist 
die Temperatur der berührenden Hautstellen nicht sehr nahe gleich 
der vom Thermometer angezeigten Temperatur des Wassers, sondern 
2. B. höher, so wird: in Folge der Berührung ein Steigen des Ther- 
mometers erfolgen, und man kann dann mit Sicherheit schliessen, dass 
die Temperatur der zu prüfenden Hautstelle höher ist, als der nach 
der Berührung von dem Thermometer angezeigte Grad, Wählt man 
dann eine höhere Temperatur des Wassers und findet bei der Berüh- 
rung der 'Thermometerkugel, dass das Thermometer sinkt, so ist mit 
der gleichen Sicherheit nachgewiesen, dass die Temperatur der zu 
prüfenden Hautfläche tiefer liegt, als der zuletzt von dem Thermometer 
angezeigte Temperaturgrad. Man erhält auf diese Weise zwei Werthe, 
zwischen denen jedenfalls der zu suchende Temperaturgrad liegt. 
Durch zweckmässige Fortsetzung der Untersuchung würde man diese 
 Grenzwerthe einander beliebig nähern und der Temperaturbestimmung 
jeden geforderten Grad von Genauigkeit geben können, wenn nicht 
allmälig in Folge der Berührung des Theiles mit Wasser die Tempe- 
ratur desselben wesentlich verändert würde; aus diesem Grunde wird, 
wenn man nicht bei der ersten Bestimmung eine einigermassen pas- 
sende Temperatur des Wassers gewählt hat, der Versuch oft nur einen 
oberen oder einen unteren Grenzwerth ergeben. Man kann aber durch 
Anstellung von Vorversuchen das vollkommene Gelingen einigermassen 
sicherstellen. Beabsichtigt man z. B. die Temperatur der Oberfläche 
eines Fingers der rechten Hand zu bestimmen, so führt man zunächst 
als Vorversuch eine oberflächliche Bestimmung der Temperatur eines 
oder mehrerer Finger der linken Hand aus; geht man dann zur Be- 
stimmung der Temperatur der gewählten Hautfläche über, so wird man 
vor dem ersten Eintauchen die Temperatur des Wassers so wählen 
können, dass die Bestimmung einen hohen Grad von Genauigkeit er- 
hält. Einige, bisher freilich nur wenig zahlreiche, in dieser Weise 
angestellte Versuche haben mir durchaus befriedigende Resultate er- 
geben; zuweilen gelang es nach einer genügenden Zahl von Vorver- 
suchen, die Temperatur des Wassers so zu wählen, dass im entschei- 
denden Versuche beim ersten Eintauchen weder ein Steigen noch ein 


3* 


36 Liebermeister: 


deutliches Sinken des zwischen die Kniee eingeklemmten Ther- 
mometers stattfand. 

Machen wir vorläufig die für die erste Zeit des Versuches 
jedenfalls unrichtige Voraussetzung, dass die in jedem einzel- 
nen Zeitintervalle beobachtete Steigerung der Temperatur der 
geschlossenen Achselhöhle einer gleichmässigen Steigerung der 
Temperatur des ganzen Körpers entsprochen habe, welche nur 
auf Rechnung der während dieser Zeit stattfindenden Wärme- 
production zu setzen sei, so muss aus der Zusammenstellung 
der als Wärmeproduction in den einzelnen Intervallen erhal- 
tenen Werthe der Zeitpunkt sich ergeben, von welchem an jene 
Voraussetzung richtig wird, sobald wir die Wärmeabgabe an 
die Luft vernachlässigen. Es muss dieser Zeitpunkt dann ein- 
getreten sein, wenn die für gleiche Zeiträume berechneten Wär- 
mequantitäten positive und annähernd gleiche Werthe erhalten; 
und wir können, wenn dies sich herausstellt, voraussetzen, dass 
von diesem Zeitpunkte an die Temperatur aller inneren und 
äusseren Körpertheile sehr nahe gleich der Temperatur des 
Wassers war, und dass eine Temperaturausgleichung zwischen 
dem Wasser und der Körperoberfläche nicht mehr stattfand. 

Zu einer Berechnung der während der einzelnen Intervalle 
des Versuches produeirten und zur Steigerung der Körpertem- 
peratur verwendeten Wärmequantitäten ist die Kenntniss der 
mittleren Wärmecapacität des Körpers unumgänglich nothwen- 
dig. Die bisher von Crawford, Kirwan, Dalton, J. 
Davy ausgeführten Untersuchungen über die Wärmecapacität 
einzelner thierischer Substanzen sind zu einer genauen Ermit- 
telung dieser Grösse nicht ausreichend; doch ergiebt sich aus 
den Bestimmungen der genannten Forscher mit einiger Sicher- 
heit, dass die mittlere Wärmecapacität des menschlichen Kör- 
pers zwischen 0,80 und 0,85 liegt. Ich habe, wie bei den frü- 


Sinken des Thermometers stattfand; in einem solchen Falle ist die zu 
bestimmende Temperatur sehr nahe gleich der Temperatur des Was- 
sers. Statt des Wassers könnte natürlich auch jedes andere Medium 
dienen, dessen Temperatur schnell genug nach Willkür innerhalb der 
erforderlichen Grenzen verändert und mit Hülfe des Thermometers be- 
stimmt werden kann. 


Physiologische Untersuchungen über die Veränderungen u. s., w. 37 


heren, so auch bei den folgenden Berechnungen den Werth 0,83 
zu Grunde gelegt und daher die Wärmecapaecität meines 51,8 
Kgr. schweren Körpers gleich der von 43 Kgr. Wasser gesetzt. 
Die nachstehende Zusammenstellung giebt die unter dieser Vor- 
aussetzung berechneten Werthe. Wir haben aber auch in die- 
sem Falle zu berücksichtigen, dass wegen der geringen Aus- 
dehnung der einzelnen Intervalle eine einigermassen genaue 
Uebereinstimmung nur dann erwartet werden kann, wenn meh- 
rere kleinere Intervalle zu grösseren zusammengefasst werden. 
In der letzten Columne sind die durch Zusammenziehung der 
Intervalle erhaltenen Mittelwerthe verzeichnet. 


Dauer Quantität der Wärme, welche 
des während 1 Minute zur Erwärmung 
Versuches des Körpers verwendet wurde 
0 — + — 2,9 Cal. —2,9 Cal. 
4 au — 2,0 b>) — 2,0 >) 
et BT, iz 
Br ’ >) 
10° —13° He | re 
13° — 164° +12 „ +12 „ 
164'— 191° +15 „ 5 
Sr Dr » id, 
214 —23’ 3 » » 
23° —27' 1,0 
1 29% 11a RN. f 
Re ae 
Iren 9 e) » 
341’_371° +14 „ 2 
371. — 431. a, h 
451'—491° +11 „ +13 „ 
491'—52' +12 „ £ 
52° —553° 4 r 


Obwohl die Werthe für die kleineren Intervalle grosse 
_ Schwankungen darbieten, so geht doch aus denselben deutlich 
hervor, dass spätestens nach Ablauf von 16'/, Minuten das 
stationäre Verhältniss vorhanden war, nach dessen Eintritt die 
Erwärmung des Körpers für alle Theile so gleichmässig statt- 
fand, dass die Beobachtung der Temperatur einer einzelnen 
Körperstelle einen Schluss auf die Quantität der Wärmepro- 
duction zulässt. Die genaue Uebereinstimmung der Zahlen der 
letzten Columne beruht zum Theil auf der willkürlichen und 
zweckmässigen Auswahl der zusammenzuziehenden Intervalle; 
aber auch wenn man die Zusammenziehung in irgend einer 


38 Liebermeister: 


anderen Weise vornähme, so würde, vorausgesetzt dass die In- 
tervalle gross genug genommen werden, eine genügende Ueber- 
einstimmung der Resultate sich ergeben. Die Zusammenstel- 
lung zeigt, dass in einem Bade, dessen Temperatur allmählig 
von 37°,4 bis 38°,8 gesteigert wird, bei einem Körpergewicht 
von 51,8 Kgr. ausser der durch die Lungen und den unbe- 
deekten Theil des Gesichtes abgegebenen Wärmemenge in jeder 
Minute 1,3 bis 1,4 Cal. produeirt werden. Unter Berücksich- 
tigung der Frequenz und Tiefe der Respiration, der "Differenz 
der Temperatur des Körpers und der äusseren Luft, so wie 
des Umstandes, dass die oberhalb des Badewassers befindliche 
zur Inspiration dienende Luft eine höhere "Temperatur besass 
und vollständiger mit Wassergas gesättigt war, als die übrige 
Luft des Baderaumes, ergiebt sich aus einer überschlägigen 
Rechnung, dass die an die Luft abgegebene Wärmequantität 
trotz der gesteigerten Temperatur des Körpers nicht wesent- 
lich grösser sein kann, als die unter gewöhnlichen Verhältnis- 
sen durch Gesicht und Lunge abgegebene. Wir erhalten da- 
her das Resultat, dass im Bade von 37°,4 bis 38°,8 innerhalb 
der Dauer des Versuches eine geringe Steigerung der Wärme- 
production stattfindet. — Es geht ferner aus dem Versuche 
hervor, dass ungefähr eine Viertelstunde erforderlich ist, bis 
in einem Bade, dessen Temperatur immer der in der geschlos- 
senen Achselhöhle beobachteten Temperatur gleich ist, eine 
vollständige Ausgleichung der Temperatur aller Körpertheile 
stattgefunden hat. 

Ich schliesse einen anderen schon lange Zeit vorher ange- 
stellten Versuch an, dessen Resultate nur mit Hülfe der Data 
des eben mitgetheilten Versuches berechnet und mit den Resul- 
. taten dieses letzteren verglichen werden können. 


23. Versuch. 13. Juni 1859. Nachmittag. ’ 

Der Versuch wurde im Wesentlichen in derselben Weise 
angestellt, wie der 22. Versuch; doch wurde der Stand des 
Thermometers in der Achselhöhle nur zu Anfang und zu Ende 
des Bades aufgezeichnet. Die Temperatur des Badewassers 
wurde fortwährend sehr nahe der Temperatur der Achselhöhle 
erhalten; das Maximum der Differenz betrug 0°,1. Vor Be- 
ginn des Versuches zeigte das in die Achselhöhle eingelegte 
Thermometer während längerer: Zeit 37,90, nach einer Dauer 


Physiologische Untersuchungen über die Veränderungen u; s. w. 39 


des Bades von 40 Minuten 38,78. Während des Bades betrug 
die Pulsfrequenz 120 Schläge in der Minute. Nach dem Aus- 
. steigen aus dem Bade blieb der Stand des T'hermometers bei 
einer Lufttemperatur von 24°,5 etwa eine Minute lang auf der 
früheren Höhe und fiel dann im Laufe einer Viertelstunde 
während des langsamen Abtrocknens und Ankleidens bis auf 
37,92; während dieser Zeit war Schweiss vorhanden. ?/, 
Stunden nach dem Bade, nachdem ich bereits eine Viertel- 
stunde lang ruhig gelegen und gelesen hatte, zeigte das Ther- 
mometer in. der Achselhöhle 37,42. Mein Körpergewicht 
schwankte zu dieser Zeit zwischen 51 und 51,5 Kgr. 


Setzen wir voraus, dass auch bei diesem Versuche erst nach 
Ablauf einer Viertelstunde die Ausgleichung der Temperatur 
erfolgt sei, und dass bis zu dieser Zeit noch kein wesentliches 
Steigen der Temperatur der Achselhöhle stattgefunden habe, 
so betrug, abgesehen von der an die Luft abgegebenen Wärme, 
die während der letzten 25 Minuten producirte Wärmequantität 
öl. 0,83 - (38,78—37,90) = 37,3 Cal., und die in einer Minute 
produeirte Quantität 1,5 Cal. 

Wir finden also aus beiden Versuchen übereinstimmend, 
dass im Bade von 37°,4 bis 38°,8 die Wärmeproduction 
um ein Geringes die unter gewöhnlichen Verhält- 
nissen stattfindende mittlere Production übersteigt. 
Da aber ohne Zweifel auch unter gewöhnlichen Verhältnissen 
die Intensität der Wärmeproduction bei verschiedenen Indivi- - 
duen und zu verschiedenen Zeiten verschieden ist, und da wir 
statt eines Mittelwerthes für die normale Production nur ge- 
wisse Grenzwerthe aufzustellen im Stande sind, so ist bei der 
geringen Grösse der gefundenen Steigerung noch nicht mit 
genügender Sicherheit nachgewiesen, dass die Wärmeproduc- 
tion während des warmen Bades grösser gewesen sei, als die 
unter gewöhnlichen Verhältnissen zu derselben Tageszeit 
und beiannähernd gleicher geistiger und körperlicher Be- 
schäftigung stattfindende Produetion. Jedenfalls ist, da wäh- 
rend der Versuche die Körpertemperatur eine beträchtliche 
Steigerung erlitt und das Allgemeinbefinden wesentlich gestört 
war, durch dieses Resultat keineswegs die zu Anfang dieses 
Artikels ausgesprochene Vermuthung widerlegt, dass nämlich 
eine mässige Beschränkung des Wärmeverlustes, bei welcher 


40  NLiebermeister: Pbysiologische Untersuchungen u. s. w. 


eine bedeutende Steigerung der Körpertemperatur vermieden 
würde, eine Verminderung der Wärmeproduction bewirken 
könne. Vielleicht würde nach einer ähnlichen Methode, wie 
die im 18. und 19, Versuche angewandte, diese Frage sich ent- 
scheiden lassen, obwohl bei einer höheren Temperatur des 
Wassers der durch die spontane Abkühlung bedingte Fehler 
nur schwer eine hinreichend genaue Öorrection zulassen dürfte. 
Da mir in der nächsten Zeit die Vorrichtungen fehlen, welche 
zu dergleichen Versuchen erforderlich sind, so muss ich die 
Entscheidung dieser in theoretischer und praktischer Beziehung 
äusserst wichtigen Frage auf günstigere Gelegenheit hinaus- 
schieber, oder sie überhaupt anderen Forschern, denen die Ge- 
legenheit geboten ist, überlassen. Vorläufig besitzt schon das 
bisher erreichte Resultat einige Wichtigkeit. Wenn wir die 
enorme Steigerung der Pulsfrequenz berücksichtigen, welche 
durch das heisse Bad hervorgerufen wurde, so zeigt die gleich- - 
zeitig stattfindende nur sehr geringe Steigerung der Wärme- 
production in möglichst directer Weise, dass der Zusammen- 
hang zwischen Pulsfregquenz und Wärmeproduction nicht der 
Art ist, wie er, einer veralteten aus der iatromechanischen Pe- 
riode überkommenen Anschauungsweise gemäss, trotz der Fort- 
schritte der Lehre von der thierischen Wärme auch noch in 
unserer Zeit von vielen Forschern aufgefasst wird. 


= c 


Zum Schlusse dieser drei Artikel lasse ich vorläufig noch 
eine übersichtliche Zusammenstellung der Werthe folgen, welche 
die Wärmeproduction unter den verschiedenen dem Versuche 
 unterworfenen Verhältnissen annimmt; die weitere Verwerthung 
der Resultate wird in einem der folgenden Artikel geschehen, 
Die Zahlen sind für einen Menschen von mittlerem Körperge- 
wichte berechnet, und es wurde, so weit es durch Abschätzung 
möglich ist, auch diejenige Wärmequantität berücksichtigt, 
welche bei den Versuchen von dem freien Theile des Gesichtes 
und durch die Respiration an die Luft abgegeben wurde. 


August Weismann: Ueber die Musculatur des Herzens u. s. w. 41 


In einer Minute werden produecirt: 
Unter gewöhnlichen Ver- 


hältnissen im Mittel . . .„.. 1,8 Cal. 
Im Vollbade von 37°,4—38°,8 22 „ . Versuch 22 und 23. 
Im Sitzbade von 6°—15°. . 236 „ (9) Johnson. 


Bei unmittelbarer Berüh- 
rung der ganzen Körper- 
oberfläche mit Luft von 
a ae Tl Saar 2), Versuch 1. 2,26, 8, 
13, 14, 15. 
Im Vollbade von 30° 1.2.39 120. MIR E 
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Ueber die Museulatur des Herzens beim Menschen 
und in der Thierreihe. 


Von 


Dr. August WEISMANN in Frankfurt a. M. 
(Hierzu Taf. T.—III.) 


Die Elemente des Herzmuskels vom Menschen, welche man 
bisher mit dem Namen Primitivbündel belegte, bieten mannig- 
fache Eigenthümlichkeiten dar, welche sie von den Primitiv- 
bündeln der übrigen Muskeln unterscheiden. Die auffallendste 
darunter ist ihre Verästelung und Anastomosenbildung, welche 
seit Kölliker als ein Hauptcharakteristikum der Primitivbün- 
del des Herzens gegolten hat. Es ist die Aufgabe der vorlie- 
genden Arbeit, zu zeigen, dass die Muskelbündel des Herzens 
den Primitivbündeln der übrigen Muskeln überhaupt nicht ent- 
sprechen, sondern auf ganz andere Weise zu Stande kommen 
als diese, dass man mithin am besten die Bezeichnung von 
„Frimitivbündeln* für die musculösen Elemente des Herzens 
ganz fallen lässt. 

Die Primitivbündel des Herzens unterscheiden sich nach 
K ölliker!) von denen der willkürlichen Muskeln durch ihre 


1) Handbuch der Gewebelehre, S, 536. 


42 August Weismann: 


geringere Dicke, durch ihr sehr zartes, ja selbst gar nicht nach- 
weisbares Sarkolemma, durch das bekannte körnige Aussehen 
und durch ihre Anastomosen. Ich möchte hier gleich noch auf 
einige weitere Verhältnisse hindeuten, die auf einen tieferen 
Unterschied zwischen den Elementen beider Muskelarten schlies- 
sen lassen. Wenn wir mit Remak,!) Lebert?) und Kölli- 
ker?) ein Primitivbündel als das Aequivalent einer einzigen 
Zelle betrachten, als ein Gebilde, dessen Haupteigenthümlich- 
keit eben darin besteht, dass es primitiv, d. h. aus Einem hi- 
stologischen Element enstanden ist, so ist es von vorn herein 
nicht wohl möglich, diesen Namen auf die vielfach anastomo- 
sirenden, endlosen Muskelbündel des Herzens anzuwenden. 
Ein Primitivbündel hat seine beiden Ansätze, mit welchen es 
zwar eng und fest verbunden, gegen welche es aber auch be- 
stimmt abgegrenzt ist, es läuft von Sehne zu Sehne (den Aus- 
druck allgemein genommen, als bindegewebiger Ansatzpunkt). 
Am Herzen giebt es aber Ansatzpunkte nur an seinem oberen 
Ende, an den Ostia venosa, an der Aorten- und Pulmonalis- 
mündung, die Muskelzüge beschreiben zum Theil grosse Schlei- 
fen oder Achtertouren um die Spitze des Herzens herum wie- 
der nach oben, Man kann schon deshalb nicht annehmen, dass 
Bündel von so complicirtem Verlauf aus Einer Zelle sich ent- 
wickelt haben sollten, um so weniger, als sie niemals isolirt 
verlaufen, sondern vielfache Anastomosen mit ihren Nachbarn 
bilden. Es entsteht auf diese Weise ein so dichtes Geflecht, 
dass es auch in dem kleinsten Stückchen Herzmuskel, welches 
man unter dem Mikroskop betrachtet, nicht gelingt, ein soge- 
nanntes Primitivbündel eine längere Strecke hin zu verfolgen, 
man geräth bei der fortwährenden Anastomosenbildung. stets 
in Verlegenheit, welche Partie man als Fortsetzung des beob- 
achteten Bündels zu betrachten hat. 


1) Ueber die Entwickelung der Muskelprimitivbündel. Froriep’s 
Notizen No. 768. 

2) Recherches sur la formation des muscles dans les animaux ver- 
tebres. Ann. des Sciences natur. 3. Serie. t. 11. p. 349. 

3) Entwickl. d. Muskelfaser der Batrachier. Zeitschr. f. wiss. 
Zoologie. Bd. IX. 5. 141. 


Ueber die Musculatur des Herzens beim Menschen u. s, w. 43 


Wird somit schon bei der einfachen Betrachtung des Ge- 
webes wahrscheinlich, dass hier ein ganz eigenthümlicher Ent- 
wickelungsgang zu Grunde liege, so erhält die Sache doch erst 
durch die Beobachtung der histologischen Structur des Herzens 
in der Thierreihe und seiner embryonalen Entwickelung ihre 
vollkommene Klarheit. 

Für die Wirbelthiere nahm man bisher an, dass, ganz 
wie beim Menschen, sich häufig verästelnde und anastomosi- 
rende Primitivbündel den Herzmuskel zusammensetzten. Durch 
ein mehr gekörneltes Ansehen, eine geringere Breite soll- 
ten sie sich von den Muskeln, welche dem Willen unter- 
worfen sind, unterscheiden, „sowie dadurch, dass fast kein Bin- 
degewebe zwischen den Primitivbündeln sich findet (Leydig, 
Histolog. S. 410). 

Für Säugethiere und Vögel kann ich eine dem mensch- 
lichen Herzen ganz analoge Zusammensetzung bestätigen, allein 
schon bei den Amphibien zeigen sich bedeutende Unter- 
schiede. Am frischen Herzen des Frosches lassen sich durch 
Zerreissen in Wasser blasse, körnige Muskelbalken von ver- 
schiedener, in der Regel aber ziemlich erheblicher Dicke dar- 
stellen, welche sich vielfach theilen und mit einander verbin- 
den, so dass ein dichtes Geflecht zu Stande kommt. Auf Zu- 
satz von Essigsäure treten zahlreiche, in jeder Tiefe des Balkens 
liegende, ovale Kerne hervor, zugleich quillt die contractile 
Substanz auf und wird blass und es erscheinen eine Menge 
von Längsstreifen, welche häufig im spitzen Winkel auf ein- 
ander treffen. Diese Streifen lassen bereits die eigentliche 
Structur des Muskelbalkens erkennen, indem sie nämlich die 
Conturen der Zellen sind, aus welchen der Balken zusammen- 
gesetzt ist (Fig. I.). Behandelt man den Herzmuskel des Fro- 
sches mit der Kalilösung') von 35pCt., so zerfällt er nach kur- 
zer Zeit in meist einkernige Zellen mit quergestreiftem Inhalt. 
Diese sind im Ganzen von spindelförmiger Gestalt, doch meist 


1) Das Genauere über die Einwirkung dieser Lösung auf Mus- 
kelgewebe ist in meiner Arbeit über das Wachsen der quergestreiften 
Muskeln angegeben. Zeitschr. f. rat. Med. 3. Reihe. Bd. X. S. 264. 


44 August Weismann: 


ziemlich unregelmässig gebildet, in mehrere Spitzen auslaufend, 
zwei- oder dreizinkig, überhaupt mehr oder weniger von der 
Grundform abweichend (Fig. Il.), bald schmal und nicht breiter 
als der ovale Kern (0,00357') (Fig. II.a und b), bald breit 
und dann ganz dünn, blattartigmitbuchtigen Rändern und von ein- 
zelnen dickeren Streifen contractiler Substanz durchzogen, ähn- 
lich wie ein Blatt von seinen Rippen; manchmal auch sendet eine 
solche platte, breite Zelle noch schmale Ausläufer von ziemli- 
cher Länge aus (Fig ll. f.) Stets enthalten die Zellen wenigstens 
Einen ovalen Kern mit Kernkörperchen, zuweilen auch deren 
zwei (Fig. II. g). Die Länge der Kerne beträgt 0,0053‘, ihre 
Breite 0,00357'‘, die Länge der Zellen schwankt bedeutend, 
von 0,0505‘ bis zu 0,1011‘ und ebenso die Breite von 0,00357' 
bis 0,0297", Ihre Dicke ist überall nur gering, sie sind alle 
mehr oder weniger platt, am dünnsten sind die breiten blatt- 
ähnlichen Zellen, welche, auf der Kante stehend, dünnen Fa- 
sern von etwa 0,00058‘' Durchmesser gleichen. Allein aueh an 
diesen lässt sich eine feine Querstreifung meist über ihre ganze 
Fläche hinziehend deutlich erkennen; gegen den Kern hin, oft 
auch an den Rändern her ziehen die vorhin erwähnten dicke- 
ren Streifen contractiler Substanz mit dunklerer Querstreifung 
(Fig. D. f und 9). 

Diese Zellen stellen die Muskelbalken her, indem sie sich 
nach Art der musculösen Faserzellen der organischen Muskeln 
aneinander legen und durch den an anderer Stelle bereits be- 
sprochenen Gewebekitt!) zusammengehalten werden, dessen all- 
gemeine Verbreitung sich auch durch dieses Beispiel wieder von 
Neuem bestätigt. Die Muskelbalken des Ventrikels und der 
Vorhöfe verhalten sich ganz gleich, die Zusammensetzung des 
Truneus arteriosus aus „einfach verlängerten Zellen mit quer- 
gestreiftem Inhalt“ ist bereits von Leydig (Histologie 5.410) 
nachgewiesen worden. Die Zellen des Truncus arteriosus un- 
terscheiden sich von denen des Herzens nur durch ihre regel- 
mässigere Gestalt, sie sind meistens einfach spindelförmig 
(Fig. III. a und b. 


1) A. a. 0. 8, 265. 


Ueber die Muscenlatur des Herzens beim Menschen u. s. w. 45 


Die Isolirung der Zellen gelingt mittelst der Kalilauge äus- 
serst leicht; beim Zerzupfen kleiner Stückchen erhält man im- 
mer viele, welche frei umherschwimmen und deren Ausläufer 
und Zacken vollkommen erhalten sind. Häufig auch findet 
man einzelne Balken, deren Zellen zwar von einander gelöst 
sind, aber doch noch die ursprüngliche Lagerung beibehalten 
haben. Es lässt sich alsdann deutlich beobachten, wie die un- 
regelmässigen Aeste und Zacken der einen Zelle in die Zwischen- 
räume und Ausbuchtungen der anderen genau hineinpassen, 
Die Aeste der Zellen entsprechen nicht immer den Verzwei- 
gungen der Balken, sondern sie kommen auch mitten in gerade 
verlaufenden Balken vor, an der Theilungsstelle eines Balkens 
aber theilt sich regelmässig auch die Mehrzahl der ihn consti- 
tuirenden Zellen; geht von dem Balken ein Ast rechtwinklig 
ab, so zeigen auch die Zellen rechtwinklige Ausläufer, oder 
erleiden einfach eine rechtwinklige Knickung (Fig. II. k). 

Eine gemeinsame Hülle besitzen die Muskelbalken nicht 
und auch Bindegewebe findet sich nur sehr spärlich in den 
' Maschenräumen; Capillaren aber oder überhaupt eigene Blut- 
gefässe fehlen gänzlich. Hyrtl!) hat vor zwei Jahren bereits 
die Entdeckung gemacht, dass das Herzfleisch der Amphibien, 
wie auch der grossen Mehrzahl der Fische keine ernährenden 
Gefässe besitze, sondern dass hier die Muskelbalken ein Fach- 
werk bilden, „dessen Lücken den Hohlräumen eines cavernösen 
Baues gleichen und dem Herzblut gestatten, in die Muskelwand 
des Herzens bis zu einer gewissen Tiefe einzudringen und die 
Fleischbalken der Wand zu umspülen.* Hyrtl hat durch mi- 
kroskopische Injectionen diese eigenthümlichen Verhältnisse 
nachgewiesen, indessen ist es nicht schwer, auch ohne Injec- 
tionen sich von dem Fehlen der Capillaren zu überzeugen, 
Denn hat man ein Stück Froschherz in der Kalilauge macerirt, 
entfernt dann zuerst den Perikardialüberzug, der sich ganz 
leicht loslösen lässt und zerzupft das Herzfleisch selbst, so 
findet man kein einziges Capillargefäss zwischen den sich iso- 
lirenden Zellen, wohl aber viel geronnenes Blut, welches in 


1) Ueber gefässlose Herzen. Wien. Sitzungsberichte XXXII. 572. 


46 August Weismann: 


unregelmässigen wurstförmigen Stücken zwischen den Balken 
eingelagert ist. | | 

An Querschnitten vom getrockneten Herzen, welche nicht 
in Wasser, sondern in Kalilauge von 35pÜOt. aufgeweicht wur- 
den, lässt sich ebenfalls die directe Umspülung der Balken mit 
Blut und der Mangel von Gefässen klar erkennen. Man sieht 
dann die Lücken, welche zwischen den Balken bleiben, von 
rothbraunen Blutresiduen von unregelmässiger Gestalt ausge- 
füllt (Fig. IV. ce). | | 

Was den Querschnitt der Balken selbst angeht, so ist die- 
ser, wie bereits bemerkt wurde, von keiner gemeinsamen Hülle 
umgeben, die Zellen liegen ziemlich dicht aneinander, ihr Quer- 
schnitt ist von rundlicher oder ovaler oder auch unregelmäs- 
siger ‚Gestalt (Fig. IV.). 

Die von Reichert angegebenen Reagentien zur Isolirung 
der Faserzellen organischer Muskeln, Salz- oder Salpetersäure 
von 20pCt., zerlegen auch die Balken des Froschherzens in 
Zellen, indessen bedarf es häufig nicht einmal eines besonderen 
Reagens, um sie nachzuweisen. Wenn das Gewebe etwas sorg- 
fältig mit Wasser zerzupft wird, so sieht man schon sehr oft 
an den abgerissenen Enden der Balken einzelne Zellen hervor- 
stehen, in manchen Fällen sogar ganze Büschel von Zellen 
(Fig. 1.) und besonders bei Herzen, welche schon einen Tag 
gelegen haben, gelingt es gar nicht selten, einzelne durch blos- 
ses Zerzupfen vollkommen zu isoliren (Fig. II. m.) 

Die Herzmusculatur des Frosches besteht also aus einem 
Geflecht anastomosirender Muskelbalken, welche ihrerseits wie- 
der aus Zellen zusammengesetzt sind. Diese werden nicht 
durch eine gemeinsame Umhüllungsmembran zusammengehalten, 
sondern lediglich durch die sie verkittende Zwischensubstanz. 
Die Balken verdienen demnach gewiss nicht die Bezeichnung 
von Primitivbündeln, sondern dem Primitivbündel entspricht 
nur eine jede der den Balken zusammensetzenden Zellen. 

Ganz ebenso wie beim Frosch verhält sich das Herz der 
übrigen Amphibien, nur die Gestalt der Zellen verändert sich 
theilweise. So z. B. bei Triton, wo die grosskernigen Zellen 
meist vier lange und schmale Ausläufer absenden (Fig. V.d). 


Ueber die Muscenlatur des Herzens beim Menschen u, s. w. 47 


Auch bei einigen Reptilien wiederholte sich dieselbe Structur. 
So bei Lacerta agilis, deren Zellen nur unbedeutend von de- 
nen des Frosches abweichen. Bei Coluber natrie dagegen 
liessen sich viele Balken des Herzens nicht mehr, oder nicht 
mehr vollständig in Zellen trennen; dieselben waren theilweise 
zusammen verwachsen und bildeten so Bündel von verschiedener 
Dicke, indem ein jeder Balken durch lange und zahlreiche 
Längsspalten in Bündel zerklüftet war. Die Zusammensetzung 
der Bündel aus Zellen liess sich auch da, wo die Verschmel- 
zung vollständig zu Stande gekommen, sehr wohl erkennen, 
die Grenzlinie zwischen den Zellen war meistens noch deutlich 
sichtbar. In seltenen Fällen gelang es, eine Zelle zu isoliren 
(Fig. V.e). So das Verhalten bei Behandlung mit der Kali- 
lösung; ohne Reagentien sieht man hier wie beim Frosch die 
Muskelbalken quergestreift und zugleich von Längsstreifen 
durchzogen. Bei Zusatz von Essigsäure wird eine lockere bin- 
degewebige Schicht mit kleinen Kernen deutlich, welche die 
Balken umgiebt. Das Herz der Ringelnatter bildet den Ueber- 
gang zu dem der Kreuzotter, in welchem sich gar keine Zellen 
mehr isoliren lassen. Die Muskelbalken haben einen Durch- 
messer von 0,0169" bis zu 0,035'' und sind zusammengesetzt 
aus Bündeln verwachsener Zellen von ebenfalls verschiedener 
und in Folge vielfacher Anastomosenbildung rasch wechselnder 
Dieke. Es ist ganz dasselbe Verhältniss wie bei Coluber, der 
Balken erscheint von vielen Spalten zerklüftet, die dadurch 
entstehenden Abtheilungen, die Bündel, lassen meist sehr deut- 
lich noch ihre Entstehung aus verschmolzenen Zellen er- 
kennen.!). 

Ich habe nachzuholen, dass auch beim Frosch sich zuweilen 
die beginnende Verschmelzung der Zellen zeigt. Besonders bei 
alten Individuen finden sich nicht gar selten Zellen, welche 
deutlich aus zweien zusammengesetzt sind, die Verwachsungs- 
linie ist sichtbar erhalten, und die beiden Kerne befinden sich 


1) Von Vipera Berus, wie von Coluber standen mir nur Exem- 
plare zu Gebote, welche bereits einige Tage in Spiritus gelegen hat- 
ten, es wäre nicht unmöglich, dass dies die leichte Isolirbarkeit der 
Zellen schon etwas beeinträchtigt hätte. 


48 August Weismann: 


zu beiden Seiten derselben. Stellenweise aber sind auch sämmt- 
liche Zellen ganzer Balken zu Bündeln mit einander verwach- 
sen, ganz so, wie es bei Coluber und Vipera Berus die Re- 
gel ist. 

An die Structurverhältnisse der Reptilien würden sich die 
Vögel und Säugethiere unmittelbar anschliessen, da es lediglich 
die etwas weiter vorgeschrittene Verschmelzung der Zellen ist, 
welche das Gewebe ihres Herzens von dem der Reptilien un- 
terscheidet; indessen wird es nicht ohne Interesse sein, vorher 
noch das Herz der niederen Thierel assen einer kurzen Be- 
trachtung zu unterwerfen. 

Zuerst die Fische. 

Von den Teleostiern habe ich als einzigen Stachelflosser 
Perca fluviatilis untersucht und als Repräsentanten der Weich- 
flosser Esox lucius, Cyprinus Carpio und Barbus, und Leueis- 
eus rutilus und nasus. Im Wesentlichen fanden sich bei allen 
die gleichen Verhältnisse. Ohne Anwendung. von Reagentien 
sieht man ein Flechtwerk von Muskelbalken mit starker Längs- 
streifung (von den Rändern der Zellen herrührend) und feiner 
scharfer Querstreifung; am Schnittende zersplittern sie oft in 
Fasern auseinander, welche ebenfalls Querstreifung erkennen 
lassen und beim Hecht 0,00297“' im Durchmesser betragen. 
Auf Essigsäurezusatz treten eine Menge kleiner Kerne hervor 
von 0,00238‘'' Länge und breitovaler Gestalt. Eine besondere 
Hülle fehlt den Balken. i 

Mit Kalilösung zerlegen sich die Bündel in Zellen, ganz 
ähnlich denen vom Frosch, theils von einfach spindelförmiger 
Gestalt, theils ästig, stets mit wenigstens einem, zuweilen auch 
mit zwei oder drei dicht beisammen liegenden Kernen (Fig. 
V.f.g.h). Verwachsungen der Zellen finden sich selten, nur 
bei Leweciscus rutilus sind sie mir mehrmals begegnet, bei Leu- 
eiscus nasus dagegen liessen sich alle Zellen leicht isoliren. 
Die Länge der Zellen wechselt entsprechend der Grösse des 
Thieres, bei kleineren Exemplaren von Weissfischen sind sie 
sehr schmal und kurz, während sie bei grösseren Individuen 
denen vom Hecht gleichkommen. Bei diesem beträgt die 
grösste Länge einer Zelle 0,0608‘ bei einer Breite von 0,00350'', 


Ueber die Musculatur des Herzens beim Menschen u. s. w. 49 


während der ovale Kern 0,00409'': in der Länge und 0,00233% 
in der Breite misst. 

Leider hat mir bis jetzt die Gelegenheit gefehlt Ganoiden 
und Plagiostomen frisch zu untersuchen; bei ihnen pulsirt be- 
kanntlich der Truncus arteriosus und Leydig giebt an, er be- 
stehe aus Zellen mit quergestreiftem Inhalt, wie bei den Ba- 
trachiern. ‘Auf diese Beobachtung gestützt, möchte ich es für 
sehr wahrscheinlich halten, dass auch das Gewebe des Her- 
zens selbst sich aus isolirbaren Zellen zusammensetzt, wenn 
auch sonst erhebliche Unterschiede in dem Bau des Herzens 
der Ganoiden und der Teleostier bestehen: während bei Letz- 
teren ein ernährender Gefässapparat den Herzwandungen gänz- 
lich fehlt (Hyrtl), und das Blut direct in das Maschenwerk 
der Muskelbalken eindringt, findet sich bei den Ganoiden und 
Plagiostomen eine reiche Gefässvertheilung in allen Schichten 
des Herzfleisches.!) 

Das Herz der Arthropoden, in seinen gröber anatomi- 
schen Verhältnissen weit weniger entwickelt, als das der nie- 
deren Wirbelthiere, steht an histologischer Ausbildung seiner 
Museculatur diesen voran. 

Als Repräsentant der höher entwickelten Crustaceen hat 
‘ mir der Flusskrebs gedient. Wie überall im Herzen, so ist 
auch bei diesem die Musculatur zu Balken angeordnet, welche 
ein ziemlich dichtes Geflecht bilden und ihrerseits wieder aus 
dünneren anastomosirenden Muskelbündeln bestehen (Fig. VI.). 
Jedes dieser Bündel besitzt eine homogene Hülle, welche mit- 
telst verdünntem Natron leicht deutlich zu machen ist, die 
Querstreifung ist eben so stark und deütlich, wie an den übri- 
gen Muskeln, ebenso finden sich in den Balken zerstreut die- 
selben mächtigen ovalen Kerne von 0,00993‘ Länge und 0,00584'' 
Breite, dagegen unterscheiden sich die Herzmuskeln von den 
übrigen Muskeln des Krebses durch die geringere Dicke ihrer 
primitiven Elemente, indem ein Primitivbündel aus den Schee- 


1) Von Interesse wäre es, die herzartig pulsirenden Gefässstämme 
des am einfachsten organisirten Fisches, Amphioxus lanceolatus in 
Bezug auf die Musculatur zu untersuchen. Mir stand das Thier in 
frischem Zustande nicht zu Gebot. 

Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv. 1861, 4 


50 August Weismann: 


renmuskeln durchschnittlich etwa 0,1019“ im Durchmesser 
misst, während ein Balken des Herzens nur 0,0584"! und 
eines der ihn constituirenden Bündel nur 0,00175‘' misst. 

Ein weiterer Unterschied liegt in der Anordnung der con- 
tractilen Substanz, welche im Herzen zwar auch quergestreift 
ist, dagegen nicht Fibrillen bildet; mir ist es wenigstens auf 
keine Weise gelungen, solche darzustellen. 

Eben so wenig gelingt es die Bündel in Zellen zu zerlegen; 
mit der Kalilösung ‚behandelt zerbrechen sie beim Zerzupfen 
in unregelmässige Stücke von verschiedener Länge und unbe- 
ständiger Form, niemals aber lässt sich eine Zelle aus ihnen 
isoliren. Das Herz der höheren Urustaceen steht insofern dem 
der Säugethiere weit näher, als das der Fische und Amphibien. 
Indessen wird, wenn auch directe Beobachtungen an Krebsem- 
bryonen noch fehlen, durch die später mitzutheilenden Beob- 
achtungen über die embryologische Entwickelung der Herzmus- 
culatur der höheren Wirbelthiere und des Menschen die Ent- 
stehung der Muskelbalken aus Zellen auch bei den Arthropoden 
sehr wahrscheinlich werden; ich glaube sogar mit Sicherheit 
annehmen zu können, dass nicht nur die Muskelbalken des 
Herzens, sondern alle netzförmig verzweigten Muskeln der Ar- 
thropoden auf ähnliche Weise entstehen, wie ich es später von 
den Herzmuskeln der Säugethiere zeigen werde, d.h. ein jedes 
Bündel aus einer Anzahl verschmelzender Zellen, so dass bei 
den verzweigten Muskeln der Arthropoden, : vor Allem. bei 
denen des Darmes, von Primitivbündeln so wenig die Rede 
sein kann, wie bei den Muskelbündeln im Herzen des Menschen. 

Bei den Insecten’ finden sich wesentlich dieselben Ver- 
hältnisse, wie bei den höheren Krebsen. Die Muskelbalken 
bilden ein etwas weniger dicht ineinandergeschobenes Netz- 
werk, die Structur desselben verändert sich nicht; . wir finden 
“überall baumförmig sich verästelnde, quergestreifte, kernhaltige, 
nicht in Fibrillen. zerfallende Muskelbündel mit selbständiger, 
homogener Hülle, welche sich mit der Kalilösung von 35 pCt. 
nicht in Zellen zerlegen lassen. 

In dem Kreis der Würmer kommt bekanntlich kein eigent- 
liches Herz vor, sondern nur pulsirende Gefässstämme. Die 


Ueber die Musculatur des Herzens beim Menschen u. s. w. 51 


Contractilität derselben ist bedingt durch eine Muskelschicht, 
bestehend aus spiralig verlaufenden, ausserordentlich grossen 
Zellen. Leydig'!) sagt darüber: „Die Muscularis hat Ring- 
und Längenmuskeln (Hirudo z. B.), die aber beide nicht streng 
eirculär und longitudinal verlaufen, sondern an Flechtwerke 
erinnern. Die Fasern der Ringmuskeln sind breiter als die der 
Längsmuskeln.* Das Aussehen von Ring- und Längenmuskeln 
kommt dadurch zu Stande, dass die sehr langen Zellen spiral- 
förmig das Gefäss umwinden. Während das breite Mittelstück 
der Zelle oberflächlich und nahezu ringförmig liegt, steigen die 
Enden, bedeckt von dern Mittelstücken der folgenden Zellen, 
schräg an dem Gefäss hinab. Es wird somit erklärlich, wes- 
halb die „Längenmuskeln* Leydig schmäler schienen als die 
„Ringmuskeln“, indem die langen Enden der Zellen schmäler 
sind, als der mittlere, den Kern enthaltende Theil. 

Mit Kalilösung ist es nicht schwer, die Zellen zu isoliren, 
jedoch brechen sie dabei meist in Stücke, wie es durch ihren 
das Gefäss umspinnenden spiralförmigen Verlauf erklärlich 
wird. Es ist aber meist sehr leicht, die zusammengehörigen 
Stücke zu finden, besonders wenn sie sich bei der Isolirung 
nicht gerade gestreckt, sondern, obgleich zerbrochen, die Spi- 
' ralwindung beibehalten haben. Gewöhnlich sind ihre Enden 
einfach, nur selten gespalten, nie baumartig verästelt. In jeder 
Zelle liegt ein Kern (Fig. VI.) Die Anordnung der contrac- 
tilen Substanz innerhalb der Herzzellen ist dieselbe, wie in den 
Zellen der übrigen Muskeln, sie trennt sich in eine homogene, 
glänzende Rindenschicht und eine sehr feinkörnige, matte 
Achsenschicht. Andeutung von Querstreifung ist nicht vor- 
handen. 

So verhält es sich beim Blutegel; das lange Rückengefäss 
des Regenwurms zeigt eine Muskelschicht, welche aus einfach 
spindelförmigen Zellen mit schwer sichtbarem, kleinem, kreis- 
rundem Kern besteht. 

Mollusken. 

Bekanntlich besitzen die meisten Mollusken einen sehr aus- 


1) Lehrbuch d. Histologie. S. 438. 
4* 


52 August Weismann: 


gebildeten Kreislauf, es findet sich bei ihnen ein eigentliches 
Herz, oft sogar mit mehreren Kammern. Demgemäss ist auch 
die Musculatur desselben eine complieirtere, als bei den Annu- 
laten; sie verhält sich bei den Gasteropoden in folgender 
Weise. 

Ich nehme Helix pomatia als Beispiel. Hier bestehen Vor- 
hof und Kammer aus einem Geflecht von Muskelbalken, welche 
von verschiedenem Durchmesser mannichfach unter einander 
anastomosiren, ohne Anwendung von Reagentien, blass, körnig 
und undeutlich längsstreifig erscheinen und stellenweise kleine, 
ovale Kerne mit Kernkörperchen erkennen lassen (Fig. VIll.). 
Letztere treten bei Zusatz von Essigsäure massenweise hervor 
und liegen in jeder Tiefe der Balken. Die Balken besitzen 
keine besondere Hülle, das Netzwerk, welches sie bilden, ist 
im Vorhof ein viel weitläufigeres, im Ventrikel dagegen ziem- 
lich dicht. Mit der Kalilauge von 35pCt. behandelt zerfallen 
sämmtliche Balken in Zellen von eigenthümlicher Gestalt. Im 
Ganzen herrscht zwar auch hier die Spindelform vor, allein sie 
findet sich selten regelmässig ausgebildet, So sind die Ränder 
der Zellen nicht wie bei Fischen und Amphibien glatt und 
von geradem, schlankem Uontur begrenzt, sondern mannichfach 
gebuchtet und gekerbt. Hierdurch entstehen Querfalten auf der 
Fläche der platten Zelle, welche leicht für partielle Querstrei- 
fung angesehen werden könnten, obgleich der contractile In- 
halt selbst hier niemals das Phänomen der Qnerstreifung zeigt. 

Im Vorhof finden sich häufig baumartig verästelte Zellen 
mit gabelig getheilten Enden, doch sind die Seitenäste immer 
nur kurz und fein (Fig. IX.d). Die Länge der ganzen Zelle 
beträgt im Mittel etwa 0,0595‘”, die kleinen, kreisrunden oder 
ovalen Kerne bilden eine Hervorragung und sind zuweilen von 
dem übrigen Theil der Zelle mit einem schmalen Stiel abge- 
schnürt (Fig. IX. d). Die Breite der Zellen variirt von 0,00119‘' 
bis 0,0029; der Kern hat eine Länge von 0,0029. 

Die Zellen des Ventrikels sind länger und breiter als die 
des Vorhofes, sonst verhalten sie sich ebenso, doch herrscht 
hier die unregelmässige Spindelforım mehr vor und feine Ver- 
ästelungen an den Enden finden sich seltener (Fig. IX.b. b), 


Ueber die Musculatur des Herzens beim Menschen u. s. w. 53 


meist liegt nur Ein Kern in jeder Zelle, zuweilen auch zwei; 
einmal sah ich einen Kern, der in der Theilung begriffen war. 
Die Länge der Zellen beträgt hier 0,105'’—0,137'", die grösste 
Breite 0,0064. 

Bei allen von mir untersuchten Schnecken fand ich im We- 
sentlichen denselben Bau des Herzens, d. h. ein Maschenwerk 
von Muskelbalken, welche aus isolirbaren Zellen zusammenge- 
setzt sind. Grösse und Gestalt der Letzteren wechselt aber 
mannichfach. So sind sie bei Arion empiricorum sehr breit, 
platt und lang, und statt baumförmiger Verzweigungen finden 
sich einfach diehotomische Theilungen (Fig. IX.a.a). Auch 
hier sind die Ränder der Zellen fast immer gekerbt in Folge 
von Faltungen der Zellmembran, welche auch auf der Fläche 
zu erkennen sind, und, wenn sie dicht auf einander folgen, 
leicht Querstreifung simuliren können. 

Untersucht habe ich ausser Helic pomatia und nemoralıs, 
sowie Arion empiricorum noch Limaz agrestis und Limnaeus stag- 
nalis; der Paludina vieipara konnte ich leider in diesem Som- 
mer nicht habhaft werden, Dass auch sie dieselben Verhält- 
nisse darbietet, wird mir vor Allem durch die Beschreibung 
Leydig’s") wahrscheinlich. Er fand nämlich im Herzen der 
ausgewachsenen Paludina „als letzte Elemente der Flerzmus- 
keln 0,002—0,006''' breite Röhren“, sah aber auch „einigemale 
zellenähnliche Körper, deren Fortsätze sich mit den Aesten 
von Muskelröhren verbanden“, und schliesst aus diesen getheil- 
ten Primitivröhren, „dass der Herzmuskel sich aus sternförmi- 
gen Zellen entwickelt“, welche Vermuthung ihm die Beobach- 
tung an Embryonen bestätigte. 

So wird es wohl kein voreiliger Schluss sein, wenn man 
annimmt, dass der eben beschriebene Bau des Herzens für alle 
Gasteropoden gilt, ja wahrscheinlich für alle Mollusken, die 
ein wirkliches Herz besitzen. Wenigstens fand ich auch bei 
einem Acephalen, bei Anodonta, das Herz von ganz ähnli- 
cher Struetur: ein Netz von Muskelbalken, deren Zusammen- 
setzung aus Zellen sich bei mehrstündiger Einwirkung der Kali- 


1) Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. II. S, 125. 


54 August Weismann: 


lauge leicht constatiren liess. . Es isoliren sich so. platte, ‚blät- 
terartige, langgestreckte Zellen, mit unregelmässigen, oft, ge- 
zackten und gebuchteten Rändern, mit meist Einem, zuweilen 
auch zwei neben einander liegenden kleinen Kernen von 
0,0035‘ Länge, mit einem ‚oder zwei Nucleolen., Die: Länge 
der Zellen war stets viel geringer als bei den Zellen der: übri- 
gen Muskeln des Thieres, z. B.. der ‚Schliessmuskeln,. sie ‚be- 
trägt ‚selten über 0,0934; eigentliche Verästelung kommt an 
ihnen nicht vor, doch finden sich ‚öfters:kurze, schmale. An- 
hängsel und die Enden fahren. nicht selten in mehrere kurze 
Spitzen auseinander, ganz ähnlich wie. bei den Muskelzellen im 
Vorhof der Schnecken. :Was. den: contractilen: Inhalt betrifft, 
so hat sich dieser häufig, aber nicht immer, in eine homogene 
Rinden-. und eine körnige Achsenschicht getrennt, ähnlich. wie 
bei den Annulaten, nur weit unvollkommener;'an solchen Zel- 
len sieht man die peripherische Schicht als schmalen, homo- 
genen, stark lichtbrechenden Saum an den Rändern. Quer- 
streifung ist nicht. vorhanden. | Ä 

"Ueber das Herz der ‚Cephaloden, sowie über das der hö- 
bean Radiaten besitze ich keine Beobachtungen, | 

‘Ich kehre zu den Wirbelthieren zurück. Oben wurde be- 
reits angeführt, dass. der wesentlichste Unterschied : zwischen 
dem Gewebe’ des Herzens der höheren und dem der niederen 
Wirbelthiere darin besteht, dass bei ersteren die Zellen, welche 
die Balken ursprünglich  zusammensetzten,- im reifen Zustand 
mit, einander verschmelzen, während sie bei Fischen und nack- 
ten Amphibien das ganze Leben hindurch unverschmolzen blei- 
ben. Die Identität beider ‚Gewebstypen ist trotzdem leicht 
nachweisbar: das embryonale Herz der Vögel und Säuger bietet 
. nahezu denselben Bau, wie das ausgebildete Herz der niederen 
Wirbelthiere. | 

Das Herz des Hühnchens im Ei in seiner ersten Anlage, 
noch ehe es begonnen hat, sich zusammen zu ziehen, besteht 
aus denselben grossen, polygonalen Embryonalzellen mit ova- 
lem blasigen Kern, wie auch: die.übrigen Theile des Embryo; 
kurze Zeit später aber, sobald regelmässige Contractionen zu 
‚Stande gekommen sind, trennt: sich. .die. Zellenmasse. in. drei 


Ueber die Musculatur des Herzens beim Menschen u, s. w. 55 


Schichten, deren beide ‚äussere sich nicht verändern, während 
in der mittleren die Zellen mehr oder minder regelmässige 
Spindelform annehmen und sich in schmalen Zügen aneinander 
legend mannichfach durchkreuzen, 
_  Nieht nur in ‚so früher Embryonalperiode besteht das Herz 
aus isolirbaren Zellen, es behält diese Zusammensetzung bis 
zur Zeit der vollständigen Ausbildung des Fötus. So fand ich 
bei einem Hasenfötus von 14 Cent. Länge, der vollständig. be- 
haärt und nahezu ausgetragen war, das Herz von folgendem 
Bau. Beim Zerzupfen eines Stückchens Herzmuskel in Wasser 
liessen sich nur ziemlich dicke, anastomosirende Muskelbalken 
erkennen, aus deren abgerissenen Enden schmale, blasse Fasern 
mit:grossem ovalen Kern unregelmässig hervorstanden. Quer- 
streifung war so nicht deutlich zu erkennen. Bei Behandlung 
mit der Kalilösung; zerfielen die Balken in Massen von Zellen, 
welche alle viel kleiner, aber oft von ähnlicher Form wie die 
des Froschherzens waren. Ihre: Gestalt war im Ganzen eine 
spindelförmige, oft mit mehreren Spitzen, selten förmlich ver- 
ästelt (Fig. X.a.a), oft aber auch ganz unregelmässig, blatt- 
artig (Fig. X.b.b).. Querstreifung liess sich an ihnen oft sehr 
maärkirt: beobachten, auf fanden sich öfter wieder dieselben 
‘ Blattrippen ähnlichen Verdickungen, wie bei den Muskelzellen 
des Frosches und die Aneinanderlagerung der Zellen zu Balken 
geschah ganz in derselben Weise wie dort. Der ovale kern- 
körperhaltige Kern fehlte niemals und mass 0,00409''' in der 
Länge, während die grösste Länge einer Zelle 0,0251‘ betrug. 

Ich. füge hinzu, dass die willkürlichen Muskeln desselben 
Embryo bereits aus vollkommen ausgebildeten Primitivbündeln 
zusammengesetzt waren von 0,00175''—0,00526‘'' Durchmesser 
mit deutlicher Querstreifung-und :oberflächlich liegenden kleinen 
Kernen von 0,00409—0,00467'!! Länge. 

Ganz ähnlich verhält sich das Herz des menschlichen Em- 
bryo... Auch hier sind die Balken aus im Ganzen spindelför- 
migen Zellen zusammengesetzt, deren jede einen, nicht selten 
auch zwei ovale Kerne enthält und deren Inhalt, in frühester 
Periode homogen, allmählig von der Peripherie her querstreifig 
wird. Im vierten Monat fand ich bereits deutliche, scharfe 


56 August Weismann: 


Querstreifung, nicht selten über die ganze Breite der Zelle 
herüber. 

Das Herz eines menschlichen Fötus von sechs Monaten, 
welcher lebend geboren worden war und geathmet hatte, zeigte 
mit Wasser zerzupft längsstreifige Balken mit deutlichen Ker- 
nen und stellenweise scharfer, aber zarter Querstreifung. Es 
gelang zuweilen so schon, einzelne Zellen isolirt zu erhalten 
(Fig. XI. A.a. u. b), bei Behandlung mit Kali aber isolirten 
sie sich in Masse und zeigten dann eine meist regulär spindel- 
förmige Gestalt (Fig. XI.B.b.b.c.d), selten noch einen drit- 
ten Ausläufer (Fig. XI. B.a), stets einen oder zwei ovale 
Kerne und einen Inhalt, der meist total quergestreift war, zu- 
weilen auch nur in seiner Rindenschicht, nicht selten aber auch 
war er homogen und nur von einzelnen Körnchen besetzt. Eine 
besondere Hülle der Balken fand sich auch hier nicht. Die 
Länge und Dicke der Zellen war etwas grösser als bei jün- 
geren Embryonen, erstere betrug 0,0263''—0,0303“.' Den 
Kern sah ich mehrmals in deutlicher Theilung begriffen (Fig. 
XI.B.c). Bei diesem Fötus waren die willkürlichen Muskeln 
bereits sehr weit entwickelt, ihre Primitivbündel unterschieden 
sich nur noch durch die geringe Dicke von denen des Er- 
wachsenen. 

Der hiermit gewonnene Ueberblick über den Bau der Herz- 
musculatur in der Thierreihe in Verbindung mit der Kenntniss 
der embryonalen Verhältnisse der höheren Wirbelthiere wird 
das Verständniss des ausgebildeten Gewebes beim Herzen der 
höheren Wirbelthiere und des Menschen eröffnen können. Die 
Grundlage desselben bilden die Muskelbalken, die je nach dem 
Alter des Thieres und entsprechend der Species eine verschie- 
dene Dicke haben, bei allen aber ein dichtes, vielfach anasto- 
mosirendes Geflecht oder Netzwerk darstellen. Diese Balken 
waren beim Embryo, wie wir gesehen haben, aus dachziegel- 
artig aneinander gelagerten Zellen zusammengesetzt, welche, 
ohne gemeinsame Hülle, nur durch den Gewebekitt zusammen- 
gehalten wurden. So finden wir auch im ausgebildeten Ge- 
webe keine gemeinsame Hülle, welche den ganzen Balken um- 
gäbe, die Zellen aber, aus welchen er beim Embryo zusammen- 


Ueber die Musculatur des Herzens beim Menschen u. s, w. 57 


gesetzt war, verschmelzen zu einer Anzahl von Bündeln, welche 
ganz wie die Balken im Grossen, so hier innerhalb des Bal- 
kens mannichfach unter einander anastomosiren und ein Netz- 
werk mit längeren oder kürzeren Maschen bilden (Fig. XII.). 
Dies sind die Primitivbündel der Autoren, ich möchte sie ein- 
fach Muskelbündel des Herzens nennen, zum Unterschied von 
den grösseren Abtheilungen, den Muskelbalken; den Namen 
von Primitivbündeln verdienen sie in keiner Weise, da ein jedes 
von ihnen nicht aus einer histologischen Einheit, aus Einer 
Zelle hervorgeht, sondern ohne Ausnahme aus mehreren, ge- 
meiniglich aus vielen. 

Dass nicht sämmtliche Zellen eines Balkens mit einander 
verschmelzen, sondern innerhalb eines jeden Balkens wiederum 
ein Flechtwerk von Bündeln entsteht, mag wohl mit der ur- 
sprünglichen Richtung der Zellenzüge innerhalb des Balkens, 
so wie mit der Gefässvertheilung zusammenhängen; dass die 
Verschmelzung ziemlich vollständig vor sich geht, davon kann 
man sich am besten an Querschnitten vom getrockneten Her- 
zen überzeugen (Fig. XIII. A.). Ein jedes Bündel erscheint 
hier von einem deutlichen Sarkolemma umgeben, offenbar ent- 
standen durch Verschmelzung eines Theiles der Zellmembranen. 
Von diesem aus setzen sich keine Scheidewände in das Innere 
des Bündels fort, ein Beweis, dass der nicht zum Sarkolemma 
umgewandelte Theil der Zellmembranen verschwindet. Indessen 
lässt sich doch auch am entwickelten Gewebe bei Säugethieren 
und Vögeln die ursprüngliche Zusammensetzung aus Zellen oft 
recht deutlich erkennen. Bei Behandlung eines Stück Herz- 
muskels mit der Kalilösung erhält man eine Masse von Bruch- 
stücken der Bündel, welche meist an der Theilungsstelle abge- 
brochen und daher mehr oder weniger kurz sind. Diese Bruch- 
stücke zeigen häufig deutlich die ursprüngliche Zusammen- 
setzung aus Zellen, indem schräge Linien über sie hinziehen, 
denen entsprechend die nie fehlenden Kerne vertheilt sind 
(Fig. XIV.). Ä 

Die Anordnung der contractilen Substanz innerhalb der 
Bündel ist nicht wesentlich verschieden von der der willkürli- 
chen Muskeln; Querstreifung findet sich constant und auch die 


58 '" August Weismann: 


Scheidung in Fibrillen ist vorhanden, wenn sie sich'auch nur 
schwer nachweisen lässt. Durch einfaches Zerzupfen in Was- 
ser. habe ich wenigstens beim Ochsen ein Zersplittern der Mus- 
kelbündel in Fibrillen von grosser Feinheit (0,00043‘'') gesehen. 
Weder bei den Amphibien und Fischen, noch auch an dem 
Herzen der Arthropoden ist mir dies jemals gelungen, was bei 
Letzteren um so auffallender erscheinen muss, als die willkür- 
liehen: Muskeln dieser Thiere (ich erinnere an den er 
so ausserordentlich leicht in Fibrillen zerfallen. 

' Hierher gehört auch eine Besprechung des bekannten gra- 
nulirten Aussehens der Herzmuskeln. Der Querschnitt eines 
jeden Bündels zeigt z. B. bei der Maus (Fig. XI. A) eine 
Menge kleiner, dunkelconturirter, starkglänzender Kreise, welche 
nicht Fibrillenquerschnitte sind (diese müssten zwischen ihnen _ 
liegen, sind aber niemals deutlich zu erkennen), sondern eben 
jene Körner, welche das sranulirte Ansehen des Bündels in 
der Längenansicht bedingen. Merkwürdig ist, dass fettig ent- 
artete Muskelprimitivbündel aus willkürlichen Muskeln einen 
ganz ähnlichen Querschnitt darbieten, mit eben denselben glän- 
zenden Körnern durchsetzt (Fig. XI1l.B). Es liegt nahe, die 
Körner ‚der Herzmuskelbündel mit dem raschen Stoffwechsel 
in Verbindung zu bringen, der nothwendig bei ‘der ununter- 
brochenen Thätigkeit des Herzmuskels stattfinden muss; aber 
auffallend ‘wäre es immerhin, wenn der BRückbildungsprocess 
bei beschleunigtem Stoffwechsel, wie ihn angestrengte Thätig- 
keit bedingt, und der Rückbildungsprocess bei mangelnder Thä- 
tigkeit und stockendem Stoffumsatz (fettige Entartung) auf ein 
und dieselbe Weise vor sich ginge. | 

Fassen wir die Ergebnisse der Untersuchung zusammen, so 
‚hat’sich gezeigt, dass das Grundelement des musculösen Ge- 
webes ‘des Herzens in der ganzen Thierreihe die Muskelzelle 
ist. Das Herz in seiner einfachsten Form als contractile Röhre 
besitzt bei den Würmern nur eine dichte Lage spiralig verlau- 
fender grosser Muskelzellen, welche weder anastomosiren, noch 
init einander verschmelzen und deren contractiler Inhalt zwar 
nicht quergestreift ist, allein doch bereits eine eigenthümliche 
Sonderung'in eine, Rinden- und eine Achsensubstanz besitzt. 


Ueber die Musculatur des Herzens beim Menschen u. s. w. 59 


Bei den: viel complieirter gebauten Herzen der Mollusken fehlt 
diese Sonderung, die contractile Substanz ist glatt und voll- 
kommen homogen, die Zellen aber, in welehen sie eingeschlos- 
sen ist, liegen‘ nicht mehr einfach neben einander, sondern 
haben sich zu Muskelbalken zusammengeordnet, welche dann 
ein complicirtes Netzwerk zusammensetzen. Die Zellen ver- 
wachsen nicht untereinander, sie bleiben auch im erwachsenen 
Thier isolirbar. Auf nur wenig höherer Stufe der histologi- 
schen Ausbildung befindet sich das Gewebe des Herzens der 
Fische und Batrachier: auch hier persistiren die Zellen wäh- 
rend des ganzen Lebens (mit einzelnen Ausnahmen), und un- 
terscheiden sich von denen der Mollusken wesentlich nur durch 
die Differenzirung der contraetilen Substanz, welche hier quer- 
gestreift erscheint. Die Anordnung der Zellen zu Balken, die 
Anastomosenbildung dieser letzteren verhält sich im Wesentli- 
chen wie bei den Mollusken, das Gewebe ist freilich schon 
viel compacter und die enge aneinander gefügten Balkennetze 
lassen nur spärliche Zwischenräume der Bluteirculation übrig. 
Bei den Reptilien fangen dann die Zellen an in der bespro- 
chenen Weise mit einander zu verschmelzen und bei Vögeln 
und Säugethieren lassen sich während des selbständigen Lebens 
gar keine Muskelzellen mehr isoliren, sie sind vollständig ver- 
schmolzen zu netzartig anastomosirenden Bündeln, welche ihre 
Entstehung aus Zellen nur noch andeutungsweise erkennen 
lassen, während beim Embryo die Muskelbalken anfänglich aus 
glatten, später aus quergestreiften Zellen bestehen, das Herz 
also, wenn es erlaubt ist sich so auszudrücken, zuerst den 
Bau eines Molluskenherzens, dann den eines Fisches darbietet. 
- In dem‘ Herzen sämmtlicher Arthropoden findet sich im 
Wesentlichen derselbe Gewebstypus wie bei Vögeln und Säu- 
gethieren, d. h. netzförmig anastomosirende, zu Balken grup- 
pirte Muskelbündel mit scharfer Querstreifung und ohne An- 
deutung der Entstehung aus Zellen. 

Wir finden also bei Wirbelthieren und Arthropoden den 
Bau der Musculatur des Herzens erheblich verschieden von dem 
der willkürlichen Muskeln. Es liegt nahe, die eigenthümliche 
‚Stuctur sich in genauer Beziehung zu denken zu der specifi- 


60 "August Weismann: 


schen Art der Reaction des Muskels, der rhythmischen Zusam- 
menziehung. Morphologisch hält der Herzmuskel die Mitte 
zwischen den dem Willen unterworfenen Muskeln und denen, 
welche vom Willen unabhängig sind. Dennoch möchte ich be- 
zweifeln, ob seine specifische Structur ein wesentliches Moment 
zum Zustandekommen rhythmischer Zusammenziehungen ist. Die 
mitgetheilten Beobachtungen unterstützen eine solche Ansicht 
keineswegs: wenn auch das Muskelgewebe des Herzens bedeu- 
tend differirt von dem der willkürlichen Muskeln, so finden 
sich doch so erhebliche Unterschiede in der Structur der Herz- 
musculatur bei den verschiedenen Thierclassen, dass wohl kaum 
dieselbe Reaction (rhythmische Zusammenziehung) bei allen sich 
finden könnte, wenn der histologische Bau des Herzmuskels 
dazu ein wesentliches Bedingniss wäre. Bei Säugethieren, Vö- 
geln und Arthropoden quergestreifte, verästelte Bündel, bei 
Fröschen und Fischen quergestreifte Zellen, bei Mollusken und 
Würmern glatte Zellen führen alle genau dieselben rhythmischen 
Contractionen aus. Dazu kommt noch, dass bei Würmern und 
Mollusken der Unterschied im Bau der Herz- und Stammmus- 
culatur aufhört, beide aus ganz ähnlichen Zellen zusammenge- 
setzt sind und dennoch das’ Herz sich rhythmisch bewegt und 
plötzlich contrahirt, während die dem Willen unterworfenen 
Muskeln sich auf Reizung nur in ziemlich langsam vorrücken- 
der Welle zusammenziehen, wie sich dies am Fuss der Schnecken 
leicht beobachten lässt. 

Wenn nun an so verschiedenem Substrat sich überall wie- 
der dieselbe Art der Bewegung; kund giebt, so scheint mir der 
Schluss unabweislich, dass das Gemeinsame, welches die gleiche 
‚Function bedingt, eben nicht in diesem Substrat zu suchen ist, 
sondern in etwas drittem. Und das möchte hier wohl unzwei- 
felhaft die Art und Weise der Innervirung sein. 

Ich glaube also, dass die histologische Structur des Flense 
muskels für die rhythmische Zusammenziehung an und für sich 
ziemlich gleichgültig ist, und dass die Verschiedenheiten, welche 
hauptsächlich bei den Wirbelthieren zwischen der Musculatur 
des Herzens und in den willkürlichen Muskeln hervortreten, 
nach einer anderen Richtung hin ihre Bedeutung finden, dass 


Ueber die Musculatur des Herzens beim Menschen u. s. w. 61 


nämlich lediglich die besondere Architektur, welche nöthig war 
um einen Hohlmuskel von solcher Stärke zu bilden, die eigen- 
thümliche histologische Structur des Herzens bedingte, und in- 
sofern stehen dann auch wieder Form und Function in genaue- 
stem Zusammenhang. 

Wenn das eben Vorgebrachte richtig ist, so muss die herr- 
schende Ansicht, dass die Art und Weise, wie der Muskel auf 
Reize reagirt, von seiner eigenen histologischen Structur ab- 
hänge, aufgegeben werden; die Ausdrücke „willkürliche* und 
„unwillkürliche* Muskeln sind in dem Sinn, in welchem man 
sie bisher gebrauchte, nämlich als Bezeichnung für bestimmte 
Strueturverhältnisse, fallen zu lassen. Es erscheint weiter von 
geringerer Bedeutung, ob ein Muskel aus Zellen besteht, oder 
aus verschmolzenen Zellen (verzweigten. Bündeln),. oder aus 
Abkömmlingen je Einer Zelle (Primitivbündeln); ebenso auch 
ob der contractile Inhalt quergestreift oder glatt, oder auf 
diese oder jene Weise differenzirt ist. Wenn auch alles dieses 
gewiss nicht gänzlich bedeutungslos ist, so hängt doch die Reac- 
tion des Muskels hauptsächlich von der Art und Weise seiner 
Innervirung ab. 

Dass diese beim Herzen eine andere ist, als bei den will- 
kürlichen Muskeln, wissen wir, wenn auch das Nähere darüber 
noch ziemlich dunkel ist. 


Erklärung der Abbildungen. 


Tafel I. 

Fig. I. Ein Stückchen Herzfleisch aus dem Ventrikel von Rana 
esculenta, ohne Behandlung mit Reagentien frisch in Wasser zerzupft, 
un das Verhältniss der Zellen zu den Balken zu zeigen. Man sieht 
das Netzwerk der Balken, an deren abgerissenen Enden Büschel von 
Fasern hervorstehen. Diese Fasern, deren Querstreifung hier nur 
stellenweise angedeutet ist, sind die Zellen. Vergröss, 150. 

Fig. 1I. Muskelzellen aus dem Ventrikel von Rana esculenta, 
a—1| mit Kalilösung isolirt. a—e verschiedene, hauptsächlich in der 
Längsrichtung entwickelte, der Spindelgestalt nahe kommende Formen; 
f u. g blattartige Formen; h u. i Zellen mit drei Hauptausläufern 
und mehreren zinkenartigen Fortsätzen; k eine rechtwinklig geknickte 
Zelle aus der Theilungsstelle eines Balkens; 1 zwei blattartige, mit 
einander verwachsene Zellen, 


62 August Weismann:'Üeber die Musculatur des Herzens u. s. w 


m. Eine ohne Anwendung von Reagentien isolirte Zelle.  Ver- 
gröss. 390. IT 

Fig. III. Zwei Muskelzellen aus dem Truncus arteriosus. des 
Frosches, mit Kalilösung isolirt. Vergröss. 350. 

Fig. IV. Querschnitt vom getrockneten Herzen des Frosches mit 
Kalilösung behandelt, zur Verhinderung der Diffusion der Blutreste. 
Man sieht die Querschnitte mehrerer Balken (a), innerhalb derer die 
Querschnitte der Zellen (b) liegen, während in den Räumen zwischen 
den Balken stellenweise dunkle Blutreste (c) eingelagert sind. Ver- 


gröss. 350. 
Tafel II. 


Fig. V. Muskelzellen aus dem Herzen von Amphibien und Fischen 
mittelst Kalilösung isolirt. a, b und c von Lacerta agilis , bei c hat 
sich der Kern getheilt und es scheint sich auch eine Theilung der 
Zelle vorzubereiten. 

d Von Triton taenvatus; 

e von Coluber nairiz; 

f, g u. h. von Cyprinus Carpio. j 

Fig. VI: Ein Muskelbalken aus dem Herzen ‚des Flusskrebses mit 
Kalilösung behandelt, um die Zusammensetzung desselben aus anasto- 
mosirenden Bündeln zu zeigen. Die Kerne sind nicht mitgezeichnet. 
Vergröss. 350. 

Fig. VII. Eine Muskelzelle aus dem contractilen Seitengefäss 
(Herz) des Blutegels, mitielst Kalilösung isolirt. a der Kern, b Rin- 
denschicht, c. Achsenschicht. Vergröss. 350. 

Fig. VII. Aus dem Vorhof von Heliz nemoralis:; Muskelbalken 
verschiedener Dicke ein Netzwerk bildend in natürlicher Lagerung und 
ohne Anwendung von Reagentien. a die Balken, b die Kerne. Ver- 


gröss. 390. 
Tafel III. 


Fig. IX. Muskelzellen aus dem Herzen von Sehnecken, mit Kali- 
lösung isolirt. aa aus dem Ventrikel von Arion empiricorum; bb aus 
dem Ventrikel von Helix pomatia; cc und d aus a Vorhof von 
Helix pomatia. WVergröss. 350. 

Fig. X. Muskelzellen aus dem Herzen eines reifen Hasenfötus, 
mit Kalilösung isolir. aa von nahezu spindelförmiger Gestalt; bb 
unregelmässig, blattartig. Vergröss. 350. 

Fig. XI. Muskelzellen aus dem Herzeu eines sechsmonatlichen, 
menschlichen Fötus. A ohne Reagens. Bei a ist bereits über die 
gauze Fläche der Zelle Querstreifung sichtbar, bei b noch gar keine, 
sondern der Inhalt der Zelle ist, mit Ausnahme einer dünnen, homo- 
genen Rindenschicht, feinkörnig. 

B mit Kalilösung behandelt. Bei c ein sich theilender Kern. 
Vergröss. 350. | Ä 


Fig. XI. Ein sich theilender Muskelbalken aus dem Herzen der 


P. L. Panum: Ueber die einheitliche Verschmelzung u. s. w. 63 


Hausmaus, um das Verhältniss der Bündel zum Balken zu zeigen. 
Mit Kalilösung behandelt. a Balken, b die Bündel, ce die Kerne der 
Bündel. Vergröss. 350: 

Fig. XIII. A Querschnitt vom getrockneten Herzen der Haus- 
maus in Wasser aufgeweicht. aa Querschnitte der Bündel. B Quer- 
sehnitt vom getrockneten Schenkelmuskel der Maus. aa Querschnitte 
normaler Primitivbündel; bbb Querschnitte fettig entarteter Primitiv- 
bündel.. Vergröss. 350. 

Fig. XIV... Aus dem Herzen der Hausmaus. Einzelne nach Be- 
handlung wit Kalilösung durch Zerzupfen erhaltene Bruchstücke von 
Bündeln. Vergröss. 350. 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschieden- 
artiger Netzhauteindrücke beim Sehen mit zweı 
| Augen. 


Von 
Prof. Dr. P. L. Panum. 


In meinen physiologischen Untersuchungen über das Sehen 
mit zwei Augen!) habe ich vor Allem verschiedene bisher theils 
wenig beachtete, theils ganz unbekannte Thatsachen festzu- 
stellen gesucht, und demnächst mich bemüht, die besonders 
durch Volkmann’s Bestrebungen, meiner Meinung nach weit 
über ihre berechtigten Grenzen hinaus ausgedehnten psychi- 
schen Erklärungen in der physiologischen Optik in ihre 
Schranken zurückzuweisen und dahingegen den physiologi- 
schen Momenten der unmittelbaren, rein sinnlichen Empfin- 
dung diejenige Stellung zu vindiciren, die ihnen meiner Ueber- 
zeugung zufolge bei diesen sinnlichen Wahrnehmungen zukommt, 
Ich glaubte meinen Standpunkt hinreichend bezeichnet zu haben, 
indem ich in der Einleitung zu meiner Schrift (S. 2) sagte: 
„Diese Feststellung neuer Thatsachen und die Eroberung eines 
bisher gewöhnlich der Psychologie vindieirten Terrains für die 

1) Physiologische Untersuchungen über das Sehen mit zwei Augen, 


von Dr. P. L. Panum. Mit 57 Bildern. Kiel, Schwers’sche Buch- 
handlung. 1858, 4to, 124 Bogen. 


64 »P. L. Panum: 


Physiologie, ist das Verdienst, das diese Arbeit beanspruchen 
möchte. Nachdem ich die Wechselwirkung der verschiedenen 
Combinationen je zweier Netzhautbilder bei ihrer Vereinigung 
im gemeinschaftlichen Gesichtsfelde kennen gelernt und ihre 
Bedingungen ermittelt hatte, stellte ich die gewonnenen Resul- 
tate am Ende jedes der drei Capitel mit den bisher bekannten 
Thatsachen und Erklärungen zusammen, um den Ueberblick zu 
erleichtern und um eine einheitliche theoretische Auffassung 
vorzubereiten. Wohl fühlend, dass eine vollständige einheit- 
liche Theorie, welche auf die letzten Ursachen zurückgeht, als 
dem Grenzgebiete unseres Wissens angehörig, noch nicht durch- 
geführt werden kann, und vielleicht niemals wird durchgeführt 
werden können, hätte ich gern hiermit die Arbeit beschlossen. 
Wenn ich dennoch im Schlussworte (S. 89—92) einen Versuch 
gemacht habe, die Art und Weise, wie die eigenthümlichen 
Empfindungen des gemeinschaftlichen Gesichtsfeldes zu Stande 
kommen, näher festzustellen, und zum Theil auf die Anord- 
nung der Nervenelemente zurückzuführen, so bin ich mir dabei 
sehr wohl bewusst gewesen, dass dieser Erklärungsversuch nur 
eine Hypothese ist, der ich selbst keinen weiteren Werth bei- 
lege, als dass sie dem Gedächtniss und der Auffassung zu Hülfe 
kommt.“ 

Da ich auf den hypothetischen Theil meiner Arbeit so we- 
nig Gewicht gelegt habe, so würde ich es wohl kaum der 
Mühe werth gefunden haben, einen gegen eine blosse Hypothese 
gerichteten Angriff abzuwehren. Nun ist aber durch ein ganz 
eigenthümliches Missverständniss das einfache Resume gewisser 
Thatsachen als eine von mir aufgestellte Hypothese aufgefasst 
und als solche angegriffen worden, ja diese vermeintliche Hy- 
' pothese, die ich durchaus nicht als die meinige anerkennen 
kann, hat das ganz unverdiente Glück gehabt, bei mehreren 
Verfassern mehr Aufmerksamkeit zu erregen, als die neuen 
Erscheinungen und Thatsachen, die ich mir zum Verdienst an- 
rechnen zu dürfen glaubte. Indem nun eine solche falsche 
Auffassung durch Ruete’s Bemühungen!) sogar populär zu 

1) Das Stereoskop. Eine populäre Darstellung mit zahlreichen 


erläuternden Holzschnitten und mit 20 stereoskopischen Bildern, von 
C. G. Th. Ruete, Leipzig bei Teubner 1860. 8vo. 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s, w. 65 


werden droht, so dürfte es nach gerade für mich an der Zeit 
sein, dieselbe zu berichtigen. Bis dahin war ich theils durch 
andere Arbeiten daran verhindert, theils habe ich es für zweck- 
mässig gehalten, die verschiedenen anderweitigen Auffassungen, 
die meinen Untersuchungen zu Theil werden möchten, abzu- 
warten. 

Während nämlich die übrigen, doch ziemlich zahlreichen 
Resultate meiner experimentellen Analyse des gemeinschaftli- 
chen Gesichtsfeldes bisher unangefochten dastehen, hat meine 
Aufstellung der correspondirenden Empfindungskreise, 
als mit der sogenannten Lehre von den identischen oder cor- 
respondirenden Netzhautpunkten in ihrer ursprünglichen Fas- 
sung unvereinbar, einen lebhaften Widerspruch durch Berg- 
mann,)und Hasner,?) vor Allen aber durch Volkmann?) 
erfahren, während dieselbe von anderen Seiten her Anerken- 
nung gefunden hat.) 


1) Göttingische gelehrte Anzeigen 1859. 106. und 107. 
Stück, den 7. Juli 1859. S. 1055—1063. 

2) Ueber das Binocularsehen, von Dr. Joseph Ritter von 
Hasner, (Aus den Abhandl. der königl. böhm. Gesellschaft der Wis- 
senschaften. V. Folge. 10. Bd.) 

3) Die stereoscopischen Erscheinungen in ihrer Be- 
ziehung zur Lehre von den identischen Netzhautpunkten, 
von Dr. A. W. Volkmann. Im Archiv für Ophthalmologie, heraus- 
gegeben von Arlt, Dondersund Gräfe. V.Bd. 2. Abth. S. 1—100. 

4) Unter Anderem heisst es im Literarischen Centralblatt 
für Deutschland 1858, 11. Dec. No. 50. S. 791: „Unserer Meinung 
nach bestehen die Hauptverdienste des Verfassers vorzüglich in Fol 
gendem: 1) Er hat in seiner experimentellen Analyse den unum- 
stösslichen Beweis geliefert, dass jedem empfindenden Punkte 
auf der einen Netzhaut ein Empfindungskreis auf der anderen in 
der Art correspondirt, dass die gleichzeitige Erregung jenes Punktes 
und eines beliebigen Punktes dieses Kreises eine einige Gesichtswahr- 
nehmung vermittelt. Während so die von Wheatstone ange- 
sriffene Lehre von der Identität der Netzhautpunkte et- 
was modificirt worden ist, hat sie zugleich eine sehr 


"mächtige Begründung gewonnen. 2) Der Verfasser hat bewie- 


sen, dass die Empfindung der Tiefe beim Sehen mit zwei Augen 

nicht nur Sache der Erfahrung ist, sondern dass die unmittelbare Sin- 

nesreaction sehr viel zur Bestimmung jener Empfindung beiträgt. Alle 
Reichert's u, du Bois-Reymond’s Archiv. 1861. 5 


66 P. L. Panum: 


Es dürfte eine kurze Darlegung meiner Auffassung der so- 
genannten Identitätslehre und der durch die neuen Thatsachen 
meiner Meinung nach durchaus nothwendig gewordenen Modi- 
fication derselben, hier einen geeigneten Platz finden, theils um 
mich mit denjenigen Lesern zu verständigen, denen meine Bro- 
chure nicht zu Gesicht gekommen sein sollte, theils um mehr- 
fache Missverständnisse meiner Gegner zu berichtigen, welche 
so wesentlich sind, dass ihre Angriffe meine Auffassung und 
Aufstellung gar nicht treffen. 

Bei der ursprünglichen -Aufstellung der sogenannten Lehre 
von den identischen Netzhautpunkten hatte man die 
Einheit der Empfindung d.h. das Fehlen der Dop- 
pelbilder bei gleichzeitiger Erregung zweier verschiedener 
empfindender Punkte, deren einer in der einen, der andere in 
der anderen Netzhaut liegt, als massgebenden Charakter und 
als Ausgangspunkt für die weitere Entwickelung der Conse- 
quenzen dieser Aufstellung, z. B. für den Horopter, benutzt. 
Zur stärkeren Betonung dieses massgebenden Charakters und 
Ausgangspunktes fügte man noch den Üorollarsatz hinzu, in 


früheren Erklärungsversuche, welche auf demselben streng physiologi- 
schen Boden stehen und bald einen schnellen Wechsel der Accommo- 
dationszustände, bald schnell sich succedirende Veränderungen in dem 
Grade der Sehaxenconvergenz zur 'Erklärung jenes Phänomens an- 
nehmen, waren bekanntlich durch das auch vom Autor wiederholte 
Experiment Dove’s unbrauchbar geworden, welches bewies, däss die 
Empfindung der Tiefe auch bei der Beleuchtung mit den: elektrischen 
Funken statthabe. — Der Verfasser führt nun zur Stütze seiner An- 
sicht den Begriff einer binoculären Parallaxe ein und zeigt in einer 
Reihe von Experimenten, wie auf dem Empfinden derselben die Wahr- 
nehmung der Tiefe beruhe. Mit anderen Worten: die Kreuzungs- 
punkte der Projectionslinie entsprechen der scheinbaren Lage der im 
gemeinschaftlichen Gesichtsfelde sichtbaren Bildpunkte.“ Ferner schrieb 
mir Vierordt bezüglich meiner Schrift: „Die Beschränkung der Iden- 
titätslehre beider Retinae, die Sie aufstellen, ist ein dringendes 
Bedürfniss für die Physiologie; wir wären übel daran, 
wenn die Identität eine absolute wäre. Es dürfte wohl 
glücken, auf dem Versuchswege scharf messend nachzuweisen, dass 
diese Beschränkung immer weiter sich geltend macht, je mehr man » 
auf seitliche Retinapartien kommt u. s. w. u. Ss. w. 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 67 


welchem behauptet wird, dass jeder empfindende Punkt der 
einen Netzhaut mit einem jeden anderen als eben dem iden- 
tischen Netzhautpunkte des anderen Auges niemals eine 
einfache, sondern immer eine doppelte Empfindung, ein 
Doppelbild giebt. Um die ungefähre Lage der in dieser Weise 
aufgestellten identischen Punkte anschaulich zu machen, 
stellte man sich vor, dass die identischen Punkte einander un- 
gefähr decken würden, wenn man die beiden Netzhäute bei 
übrigens unveränderter Lage über einander geschoben dächte, 
und da demnach gleichsam die geographische Lage der iden- 
tischen Punkte beider Netzhäute correspondirt, sagte man, 
könnten die identischen Netzhautpunkte füglich auch corre- 
spondirende Netzhautpunkte genannt werden. Dieser Aus- 
druck: correspondirende Netzhautpunkte, schien inso- 
fern einen Vorzug vor jenem der identischen Netzhautpunkte 
zu verdienen, als die Identität sich ja eben nur darauf 
bezieht, dass sie mit einander eine einheitliche Em- 
pfindung, d. h. keine Doppelbilder geben, keineswegs 
aber auf eine absolute Identität der durch Erregung soge- 
nannter identischer Punkte vermittelten Empfindungen; denn 
dieselben zwei gleichzeitig erregten identischen Punkte vermit- 
teln bei einer jeden verschiedenen Augenstellung eine verschie- 
dene Ortsempfindung im Raum, und durch verschiedene Qua- 
lität der Erregung des einen und des anderen sogenannten 
identischen Punktes kann der Charakter der einheitlichen Em- 
pfindung ein verschiedener werden. Ganz entsprechend war 
übrigens auch der Ausdruck der correspondirenden Netz- 
hautpunkte eigentlich nicht, indem die geographische Lage der 
beim Sehen mit zwei Augen mit einander einfach sehenden 
Punkte wenigstens in der Gegend des Eintritts des N. opticus 
etwas verschoben sein musste. Diese ursprüngliche Aufstellung 
der identischen oder eorrespondirenden Netzhautpunkte sollte 
meiner Meinung nach weder eine Erklärung noch eine Hypo- 
these sein, sondern ein bezeichnender Ausdruck für die 
Thatsachen, so weit sie damals bekannt waren. 

Sobald es sich nun herausstellt, dass die angeführten ver- 
meintlichen Thatsachen nicht exact sind, muss auch der Aus- 

5* 


68 P. L. Panum: 


druck für dieselben verändert werden, wenn er bezeichnend 
sein soll, und mit dem Ausdruck muss die ganze betreffende 
Lehre, welche aus den Consequenzen der vermeintlichen, aber 
nicht exacten Thatsachen aufgebaut ist, den Thatsachenent- 
sprechend modificirt werden. 

Wheatstone wies nun bekanntlich nach, dass zwei etwas 
verschiedene Bilder, deren Bildpunkte bei gleichzeitiger und 
wirksamer Erregung nothwendig auf nicht identische oder 
nicht correspondirende Netzhautpunkte fallen mussten, 
z. B. zwei Kreise, deren Diameter ein wenig, etwa um 1“ 
verschieden sind, im Sammelbilde ein einheitliches Bild d. h. 
ohne Doppelbilder geben können, und hierauf stützte er seinen 
Angriff auf die sogenannte Lehre von den identischen Punkten. 
Wheatstone hatte es aber versäumt, den Beweis dafür zu 
liefern, dass die beiden Bildpunkte hierbei wirklich gleich- 
zeitig und wirksam auf die beiden Netzhäute einwirkten. 
Es könnte daher dem Wheatstone’schen Angriffe gegenüber 
die sogenannte Lehre von den identischen Punkten noch auf- 
recht erhalten werden, indem es z. B. möglich wäre, dass die 
Erregung der beiden Netzhäute nicht wirklieh gleichzeitig 
stattgefunden hätte, sondern dass wirklich correspondirende 
Punkte der beiden Netzhäute nach einander erregt wurden, 
indem unmerkliche und sehr schnelle Augenbewegungen viel- 
leicht bewirkt haben könnten, dass die Nachbilder der ver- 
schiedenen Doppelbilder einander verwischt hätten. Diese Hy- 
pothese stellte Brücke dem Wheatstone’schen Angriffe ent- 
gegen; dieselbe musste jedoch gewaltig erschüttert werden, als 
Dove nachwies, dass zwei stereoskopische Zeichnungen auch 
bei der nur 0,000001 Sekunde dauernden Beleuchtung durch 
den elektrischen Funken zu einem deutlichen körperlichen 
Sammelbilde combinirt werden können. Da Dove mir seine 
Aufmerksamkeit zunächst der körperlichen Erscheinung 
und nicht ausdrücklich den Doppelbildern, auf die es hier 
doch eigentlich ankam, zugewandt zu haben schien, und da es 
nicht aus seinen Angaben zu ersehen war, ob er andere als 
complieirte Bilder zum Versuche benutzt hatte,!) so nahm ich 


1) Vergl. hierzu Dove „Ueber Stereoskopie“ in Poggendorff’s 
Annalen u. s. w. 1860. Bd. COX. S. 494. (E. d. B.-R.) 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 69 


diesen Versuch mit möglichst einfachen Bildern vor und 
richtete meine Aufmerksamkeit ganz besonders eben 
auf die Gegenwart oder Abwesenheit der Doppelbil- 
der, welche ja bekanntlich bei deutlichem körperlichen Effect 
eben so wohl vorhanden sein, als fehlen können. Es zeigte 
sich nun, indem ich z. B. folgendes Objeet benutzte, wobei A 


Fig, 31. 
A B 


12 3 4 


dem linken und B, etwa 60 Mm. von A entfernt, dem rechten 
Auge dargeboten wurde, dass im Sammelbilde, auch bei der 
Beleuchtung durch den elektrischen Funken, zwei einfache Li- 
nien ohne Spur von einem Doppelbilde der einen Linie gesehen 
würden, vorausgesetzt, dass die Abstandsdifferenz der Linien 
1, 2 und der Linien 3, 4 nicht über ein gewisses Mass 
hinausging. Dieser Versuch ist leicht anzustellen, wenn man 
sich einer selbstentladenden Flasche bedient, deren Funken in 
bestimmten Intervallen, etwa 4—5 Mal in der Minute, wieder- 
kehrt. Eben diese regelmässige Wiederkehr des Funkens 
macht es nämlich leicht, die richtige Augenstellung zu finden. 
Das für den gleichen Zweck von Volkmann ersonnene Ta- 
chistoskop mag das Auge weniger angreifen, dafür ist aber auch 
die Dauer der Beleuchtung weniger momentan, obgleich immer- 
hin kurz genug, um die Brücke’sche Hypothese zu widerle- 
gen. — Wenn man dahingegen die Abstandsdifferenz der Li- 
nien 1,2 und 3,4 erheblich grösser macht, so kann man auch 
bei der Beleuchtung durch den elektrischen Funken das Dop- 
pelbild der einen Linie sehr gut und deutlich wahrnehmen, 


70 'P. L. Panum:; 


und man: sieht "bei richtiger Einstellung der Augenachsen im 
Sammelbilde drei, anstatt wie im vorigen Falle zwei Linien. 

Betrachtet man dieses letztere Object bei gewöhnlicher Be- 
leuchtung, so findet man ferner nicht nur, dass die 3. Linie, 
welche sich in der Mitte des Doppelbildes befindet, ihre Lage 
ganz ruhig behauptet, so lange man fixirt, und dass man 
durch Veränderung ihres Fixationspunktes ihre Lage willkür- 
lich bestimmen kann, sondern auch, was schon für sich gegen 
Brücke’s Hypothese spricht, dass die Bewegungen des Ne- 
benbildes der 3. Linie von der einen Hauptlinie zur anderen, 
wie sie bei mangelhaftem oder unbestimmtem Fixiren beob- 
achtet werden können, keinesweges schnell erfolgen, 
sondern so langsam, dass man ihnen sehr gut mit 
der Aufmerksamkeit folgen kann, ohne dass inir- 
gend einer Weise voneinem Verschmelzen der Nach- 
bilder, wie bei den Bildern der stereoskopischen 
Scheibe, die Rede sein könnte. 

Auch noch nach diesem Versuche wäre nicht alle Aussicht 
verloren, die ursprüngliche Aufstellung der identischen oder 
correspondirenden, und der nicht identischen oder nicht corre- 
spondirenden Punkte zu retten, indem man noch folgende Hy- 
pothese für diesen Fall aufstellen könnte. Wenn man nämlich 
annähme, dass die beiden Augen bei Betrachtung obiger Figur 
ungleich accommodirt würden, und dass hierdurch der Ab- 
stand der Knotenpunkte von der Retina in beiden Augen in 
der Weise verändert würde, dass die Retinabilder der Linien 
1, 2 und der Linien 3, 4, unbeschadet ihrer Deutlichkeit, einen 
gleichen Abstand von einander erhielten, so würden ja die Li- 
nien 1, 2 und 3, 4, trotz ihres verschiedenen Abstandes von 
_ einander, im objeetiven Bilde dennoch wirklich auf identische 
oder correspondirende Netzhautstellen gebrackt werden können. 
Die gleiche Erklärung wäre beim Wheatstone’schen Ver- 
suche mit der Verschmelzung zweier Kreise von etwas unglei- 
chem Diameter möglich. . Bei complieirten Bildern trifft die- 
selbe aber nicht zu, denn eine relative Verkleinerung des einen 
und eine relative Vergrösserung des anderen Netzhautbildes 
wäre natürlich nur für das ganze Bild denkbar. Um diese 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 7] 


Hypothese experimentell zu widerlegen, habe ich folgendes Ob 
jeet angegeben: 


Fig. 34. 


ie 


bei dessen stereoskopischer Betrachtung man im Sammelbilde 
(auch bei der Beleuchtung durch den elektrischen Funken) vier 
einfache Kreise ohne Neben- oder Doppelbilder wahrnimmt. 
Ebenso vergeblich würde es endlich sein, wenn man das Ein- 
fachsehen (oder das Fehlen der Doppelbilder) bei gleichzeitiger 
Erregung zweier nicht correspondirender oder nicht identischer 
Netzhautpunkte dadurch erklären wollte, dass mir -abwech- 
selnd der betreffende Netzhautpunkt der einen oder der an- 
deren Retina wirksam erregt worden wäre. Denn schon 
die ganz eigenthümliche Empfindung der Tiefe oder der dritten 
Dimension im Raum, die sich dabei in den angeführten Bei- 
spielen bemerkbar macht, und welche hier beim Sehen mit 
einem Auge ganz fehlt, beweist, dass die entsprechenden Netz- 
hautpunkte beider Augen wirksam erregt werden. Im ersten 
Bilde (Fig. 31) erscheint nämlich die im Sammelbilde links 
liegende Linie schräge vor der rechts gelegenen, und im zwei- 
ten Bilde erscheint der zweite Kreis (von aussen her) gegen 
den ersten so gedreht, dass der Rand desselben links hinter, 
rechts vor dem ersten oder äussersten Kreise liest, während 
der vierte oder innerste Kreis gegen den dritten als eine in 
entgegengesetzter Richtung gedrehte Scheibe wahrgenommen 
wird. Dasselbe geht übrigens auch 'in anderer Weise aus den 


72 an ih P. L. Panum 
FE 

auf S. 58 und 59 meiner Schrift angeführten Versuchen her- 
vor: Wenn man nämlich 1) die senkrechten Doppellinien des 
Gesichtsfeldes A in unserer ersten Figur (Figur 31) mit an- 
derer Farbe zeichnet, als die etwas weiter von einander ent- 
fernten Doppellinien des Gresichtsfeldes B, so erscheinen die 
beiden im Sammelbilde sichtbaren Linien, sowohl die vordere 
als die hintere, in der Mischfarbe oder in abwechselnder 
Färbung, ohne dass die eine sich durch eine verschiedene 
Färbung von der anderen auszeichnete. — Wenn man ferner 
2) die weiter von einander entfernten Doppellinien an ihren 
inneren, einander zugewandten Rändern durch kleine seitliche 
Strichelchen bezeichnet, die engen Doppellinien aber an ihren 
äusseren, von einander abgewandten Rändern mit entsprechen- 
den Abzeichen versieht, oder umgekehrt, so werden jene Stri- 
chelchen im gemeinschaftlichen Gesichtsfelde zu beiden Sei- 
ten der hier sichtbaren Linien wahrgenommen, sowohl an der 
hinteren als an der vorderen Linie. 

Diese unläugbaren und von allen Seiten her vollkommen 
bestätigten Thatsachen!) sind es, welche es unmöglich mach- 


1) Herr v. Recklinghausen (in Gräfe’s Archiv für Ophthal- 
mologie Bd. V. und in Poggendorff’s Annalen Bd. CX.) und Hr. 
Bergmann (in Göttingische gelehrte Anzeigen 1859. S. 1055—1063) 
haben sich allerdings bisher noch nicht von der Realität dieser That- 
sachen überzeugt. Herr v. Recklinghausen will die oben ange- 
führte Theorie von Brücke aufrecht erhalten. Er sagt S. 161: „In 
Bezug auf das am häufigsten, auch von Panum geltend gemachte Ex- 
periment von Dove, welcher selbst bei der eminent kurzen Beleuch- 
tung durch den elektrischen Funken einen stereoskopischen Effect be- 
obachtete, ist zu bemerken, dass vorläufig die Anwendung auf unsere 
Theorie noch festzustellen it. Complieirte Zeichnungen, wie 
wahrscheinlich genommen wurden, können natürlich nichts be- 
weisen, da hier noch die unten anzuführenden Momente des Körper- 
lichen mit in Wirksamkeit treten. Wenn Herr v. Recklinghausen 
meine Untersuchungen im Originale nachgesehen hätte, so würde 
er, hoffe ich, seiner Zweifel über diesen Gegenstand überhoben wor- 
den sein. — Herr Bergmann bemerkt, dass er an meinem in Fig. 
41 abgedruckten Probeobjecte die Doppelbilder sieht, dass also das 
Nichterkennen derselben individuell sei. Er bemerkt, „es sei dazu 
selbstverständlich erforderlich, dass man die eine der beiden Linien 
und nicht einen Punkt zwischen beiden fixirt. Sollte die Beachtung 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 73 


ten, die sogenannte Lehre von den identischen Punkten in 
ihrer bisherigen Fassung aufrecht zu erhalten, denn die 
ihr zu Grunde liegende Aufstellung ist offenbar unrichtig, so- 


dieses Umstandes noch nicht für Jeden genügen, so nehme man etwas 
geringere Entfernungen der Linien; war das eine Paar 3Mm, und das 
andere 5 Mm. von einander entfernt, so nehme man 2 und 4, d.h. 
man lasse die Differenz dabei gleich bleiben. Nun wird man die Dop- 
pelbilder leichter gewahr, weil sie auf einen schärfer sehenden Netz- 
hauttheil fallen. Aehnlich verhält es sich mit dem zweiten, schon von 
Wheatstone aufgestellten Versuche: zwei Kreise von etwas ver- 
schiedener Grösse, einer dem linken, einer dem rechten Auge darge- 
boten, sollen vollständig als einer erscheinen. Dies ist nun schon in- 
sofern nicht richtig, als man immer eine Abweichung der beiden obe- 
ren Theile sieht, wenn die unteren sich decken oder umgekehrt. Es 
ist aber auch nicht richtig, dass die linken Ränder sich decken, wäh- 
rend man die rechten fixirt und umgekehrt. Um sich hiervon zu über- 
zeugen, ist es freilich nicht vortheilhaft grosse Kreise zu wählen. 
Wenn ich einen Kreis von 10 Mm. Durchmesser und einen von 11,5 
Mm. Durchmesser anwende, so sehe ich beim Fixiren des einen Sei- 
tenrandes den anderen deutlich doppelt, während erheblich grössere 
Kreise das allerdings aus nahe liegenden Ursachen unmöglich machen.“ 
Die Schwierigkeiten, die Herr Bergmann bei diesen Versuchen ge- 
funden hat, würden für ihn weggefallen sein, wenn er S. 53 und 54 
meiner Schrift aufmerksam durchgelesen hätte. Er würde alsdann 
nämlich bemerkt haben, dass ich ausdrücklich hervorgehoben habe, 
dass die Grenzwerthe der Abstandsdifferenzen, bei welchen zwei 
senkrechte parallele Linien beider Gesichtsfelder ohne Doppel- oder 
Nebenbilder zu einer einheitlichen Erscheinung verschmelzen, gewissen 
individuellen Schwankungen innerhalb gewisser von mir, und aus- 
führlicher später von Volkmann näher bestimmten Grenzen unter- 
worfen sind. Bei Anwendung eines gewöhnlichen Linsenstereoskopes 
wird Herr Bergmann kaum eine Person finden, welche nicht wenig- 
stens eine Differenz von 1 Mm. der 2—4 Mm. betragenden Abstände 
senkrechter Doppellinien zum einheitlichen Bilde zu combiniren 
vermöchte; bei 2 Mm. Differenz war es mir und bei 3 Mm. Abstands- 
differenz Professor Karsten noch vollkommen möglich, bei aller Auf- 
merksamkeit auf die Doppelbilder ein vollständiges einheitliches Ver- 
schmelzen der Linien, ohne Auftreten von Doppelbildern wahrzuneh- 
men; bei 4Mm. Abstandsdifferenz machten sich aber bei allen von 
mir untersuchten Personen die Doppelbilder bemerkbar. Für hori- 
zontale Linien, bemerkte ich ausdrücklich, scheinen die Grenzwerthe 
etwas geringere Grössen zu haben. Wenn es also Herın Bergmann 
nicht gelingen wollte, senkrechte Linien bei 2Mm. und horizontale bei 


74 m P. L. Panum: 


bald es auch nur in einem Falle möglich ist, bestimmt |zu 
beweisen, dass ein unzweifelhaftes Einfachsehen durch wirk- 
lich gleichzeitige und wirksame Erregung zweier nicht 
correspondirender oder nicht identischer Netzhautpunkte beider 
Augen möglich ist. Alsdann ist es nämlich nicht wahr, dass 
nur zwei identische oder correspondirende Netzhautpunkte bei 
gleichzeitiger Erregung ein einfaches Bild geben können, 
und dass immer Doppelbilder resultiren, wenn zwei nicht 
correspondirende Netzhautpunkte gleichzeitig und wirksam er- 
"regt werden. 

Um nun die herkömmliche Bezeichnung des Einfachsehens 
mit zwei Augen den Thatsachen anzupassen, führte ich den 
Begriff der correspondirenden Netzhautkreiseein: „Es 
kann (heisst es S. 62) also eine einfache Ortsempfindung (d.h. 
eine Empfindung des Orts ohne Doppelbilder) nicht nur durch 
je zwei Punkte beider Netzhäute, die man identische oder cor- 
respondirende zu nennen pflegt, vermittelt werden, sondern ein 
jeder empfindende Punkt der einen Retina kann (!) mit einer 


1,5 Mm. Abstandsdifferenz zum Verschmelzen zu bringen, so hätte 
er nur nöthig gehabt, die Abstandsdifferenz der Linien 
etwas geringer zu machen, er würde alsdann ganz sicher die 
individuelle Grenze seiner Fähigkeit, die Doppelbilder unter diesen 
Verhältnissen wahrnehmen oder nicht wahrnehmen zu können, entdeckt 
haben, und er würde dieselbe senkrechte Doppellinie kaum kleiner als 
1 Mm., etwa 0,026 Mm. im Netzhautbilde entsprechend, gefunden ha- 
ben. Dass er den oberen und unteren Rand der Doppelkreise in mei- 
ner Fig. 33 wahrnahm, könnte allerdings dadurch seine Erklärung 
finden, dass, wie gesagt, die Grenzwerthe für horizontale Linien ge- 
ringer sind, als für senkrechte, ich fürchte aber fast, dass dies im vor- 
liegenden Falle nur darauf beruhte, dass Herr Bergmann das Ste- 
reoskop oder seine Augen etwas schräg über dem Bilde hielt. Hier- 
durch müssen die horizontalen und schrägen Bildtheile sich natürlich 
in senkrechter Richtung gegen einander verschieben und daher doppelt 
erscheinen. Da nun diejenigen Doppelbilder, welche in der Gegend 
des deutlichen Sehens liegen, sich immer stärker bemerkbar machen 
(lebhafter empfunden werden), als diejenigen, welche eine davon ent- 
ferntere Gegend der Netzhaut treffen, so ist es begreiflich, dass sie für 
Herrn Bergmann z. B. beim Fixiren des unteren Randes hier sicht- 
bar, am oberen Rande aber unsichtbar waren. 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 75 


gewissen Anzahl zusammenliegender Punkte der anderen Re- 
tina eine einfache Ortsempfindung geben (das heisst ein einfa- 
ches Bild ohne Doppelbild).. Wenn man also diejenigen Netz- 
hautpunkte beider Augen, die (selbstverständlich unter den in 
Rede stehenden Bedingungen) zusammen eine einfache Empfin- 
dung (d. h. kein Doppelbild) geben, correspondirende nennen 
will, so muss man sagen, dass jeder Netzhautpunkt mehrere 
correspondirende Punkte oder einen correspondirenden 
Empfindungskreis im anderen Auge habe. Will man da- 
her den bisherigen Begriff der correspondirenden Netzhaut- 
punkte (d. h.. der einzigen beiderseitigen Netzhautpunkte, 
welche immer und unter allen Bedingungen ein einfaches 
Bild geben) festhalten, so muss man hierunter die Mittel- 
punkte der mit einander correspondirenden Empfindungskreise 
der beiden Netzhäute verstehen und dieselben demgemäss de- 
finiren,® 

Bei dieser Aufstellung meiner correspondirenden Empfin- 
dungskreise habe ich somit die Einheit der Empfindung, das 
Einfachsehen, oder das Fehlen der Doppelbilder als massge- 
benden Charakter und als Ausgangspunkt festgehalten, gerade 
so wie es einst bei der ursprünglichen Aufstellung der soge- 
_ genannten identischen oder correspondirenden Netzhautpunkte 
geschehen war. Den neuen Thatsachen gegenüber war der 
alte Ausdruck oder die alte Bezeichnungsweise unpassend ge- 
worden, und es musste ein neuer Ausdruck, eine neue Be- 
zeichnungsweise gefunden werden. Diese Bezeichnungsweise 
ist keine Erklärung, eben so wenig wie die alte es war, sie 
involvirt auch, eben so wenig wie sie es that, irgend eine Hy- 
pothese, sondern bildet nur einen bequemen und entsprechen- 
den Ausdruck für eine gewisse Reihe unumstösslicher That- 
sachen, deren Constatirung und näherer Präcisirung durch neue 
Untersuchungen Volkmann selbst einen grossen und ich meine 
den besten Theil seiner Arbeit gewidmet hat. 

Es wird nach dieser Erklärung wohl schon klar sein, dass 
meine Auffassung und Aufstellung der correspondirenden Em- 
pfindungskreise, als einfacher Ausdruck für die thatsächlichen 
Wahrnehmungen, von einer jeden anatomischen oder nicht ana- 


76 P. L. Panum: 


tomischen Hypothese und überhaupt von einer jeden Erklärung 
unabhängig ist. Dieses hat Volkmann übersehen. — Schon 
vor ihm hatte übrigens Hasner!) behauptet, dass meine Auf- 
stellung nicht nur den Corollarsatz, sondern zugleich den Haupt- 
satz der ursprünglichen Lehre von den identischen Punkten 
vernichten würde. Hasner meint, „meine Lehre enthalte eine 
Deutung des Binocularsehens, welche in sich selbst einen rea- 
len Widerspruch trägt. Wenn ein identischer Punkt einer 
Netzhaut“, sagt Hasner, „mit einem identischen Empfindungs- 
kreise der anderen zusammenfiele, so müssten wir offenbar 
Alles verwirrt, unrein, undeutlich sehen. Die Frage über die 
kleinste Masseinheit der Netzhäute kann streitig sein, aber die 
einzelnen Masseinheiten dürfen nicht in einander greifen, wenn 
nicht wirklich Mischungsbilder entstehen und empfunden wer- 
den sollen. Was von einem Punkte gilt, gilt von allen. Ent- 
spricht z.B. einem Punkt (einem Zapfen) ein Empfindungskreis 
von 15 Zapfenbreite, so greifen offenbar in diesen Kreis gleich- 
zeitig so viel Empfindungskreise ein, als dem Fiächeninhalt 
eines Kreises von 15 Zapfen Durchmesser Einheiten entspre- 
chen, d. i. 176,714. Man denke einmal das Confusionsbild 
dieser nach allen Richtungen in einander greifenden Empfin- 
dungskreise! Aber dies Verhältniss ist in der That für den 
Sehsinn eine Unmöglichkeit, denn das Vermögen der räunmli- 
chen Sonderung negirt durchaus (bei gleichbleibender Intention) 
die gleichzeitige räumliche Verschmelzung.“ Etwa ein solches 
Confusionsbild, wie das von Hasner geschilderte, kann er sich 
in der That verschaffen, wenn er zwei complieirte, ganz he- 
terogene Bilder durch ein Stereoskop betrachten will. Wenn 
man aber die Körper der Aussenwelt oder zwei auf stereosko- 
pische Betrachtung berechnete Bilder in entsprechender Weise 
betrachtet, so sind die allermeisten Bildtheile, welche auf cor- 
respondirende Empfindungskreise beider Augen fallen, einander 
so ähnlich, dass eine binoculäre Verschmelzung derselben 
erfolgen kann und wirklich erfolgt, wodurch das Bild dann 


1) Ueber das Binocularseken von Dr. Joseph Ritter von Has- 
ner. Aus den Abhandlungen der königl. böhm. Gesellschaft der Wis- 
senschaften. ° V. Folge. 10. Band, 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 77 


einheitlich erscheint. Nur solche Bildtheile, welche entweder 
nur in einem nicht aber im anderen Bilde vorhanden sind, 
oder deren Abstandsdifferenzen so gross sind, dass Doppelbil- 
der derselben auftreten, kommen im Sammelbilde gesondert 
zur Geltung. Wir werden auf diesen Punkt später noch 
zurückkommen, und es mag hier daher die Bemerkung genü- 
gen, dass das Vermögen der räumlichen Sonderung in ge- 
wissen Beziehungen beim Binocularsehen das Vermögen der 
räumlichen Verschmelzung durchaus nicht negiren kann 
und darf, sonst wären wir in der That übel daran. 
Ich überlasse es dem Leser und Hasner selbst, sich als Pen- 
dant zu dem von ihm entworfenen Gemälde dasjenige Con- 
fusionsbild auszumalen, das wir bei Betrachtung eines beliebi- 
gen Körpers wahrnehmen müssten, wenn alle die verschiedenen 
Bildpunkte der beiden verschiedenen Projectionsbilder eines 
einigermassen rauhen Körpers (bei gleichbleibender Intention) 
von beiden Netzhäuten her ohne Verschmelzung gesondert 
zu bewusster Empfindung kämen! Es waltet hier aber 
ein leicht aufzuklärendes Missverständniss ob, wodurch Has- 
ner dazu verleitet worden ist, mir eine Auffassung zuzuschrei- 
_ ben, die mir in der That ganz fremd ist, und die ich schon 
im obigen Abdrucke meiner Worte an den betreffenden Stellen 
durch einige kurze, in Parenthese beigefügte, commentarische Be- 
merkungen zu berichtigen gesucht habe. Hasner dachte zunächst 
an „das Flächen- und Tiefensehen“, nicht an die Dop- 
pelbilder, die bei meiner Aufstellung gerade betont werden 
sollten. Wenn ich sage, dass ein jeder empfindende Punkt 
der einen Retina mit einer gewissen Zahl zusammenliegender 
Punkte der anderen eine einfache Ortsempfindung geben 
kann“, so ist damit nur gemeint, eine einfache Empfindung 
des Bildpunktes; das geht sowohl aus dem Zusammenhange 
hervor, als auch daraus, dass ich im Folgenden (Capitel 5) 
ausführlich nachgewiesen habe, wie durch die verschiedenen 
Punkte eines Empfindungskreises («, £, y, d u.s. w.) mit dem 
Punkte a des anderen Auges zusammen, wesentlich ver- 
schiedene Ortsempfindungen bezüglich der scheinbaren 
Lage im Raume vermittelt werden können, Ich bin ganz 


78 P. L. Panum: 


mit Hasner darüber einverstanden, dass es sich bei der Auffas- 
sung eines Körpers „um einen höheren Act des Sehsinnes han- 
delt, bei dem die Tiefenempfindung sich nur aus der Em- 
pfindung von Bildern auf den nieht identischen Retina- 
partien aufbauen kann.“ Dieses babe ich ja nämlich eben 
selbst in meinem 3. Capitel zu beweisen gesucht, indem ich 
nachwies, dass die verschiedenen, innerhalb eines correspondi- 
renden Empfirdungskreises liegenden empfindenden Punkte mit 
dem zugehörigen Punkte des anderen Auges zusammen freilich 
einfach sehen, aber bezüglich der Ortsempfindung 
im Raume verschieden und nicht identisch sind. 
Auch stelle ich durchaus nicht in Abrede, dass bei der Auf- 
fassung des Bildes eines Körpers eine Art Caleul eintritt, wozu 
aber (wie ja auch Hasner meint, und was ich besonders 
stark, den psychischen Erklärungen gegenüber, betont habe), 
jene specifische Empfindung oder jene Synergie der 
beiden Netzhäute die Bausteine abgiebt.') 


1) In Hasner’s Arbeit sind noch ein paar Einzelheiten, über die 
ich nicht mit ihm einverstanden sein kann. Er sagt nämlich, man 
sehe ein Prisma bei stereoskopischer Betrachtung obigen Objects mit 
den beiderseitigen Doppelstrichen von ungleichen Abständen (Fig. 31). 
In der That sieht man aber eben doch nur die eine Linie schräg vor 
der anderen, ein Bild, das eben so wohl auf zwei frei im Raum aus- 
gespannte Fäden, oder auf eine einfache schräge Ebene, als auf die 
eine schräge Seite eines Prisma bezogen werden kann. Ein unzwei- 
felhaftes Prisma würde man erst dann beim binoculären Sehen 
empfinden können, wenn wenigstens auf der einen Seite eine 
dritte Linie hinzukäme, welche im Projectionsbilde eines Prisma’s we- 
nigstens für das eine Auge nicht fehlen darf (Vgl. meine Schrift S. 
76 ff.). — Auch mit folgenden von Hasner angegebenen Versuchen kann 
ich nicht übereinstimmen: Wenn man zwei gleiche Kreuze für beide 
Augen zeichnet und einen Punkt m für jedes Auge in ungleicher Ent- 
fernung von den Coordinatenaxen, so sollen, wenn man diese Bilder 
in die Richtung der Sehaxen bringt, wohl die Kreuze, nicht aber die 
Bilder der Punkte m in Eins zusammenfallen, wenn die Differenz der 
Abstände der Retinabilder dieser Punkte mehr als 0,002 Mm. beträgt.“ 
Selbst bei viel grösseren Differenzen der Lage des Punktes sehe ich 
ein einfaches Sammelbild desselben, ebenso wie des Kreuzes, so lange 
nämlich die Lagendifferenz der beiderseitigen Punkte nicht grösser ist, 
als dass das Netzhautbild innerhalb desjenigen subjectiven correspon- 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 79 


Vor Allen hat aber Volkmann sich bemüht nachzuweisen, 
dass meine Aufstellung der correspondirenden Empfindungs- 
kreise nicht nur den Corollarsatz, sondern auch den Hauptsatz 
der ursprünglichen Lehre von den identischen Punkten ver- 
nichten würde. 

Er sucht dies zunächst mathematisch zu beweisen. 
Seine mathematische Deduction leidet aber an dem allerdings 
sehr merkwürdigen Fehler, dass er mit denselben Aus- 
drücken b', ce‘, d’ u.s. w. zweierlei verschiedene Werth- 
grössen bezeichnet! Denn erstens bezeichnet er so die- 
jenigen Punkte, die wirklich immer mit einem Punkte a der 
anderen Netzhaut Doppelbilder geben müssen, als nicht identische 
oder nicht correspondirende Punkte im ursprünglichen Sinne, 
und zweitens bedient er sich derselben Bezeichnungen für 
die in einem correspondirenden Empfindungskreise gelegenen 
Punkte, welche gerade in der Beziehung, auf die es hier an- 
kommt, sich von den genannten Punkten b‘, ce‘, d’ u.s. w. un- 
terscheiden und daher einen ganz anderen Werth haben. Die 
innerhalb eines correspondirenden Empfindungskreises, in dem 
von mir aufgefassten Sinne, gelegenen Punkte sind ja nämlich 
eben dadurch charakterisirt, dass sie mit jenem Punkte a der 
anderen Netzhaut bei gleichzeitiger Erregung nicht Doppel- 
bilder geben müssen, wie dies bei gleichzeitiger Erregung 
der Punkte b‘, c‘, d’ u. s. w. geschieht, sondern dass sie mit 
demselben eine einfache Empfindung vermitteln können. Die 
mathematische Deduction würde also durchaus eine andere 
Bezeichnung für die innerhalb des correspondirenden Em- 
pfindungskreises gelegenen Punkte verlangt haben, etwa £, y, 
du. 8. w.. Alsdann würde aber Volkmann’s ganzer mathe- 


direnden Empfindungskreises fällt, welche dem vom anderen Punkte 
getroffenen Netzhautpunkte des anderen Auges entspricht, und vor- 
ausgesetzt, dass die beiden Punkte eine in beiden Gesichtsfeldern ent- 
sprechende Lage zum Kreuze haben, d. h. oben und links, oder oben 
und rechts” oder unten und links, oder unten und rechts. Je nach der 
Lage des Punktes im rechten und linken Bilde kann das Sammelbild 
desselben natürlich vor oder hinter dem Kreuze, oder in gleicher Ebene 
mit demselben liegend erscheinen, 


s0 P. L. Panum: 


matischer Beweis in nichts zusammenfallen, denn derselbe ruht 
allein auf der grundfalschen Voraussetzung, dass b‘, e',d'u. s. w. 
wirklich vollkommen gleichwerthig und identisch sein sol- 
len, mit den von mir als #, Y, d u. s. w. angeführten Grössen. 

Volkmann hat sich aber nicht auf seinen mathemati- 
schen Beweis beschränkt, sondern sucht auch in anderer 
Weise darzuthun, dass die Aufstellung der correspondirenden 
Empfindungskreise nicht nur den Corollarsatz, sondern auch 
den Hauptsatz der Lehre von den identischen Punkten ver- 
nichten müsste. Er meint nämlich, dass sämmtliche inner- 
halb eines correspondirenden Empfindungskreises 
gelegenen Punkte in jeder Beziehung unter sich 
gleichwerthig und identisch sein sollen! Indem er 
sich bemüht dieses durch besondere Versuche zu widerlegen, 
vergisst er, dass diese Punkte nach meiner Aufstellung 
eben nur das mit einander gemein haben sollen, dass sie mit 
einem bestimmten Punkte a der anderen Netzhaut zusammen 
ein einfaches Bild geben können. Dieses einfache Bild ist 
aber, wie ich dargethan habe, ein räumlich wesentlich 
verschiedenes, je nachdem es zu Stande kommt durch Zu- 
sammenwirken des Netzhautpunktes a im einen Auge mit dem 
einen oder mit dem anderen der innerhalb eines und desselben 
Empfindungskreises liegenden Punkte, mit « oder mit #, oder 
mit 7 oder mit d u. s. w. Volkmann ist hier offenbar eben 
durch denSprachgebrauch verwirrt worden, auf den er sich be- 
ruft, und „demzufolge in der physiologischen Optik die 
Worte correspondirende undidentische Netz- 
hautpunkte als synonym gebraucht werden!“ Volk- 
mann vergisst hier nämlich, dass die Bezeichnung identische 
Netzhautpunkte auch bei der ursprünglichen Aufstellung kein 
ganz bezeichnender war, indem er sich auch bei dieser, ebenso 
wie bei meiner Aufstellung, nur darauf beziehen sollte, dass 
diese Netzhautpunkte mit einander ein einfaches Bild geben 
können. Eine absolute Identität der durch zwei 
„identische* Netzhautpunkte vermittelten Empfin- 
dung hat dieser Ausdruck meines Erachtens auch bei 
der ursprünglichen Aufstellung nichtausdrücken sol - 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w, 81 


len, denn es war ja schon damals ganz klar, dass der Ort im 
Raume, der durch Synergie zweier „identischer“ Netzhaut- 
punkte empfunden wird, bei einer jeden Veränderung der 
Augenstellung ein verschiedener, also ein nicht identischer wird, 
und dass ferner z. B. eine verschiedene Färbung oder Beleuch- 
tung derjenigen Bildpunkte, welche gleichzeitig auf zwei „iden- 
tische“ Netzhautpunkte fallen, ganz verschiedene, nichts we- 
niger als identische Sammelbilder vermitteln kann. 
Volkmann hat aber auch noch durch besondere Versuche 
meine Aufstellung der correspondirenden Empfindungskreise zu 
widerlegen gesucht. Er zeigte nämlich, dass nicht ein jeder 
beliebige Eindruck, der einen Punkt a in einem Auge trifft, 
mit einem jeden beliebigen anderen Eindrucke, der einen an- 
‚deren „differenten“, aber innerhalb des ihm correspondirenden 
Empfindungskreises des anderen Auges liegenden Punkt £, y, 6 
u. s. w. trifft, nothwendig und unter allen Umständen eine ein- 
heitliche Empfindung vermittelt, indem z. B. wohl je ein, zwei 
oder drei Punkte des einen Bildes mit je einem, zwei oder drei 
Punkten des anderen Bildes combinirt werden können, nicht 
aber z. B. ein Punkt des einen Bildes mit zwei einander sehr 
nahe liegenden Punkten des anderen Bildes. Dieses ist eine 
Thatsache, die mir bei Abfassung meiner Arbeit vollkommen 
wohl bekannt war. Volkmann hätte für dieselbe in meiner 
Schrift Belege genug finden können, z.B. in Fig. 6, dem Sam- 
melbilde von Fig. 5 bezüglich der Zahl 6, in Fig. 23, dem 
Sammelbilde von Fig. 22 oben nnd rechts an den Conturen des 
Kreuzes, in Fig. 24, dem Sammelbilde der Fig. 23, am Zügel 
und am Rücken des Pferdes, im Sammelbilde der Fig. 25 an 
vielen Stellen der in entgegengesetzter Richtung schraffirten 
Linien, und ferner in den auf S. 42, 43, 58 und 59 angeführ- 
ten Beispielen. Wenn Volkmann nicht diese von mir selbst 
herrührenden Versuche übersehen hätte, so würde er es gewiss 
vorgezogen haben, dieselben zu eitiren, anstatt andere Beispiele 
vorzuführen, die dasselbe darthun, aber die den Lesern des 
Archivs für Ophthalmologie, denen meine Brochure vielleicht 
nicht zu Gesicht gekommen ist, als ganz neu und als ihm 


eigenthümlich erscheinen müssten. Volkmann scheint aber 
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv. 1861. 6 


82 P. L. Panum: 


ebenfalls übersehen zu haben, dass eine, wie mir scheint, recht 
befriedigende Erklärung der in Rede stehenden, von ihm gegen 
meine Aufstellung der correspondirenden Empfindungskreise 
geltend gemachten Thatsache in gewissen anderen, in meiner 
Sehrift mitgetheilten, von ihm aber mit keiner Silbe erwähnten 
Thatsachen enthalten ist. Diese Erklärung würde Volkmann 
wohl nicht entgangen sein, wenn er nicht von der zu Anfang 
seiner Abhandlung ausgesprochenen Voraussetzung ausgegangen 
wäre, dass die stereoskopischen Erscheinungen den Physiolo- 
gen nur zu zwei Fragen veranlassen, nämlich über die Ur- 
sache des Einfachsehens und der Tiefenempfindung, während 
doch in der That sehr viel mehr Fragen in Betracht kom- 
men! Anstatt aber die aus meinen Untersuchungen leicht 
abzuleitende sinnliche Erklärung zu discutiren, octroyirt, 
Volkmann den Lesern des Archivs für Ophthalmologie seine 
psychischen Erklärungen. Da wir indess später auf meine Er- 
klärungen und auf Volkmann’s psychologische Hypothesen 
zurückkommen werden, mag es mit Rücksicht auf Volkmann’s 
Versuche hier vorläufig genügen, darauf aufmerksam zu ma- 
chen, dass meine Aufstellung der correspondirenden Empfin- 
dungskreise der ursprünglichen Aufstellung der correspondiren- 
den oder sogenannten identischen Netzhautpunkte gegenüber, 
in keiner Weise durch die angeführte Thatsache alterirt wird. 
Denn meine Aufstellung setzt ja durchaus nicht voraus, 
dass mehrere verschiedene Eindrücke, durch welche meh- 
rere innerhalb eines correspondirenden Empfindungskreises lie- 
gende Punkte getroffen werden, mit einem Eindrucke, der den 
zugehörigen empfindenden Punkt im anderen Auge trifft, zu 
einer einheitlichen Empfindung verschmelzen müssten, Sie be- 
sagt nur, dass ein Eindruck, der einen Netzhautpunkt des einen 
Auges trifft, mit einem Eindrucke, der nicht den ganz corre- 
spondirenden Punkt, aber doch einen innerhalb eines gewissen, 
correspondirenden Bezirkes (oder Kreises) im anderen Auge 
gelegenen Punkt trifft, einfach empfunden werden kann. Es 
wäre ja die alte Aufstellung schon unhaltbar, wenn es in einem 
einzigen Falle möglich wäre zu zeigen, dass es nicht wahr ist, 
wenn man behauptet, dass nur ein einziger, unwandelbar be- 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 83 


stimmter Punkt: des einen Auges mit einem einzigen unwan- 
delbar bestimmten Punkte des anderen Auges bei gleichzeitiger 
und wirksamer Erregung, einfach sehen kann, und dass es falsch 
ist, wenn man sagt, dass die Erregung eines solchen Punktes 
in einen, und irgend eines anderen Punktes im anderen 
Auge immer ein Doppelbild hervorrufen müsse. 

Wenn Volkmann endlich durch fernere Versuche nachge- 
wiesen hat, dass die Grösse der correspondirenden Empfin- 
dungskreise in meinem Sinne bei, verschiedenen Individuen 
ziemlich verschieden ist, dass dieselbe auch bei denselben In- 
dividuen zeitweilig etwas variiren kann, und dass die corre- 
spondirenden Empfindungskreise in meinem Sinne auf verschie- 
denen Partieen der Netzhaut einen verschiedenen Durchmesser 
haben‘, ‚so widerspricht das Alles natürlich meiner Auffassung 
in keiner Weise, sondern :erscheint mir im Gegentheil nur als 
eine sehr willkommene ‚nähere Präeisirung derjenigen That- 
sache, die ich durch Aufstellung meiner correspondirenden Em- 
pfindungskreise habe ausdrücken wollen. 

Wenn also meine Auffassung der früheren und ursprüngli- 
chen Aufstellung der sogenanten identischen oder correspondi- 
renden Netzhautpunkte correct ist, was.ich doch hoffe, so kann 
es doch keinem Zweifel unterworfen sein, dass Hasner und 
Volkmann geirrt haben, indem sie mir das Recht absprechen, 
zu behaupten, „dass der Hauptsatz dieser-Lehre durch 
meine Aufstellung in keiner Weise alterirt wird, 
während aber der Ucrollarsatz, der nicht mit Noth- 
wendigkeit aus dem Hauptsatze gefolgert werden 
kann, durch dieselbe aufgehoben wird.“ Es ist und 
bleibt, wie gesagt, eine von jeder Erklärung, Hypothese oder 
Theorie unabhängige, empirisch festgestellte und unerschütter- 
liche Thatsache, dass ein jeder empfindende Netzhautpunkt 
des einen Auges einen correspondirenden Empfindungskreis (in 
dem von mir aufgestellten Sinne) im anderen Auge hat, der 
dadurch charakterisirt ist,. dass jeder der einzelnen empfinden- 
den Punkte, die er umfasst, mit jenem Punkte im anderen 
Auge zusammen einfach sehen kann, d. h. ohne Auftreten 
von Doppelbildern, während früher in jenem. Corollarsatze be- 

6* 


84 P. L. Panum: 


hauptet wurde, dass ein jeder empfindende Netzhautpunkt in 
einem Auge nur mit einem einzigen empfindenden 
Netzhautpunkte des anderen Auges einfach sehen 
könnte, d. h. ohne Auftreten von Doppelbildern. Es ver- 
steht sich hiernach von selbst, dass ich auch berechtigt war, 
dieser Aufstellung (S. 62) hinzuzufügen, dass die Lehre vom 
Horopter, als Consequenz der Aufstellung der correspondiren- 
den oder identischen und der nicht correspondirenden oder nicht 
identischen Punkte, durch die in Rede stehende Thatsache eben- 
falls alterirtt werde. Wenn nämlich der Horopter als derje- 
nige Raum definirt wird, dessen Punkte sämmtlich, bei unver- 
änderter Augenstellung, einfach gesehen werden, so ist es nach 
Obigem klar, dass derselbe keine einfache Fläche darstellt, son- 
dern eine gewisse Tiefe hat. Diese Tiefe wird empfunden, 
indem die Synergie eines Punktes a der einen Netzhaut mit 
einem jeden der innerhalb des ihm correspondirenden Empfin- 
dungskreises gelegenen Punkte mit «, $, y, d u. Ss. w. eine 
specifisch verschiedene ist und eine verschiedene Tiefe 
im einfach gesehenen Raume (oder im Horopter) erken- 
nen lässt. Will man den Begriff des Horopters im bisherigen 
Sinne festhalten, so mag man ihn zum Unterschiede vom wirk- 
lichen oder empirischen Horopter, den idealen Horopter 
nennen, und als diejenige ideale Fläche bezeichnen, in der (bei ge- 
gebener Augenstellung) die Projectionslinien der Mittelpunkte 
der beiderseitigen correspondirenden Empfindungskreise zusam- 
menstossen. 

Bevor ich nun zur Discussion der von mir einerseits und 
von Volkmann andererseits gegebenen Erklärungen 
verschiedener, das binoculare Sehen betreffenden Erscheinungen 
übergehe, muss ich mir hier noch erlauben, die wichtigsten der 
in meiner Schrift veröffentlichten, auf experimentellem Wege 
festgestellten, auf das Sehen mit zwei Augen bezüglichen That- 
sachen mitzutheilen. Da nämlich Volkmann diese That- 
sachen, welche mir geeignet scheinen eine Theorie des binocu- 
laren Sehens anzubahnen, grösstentheils gar nicht berück- 
sichtigt hat, obgleich sie doch auch für die von ihm zur Sprache 
gebrachten Erscheinungen sehr bedeutsam sind, und da ich 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 85 


nicht voraussetzen darf, dass meine Brochure allen Lesern des 
Archivs für Ophthalmologie oder der vorliegenden Zeitschrift zu 
Gesicht gekommen ist, so dürfte ein kurzes Resume derselben 
hier an seinem Platze sein. | 

Diese Thatsachen, deren experimentelle Begründung in 
meiner Schrift enthalten ist, auf welche ich in dieser Beziehung 
verweisen muss, sind folgende: 

1) Die vom Licht afficirten Augen nehmen, wenn sie nicht 
einen bestimmten Gegenstand fixiren, eine individuell be- 
stimmte Stellung ein, die von derjenigen der wie zum Schla- 
fen geschlossenen Augen abweicht, und welche beim Sehen 
unter allen Augenstellungen die bequemste ist. Ich habe die- 
selbe die natürliche Augenstellung genannt. 

2) Zwei einander entsprechende Conturen, welche beiden 
Augen dargeboten werden, dominiren innerhalb gewisser Gren- 

_ zen die Augenstellung, indem sie zum Fixiren und dadurch 
zum einheitlich Sehen zwingen, vorausgesetzt dass die Con- 
turen zur Querachse der Augen eine senkrechte oderschräge 
Stellung einnehmen, dass sie deutlich und einander ähnlich 
sind. Objeete, welche durch diese Eigenschaften die Augen- 
stellung bestimmen helfen, habe ich dominirende Objecte 
genannt. 

3) Conturen beider Netzhautbilder, die einander weder 
kreuzen noch berühren, machen sich beim Sehen mit zwei 
Augen auf Kosten der gleichmässig gefärbten Flächen geltend. 
Insofern die Conturen beider Sehfelder sich im Sammelbilde 
in dieser Weise verhalten, findet eine einfache und unver- 
änderte mosaikartige Eintragung der Conturen beider 
Netzhautbilder in das gemeinschaftliche Gesichtsfeld statt. 

4) Ausser den Öonturen, mit der ihnen eigenthümlichen 
Färbung, kommt auch die denselben zunächst anlie- 
gende Grundfärbung beider Netzhautbilder im ge- 
meinschaftlichen Gesichtsfelde zur Geltung, und zwar 
in um so grösserem Umfange, je grösser der Farbencontrast 
oder die Empfindlichkeit der Netzhäute ist. 

5) Verschiedene Conturen beider Sehfelder, die 
einander im gemeinschaftlichen Gesichtsfelde kreu- 


S6 „ıP, L.Panum: 


zen oder berühren, stören einander durch abwech- 
selndes Hervortreten der Conturen (mit ihrer anlie- 
senden Grundfärbung) des einen und des anderen Bildes, 
und zwar werden unter sonst gleichen Umständen dieke Con- 
turen durch scharfe und dünne stärker gestört als umgekehrt. 

6) Wenn man dem einen Auge ein gefärbtes Bildobjeet so 
darbietet, dass es sich im Sammelbilde mit einem anders ge- 
färbten Bildobjecte kreuzt, das dem anderen Auge gleichzeitig 
dargeboten wird, so zeigen die im gemeinschaftlichen Gesichts- 
felde wahrnehmbaren Farben folgendes Verhalten: Sind die 
Conturen beider Bilder so verschieden, dass eine vollständige 
Deckung derselben nicht möglich ist, so kommt an jeder Oon- 
tur die ihr im Einzelbilde anliegende Grundfärbung nach der 
sub 4 angegebenen Regel zu exclusiver oder fast exclusiver 
Geltung. An den Bildtheilen aber, wo sich nur die verschie- 
denen Grundfärbungen: oder congruente Conturen decken, 
macht sich eine wirkliche Farbenmischung oder ein 
Alterniren der Farben bemerkbar. Je nach der Intensität 
und Lichtstärke der in Anwendung gebrachten Farben kann 
man hierbei 3 Fälle unterscheiden: a) Wenn die eine Farbe 
die andere an Intensität und Lichtstärke bedeutend übertrifft, 
so ist sie über die schwächere Farbe absolut und bleibend vor- 
herrschend. b) Wenn beide Farben eine gleiche, aber mässige 
oder geringe Intensität ‘und Lichtstärke besitzen, so ist: die 
Farbenmischung vorherrschend, es tritt aber doch gewöhnlich 
bald die eine, bald die andere Componente derselben deutlich 
kervor. c) Wenn Farben von grosser aber gleicher Intensität 
und Lichtstärke in Anwendung kommen, so tritt abwechselnd 
die eine und die andere Farbe in so unruhigem Wechsel: her- 
' vor, dass die Mischfarbe leicht ganz übersehen werden kann; 
sie ist aber, doch vorhanden und besonders beim Uebergange 
der einen in die andere Farbe deutlich wahrnehmbar. Der bis- 
herige Streit über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein 
der Mischfarbe, welche‘ bis dahin unzweifelhaft nur bei po- 
larisirten Farben von Dove und theilweise bei Anwendung 
verschieden gefärbter Gläser von Brücke, nicht aber für 
Pigmentfarben, nachgewiesen war,: erklärt sich aus der 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 87 


Leichtigkeit, mit welcher das Urtheil über eine Farbenmodi- 
fieation in der von Brücke angegebenen Weise verschoben 
wird. Bei der von mir angegebenen Einrichtung des Versu- 
ches, welche es möglich macht, gleichzeitig im Sammelbilde 
die ursprüngliche Farbe und die Mischfarbe wahrzunehmen und 
zu vergleichen, kann über die wirkliche Wahrnehmung der 
Mischfarbe auch bei Pigmentfarben kein Streit mehr bestehen. 
Die Anwendung eines schwarzen Grundes, auf welchem die 
farbigen Bildobjecte angebracht sind, begünstigt die Wahrneh- 
mung der Farbenmischung, und ermöglicht selbst die Combi- 
nation passend gewählter Complementarfarben zu Weiss. — 
Das Alterniren der Farben erfolgt nicht im ganzen Sammel- 
bilde gleichzeitig, und beim Uebergange der einen Farbe zur 
anderen kommt die Mischfarbe während kürzerer oder längerer 
Dauer fast ausnahmslos zur Wahrnehmung. 

7. Conturen, die nicht ganz congruent sind, können, sofern 
sie einander im Uebrigen ähnlich sind, bei gleichzeitiger und 
wirksamer Erregung der einander beinahe, aber nicht vollstän- 
dig correspondirenden Netzhautpunkte im Sammelbilde ein- 
fach, d. h. ohne Doppelbilder, gesehen werden, wenn sie nur 
innerhalb correspondirender Empfindungskreise der beiden 
Netzhäute fallen. 

8. Bezüglich derjenigen eigenthümlichen Wahrnehmung der 
Tiefe, welche in dieser specifischen Weise nur beim 
Sehen mit zwei Augen möglich ist, liessen sich folgende That- 
sachen feststellen: 

a) Damit der genannte Effect eintritt, ist es nothwendig, 
dass diejenigen Linien oder Punkte beider Netzhautbilder, 
welche einander zur Hervorbringung des körperlichen 
Effects im gemeinschaftlichen Gesichtsfelde decken sollen, 
einigermassen gleichlaufend, und dass sie auch 
bezüglich der Oonturen und Farben einander 
einigermassen ähnlich sind. 

b) Es ist für denselben durchaus nothwendig, dass diejeni- 
gen Linien, welche im Sammelbilde diesen Effect hervor- 
bringen sollen, eine senkrechte oder schräge Stel- 
lung haben (dominirende Linien cfr. supra sub 2), 


P. L. Panum: 


Horizontale Linien bedingen an sich keinen körperlichen 
Effect, und wenn sie in Verbindung mit senkrechten oder 
schrägen Linien eine bestimmte Stellung in der Dimen- 
sion der Tiefe einzunehmen scheinen, so ist man hierzu 
nicht durch die Empfindung selbst gezwungen, 
sondern nur geneigt sie mit denjenigen senkrechten 
oder schrägen Linien verbunden sich vorzustellen, 
denen sie an Stärke und in anderen Eigenschaften am 
ähnlichsten sind. i 
c) Die relative Stärke der Conturen, welche für die 
Auffassung einer stereometrischen Figur beim Sehen mit 
einem Auge von so grossem Einflusse ist, ist für den 
in Rede stehenden, specifisch binoculären Ef- 
fect gleichgültig, insofern senkrechte oder schräge 
Linien bei geeigneter Anordnung ebenso entschieden in 
den Vordergrund treten, wenn sie (gegen die Regeln der 
Zeichenkunst), schwach, als wenn sie stark sind, während 
sie bei anderer Anordnung eben so gut in den Hinter- 
grund treten, wenn sie stark, als wenn sie schwach sind. 
d) Wenn jederseits zwei einander entsprechende Linien in 
Anwendung kommen, so ist es zur Hervorbringung. des 
besprochenen Effects allerdings ganz unerlässlich, dass 
ihr Abstand von einander, wie gesagt in horizontaler 
Richtung, verschieden ist, es ist aber nicht nöthig, dass 
die Abstandsdifferenz so gering ist, dass sie im gemein- 
schaftlichen Gesichtsfelde ohne Doppelbilder einfach gese- 
hen werden, oder zu einem einheitlichen Bilde verschmel- 
zen können. Denn auch bei grösseren Differenzen der Ab- 
stände, welche das Auftreten von Doppelbildern bedin- 
gen, ordnen sich die Linien des Sammelbildes in der Di- 
mension der Tiefe nach bestimmten Regeln. Ein bemer- 
kenswerther Unterschied macht sich indess zwischen diesen 
beiden Fällen bemerkbar. Bei geringer Differenz der Ab- 
 stände zweier Doppellinien ist nämlich bei der Deckung 
des Bildes nur eine einzige Augenstellung und 
eine ganz bestimmte Lage der Linien des gemein- 
schaftlichen Gesichtsfeldes möglich, indem immer die aus 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 809 


der äusseren der engen und der inneren der weiten Dop- 
pellinien combinirte Linie vorn, die aus der inneren der 
engen und der äusseren der weiten Doppellinien zusam- 
mengesetzte Linie hinten erscheint. Das Sammelbild ist 
ferner vollkommen ruhig und bestimmt, so dass das Bild 
überhaupt deutlicher und der Effect der Tiefe zwingender 
wird. Bei grösseren Differenzen der Abstände hingegen 
sind verschiedene Augenstellungen möglich, indem die 
Linien der beiden einzelnen Gesichtsfelder in verschiede- 
ner Weise combinirt werden können, wodurch, bezüglich 
der scheinbaren Lage der Linien, nach der Dimension 
der Tiefe, verschiedene Bilder entstehen. Diese Verschie- 
denheiten lassen sich in den Satz zusammenfassen, dass die 
durch Combination entstandene Linie vorgerückt er- 
scheint, wenn der Abstand ihrer Componenten 
von einander geringer ist, als, der Abstand 
der beiden anderen Linien von einander. ‚Die- 
ser Satz gilt ja übrigens auch für den Fall, wo die 
Differenz der Abstände so gering ist, dass ein reines ein- 
heitliches, nicht mit Nebenbildern behaftetes Sammelbild 
entsteht; denn die äussere der engen Doppellinien ist noth- 
wendig immer der inneren der weiten Doppellinie näher, 
als die innere der engen Doppellinien der äusseren der 
weiten. Dieselbe Regel gilt auch für Kreise oder andere 
in sich geschlossene Figuren, und die bei ihrer Combi- 
nation entstehenden Erscheinungen lassen sich aus der- 
selben ableiten oder auf dieselbe zurückführen. 

e) Es ist endlich für den in Rede stehenden eigenthümlichen 
Effect der Tiefe des Sammelbildes beim binocularen Se- 
hen nicht durchaus nothwendig, dass jederseits zwei 
(oder mehrere) einander entsprechende, aber ungleich weit 
von einander entfernte Conturen vorhanden sind, sondern 
es genügt, wenn auf der einen Seite eine einzige 
Linie mit einer von zweien Linien der anderen 
Seite combinirt wird. Dabei erscheint, in Ueberein- 

» stimmung mit obiger Regel, unter allen Umständen die- 
jenige Linie im gemeinschaftlichen Gesichtsfelde vorn, 


90 


P. L. Panum: 


die derjenigen der beiden Linien des einen Gesichtsfeldes 
entspricht, welche der einfachen Linie des anderen Ge- 
sichtsfeldes am nächsten ist; diejenige Linie, die von 
der einfachen Linie des anderen Gesichtsfeldes am wei- 
testen entfernt ist, erscheint dagegen hinten. Es ist 
hierbei ganz gleichgültig, mit welcher der bei- 
denDoppellinien die einfache Linie im gemein- 
schaftlichen Gesichtsfeldezur Deckunggebracht 
wird, so dass nieht etwa die dureh Combination 
entstandene Linie mit Nothwendigkeit vorn eer- 
scheint. Die Combination der einfachen Linie mit einer 
der Doppellinien der anderen Seite, kann man leicht er- 
zielen, wenn man die einfache Linie verschiebbar macht, 
ein Verfahren, das ich auch zur Bestimmung der natür- 
lichen Augenstellung benutzt habe, und von dem Volk- 
mann später verschiedene Anwendungen gemacht hat. 
Der in Rede stehende Effect ist weniger deutlich, wenn 
die Entfernung der Doppellinie auf der einen Seite ein 
gewisses Mass übersteigt, während auf der anderen 
Seite eine einfache, verschiebbare, jeder von jenen rück- 
sichtlich der Form und Lage entsprechende Linie ange- 
bracht ist (S. 76). Dasselbe gilt in noch höherem Grade 
von Kreisen, wenn der innere Kreis bedeutend kleiner 
ist, als der äussere; in diesem Falle wird nämlich die 
Wahrnehmung der Tiefenverhältnisse im Sammelbilde so 
undeutlich, dass man sich kaum zu einem bestimmten 
Urtheile entschliessen kann (S. 77). Wenn dahingegen 
die Entfernung der Doppellinien oder Doppelkreise auf 
der einen Seite ein gewisses, dem individuellen Durch- 
messer der correspondirenden Empfindungskreise bei na- 
türlicher Augenstellung einigermassen entsprechendes Mass 
nicht übertrifft, und wenn der einfache Kreis der einen 
Seite mit einem der anderseitigen gleich gross ist, so ist 
der Effect der Tiefe ganz deutlichwahrnehmbar, ob- 
schon immer etwas weniger bestimmt markirt, als wenn 
auch die zweite der im Sammelbilde erscheinenden Li- 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 9] 


nien (oder Kreise) durch eine zweite Componente ver- 
stärkt worden ist.!) 


1) Diese Umstände hat Herr Bergmann in den Göttingischen 
Annalen nicht in Betracht gezogen, deshalb ist ihm auch dieser Ver- 
such nicht recht gelungen. Bei Betrachtung meiner Fig. 53, wo links 
zwei 3 Mm. von einander entfernte, senkrechte Linien angebracht sind, 
während rechts nur eine Senkrechte vorhanden ist, konnte er nicht 
meine Angabe constatiren, der zufolge die eine dieser Linien im Sam- 
melbilde schräg vor der anderen zu liegen scheint. Bei stereoskopi- 
scher Betrachtung meiner hier wieder abgedruckten Fig. 54 gesteht er 
freilich, dass auch ihm der innere Ring etwas schräg zu liegen schien, 
so dass die eine Seite sich über das Niveau des äusseren Kreises er- 
hebt, die andere hinter dasselbe zurücktritt. Er will aber nur zuge- 
ben, dass ihn bei diesem Versuche die Täuschung „angewandelt“ habe, 
und er räumt nicht ein, dass sie von der zwingenden Natur ist, wie 
bei der stereoskopischen Betrachtung meiner ebenfalls hier wieder ab- 
gedruckten Fig. 33. Er behauptet „jene Täuschung gehöre offenbar 
einer ganz anderen Kategorie an und könne nicht mit dieser in eine 
Theorie zusammengefasst werden.“ Wenn Herr Bergmann berück- 
sichtigt hätte, dass die beiden Senkrechten im linken Bilde meiner 
Fig. 53 drei Mm., die beiden concentrischen Kreise in Fig. 54 aber 
kaum 14 Mm. von einander entfernt sind, und dass ich ausdrücklich 
hervorgehoben habe, dass der Tiefeneffect bei dieser Einrichtung des 
Versuchs ausserordentlich geschwächt wird, wenn der Abstand der 
einseitig vorhandenen Doppellinien von einander grösser wird, so würde 
er doch vielleicht auf den Gedanken gekommen sein, ob nicht der of- 
fenbar ungewöhnlich kleine Durchmesser seiner correspondirenden Em- 
pfindungskreise daran Schuld sein sollte, dass er die Tiefenempfindung 
bei Betrachtung meiner Fig. 53, die mir und vielen Anderen ganz un- 
verkennbar ist, nicht wahrnahm, und dass dieselbe ihn bei Betrach- 
tung meiner Fig. 54 nur „anwandelte“. Er würde dann den Abstand 
der Doppellinien in beiden Objecten, besonders aber im ersteren klei- 
ner gemacht haben, und vielleicht würde er schon alsdann den Tie- 
feneffeet in beiden Objecten deutlich wahrgenommen haben. Dass der 
Effect bei Fig. 33 etwas stärker ist,. als bei Fig. 54, kann nicht be- 
fremden, weil dort beide im Sammelbilde erscheinende Ringe aus 
zweien combinirt sind. Der Effect wird ja nämlich offenbar eben 
durch die Combination der beiderseitigen Kreise beim Binocularsehen 
hervorgebracht. Es kann nun dem entsprechend vorkommen, dass das 
eine Auge, wegen ungleicher Accommodation oder Sehkraft, den ein- 
fachen Ring der Fig. 54 erheblich deutlicher oder undeutlicher sieht, 
als das andere Auge die beiden anderen Kreise, und es muss alsdann 
der in Rede stehende Effect bei einem solchen Individuum weniger 


92 P. L. Panum: 


Diese angeführten Thatsachen sind ebenso wie die That- 
sache, dass ein empfindender Punkt a im einem Auge mit einem 


deutlich werden, als bei einem anderen, das mit beiden Augen beide 
Objecte gleich deutlich sieht (Vgl. meine grössere Schrift S. 38). Ein 


Fig. 33. 


A | 


Fig. 54, 


solches Individuum kann sich indessen in solchem Falle helfen, wenn | 
es, wie ich es bei den Versuchen mit den farbigen Objecten ausdrück- 
lich angegeben habe, dasjenige Auge, welches sein Object am schärf- 
sten sieht, durch Zusammenklemmen der Augenlieder etwas abschwächt, 
oder wenn es, bei unvollkommener Accommodation des einen Auges, 
das am undeutlichsten sehende Auge durch ein passendes Brillenglas 
unterstützt. — Bei Berücksichtigung dieser Verhältnisse und bei Ver- 
gleichung beistehender Objecte unter dem Stereoskop, glaube ich, wird 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 93 


jeden innerhalb des ihm correspondirenden Empfindungskreises 
im anderen Auge gelegenen Punkte «, £, y, d u. s. w. unter 
geeigneten Verhältnissen einfach sehen kann, von einer jeden 
Erklärung, Theorie oder Hypothese unabhängig; den Thatsa- 
chen müssen sich aber natürlich die Erklärungen accommo- 
diren, und eine Theorie kann nur dann auf Geltung An- 
spruch machen, wenn die Tbatsachen ihr nicht widersprechen. 

Ich habe nun allerdings gesucht diese angeführten That- 
sachen zunächst einzeln zu erklären, d.h. sie einzeln auf 
ihre respectiven Grundbedingungen zurückzuführen, aber, ich 
wiederhole es: „wohl fühlend, dass eine vollständige, ein- 
heitliche Theorie, welche auf die letzten Ursachen zurück- 
geht, als dem Grenzgebiete unseres Wissens angehörig, noch 
nicht durchgeführt werden kann und vielleicht niemals wird 
durchgeführt werden können, hätte ich gern hiermit die Arbeit 
beschlossen! Wenn ich dennoch im Schlussworte einen Ver- 
such gemacht habe, die Art und Weise, wie die eigenthümli- 
chen Empfindungen des gemeinschaftlichen Gesichtsfeldes zu 
Stande kommen, näher festzustellen und zum Theil auf die 
Anordnung der Nervenelemente zurückzuführen, so bin ich mir 
dabei sehr wohl bewusst gewesen, dass dieser Erklärungs- 
versuch nur eine Hypothese ist, der ich selbst keinen weiteren 
Werth beilege, als dass sie der Auffassung und dem Gedächt- 
nisse zu Hülfe kommt!“ (S. 2.) 

Diejenigen Erklärungen, auf die ich mich Gewicht zu legen 
berechtigt glaubte, beziehen sich also auf die einzelnen an- 
geführten Thatsachen und sind etwa folgende: 

ad 1 und 2. Die Thatsachen der natürlichen Augen- 
stellung und der dominirenden Objecte schienen mir nur 
durch die Annahme genügend erklärt werden zu können, dass 
die Augenstellung beim Sehen mit zwei Augen zum Theil 
von einem rein sinnlichen Momente abhängt, das als Reflex- 


der Leser mit mir einig sein, dass durchaus kein Grund vorliegt, die wahr- 
genommenen Täuschungen als „nicht gleicher Ordnung“ anzusehen, 
und dieselben, wie Herr Bergmann es will, „in ganz verschiedene 
Kategorien zu bringen.“ nis 


94 P. L. Panum: 


action dem Sehacte immanent ist. Dabei habe ich aber zuge- 
geben, dass dieselbe zum Theil auch von psychischen Mo- 
menten bestimmt wird, zu welchen auch die sogenannte „Scheu 
vor Doppelbildern“ zu zählen ist. Es lässt ‚sich bezüglich 
dieser nämlich nachweisen, dass die Unannehmlichkeit, die oft, 
aber nicht immer, beim Auftreten von Doppelbildern em- 
pfunden wird, von dem Wunsche und Bestreben, sachgemäss 
zu sehen, herrührt. Der eigenthümliche Sinnesreiz der Doppel- 
bilder ist, ohne dies Bestreben, an und für sich nichts weniger 
als unangenehm, wenn er gleich (wie bei einem Feuerwerk) 
als starker Reiz ermüdend ist. Bezüglich des speciellen Nach- 
weises, dass wirklich beide diese Momente und nicht etwa 
nur eines derselben für die Einstellung der Augen beim Sehen 
in Betracht kommt, muss ich hier auf meine grössere Schrift 
S. 27—29 verweisen. 

ad 3 und 4 Die Thatsachen der mosaikartigen Ein- 
tragung der Oonturen, die sich weder kreuzen noch be- 
rühren, in das Sammelbild, und die Ueberführung der 
einer Contur zunächst anliegenden Grundfärbung 
mit der Contur selbst in das gemeinschaftliche Gesichtsfeld, 
schien mir eine befriedigende Erklärung durch die Annahme 
zu finden, dass die Conturen mit den ihnen zunächst anlie- 
senden Grundfärbungen beim Sehen mit’ zwei Augen sich als 
Sinnesreize von ganz ausgezeichneter Stärke vor 
dem einfachen Licht- und Schattenreize (ohne Conturen) aus- 
zeichnen. Gegen die Erklärung, der zufolge die Aufmerk- 
samkeit, durch den Contrast unwillkürlich angezogen, die 
Wahrnehmung des Sammelbildes in so auffallender Weise mo- 
dificiren sollte, habe ich zunächst folgende apriori’sche Beden- 
ken erhoben; 1) Die Aufmerksamkeit ist dem Willen des Be- 
obachters in der Weise unterthänig, dass sie den schwächsten 
wie den stärksten Eindrücken, die wirklich zur sinnlichen Per- 
ception kommen, zugewandt werden kann. Am stärksten wird 
sie freilich von den starken Sinneseindrücken gefesselt, aber 
nicht unwiderstehlich, und nur bei gedankenlosem 
Beschauen wird sie regelmässig und unwillkürlich von den 
starken Eindrücken angezogen. 2) Die Aufmerksamkeit kann 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 95 


nur den durchdie Sinneseindrücke gegebenen Inhalt, 
und zwar ganz unverändert, bei der sinnlichen Wahrneh- 
mung aufnehmen. Wir können nun aber ‚die mosaikartige 
Eintragung der Conturen auch dann noch deutlich wahrneh- 
men, wenn wir die ganze Aufmerksamkeit der Grundfärbung 
desjenigen Feldes zuwenden, in welchem keine Conturen ver- 
zeichnet sind, und wir empfinden im Sammelbilde deutlich die 
überwiegende Stärke der einer Contur des Einzelbildes an- 
liegenden Grundfärbung auch dann im Umfange der Contur 
deutlich, wenn wir unsere volle Aufmerksamkeit der abwei- 
chenden Grundfärbung des anderen Bildes zuwenden. Hieraus 
folgt, dass die in Rede stehenden Thatsachen nicht von dem 
Einflusse der Aufmerksamkeit abhängen, indem sie trotz der- 
selben erfolgen. Es lässt sich aber auch noch ferner nachwei- 
sen, dass der unmittelbare objective Sinnesreiz, den die Con- 
turen und die ihnen zunächst anliegenden Grundfärbungen 
hervorbringen, wirklich sehr stark ist, stärker als Licht- und 
Sechattenreiz ohne Conturen bei gleicher Beleuchtung. Hier- 
von zeugt nämlich einerseits das Auftreten von indueirten 
Farben schwarzer Conturen auf farbigem Grunde, 
bei heller Beleuchtung beider Gesichtsfelder. Die Farbe, welche 
indueirt wird, ist dabei allein abhängig von der Farbe des 
Grundes, auf dem die Conturen verzeichnet sind, und ist un- 
abhängig von der Färbung des gleichmässigen, hellen Feldes. 
Auch beim monocularen Sehen treten im Wesentlichen gleiche 
Erscheinungen auf, nur viel schwächer, was theils davon 
herrühren dürfte, dass die ungleichartigen Erregungen beim bi- 
nocularen Sehen gleichzeitig statthaben, so dass der stärkere 
Erregungszustand der den ÜOonturbildern anliegenden Netz- 
hautpartieen bleibend ist und ruhig beobachtet werden kann, 
theils aber auch davon, dass die sensorielle Erregung des Cen- 
tralapparates beim binocularen Sehen überhaupt stärker ist, 
was sich schon durch die grössere Helligkeit des gemeinschaft- 
lichen, als des einzelnen Gesichtsfeldes kundgiebt. Dass es die 
Stärke der sinnlichen Erregung an sich ist, welche, unabhängig 
von psychischen Einflüssen, die angeführten Erscheinungen be- 
dingt, geht aber vorzüglich auch noch daraus hervor, dass die 


96 P. L. Panum: 


subjeetive Empfindlichkeit der Netzhaut sich bei 
allen den genannten Versuchen in ausgezeichneter 
Weise geltend macht. Wenn diese Empfindlichkeit grösser 
ist, so treten auch die Schatten oder Höfe an den Conturen 
viel stärker auf, und zugleich erscheinen die subjectiven Induc- 
tionsfarben viel leichter und selbst unter Verhältnissen, unter 
denen sie bei geringerer Empfindlichkeit nicht wahrgenommen 
werden. 

ad 5 und 6. Sowohl die eigenthümliche Störung des 
Sammelbildes durch die einander im gemeinschaft- 
lichen Gesichtsfelde kreuzenden oder berührenden 
Conturen, als auch das merkwürdige Verhalten der Far- 
ben des Sammelbildes, wenn die dem einen und dem an- 
deren Auge dargebotenen Objecte verschiedenfarbig sind, schien 
mir nur durch die Wechselwirkung der beiderseitigen 
verschiedenartigen Netzhauterregungen im Oentral- 
apparate der Gesichtsempfindung, im Gehirn selbst, er- 
klärt werden zu können. Das Resultat der Wechselwirkung 
kann in diesen beiden Gruppen der Erscheinungen einen zwie- 
fachen Charakter haben, indem sich nämlich entweder eine 
wahre Vermischung und Verschmelzung oder ein Alter- 
niren der verschiedenartigen, beiderseitigen Netzhauteindrücke 
geltend macht. Diese beiden verschiedenen Wechselwirkungen 
können indess in beiden Gruppen neben und nach einander 
zur Beobachtung kommen. Ob die Vermischung oder das 
Alterniren der von beiden Seiten verschiedenartigen Ein- 
drücke vorherrscht, ist von der objectiven Stärke der 
beiderseitigen Erregungen abhängig, indem nämlich 
die Vermischung oder Verschmelzung durch eine ge- 
ringe,dasAlterniren hingegen durch einebedeutende 
Stärke der Erregung begünstigt wird, wobei theils die ob- 
jeetive Elongation der Aetherschwingungen (Dove), theils 
aber auch die subjective Erregbarkeit oder Em- 
pfindlichkeit für den Grund der Erregung massgebend ist. 

Diese Thatsachen durch den psychischen Einfluss der 
Aufmerksamkeit zu erklären, ist meines Erachtens geradezu 
unmöglich. Schon das Alterniren der verschiedenen Conturen 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 97 


und Farben wird durch diese Hypothese nicht genügend er- 
klärt, weil sie es unerörtert lässt, warum gerade diejenigen 
Theile der Conturen des Sammelbildes, die sich kreuzen oder 
berühren, einander stören und nur abwechselnd den Inhalt des 
einen oder des anderen Einzelbildes zur Erscheinung kommen 
lassen, während die einander nicht kreuzenden oder nicht be- 
rührenden Theile im Sammelbilde bleibend und ruhig erschei- 
nen. Dieser Unterschied des Verhaltens der im Sammelbilde 
einander kreuzenden oder berührenden und der neben einander 
liegenden Conturen beweist einerseits, dass die Erscheinung 
nicht von der abwechselnden Aufmerksamkeit auf den Inhalt 
des einen oder anderen Netzhautbildes in seiner Totalität 
abhängen kann, und andererseits, dass auch von einer abwech- 
selnden Erlahmung der. einen und der anderen Retina in ihrer 
Totalität nicht die Rede sein kann. Der Annahme aber, 
dass die Aufmerksamkeit nur für die einander -kreuzenden oder 
berührenden Bildtheile alterniren sollte, wird entschieden da- 
durch widersprochen, dass der Wechsel der incongruenten oder 
verschiedenfarbigen Bildtheille von der Willkür und von 
der bewusst auf das eine oder andere Bild gerichte- 
ten Aufmerksamkeit ganz und gar unabhängig ist. 
Man mag sich noch so eifrig bemühen, das eine oder das an- 
dere der sich kreuzenden Gonturbilder, oder die eine oder die 
andere der mit einander gleichsam wetteifernden Farben durch 
Anstrengung der Aufmerksamkeit fest zu halten, so erlischt 
dieses Bild, dass wir uns fest zu halten angelegentlichst be- 
mühen, doch vor unseren offenen Augen, und das andere Bild 
oder die andere Farbe, der wir keine Aufmerksamkeit schen- 
ken wollen, macht sich geltend, erst hier, dann dort, an ganz 
unbestimmten Stellen, dann überall, um darauf wieder vom an- 
deren Bilde verdrängt zu werden. — Ist nun die Aufmerksam- 
keitserklärung schon dem Alterniren oder dem Weitstreite der 
Einzeltheile der beiden verschiedenen Bilder gegenüber nicht halt- 
bar, so wird sie der Thatsache der Mischung der beiderseitigen 
verschiedenen Eindrücke gegenüber geradezu unmöglich. Selbst 
Volkmann wird, wenn esihm, durch die von mir angegebene 


Andeutung, gelungen sein wird, sich von der unzweifelhaften 
Reichert's u, du Bois-Reymond's Archiv. 1861. 7 


‘98. ‚P. L. Panum: 


Wahrnehmung der binocularen Mischfarben, die er bis 
dahin in Abrede stellte, zu überzeugen, es schwerlich wagen 
der Aufmerksamkeitswirkung diese subjective Farbenmischung 
zuzumuthen. 

ad 7. Die Thatsache, die ich durch Aufstellung der empi- 
risch gefundenen correspondirenden Empfindungskreise 
ausgedrückt habe, schien mir nur von einer ganz eigen- 
thümlichen Wechselwirkung der beiderseitigen Ner- 
venerregungen im centralen Sehapparat abgeleitet wer- 
den zu können. Zu dieser Annahme wurde ich dadurch ge- - 
führt, dass alle anderen Erklärungsversuche sich bei genauerer 
Untersuchung als unzureichend erwiesen. Als unhaltbar wur- 
den schon oben, bei Besprechung der gegen die Aufstellung 
der correspondirenden Empfindungskreise gemachten Einwürfe 
widerlegt: 1) die Hypothese, der zufolge schnelle, kleine Be- 
wegungen der Bulbi ein Verschmelzen der Nachbilder bewir- 
ken sollten (Brücke), 2) die Hypothese, der zufolge .die 
Netzhautbilder der ungleichen Doppellinien oder Doppelkreise 
durch. Aceommodationsvorgänge und Verlegung der Knoten- 
punkte gleich gemacht werden sollten, 3) die Hypothese, der 
zufolge nur abwechselnd das eine und das andere Netzhautbild 
empfunden würde. In meiner Schrift habe ich ferner 4) der 
sogenannten psychischen Erklärung gedacht, der zufolge 
auch. dieses Phänomen, wie so viele andere, durch ein räthsel- 
haftes, für mich durchaus mystisches „Spiel der Aufmerksam- 
keit“ bedingt sein sollte. Hiergegen führte ich an: a) dass die 
Unmöglichkeit, ein Doppelbild zu erkennen, wenn die Abstands- 
differenz innerhalb des empirisch ermittelten Bereichs der cor- 
respondirenden Empfindungskreise bleibt, während man bei 
grösseren Abstandsdifferenzen das Doppelbild leicht und deut- 
lich wahrnimmt, wenn man demselben nur die Aufmerksamkeit 
zuwenden will, diese Erklärung ausschliesst, und b) dass ein 
Mangel der Aufmerksamkeit auch unmöglich daran Schuld sein 
kann, dass das Doppelbild, das bei solchen Abstandsdifferenzen, 
welche das Mass der empirischen correspondirenden Empfin- 
dungskreise nur wenig übertreffen, verwischt und .nebelhaft:er- 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w, 99 


scheint, ja ab und. zu selbst zeitweilig unsichtbar werden 
kann. ') 


1) Das eigenthümliche verwischte Aussehen und zeitweilige Ver- 
schwinden das eine, als Doppelbild im gemeinschaftlichen Gesichts- 
felde sichtbare Linie, unter geeigneten Verhältnissen zeigt, schien 
mir allerdings darauf hinzudeuten, dass die Function der Netzhaut an 
dieser Stelle durch die Erregung einer der anderen Stellen theilweise 
unterdrückt wird. Ich wandte daher dieser verwischten, nebelhaften 
Erscheinung, ‚meine volle Aufmerksamkeit zu, indem sie mir eben ein 
Uebergang zum vollständigen Verschwinden des Doppelbildes innerhalb 
der Grenzen des correspondirenden Empfindungskreises zu sein schien. 
Tch bemerkte in dieser Beziehung S. 61 Folgendes: „Dass hier eine 
eigenthümliche: Erregungsweise ‚der: beim |Sehen functionirenden .ner- 
vösen Elemente vorliegt, geht auch noch aus einer anderen S. 53 mit- 
getheilten Beobachtung. hervor. Wir sehen dort nämlich, dass das ge- 
wöhnlich zwischen, der ‚vorderen. und hinteren Linie liegende Neben- 
oder Doppelbild bei. nieht zu grossen Abstandsdifferenzen ver wischt 
erscheint. Ein Margel .der Aufmerksamkeit kann hieran unmöglich 
‚Schuld sein, wenn wir bei unserer, Beobachtung gerade, diesem ‚Dop- 
pelbilde unsere ‚ganze Aufmerksamkeit, viel, mehr als; den, anderen, 
deutlich und scharf erscheinenden Linien zuwenden: Es wird das ne- 
belhafte Verwischtsein dieser Linien um: so auffallender, als.es sich bei 
den. verhältnissmässig, kleinen ‚Abständen .der Linien. von, einander 
jedenfalls um die Gegend der Retina handelt, die am schärfsten sieht, 
nicht um, weit seitlich von den Augenachsen, gelegene. Netzhautpar- 
tien. Ja es sind: die Linien gerade‘ dann am allermeisten, verwischt, 
wenn wir im Bilde ‚des gemeinschaftlichen Gesichtsfeldes der ‚Fig. 32 
den. Zwischenraum ‚zwischen der vorderen ‚und, hinteren Linie scharf 
fixiren und dabei, wie oben bemerkt, zwei nebelhafte Linien zwischen 
den deutlich und scharf dastehenden beiden anderen Linien, der. vor- 
deren. und der hinteren, wahrnehmen... Dann entspricht ja. aber die 
Lage dieser. nebelhaft erscheinenden Linien auf. der Netzhaut gerade 
der Stelle des allerschärfsten Sehens, während die deutlich gesehenen 
Linien mehr seitlich liegen.“ Die Analogie des Verwischtwerdens und 
des endlichen Verschwindens der dritten Linie, welche der ursprüng- 
lichen sogenannten Lehre von den correspondirenden Punkten zufolge 
im Sammelbilde noch immer, selbst innerhalb der durch die correspon- 
direnden Empfindungskreise bestimmten ‚Grenzen: sichtbar sein sollte, 
mit. dem ‚ Wettstreite oder Alterniren verschiedenartiger, im gemein- 
schaftlichen Gesichtsfelde einander kreuzenden oder: berührenden Con- 
turbilder, (efr..oben sub 5), veranlasste mich, in einem’ besonderen 
Paragraphen (S. 57—59) experimentell zu untersuchen, ob diese Ana- 
logie vollständig wäre, und. ob wirklich die .eine Linie in entsprechen- 


7*® 


100 P. L. Panum: 


ad 8. Alle die sub 8 angeführten -Einzelfälle, in welchen 
die specifisch binoculare Tiefenempfindung zur Wahrnehmung 
kommt, lassen sich unter einen gemeinschaftlichen Gesichtspunkt 
bringen, wenn man annimmt, dass wir durch eine dem bino- 
cularen Sehen immanente Empfindungsqualität befähigt sind, 
Ortsempfindungen von dem Punkte zu erhalten, wo die den 
zusammengehörigen Conturen zukommenden Projectionuslinien im 
äusseren Raume zusammenstossen. Folgende, auf diese Vor- 
aussetzung gegründete Construction giebt nämlich Rechenschaft 
über alle die angeführten Einzelfälle, indem die Kreuzungs- 
punkte der Projectionslinien in allen Fällen der 
scheinbaren Lage der im gemeinschaftlichen Ge- 


der Weise wie dort, gleichsam unterdrückt würde? Die von mir an- 
gestellten Versuche mit gleichfarbigen Conturen auf verschiedenfarbi- 
gem Grunde, mit werschiedenfarbigen Conturen auf gleichfarbigem 
Grunde und mit gleichfarbigen Conturen, die in einem Einzelbilde an 
ihren inneren, und im anderen Einzelbilde an ihren äusseren Rändern 
mit kleinen Abzeichen oder Schraffirungen versehen waren, thaten in- 
dess unwiderleglich dar, dass das Bild der einen Linie des Sammel- 
bildes hier nicht, wie dort, unterdrückt wird, sondern dass beide Li- 
nien des Sammelbildes, die hintere sowohl als die vordere, aus beiden 
beiderseitigen Einzelbildern wirklich combinirt wird. Das Verschwin- 
den der einen Linie kann also nicht auf dieselbe Art der Wech- 
selwirkung der beiderseitigen Netzhauterregungen zurückgeführt wer- 
den, welche bei dem Alterniren oder dem Wettstreit der einander im 
Sammelbilde kreuzenden oder berührenden Conturen beider Einzelbil- 
der in Betracht kommt. — Diese Erörterungen scheint Herr Berg- 
mann in den Göttinger gelehrten Anzeigen übersehen zu haben, in- 
dem er mir und seinen Lesern den Rath ertheilt, zu „erwägen, ob 
nicht vielleicht auch durch ein solches Schwanken in der Func- 
tion der Netzhaut (wie das von mir sub 5 besprochene) Doppel- 
bilder zeitweise verschwinden können, welche nach der Theorie der 
identischen Netzhautstellen vorhanden sein müssen.“ Er vergisst hier 
auch, dass das betreffende Doppelbild innerhalb der Grenzen der 
jedesmaligen individuellen correspondirenden Empfindungskreise 
nicht zeitweise und beinahe, sondern immer und vollständig 
als solches unsichtbar wird, also für den Beobachter und für die sinn- 
liche Wahrnehmung wirklich gar nicht als solches, d h. als Dop- 
pelbild vorhanden ist, obgleich es allerdings nach der alten Aufstel- 
lung als solches vorhanden sein sollte. Kben daraus folgt ja aber 
meines Erachtens, dass die alte Aufstellung falsch war! 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 101 


sichtsfelde sicht- N 
baren Bildpunkte 
entsprechen und 
dieselbe bestim- 
men. Die vier Bild- 
punkte 1, 2, 3 und 4 
können nämlich, je 
nach Umständen, in 
a oder in b, oder in 
ce oder in d erschei- 
nen, aber nicht an- 
derswo, als in einem 
dieser vier Raum- 
punkte. Zur Erläu- 
terung wird hier ein 
Beispiel genügen: 
Treffen z.B. 1 und 3 
die Mittelpunkte cor- 
respondirender Em-< 
pfindungskreise (wirk- & 
_ lieh eorrespondirende 
Punkte) in beiden 
Augen, wie beim voll- 
kommenen Fixiren 
derselben, so erscheint 
das einfach gesehene 
Sammelbild von 1+3 
allemal und ganz un- 
zweifelhaftinb. Wenn 
nun 2 und 4 als Dop- 
pelbilder sichtbar sind, 
so bleibt man in der 
That in Zweifel, ob 
ce oder d der schein- 
bare Ort für den Bild- 
punkt 2 ist, und ob 
der Bildpunkt 4 auf 
den Raumpunkt ce oder 


Fig. 56 


N, 
F 


102 minstobeirdne Bir I,» PAanum: 


auf a zu beziehen ist. Wenn aber das Netzhautbild von 4 in- 
nerhalb desjenigen correspondirenden Empfindungskreises; des 
Auges A fällt, der demjenigen Netzhautpunkte entspricht, »wel- 
cher im Auge B vom Bildpunkt 2 getroffen wird, so fällt jene 
Unbestimmtheit hinweg, und das einfach gesehene Sammelbild 
von 2-+4 erscheint immer und unzweifelhaft in e, niemals in 
d oder in a. — Wenn endlich dem Auge A nur ein Bildpunkt 
z. B. 3 geboten ist, der mit den beiden Bildpunkten i ‘und.2 
im Auge B binocular combinirt wird, so erscheint im Sammel- 
bilde der Bildpunkt 2 immer in d, der Bildpunkt 1 immer in 
b, aber die Raumpunkte d und b sind in diesem Falle weni- 
ger scharf für die Empfindung markirt, als in demjenigen, wo 
die Raumpunkte in b und ce je durch zwei Componenten, näm- 
lich 1+3 und 2+4 angezeigt werden. Ich hatte die respective 
Lage der Bildpunkte, vor oder hinter einander, in allen Ein- 
zelfällen rein empirisch, ohne irgend welche vorgefasste 
Meinung bestimmt, bevor ich obige Construction und die der- 
selben entsprechende Erklärung aufstellte. * Die vollkommene 
Uebereinstimmung meiner rein 'empirischen Beobachtung mit der 
Construction schien mir einerseits dafür zu bürgen, dass meine 
Beobachtung, andererseits dass die von derselben abgeleitete 
Erklärung richtig sei. Es ist hiernach klar, dass die Grund- 
lage dieser meiner Erklärung darauf beruht, dass ich die Wahr- 
nehmung der Projeetionslinien und ihrer gegenseitigen: Bezie- 
hungen zu einander an ihren Kreuzungspunkten bei der jedes- 
maligen ruhenden Augenstellung als eine reine Sinnesquas- 
lität, etwa dem Farbensehen vergleichbar, und nicht als 
etwas Angelerntes oder durch secundär eingreifende Functionen 
‚des höheren Seelenlebens hervorgebrachtes auffasse. Die eifri- 
gen Anhänger der psychischen Erklärungen haben nun zwar 
die Relation der einzelnen Netzhautpunkte zu ihren Projections- 
linien überhaupt als etwas Angelerntes hinstellen wollen.‘ Ge- 
gen diese Auffassung führte ich an: einestheils a) die Erfah- 
rungen, die man an Blindgeborenen gemacht hat, die, wie im 
berühmten Falle des Dr. Franz, plötzlich durch‘ eine 'glück- 
liche Operation sehend wurden, anderentheils: b). die, bezie- 
hungsweise zu den Netzhautbildern unverhältnissmässige, schein- 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 103 


bare Grösse der Objecte, und endlich e) die, wie Czermak 
durch hübsche Versuche gezeigt hat, jedenfalls nicht angelerute 
Beziehung der Netzhautbilder auf die Aussenwelt in gekreuzter 
Richtung, wodurch der Widerspruch des umgekehrten Netz- 
hautbildes mit der Aussenwelt aufgehoben wird. Noch evi- 
denter wird es aber, dass die Beziehung der einzelnen Netz- 
hautpunkte auf ihre Projectionslinien nicht angelernt, sondern 
angeboren, dass sie nicht durch secundäre psychische Vorgänge, 
sondern durch eine specifische Empfindungsweise hervorge- 
bracht ist, wenn wir d) das Verhalten solcher Thiere berück- 
sichtigen, deren eigentlich geistiges Leben wir jedenfalls nur 
sehr gering anschlagen und wahrscheinlich gleich Null betrach- 
ten können, und noch mehr, wenn wir das Verhalten solcher 
eben zur Welt gekommenen Thiere beobachten, die sogleich 
eine hirreichende Lebhaftigkeit und Beweglichkeit zeigen, um 
über ihre Empfindungsweise Aufschlüsse geben zu können. 
Ein vor weniger als 24 Stunden aus dem Ei gekrochenes 
Hühnchen, das im Dunkeln auskroch und bisher im Dunkeln 
verweilte, zeigt durch seine Bewegungen, z.B. wenn man nach 
ihm hascht, auf ganz unverkennbare Weise, dass es die durch 
‚die Dinge der Aussenwelt gesetzten Netzhautbilder ohne Wei- 
teres, ohne alle Erfahrung auf die Aussenwelt bezieht. — Aber 
auch die Wahrnehmung der gegenseitigen Beziehungen der 
Projectionslinien zu einander, an ihren Kreuzungspunkten, bei 
der jedesmaligen ruhenden Augenstellung ist nicht ein Product 
der. Erfahrung und secundär eingreifender höherer geistiger 
Thätigkeit. Denn wenn wir die einfachen Bilder oder Bild- 
elemente, z. B. der Figur 3l oder 33 bei geeigneter binocu- 
larer Betrachtung bezüglich der Dimension der Tiefe in einer 
ganz bestimmten Weise aufzufassen gezwungen sind, so kann 
dieses, wie mir scheint, nur durch eine angeborene und speci- 
fische Empfindungsweise, die durch die gegenseitige Einwirkung 
der Erregung durch die Conturen der beiden Netzhäute ent- 
steht, vermittelt werden, nicht aber durch psychische Thätig- 
keiten, weil diese an solchen einfachen Conturen kein Object 
finden, bei welchen die eine Empfindungsweise bezüglich der 
Tiefe der anderen aus psychischen Gründen vorzuziehen wäre 


104 j P.L. Panum: 


Wenn die psychischen Thätigkeiten hier etwas vermöchten, so 
müsste es bei dem Bewusstsein der Lage aller Conturen in 
einer Ebene möglich sein, sie auch in einer Ebene zu sehen, 
dazu ist man aber, falls nur eine der Linien jeder Seite zur 
Deckung gekommen ist, gar nicht im Stande; man mag die 
Phantasie, die Aufmerksamkeit u. s. w. noch so sehr anstren- 
gen, es ist nicht möglich, die Tiefenempfindung der bi- 
nocularen Parallaxe, wie ich sie gemeint, zu beseitigen, 
wenn man sie erst kennen gelernt hat. Ja noch mehr, in com- 
plieirten Zeichnungen, die jede für sich genommen, perspecti- 
visch richtig gezeichnet sind, und in welchen Schatten und 
alle jene Verhältnisse, welche beim Sehen mit einem Auge 
durch Vermittelung der Erfahrung und des Urtheils eine be- 
stimmte sachgemässe Auffassung motiviren, Kann man durch 
eine Veränderung der gegenseitigen Lage der Bildobjecte ganz 
unsinnige Resultate bei geeigneter binoeularer Betrachtung der- 
selben erzielen, wie in dem von mir in Fig. 57, gleichsam als 
Argumentum ad hominem, gelieferten Beispiele. Hiermit sol- 
len die anderen ebenfalls auf unmittelbarer Sinnlichkeit beru- 
henden Momente, die auch beim monocularen Sehen für die 
Auffassung der dritten Dimension in Betracht kommen, natür- 
lich in ihrer Bedeutung nicht geschmälert werden; ich habe 
dieselben vielmehr ausdrücklich hervorgehoben. Eben so wenig 
habe ich es in Abrede gestellt, dass die eigenthümlichen Em- 
pfindungen, welche bei den durch Muskelthätigkeit herbeige- 
führten Convergenzstellungen der Augenachsen und bei der 
Accommodation entstehen, die Auffassung der dritten 'Dimen- 
sion wesentlich unterstützen, ich habe vielmehr auch diese Mo- 
mente gewürdigt. Sie reichen aber zur Erklärung nicht allein 
aus, weil die specifische Empfindung der binocularen Parallaxe 
sich auch trotz der in entgegengesetztem Sinne redenden ma- 
lerischen Effeete geltend macht, und weil diese speecifische 
Empfindung auch, wie schon Dove nachwies, bei der durch- 
aus momentanen‘ Beleuchtung durch den elektrischen Funken, 
wobei Convergenz- und Accommodationsbewegungen ausge- 
schlossen werden, zur entschiedenen Geltung kommt.‘ Endlich 
habe ich auch den Einfluss der psychischen Thätigkeiten für 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 105 


die Construction einer bestimmten, auf die dritte Dimension 
bezüglichen Vorstellung ausdrücklich eingeräumt, indem ich 
ihnen die erfahrungsmässige Verwerthung der verschie- 
denen durch die unmittelbare Sinnlichkeit dargebotenen Momente, 
unter welchen die specifische Empfindung der binocularen Pa- 
„allaxe nur einen hervorragenden Rang einnimmt, zugeschrieben 
habe, Das ist ja doch im Grunde wobl dasselbe, was Hasner 
ausdrücken will, indem er einerseits sagt, dass die Tiefenem- 
pfindung, als ein höherer Act des Sehsinnes, sich nur aus der 
Empfindung von Bildern auf nicht identischen Retinapartien 
aufbaue, und andererseits, dass das Flächen- und Tiefensehen 
auf einem geometrischen Calcul des Sehsinnes beruht. 

Wir können nun alle diese Erklärungen der oben 
zur Sprache gebrachten Thatsachen folgendermassen über- 
sichtlich zusammenfassen: 

1. Ich habe es als eine specifische binoeulare Sinnesenergie 
hingestellt, dass verschiedene Färbungen mit einander zu einer 
binocularen Mischfarbe verschmelzen können. Dieses kommt 
besonders dann zur Beobachtung, wenn die verschiedenen, 
beiderseitig auf correspondirende Netzhautstellen einwirkenden 
Erregungen nicht zu intensiv, oder die Erregbarkeit des Seh- 
organes nicht zu gross ist. Künftighin will ich dieses die 
binoculare Synergie der Farbenmischung 
nennen. 

2. Ich habe es als eine zweite specifische binoeulare Sin- 
uesenergie hingestellt, dass verschiedenfarbige oder verschieden 
conturirte Einzelbilder mit einander alterniren können. Dieses 
wird besonders dann beobachtet, wenn die verschiedenen beider- 
seitig auf correspondirende Netzhautstellen einwirkenden Erre- 
gungen sehr intensiv sind, oder wenn die Erregbarkeit des 
Sehorganes sehr gross ist. Dieses werde ich künftig die bi- 
noeulare Synergie des Alternirens nennen. 

3. Ich habe es als eine dritte specifische binoculare Sinnes- 
energie hingestellt, dass wir Bildpunkte, deren einer eine be- 
stimmte Netzhautstelle des einen Auges trifft, während der 
andere innerhalb des jenem Punkte entsprechenden jedesmali- 
gen individuellen correspondirenden Empfindungskreises fällt, 


106 |  P. L. Panum: 


zu einem einfachen Bilde combiniren können. Diese speecifische 
Energie will ich als die binoceulare Synergie des 
Einfachsehens durch correspondirende Em- 
pfindungskreise bezeichnen. 

4. Als eine vierte binoculare specifische Sinnesenergie habe 

ich hingestellt, dass wir die Combination der beiderseitigen,,, 

in ihrem Hauptumrisse einander entsprechenden, aber in ihrem 
gegenseitigen horizontalen Abstandsdifferenzen verschiedenen 
Bildtheile nach Angabe der Projectionslinien und ihrer Kreu- 
zungsstellen auf die Dimension der Tiefe im Raum beziehen. 
Diese Energie habe ich die Synergie der binocularen 
Parallaxe genamnt. 

5. Ich habe es als einen ganz allgemein, auch für das 
monoculare Sehen gültigen Satz hingestellt, dass die objective 
Reizstärke der Conturen sowohl, als durch das den Conturen 
im Einzelbilde zunächst anliegenden Grundfärbung eine ganz 
ausgezeichnete, diejenige der einfachen Grundfärbung an In- 
tensität weit übertreffende ist. Hierdurch wurde einerseits die 
mosaikartige Ausfüllung des gemeinschaftlichen Gesichts- 
feldes durch die beiderseitigen Conturen, sofern dieselben sich 
weder kreuzen noch berühren, erklärt, und andererseits wurde 
hierdurch diejenige Uebertragung der der Contur zu- 
nächst anliegenden Grundfärbung in das Sammel- 
bild verständlich, wodurch die im Sammelbilde einander kreu- 
zenden oder berührenden Conturen der beiden Einzelbilder, 
kraft der binocularen Synergie des Alternirens, zeitweilig 
undeutlich gemacht oder selbst ganz zum Verschwinden ge- 
bracht werden können. (Die Macht der Conturen 
und de Macht der den Gonturen anliegenden 
Grundfärbung.) 

6. Endlich habe ich die Einstellung der zwei Augen für 
das Binocularsehen von zwei wesentlich verschiedenen Grund- 
momenten abhängig gemacht, nämlich: 

a) Von einem rein sinnlichen, als Reflexaction dem Sehacte 
immanenten Momente, das einerseits die natürliche Au- 
genstellung, andererseits den Einfluss der domini- 
renden (senkrechten oder schrägen) Linien bedingt. Um 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 107 


eine einfache Bezeichnung für dieses rein sinnliche Mo- 
ment’ zu haben, will ich dasselbe künftig den binocu- 
laren Reflexinstinet nennen. 

b) Von einem psychischen Momente, indem wir uns beson- 
"ders bei'mangelnder Uebung in binocularen Experimen- 
“ten unwillkürlich bemühen, die beiden Netzhautbilder zu 
einem verständlichen, sachgemässen Sammelbilde zu com- 
''biniren. In Ermangelung eines besseren Ausdruckes will 
"ieh dieses Moment künftig den binocularen Intel- 
ligenzinstimet nennen, 

Dieses sind die Momente, die ich als die wesentlichsten 
Resultate meiner experimentellen Analyse des gemeinschaftli- 
chen Gesichtsfeldes betrachte. Bei dieser experimentellen Ana- 
lyse bin ich, wie bei einer chemischen Analyse, auf dem Wege 
der Exelusion vorgeschritten, bis es mir nach und nach ge- 
lang, die einzelnen Elemente zu isoliren und in isolirbarem 
Zustande, bezüglich ihrer charakteristischen Reactionen, zu prü- 
fen. ‘Wie’ der Chemiker nach praktischer Ausführung einer 
Analyse seine eigentliche Arbeit als beendigt ansieht, so that 
auch ich. es, als ich soweit gekommen war. Wenn der Che- 
miker dann: aber noch die allgemeine Frage aufwerfen will, 
inwiefern das Resultat seiner Analyse mit irgend einer herge- 
brachten Hypothese über die chemische Oonstitution der von 
ihm gefundenen Stoffe oder dergleichen übereinstimmt, so bleibt 
natürlich eine von ihm hierüber ausgesprochene Vermuthung 
ohne Einfluss auf die Richtigkeit seiner Analyse, und es wird 
keinem Chemiker einfallen, dass ein Angriff auf eine solche 
ganz allgemein gehaltene Muthmassung oder Meinungsäusserung 
das factische und praktische Resultat seiner Analyse erschüt- 
tern könnte. — Wenn ich nun nach Beendigung meiner expe- 
rimentellen Analyse des gemeinschaftlichen Gesichtsfeldes die 
Frage aufgeworfen habe, wie ’denn das Resultat dieser Analyse 
mit der alten anatomischen "Hypothese übereinstimmt, der zu- 
folge je zwei correspondirende Stellen der beiden Netzhäute 
je einer empfindenden Stelle im Hirn entsprechen sollten, so 
konnten dadurch doch die Einzelresultate meiner experimen- 
tellen Analyse nicht gefährdet werden, denn falls sich eine 


108 P. L. Panum: 


Nichtübereinstimmung herausstellen sollte, so würde diese doch 
nur eine Präsumption gegen jene Hypothese, nicht aber gegen 
obige Resultate meiner Untersuchung ergeben können. Ich 
habe nun im Schlussworte allerdings darauf aufmerksam ge- 
macht, dass die von der binocularen Synergie in der Farben- 
mischung und von der binocularen Synergie des Alternirens, 
so wie von der Macht der Conturen und der ihnen anliegenden 
Grundfärbung bezüglichen Thatsachen sich ohne Schwierig- 
keit mit dieser alten Hypothese vereinigen lassen; ich habe _ 
aber zugleich bemerkt, dass diese Hypothese nicht zur Er- 
klärung ausreicht.!) Dasselbe gilt von den auf den bino- 
eularen Reflexinstinet und den binocularen Intelligenzinstinct 
bezüglichen Thatsachen; auch sie sind mit dieser Hypothese 
wohl vereinbar, sie reicht aber auch zur Erklärung 
der Erscheinungen nicht aus.?) 

Bezüglich der Synergie der binocularen Parallaxe 
und der binocularen Synergie des Einfachsehens 
habeich dahingegen ausdrücklich bemerkt, dass die 


1) Für die Erklärung der binocularen Synergie der Farbenmi- 
schung und des Alternirens müsste man neben dieser noch eine zweite 
Hypothese zu Hülfe nehmen, nämlich dass zwei qualitativ ver- 
schiedene Erregungszustände, die einander in den ge- 
meinschaftlichen empfindenden Hirnpunkten begegneten, 
einmal die Mischfarbe als Resultate ergeben könnten, 
und dass ein anderes Mal der eine und der andere Erre- 
gungszustand abwechselnd in den empfindenden Hirn- 
punkten zur dominirenden Geltung gelangen könnte. — 
Für die Erklärung der Macht der Conturen und der den Conturen an- 
liegenden Grundfärbung könnte man zu jener Hypothese eine andere 
zu Hülfe nehmen, nämlich dass -die Erreguug der von einer 
Contur getroffenen empfindenden Punkte die Erregbar- 
keit der angrenzenden Theile im Sinne des Contrastes 
modificiren. 

2) Zur Erklärung ist noch die Annahme nöthig, dass der Reflex- 
instinet sowohl als der Intelligenzinstinet darauf ausgehen, diejenige 
Augenstellung herbeizuführen, bei welcher die Netzhautbilder eine 
solche Stellung einnehmen, dass sie einerseits im Sammelbilde mög- 
lichst vollständig zur Deckung gebracht würden, und dass sie anderer- 
seits dadurch ein sachgemässes oder wahrscheinliches Sammelbild 
entsteht. 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 


auf sie bezüglichen Thatsachen nicht ohne 
erhebliche Schwierigkeiten mit dieser Hy- 
pothese vereinbar sind! (8. 9l.) 

Ich habe nirgends behauptet, dass irgend 
welche anatomische Verbindung der einzelnen em- 
pfindenden Netzhautpunkte einerseits und der cor- 
respondirenden Empfindungskreise andererseits das 
Einfachsehen bedingen sollte, ich habe im Gegentheil 
(S. 92) gesagt: „dass wir über eine solche Verbindung Nichts 
wissen — ebensowenig als über die nähere anatomische Be- 
dingung für das Verschmelzen der Erregungen der Mittel- 
punkte zweier correspondirenden Empfindungskreise zur ein- 
heitlichen Empfindung“, welche der Urheber der alten Auf- 
stellung von den sogenannten identischen Punkten vermuthet 
und in Form jener Hypothese eingekleidet hatte. Ich habe es 
mir beispielsweise als ganz offene Fragen hingestellt, ob 
man hier an eigenthümliche anastomosirende Verbindungen be- 
nachbarter Zellen, welche Träger der Empfindung wären, den- 
ken könnte? oder ob man sich etwa vorstellen könnte, dass 
‘besondere Anastomosen, etwa die Fibrae arcuatae ant. des 
Chiasma eine Verbindung der correspondirenden Netzhautstellen 
zu Wege brächten? Ich habe aber nicht im Entferntesten 
daran gedacht, die eine oder die andere dieser ganz lose hin- 
geworfenen Fragen zu bejahen; es sind mir diese Conjeeturen 
vielmehr immer sehr unwahrscheinlich vorgekommen! (Solcher 
Fragen, wie die angeführten, liessen sich noch manche aufwer- 
fen. Man könnte z. B. fragen, ob man sich nicht vorstellen 
könnte, dass die früher von Volkmann sehr wahrscheinlich 
gemachte Verbindung mehrerer oder vieler Stäbchen und 
Zäpfchen mit einer Faser des N. optieus für die Synergie des 
binoeularen Einfachsehens und für die Synergie der binocularen 
Parallaxe in Betracht kommen könnte? Ich bemerke aber 
ausdrücklich, dass ich auch diese Conjeetur durchaus 
nieht vertreten will! Ich führe dieselbe hier nur an, um 
Diejenigen, welche mehr Neigung haben als ich, .in anatomi- 
schen Hypothesen zu machen, auf ein paar Schwierigkeiten 
aufmerksam zu machen, die sich gegen letztere Conjeetur.er- 


110 P. L. Panum: 


heben, nämlich dass dieselben Stäbchen oder Zäpfchen: bei: ver- 
schiedenen Augenstellungen alsdann verschiedene räumliche 
Empfindungen müssten vermitteln können, und ‚dass die) mo- 
saikartige Eintragung einander sehr nahe liegender Punkte in 
das Sammelbild mit ihr schwer vereinbar sein würde.) 

Ich habe ferner ausdrücklich gesagt, „dass ein jeder Ver- 
such, die Synergie der binocularen Parallaxe mit der gegen- 
seitigen Anordnung der betreffenden histologischen Elemente 
in Zusammenhang zu bringen, von vorn herein unmöglich ist“ 
und ich habe des grösseren Nachdrucks halber zwei Mal, 8. 
83 und 92, den Satz wiederholt: „Durch welehe Anordnung 
und Qualität der Nervenelemente des centralen Opticusgebietes 
wir in den Stand gesetzt werden, in dieser 'specifischen Weise 
nach Richtung ‘der Projeetionslinien zu empfinden, und beim 
binoeularen Sehen die Dimension der Tiefe mittelst einer. Wech- 
selwirkung der durch die Conturen beider. Netzhautbilder her- 
vorgebrachten Erregungen so zu empfinden, wie sie empfunden 
wird, Uarüber wissen wir eben so wenig, als z. B. über das 
Wesen der Farbenempfindung.* Den Vergleich mit der Far- 
benempfindung habe ich eben gewählt, um damit die Möglich- 
keit zu bezeichnen, dass die .Synergie der binocularen Parall- 
axe nicht nur von der localen anatomischen Anordnung der 
Elemente, sondern vor Allem auch von der Qualität der 
Erregung abhängen könnte. An dieselbe Möglichkeit habe 
ich bezüglich der binocularen Synergie des Einfachsehens 'ge- 
dacht; das einheitliche Verschmelzen der beiderseits innerhalb 
correspondirender Empfindungskreise fallenden Netzhauterre- 
gungen könnte vielleicht in gewisser Beziehung stehen zu jener 
besonderen Qualität der Empfindung (der Tiefenempfindung), 
welche durch diese Art der Erregung der Farbenempfindung 
analog hervorgerufen wird. Es war eben die Rücksicht auf 
diese Möglichkeit: dass specifische, von der Qualität 
der Erregung abhängige Empfindungsweisen die 
Synergie der binocularen Parallaxe sowohl, als die 
binoculare Synergie des Einfachsehens (sofern. sie 
nicht durch die Mittelpunkte der einander correspondirenden 
Empfindungskreise vermittelt wird) bedingen könnten, 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s, w. 111 


welche mich abhielt, den Schwierigkeiten, welche die hierher 
gehörigen Thatsachen der alten anatomischen Hypothese ent- 
gegensetzten, ein solches Gewicht beizulegen, dass dieselbe auf- 
gegeben werden müsste. Wenn nämlich specifische Qua- 
litäten der Erregung in den genannten Fällen die Erschei- 
nungen bedingen, so kann diese alte anatomische Hypothese, 
welcher ich übrigens, wie ausdrücklich S. 2 bemerkt, keinen 
weiteren Werth beigelegt habe, als dass sie der Auffassung und 
dem Gedächtnisse zu Hülfe kommt, trotz der in Rede ste- 
henden Erscheinungen aufrecht erhalten werden, obgleich sie 
dieselben natürlich durchausnichterklärt und nach 
mir auch nicht erklären soll. 

Man sieht, dass es auf einem vollständigen Missverständniss 
beruht, wenn Volkmann meiner Ansicht entgegen zu treten 
meint, indem er mit ganz besonderem Nachdrucke den Nach- 
weis zu führen sucht, dass die binoculare Synergie des Ein- 
fachsehens nicht einer solehen Anordnung entspricht, bei 
der ein jeder empfindende Netzhautpunkt,des einen Auges mit 
einer Summe anderer, innerhalb des correspondirenden Em- 
pfindungskreises des anderen Auges liegender empfindender 
Punkte zu einer solidarischen mit ihr identisch empfindenden 
Einheit verbunden sein sollte. An eine solche anatomische 
Anordnung habe ich wirklich niemals gedacht, und ich würde 
eine so unsinnige Meinung wahrlich nicht einer ausführlichen 
Widerlegung gewürdigt haben! Die vollständigste Widerlegung 
einer solchen widersinnigen anatomischen Hypothese ist ja eben 
in. den von mir selbst mitgetheilten Thatsachen enthalten, in- 
‚dem ich nachgewiesen habe, dass ein jeder der vielen, inner- 
halb eines correspondirenden Empfindungskreises gelegenen, 
empfindenden Punkte, bei gleichzeitiger Erregung mit dem zu- 
gehörigen Punkte a im anderen Auge eine ganz andere 
Raumempfindung vermittelt, als die Erregung eines jeden 
anderen, innerhalb desselben correspondirenden Empfindungs- 
kreises liegenden Punktes, bei gleichzeitiger Erregung dessel- 
ben Punktes a im anderen Auge. 

(Schluss folgt.) 


112 Sauervv. 


Durch welchen Mechanısmus wird der Verschluss 
der Harnblase bewirkt? | 


Von 


Dr. med. SAUER in Breslau, 
(Hierzu Taf. IV.) 


Historisches, 


So genau die früheren Anatomen bereits die einzelnen Or- 
gane des Körpers beschrieben haben, so viel Aufmerksamkeit 
und Fleiss man dem Bau und der Structur. derselben zuge- 
wandt hat, so darf man doch nicht mit Unrecht behaupten, dass 
gerade die Harnblase eine gewisse Vernachlässigung, ja ich 
möchte sagen stiefmütterliche Behandlung erfahren hat. Erst 
in der neuesten Zeit haben zwei wissenschaftlich und literarisch 
berühmte Männer dies erkannt und nachzuholen gesucht. Ich 
meine Kohlrausch und Barkow. Ersterer hat in seiner 
Schrift „Zur Anatomie und Physiologie der Beckenorgane. 
Leipzig 15854“ auch die Harnblase einer genaueren anatomischen 
und physiologischen Untersuchung unterworfen. Das; grösste 
Verdienst jedoch in der anatomischen Beschreibung gebührt 
meinem geliebten, hochverehrten Lehrer, dem Professor der 
Anatomie Dr. Barkow. Selbiger hat mit einem unermüdli- 
chen Fleiss an der anatomischen Untersuchung dieses Organes 
gearbeitet und seine Resultate in dem Werke: „Anatomische 
Untersuchungen über die Harnblase des Menschen, nebst Be- 
merkungen über die männliche und weibliche Harnröhre. Bres- 
lau 1858“ veröftentlicht. 

Barkow sucht den Verschluss der Harnblase besonders 
in dem elastischen Gewebe, welches in dem Annulus cervicalis 
elasticus und dem Planum elasticum infundibuli vorzugsweise 
neben sehnigtem Gewebe vorhanden ist.  Ersterer umgiebt 
kreisförmig die. Pars cervicalis urethrae und ist schon von 
Lieutaud als Anneau ligamenteux beschrieben worden. Das 
Planum elasticum befindet sich in der nächsten Umgegend des 
Harnröhreneinganges und zerfällt in das Planum elasticum cir- 
culare ostii urethralis, aus kreisförmig den Harnröhreneingang 
umgebenden Fasern bestehend und in das Planum elasticum 
uretericum, dessen Fasern anfangs quer, später von aussen und 


Dj 


i 


Durch welchen Mechanismus wird der Verschluss u. s. w. 113 


hinten nach vorn und innen gegen die Mittellinie verlaufen. 
Im weiblichen Geschlecht lässt Barkow neben dem Planum 
eireulare noch die Pars annularis superior des Involucrum ela- 
sticum urethrae den Verschluss bewirken, welches letztere eben- 
falls aus elastischen Kreisfasern bestehend, vom Ostium vesicale 
bis ziemlich zum unteren Ende der Harnröhre sich erstreckt. 
Die Existenz eines eigenen Sphinkter vesicae wird von ihm in 
Abrede gestellt. „Ein wirklicher Sphinkter der Harnblase“, 
sagt er, „ist aber nur eine Fietion der Physiologie, welche die 
Verschliessung einer so wichtigen Oeffnung, wie die der Harn- 
blase, auf dieselbe Weise, wie die anderer grösserer Oeffnun- 
gen erklären zu müssen geglaubt hat, ohne auf die grosse ana- 
tomische Verschiedenheit derselben zu achten.“ Die mittlere, 
aus Kreisfasern bestehende Schicht der Muskelhaut der Harn- 
blase, soll am Beginn des Planum elasticum infundibuli auf- 
hören, oder nur eine kurze Strecke über dasselbe nach abwärts 
sehen, das Ostium urethrale aber nicht erreichen. „Wenn man,“ 
sagt Barkow, „die Prostata und den Annulus cervicalis ela- 
sticus genau an der Harnblasenmündung vollständig abpräpa- 
rirt, so erfolgt sofort eine bedeutende Erweiterung der letzteren, 
indem das Planum eirculare nicht mehr durch den stärkeren 
Annulus zusammengehalten wird. Hierbei schieben sich als- 
dann die untersten vorderen Fascikel der Kreisfaserschicht der 
Muskelhaut bis an den Rand der Oeffnung oder selbst bis über 
denselben herab und stellen gleichsam einen Semisphinkter dar.“ 

Kohlrausch lässt den Verschluss der Harnblase von zwei 
Sphinkteren abhängig sein. Der eine, welcher von ihm Sphinkter 
vesicae genannt wird, soll in der Nähe des Orificium so an- 
geordnet sein, dass kreisförmig und schräg laufende Fasern sich 
hier zu einer compacteren Masse cirkelförmiger Fasern con: 
centriren und zwar am stärksten an der Uebergangsstelle der 
Harnblase in die Harnröhre. Dies ist nach ihm ein aus vege- 
tativen Muskelbündeln bestehender unwillkürlicher Sphincter. 
An ihm soll der Detrusor urinae seine festen Insertionspunkte 
haben, indem dessen longitudinale Fasern sich pinselartig zwi- 
schen den Fasern des Sphinkter verlieren. Als zweiten Blasen- 
schliessmuskel giebt Kohlrausch den Sphincter urethrae an, 
welcher von ihm als ein dickes und reiches Stratum willkür- 
licher Muskelfasern beschrieben wird, das in der vorderen 
Wand der Prostata eingebettet liege. Durch diesen Sphihcter 
voluntarius soll der senkrechte zweischenklige Spalt der Harn- 
röhre, welcher zwischen sich die von der hinteren Wand her- 
einragende Luette vesicale Lieutaud’s hat, mit der Ver- 
kürzung des umgebenden Gewebes in querer Richtung enger 
zusammengepresst und somit verschlossen werden. 

Vom physiologischen Standpunkte aus hat man ebenfalls 
schon lange und viel über den Verschluss der Harnblase ge- 
stritten und nach den Momenten geforscht, welche im Leben 
und Tode das Abfliessen des Harnes verhindern. Haller und 

Reichert’s u, du Bois-Reymond’s Archiy. 1861, 8 


114 Sauer: 


Kohlrausch legen auf die eigenthümliche anatomische Lage- 
rung der Blase im Becken ein besonderes Gewicht. Ersterer 
ist der festen Ueberzeugung, dass ein unwillkürlicher Sphinkter 
allein das Zurückbleiben des Harns in der Leiche nicht zu be- 
wirken vermöge. v. Wittich weist jedoch diese Ansicht voll- 
ständig zurück, indem er dagegen anführt, dass auch bei vier- 
füssigen Thieren, wo die Blase sich mehr nach vorn senkt, 
dasselbe stattfinde, gleichwie man auch menschliche Leichen in 
jede beliebige Stellung bringen könne, ohne dass Harn abfliesse. 
Ja es könne die Blase mit ihren Theilen selbst aus dem Becken 
herausgenommen und mit Wasser oder Luft gefüllt werden, 
ohne dass durch die Urethra etwas davon entweiche. Kohl- 
rausch lässt aber ausserdem noch die beiden Sphinkteren wir- 
ken. Der Detrusor soll nach ihm als Antagonist des Sphinkter 
vesicae wirken. Die Entleerung des Harns soll dadurch zu 
Stande kommen, dass der Detrusor durch seine Contractionen 
den Sphinkter vesicae öffne, gleichwie man die Schnüre eines 
Beutels mit den Fingern aufzieht. 

Wiederholt gab sich zu verschiedenen Zeiten die Meinung 
kund, dass wobl ein unwillkürlicher Sphinkter vorhanden sein 
müsse, der in normalen Verhältnissen das Abträufeln des Harns 
verhindere. Joh. Müller und M. Hall werden als die ersten 
genannt, welche dem Sphinkter als continuirliche Function eine 
stetige Contraction zuschreiben, oder mit anderen Worten, einen 
Sphinkterentonus, welcher überall an den grösseren Oeffnungen 
des Körpers vorkommt, zum Verschluss der Harnblase an- 
nehmen. 

Im Jahre 1857 hat Dr. Rosenthal in seiner Inaugural- 
Dissertation!) zugleich über den Verschluss der Harnblase ge- 
schrieben und darin (S. 27) nach den Resultaten seiner phy- 
siologischen Versuche die Schlussfolgerung ausgesprochen: „dass 
die Annahme eines eigenen Sphinkterentonus zum Verschluss 
der Harnblase gänzlich überflüssig sei, da die Blase unter Um- 
ständen, wo von keinem Sphinkterentonus die Rede ist, Wasser 
unter einem Druck zurückhalten kann, der im Leben kaum je- 
mals übertroffen wird.“ Als die hauptsächlichste Ursache des 
Verschlusses wird von ihm die Elastieität angesehen, weil, wie 
er sagt, nach der Todtenstarre und öfterer Wiederholung des 
Experimentes die Druckhöhe so schnell vermindert werde. 

Hierauf erschien im Jahre 1858 in Joh. Müller’s Archiv 
für Anatomie und Physiologie ein Aufsatz von Dr. R. Hei- 
denhain und Dr. A. Colberg, betitelt: „Versuche über den 
Tonus des Blasenmuskels.“ Heidenhain kam nach vielfachem 
Experimentiren zu dem gegentheiligen Resultate, dass der 
Druck, unter welchem sich der Schliessmuskel des todten 
Thieres Öffnet, ausserordentlich viel geringer sei, als ihn Ro- 


1) De tono cum museunlorum tum eo imprimis qui sphineterum 
tonus vocatur. Regiomonti. 


Durch welchen Mechanismus wird der Verschluss u. s. w. 115 


senthal gefunden, und dass die ebenfalls grosse Differenz der 
Widerstandsfähigkeit des Schliessmuskelse im lebenden und im 
todten Thiere auf einer continuirlichen unwillkürlichen, also 
tonischen Oontraction des Muskels beruhe. 

v. Wittich übernahm es sodann in einer Abhandlung 
„Anatomisches, Physiologisches und Pathologisches über den 
Blasenverschluss* !) Rosenthal zu rechtfertigen. 

Hierin stellt er als den eigentlichen unwillkürlichen Sphinkter 
die Prostata hin. Von ihr sagt er: „Dieselbe stellt uns beim 
Manne einen durch Drüsenmasse etwas auseinander gerückten 
Muskelring dar, der in jeder Beziehung den Anforderungen an 
einen Schliessmuskel entspricht.“ Ebenso soll auch beim Weibe 
an der Urethra ein gleicher Sphinkter, als eine kreisförmig 
jene umgebende Muskellage vorkommen, welche aber nicht als 
eine continuirliche Fortsetzung der mittleren Muskelschicht der 
Blase anzusehen sei. Weiter erklärt v. Wittich: „Unterstützt 
wird die Wirkung der unwillkürlichen Sphinkteren und der ihn 
begleitenden und umgebenden elastischen Gebilde natürlich noch 
durch die willkürlichen Sphinkteren: den Mm. urethralis trans- 
versus (Krause) des Stratum circulare urethrae und jenen 
Theil des ersteren, den Kohlrausch als Sphinkter urethrae 
prostaticus beschreibt. Diese Stütze beschränkt sich aber kei- 
neswegs nur auf ihre willkürliche Contractionsfähigkeit, son- 
dern findet sich auch in der elastischen Spannung, in der sie, 
wie wohl alle animalen Muskeln, sich während des Lebens und 
unter normalen Verhältnissen befinden.“ 

Ferner vertheidist er sich gegen Heidenhain’s Annahme, 
dass er der Blasticität allein die Verhütung des beständigen 
Abfliessens des Urins zuschreibe, indem er erklärt: „Weder 
ihm (Rosenthal), noch weniger mir kam es dabei (bei den 
Versuchen) in den Sinn, den alleinigen Verschluss der Blase 
auf die Elastieitätswirkung des Sphinkters zu reduciren, ich 
finde in Rosenthal’s Dissertation keine Stelle, die es in Ab- 
rede stellt, dass nicht auch bei höherem Druck, d. h. bei 
weiterer Füllung der Blase, der unwillkürliche Sphinkter wirk- 
sam wäre, nur gegen die continuirliche Contraction, den soge- 
nannten Tonus desselben, schienen die älteren Thatsachen und 
Versuche zu sprechen. Und das leisten sie auch noch — wenn 
sie eben in der Art angestellt werden, wie es von Rosenthal 
geschah.“ 

Hiernach handelt es sich nur noch darum, die Höhe des 
Druckes kennen zu lernen, bei welchem die Elasticität nicht 
mehr zum alleinigen Verschluss genügt, sondern jetzt der Hülfe 
des Sphinkters bedarf. Ohne Zweifel müsste nach v. Wit- 
tich’s hohen Druckwerthen die Elastieität erst bei sehr be- 
trächtlicher Anfüllung der Blase insufficient für den Verschluss 
werden. Wir werden aber sehen, dass v. Wittich’s Zahlen 


1) Medieinische Jahrbücher. Bd. II. Heft I. 1859. 
8g* 


116 Sauer: 


durchaus nicht ein Maass für die Stärke der elastischen Kraft, 
mit welcher die Blase verschlossen wird, abgeben, sondern 
wahrscheinlich etwas ganz Anderes messen. | 

Das Resultat seiner Versuche giebt wie bei Rosenthal 
sehr viel höhere Werthe, als Heidenhain gefunden. Eine 
Erklärung der Differenz vermag v. Wittich jedoch nicht zu 
geben. Die Schlussfolgerung ist: „dass der sogenannte Sphinkter 
auch im todten Zustande durch seine Elastieität die. Blase 
schliesst, die Blasenwand sehr viel dehnbarer ist, ein sehr viel 
höherer Druck also erfordert wird, um jenen zu Öffnen, als 
um diese auszudehnen; 2) dass bei weiblichen Individuen der 
elastische Widerstand des Sphinkters geringer ist, als bei 
männlichen, deren Prostata auch sehr viel mehr Masse bietet, 
als die analogen Theile der weiblichen Blase.“ 


Experimentelles—Kritisches. 


Die von mir unter Leitung des Herrn Professor Heiden- 
hain angestellten Versuche erstrecken sich sowohl auf lebende 
als todte T'hiere. Bevor ich jedoch zur speciellen Mitthbeilung 
der einzelnen Fälle übergehe, will ich zunächst die Methode 
angeben, die jedesmal angewandt wurde. 

Das Thier wurde zunächst auf dem Rücken liegend mit den 
vier Extremitäten an ein Brett gebunden; hierauf die Bauch- 
höhle durch einen in der Linea alba verlaufenden Längsschnitt 
und je einen seitlichen Querschnitt geöffnet, und die an dem 
Ramus horizontalis ossis pubis entspringenden beiden Musculi 
recti abdominis lospräparirt, damit die Bauchpresse bei der 
Harnentleerung nicht mehr mitwirken konnte. Sodann wurden 
in den Darm einige Tropfen der T. opii simpl. injieirt, um 
das Thier zu narkotisiren, ferner das Intestinum reetum unter- 
bunden, damit das Herabtreten der Fäcalmassen nicht einen 
Druck auf die Blase ausüben und so die Harnentleerung be- 
günstigen könnte. Schliesslich wurde der eine Ureter dicht an 
der Niere abgeschnitten, bis zur Einmündung in die Blase frei 
präparirt und eine mit einem Hahne versehene Canüle in ihn 
eingebunden. Die Blase selbst wurde immer erst durch Druck 
vollständig entleert und der Penis oder der Anfang der Vagina 
und deren Umgebung sorgfältig mit Fliesspapier abgetrocknet, 
nachdem zuvor schon die umgebenden Haare mit der Scheere 
entfernt worden waren. Die v. Wittich’sche Methode, mit 
einem geölten Bougie vorher die Durchgängigkeit der Urethra 
zu prüfen, kam nur in einigen Fällen zur Anwendung; wir 
vermieden absichtlich die Einführung von Fett in die Harn- 
röhre, weil dadurch die Widerstände für das durchfliessende 
Wasser gesteigert werden könnten. Jetzt wurde an die Ca- 
nüle ein Hahn geschraubt, der durch einen Gummischlauch mit 
einem trichterförmigen, ziemlich weiten Wasserbehälter in Ver- 
bindung stand. Letzterer war in einen horizontalen Arm ein- 
gseklemmt, der selbst wiederum an einem verticalen, mit Centi- 


Durch welehen Mechanismus wird der Verschluss u. s. w. 117 


meterscala versehenen Holzpfeiler verschiebbar angebracht war. 
Vor jedem Versuche und dessen Wiederholung wurde erst der 
Nullpunkt bestimmt, d. h. es wurde der geöffnete Hahn senk- 
recht in gleiche Höhe mit der Blase gebracht und durch Ver- 
schieben des horizontalen Armes gesehen, bei welchem Centi- 
meterstrich ein Tropfen am Hahn zum Vorschein kam. Das 
Wasserniveau im Trichter befand sich ‘jetzt also in gleicher 
Höhe mit der Blase. Noch muss hinzugefügt werden, dass der 
Druck stets nur um je einen Centimeter gesteigert wurde und 
wir, wie v. Wittich es gethan, dazwischen immer wenigstens 
drei Minuten verstreichen liessen. Dabei wurde auch immer 
genau darauf geachtet, dass die Blase in ihrer natürlichen La- 
gerung im Becken sich befand und durch Befeuchtung dersel- 
ben sowie des Ureters eine Vertrocknung nicht stattfinden 
konnte. 

I. Versuch. Es wurde ein lebendes männliches Kaninchen 
dazu benutzt. Der Nullpunkt war bei 80 Cm.; bei 178 Cm., 
dem Ende der Centimeterscala, also bei einem Druck von 98 
Cm. trat noch keine Harnentleerung resp. kein Abträufeln des- 
selben ein. Das Thier wurde jetzt durch Verbluten getödtet, 
die Blase wiederum ganz ausgedrückt und der Nullpunkt auf's 
Neue bestimmt. Die Blase dehnte sich jetzt weit mehr aus 
und schon bei einem Druck von 17 Gm. trat continuirliches 
Abträufeln ein. Contractionen waren hierbei an der Blase nicht 
wahrzunehmen, der Detrusor also wahrscheinlich auch ohne 
Wirksamkeit. 

v. Wittich sah ebenfalls bei einem männlichen Kaninchen 
unmittelbar nach dem Tode den Blaseninhalt unter einem Druck 
von wenigen Centimetern ausströmen, auch ohne sichtbare Gon- 
traetionen der Blasenwand. v. Wittich erklärt dies durch die 
Annahme, dass der Detrusor urinae den Annulus cervicalis 
elasticus offen erhalte, während die Blase durch fortwährend 
neu hinzuströmendes Wasser prall erhalten wird. Wenn nun 
aber nach Seite 23 das Haupthinderniss des Abflusses in der 
anatomischen Anordnung der Pars prostatica liegt und diese 
allein bei männlichen Kaninchen einen Widerstand von 65Cm. 
Wasserdruck leistet, wie soll da am eben getödteten Kanin- 
ehen deshalb, weil der Annulus cervicalis elasticus durch den 
Detrusor geöffnet wird, ein Ausströmen möglich werden? Der 
Prostata-Widerstand bleibt doch nach wie vor bestehen? 

Der Detrusor kann aber auch den Annul. cerv. elast. nie- 
mals direet, sondern nur indirect, nämlich einzig und allein 
nur durch Erhöhung des Druckes im Inneren der 
Blase, oder wenigstens nur unter gleichzeitiger Erhö- 
hung des Druckes des Blaseninhaltes öffnen; er kann 
nicht den Annul. cerv. elast. wie ein Thor für das aus dem 
Ureter herbeiströmende Wasser offen halten, er kanm. selbst 
nur in Spannung gerathen unter der Voraussetzung, dass er den 
Blaseninhält in Spannung setzt. Der Annul. cerv. elast, öffnet 


118 Sauer: 


sich immer unter demselben Druck, gleichviel ob dieser Druck 
durch ein in. den Ureter gesetztes Druckrohr, oder durch Con- 
traction des Detrusor herbeigeführt wird. Wenn Wasser con- 
tinuirlich aus dem Ureter in die Blase und aus dieser in die, 
Harnröhre fliesst, so misst das in den Ureter gesetzte Mano- 
meter denjenigen Druck, unter welchem sich der Annul. cerv. 
elast. öffnet; dabei ist es gleichgültig, ob der Detrusor contra- 
hirt ist oder nicht, denn die Spannung desselben, mit welcher 
er auf den Annul. cerv. elast. wirken könnte, ist immer gleich 
der des Blaseninhaltes, und wenn aus dem Ureter continuir- 
liches Abfliessen in die Blase stattfindet, kann der Blaseninhalt 
nicht unter stärkerem Drucke stehen, als dem in dem ÜUreter- 
Manometer herrschenden. Wenn der Annul. cerv. elast. 
nun schon bei wenigen Centimetern Druck sich Öffnet, so scheint 
die Annahme eines Sphinkters ein unerlässliches Postulat, da 
im Leben unzweifelhaft oft ein höherer Druck in der Blase 
vorkommt. any 

II. Versuch. Ein lebendes weibliches Kaninchen entleerte 
zuerst unter einem Druck von 9 Cm. den Harn in einem Strahl. 
Da dies aber unmittelbar auf Berührung der Vulva stattfand, 
so lag die Erklärung nahe, dass dieser Act auf dem Wege des 
Reflexes entstanden sei. Nachdem Ruhe eingetreten und gut 
abgetrocknet war, trat bei 13 Cm. continuirliches Abträufeln 
ein. Hierauf Tödtung durch Verbluten und Wiederholung des 
Versuches. Bei einem Druck von 14 Cm. trat continuirliches 
Abträufeln ein. Da ich jedoch bemerkte, dass beim Ausdrücken 
der Blase sich ein Theil des Wassers nach der Vagina zurück- 
gestaut hatte, so wurde nach Entleerung beider dieselbe dicht 
hinter der Blase unterbunden und der Versuch wiederholt. 
Allein das Resultät war dasselbe; bei 14 Om. Druck erfolgte 
eontinuirliches Abträufeln. Contractionen der Blasenmuskeln 
waren bei dem letzten Versuche nicht mehr deutlich wahrzu- 
nehmen, wohl aber bei dem vorletzten. Deshalb wurde das 
Thier 24 Stunden liegen gelassen und in der Todtenstarre, wo 
von einer activen Contraction der Blase nicht mehr die Rede 
sein konnte, abermals ein Versuch angestellt. Der Nullpunkt 
war bei 82 Cm., bei 95 Cm. also einem Druck von 13 Cm. 
trat langsames aber deutliches Abträufeln ein. Die Wieder- 
holung lieferte dasselbe Resultat. Mithin war im Vergleich 
mit dem Ergebniss bald nach der Tödtung nur eine Differenz 
von 1 Cm. vorhanden. 

Ill. Versuch. Ein männlicher Hund 1!/, Stunden nach 
der Tödtung. Ein Druck von 62 Cm. bewirkte continuirliches 
Abträufeln, bei der Wiederholung waren nur 60 Cm. nöthig; 
21 Stunden nach dem Tode vermochte ein Druck von 83 Cm. 
noch kein ordentliches Abträufeln zu bewirken, es wurde jetzt, 
da sich die Blase vom Ureter aus nicht recht zu füllen schien, 
die Canüle in den Blasengrund eingesetzt. Es erschienen nun 
die ersten Tropfen schon bei 8 Cm. Druck, bei 28 Um. ange- 


Durch welchen Mechanismus wird der Verschluss u. s. w. ]]9 


kommen, rann ein continuirlicher Flüssigkeitsstrom an der 
Wand des Reagensgläschens herab, in welchem der Penis lag. 

Dieser Fall findet unten seine vollständige Deutung und 
Erklärung. 

IV. Versuch. Ein weiblicher Hund, der durch Strangu- 
lation und Eröffnung der Halsgefässe getödtet worden war, 
kurze Zeit nach dem Tode. Auf elektrischen Reiz reagirte 
die Blase noch in kaum merklicher Weise, sie war aber stark 
contrahirt und dehnte sich bei der Füllung nur wenig aus. 14 
Cm. Druck genügten, um continuirliches Abträufeln herbei zu 
führen. Bei der Wiederholung trat selbiges schon bei 10!/, Cm. 
und zum dritten Male bei 13!/%, Cm. ein. 20 Stunden nach dem 
Tode wurde der Blasenverschluss von Neuem geprüft. Der 
Hund war todtenstarr, die Schenkel stark adducirt und flectirt. 
Erst bei 68 Cm. Druck trat sehr allmähliges Abträufeln ein. 
Hierauf wurden die Schenkel gewaltsam abducirt und gestreckt: 
der Ausfluss wurde ein continuirlicher. Nachdem die Blase 
ausgedrückt und der Nullpunkt von Neuem bestimmt worden, 
ergaben sich 22 Cm., bei welchen fortwährendes Absickern 
eintrat. Mit Recht durfte jetzt geschlossen werden, dass die 
Adduction der Extremitäten des todtenstarren Thieres den be- 
deutenden Druck von 68 Cm. zur Folge gehabt hatten, 

V. Versuch. Ein männlicher Hund 36 Stunden nach dem 
Tode. Die Blase zeigte sich sehr zusammengezogen. Die 
Todtenstarre war bereits vorüber. Das Experiment ergab bei 
einem Druck von 35 Cm. continuirliches Abträufeln, die Wie- 
 derholung schon bei 30 Cm. 

Jetzt wurde die Blase incl. Prostata und Penis heraus ge- 
nommen und das Experiment wiederholt. 15 Um. Druck ge- 
nügten, um Abträufeln hervor zu bringen. — Als die Prostata 
hierbei bis auf die Urethra eingeschnitten wurde, stürzte das 
Wasser aus der Harnröhrenmündung hervor. 

Am Schluss wird auch dieses Resultat seine Begründung 
finden. 

VI. Versuch. Es wurde ein männliches Kaninchen be- 
nutzt. Während des Lebens fand bei einem Druck von 200m. 
durch Contractionen der Blase Entleerung im Strahle statt, bei 
50 Cm. stellte sich continuirliches Abträufeln ein. Nach Töd- 
tung des Thieres wurde hier, sowie bei fast allen folgenden 
Versuchen, auf +50° R. erwärmtes Wasser durch den Ureter 
in die Blase eingespritzt, um die misslichen activen Contrac- 
tionen der Blase, welche v. Wittich anschuldigt, schneller zu 
beseitigen und vollständig reine Resultate zu erhalten. Nach 
einer Viertelstunde waren keine Contractionen mehr sichtbar, 
dieselben konnten auf Reizung auch nicht mehr hervorgerufen 
werden. Das von Neuem angestellte Experiment ergab bei 
einem Druck von 11 Cm. Abfliessen einzelner Tropfen in lan- 
sen Pausen, bei 12 Cm. continuirliches Abträufeln. Nach 24 
Stunden wurde in der Todtenstarre ein abermaliger Versuch 


120 Sauer: 


vorgenommen. Hierbei waren nur 5 Cm. Druck erforderlich, 
um fortwährendes Absickern hervorzurufen. Die Wiederholung 
zeigte dasselbe Resultat, | 

VI. Versuch. Ein männliches junges Kaninchen entleerte 
während des Lebens den Harn bei einem Druck von 13 Cm.; 
unmittelbar nach dem Tode fand ein continuirliches Abträufeln 
beim Nullpunkt statt. Auch hier wurde Wasser von + 50° R. 
in die Blase gespritzt, worauf elektrische Reizung keine Con- 
tractionen mehr bewirkte. Das Experiment, so wie dessen 
Wiederholung ergab bei einem Druck von 17 Cm. starkes Ab- 
träufeln. 

VIII. Versuch. Ein männliches starkes Kaninchen. Im 
Leben konnte eine bestimmte Grösse des Druckes nicht eruirt 
werden, da fortwährend spontan der Harn entleert wurde. 
Daher Tödtung des Thieres durch Verbluten. _ Nachdem die 
Contraetionen der Blase durch Einspritzen von auf +50.R. 
erwärmten Wassers beseitigt: worden waren und der Druck des 
Blaseninhaltes 13 Cm. stark, der Blasenverschluss aber noch 
vollkommen fest war, bewirkte eine zufällige geringe Erhebung 
der linken unteren Extremität, um das Thier genau horizontal 
zu lagern, ein Abfliessen des Wassers. Wohl möglich, dass 
eine Zerrung dies veranlasst, da eine mehrmalige Wiederholung 
dieser Manipulation nicht mehr denselben Erfolg hatte. Da- 
gegen träufelte jedesmal das Wasser dann unausgesetzt ab, so- 
bald das Thier an den beiden unteren Extremitäten gehoben, 
eine gewisse Höhe erreicht hatte. Beim Zurückgehen in die 
ursprüngliche Lage liess das Abträufeln sofort nach, begann 
aber stets aufs Neue, wenn das Becken eine bestimmte senk- 
rechte Erhebung erhielt, gleichviel ob die Schenkel dabei. aus- 
einandergezogen oder einander genähert wurden.: Nachdem der 
Ramus horizontalis ossis pubis durchschnitten und der Verlauf 
der Urethra freigelegt worden war, brachte eine Erhebung des 
Kreuzbeins dasselbe Resultat hervor. Ja selbst wenn der Bla- 
seninhalt nur unter einem Druck von 2 Um. stand, erfolgte in 
der angegebenen Stellung schon continuirliches Abträufeln. Zu- 
letzt wurde der Blasenverschluss noch einmal in der gewöhn- 
lichen Lagerung geprüft. 8Cm. Druck riefen jetzt das Absickern 
hervor. 

Die hier, wie im folgenden Versuche gemachte Beobachtung 
scheint denn doch zu beweisen, dass die Lage der Blase im 
Becken resp. die Stellung des Thieres auf das Abfliessen des 
Harnes einen gewissen, wenn auch nicht näher anzugebenden 
Einfluss haben müsse. . 

IX. Versuch. Ein männliches Kaninchen wurde bald nach 
dem Tode zum Experiment benützt. Nachdem Wasser von 
+50°R. in die Blase injieirt worden war und der Druck 7Cm. 
betrug, trat auch :hier bei Erhebung des Beckens continuirliches 
Abträufeln ein. Bei einem Druck auf das Rectum nach unten, 
wenn sich das Thier in der gewöhnlichen Lage befand, er- 


Re. 


» Durch welchen Mechanismus wird der Verschluss u, s. w. 121 


folgte sogar. ein starkes Abfliessen. Hierauf wurde die Blase 
ausgedrückt, der Penis und seine Umgebung sorgfältig mit 
Fliesspapier abgetrocknet und wie bei v. Wittich ein mit Oel 
bestrichenes Bougie in die Urethra eingeführt. Jetzt genügten 
schon 2 Cm. Druck, um Abfliessen hervorzurufen, Bemerkt 
muss hier noch werden, dass die Canüle im Ureter sich nahe 
der Blase befand, so dass das Wasser nur ein kurzes Stück 
desselben durchfloss. 

Nach 24 Stunden wurde der Versuch erneuert. Das Thier 
war in der Todtenstarre. Zuerst wurde die Durchgängigkeit 
der Urethra mit einem eingeölten Bougie geprüft. Als der 
Druck auf 11 Cm. gestiegen, erfolgte langsames seltenes Ab- 
träufeln, bei 19 Cm. unausgesetztes. 

X. und XI. Versuch. Beide haben das Gemeinsame, dass 
die engen Ureteren das Einführen der Canüle nicht gestatte- 
ten, weshalb dieselbe in die Blase eingesetzt werden musste. 
Bei X. rief im Leben ein Druck von 7 Cm. continuirliches 
Abträufeln hervor, nach dem Tode schon 1.Cm. In XI. be- 
durfte es eines Druckes von 15 Cm., um bei dem lebenden 
Thiere continuirliches Abfliessen hervorzubringen, nach dem 
Tode genügte ebenfalls 1 Cm. Beides waren männliche Ka- 
ninchen. 

XH. Versuch. Ein weiblicher Hund bald nach dem Tode. 
Obgleich der Druck bereits 47 Cm. gross war, so wollte sich 
dennoch kein Abträufeln zeigen. Ich ging auf den Nullpunkt 
zurück und stieg auf's Neue langsam in die Höhe, jetzt er- 
schienen bei einem Druck von 5 Cm. einzelne Tropfen am 
Orifieium urethrae. Da die Blase während des Wasserzutrittes 
sich nicht ausdehnte und erst bei wiederholtem Druck an dem 
Sehlauche dies stossweise geschah, glaubte ich auf ein Hinder- 
niss im Ureter schliessen zu dürfen, welches das Wasser nicht 
nach der Blase gelangen liess. Inzwischen war Todtenstarre 
eingetreten. Bei abermaliger Wiederholung des Versuches fand 
sich die Annahme bestätigt. Ich sah, dass der Ureter nur ein 
Dtück dicht hinter der Canüle vom Wasser ausgedehnt war 
und auf am Schlauche angebrachten Druck allein pulsirte, wäh- 
rend der ganze dahinter befindliche Theil des Ureters nur 
etwas vorgedrängt wurde und ganz contrahirt war. Die Blase 
blieb unausgedehnt. Bei fortgerücktem Druck am Schlauch 
dehnte das Wasser endlich Stück für Stück den Ureter und 
schliesslich auch die Blase aus, gleichzeitig begann eontinuir- 
liches Abträufeln. Es wurde jetzt der andere Ureter in seiner 
ganzen Länge ausgeschnitten, um zu sehen, welcher Druck er- 
forderlich wäre, das Wasser durch den Ureter allein zu trei- 
ben. Ein Druck von 121 Cm., womit das Ende der Scala er- 
reicht war, genügte zur Hervorrufung des Abträufelns noch 
nicht; erst der wiederholte Druck am Schlauch konnte dies 


erzielen. Mit Nachlass desselben trat sofort wieder Still- 
stand ein. 


122 Sauer: 


Um den Einfluss des Ureters zu eliminiren, wurde die Ca- 
nüle in diesem bis nahe an die Blase vorgeschoben und der 
Versuch wiederholt. 4 Cm. Druck riefen jetzt continuirliches 
Abträufeln hervor. Hierauf führte ich die Canüle durch den 
Ureter vollends bis in die Blase und wiederum trat bei 4 Cm. 
Druck dasselbe ein. 

48 Stunden nach dem Tode. Canüle wie zuletzt in der 
Blase befindlich. Wiederum bei 4 Om. Druck continuirliches 
Abträufeln. Der ausgeschnittene Ureter zeigte dies jetzt bei 
50 Cm.,. seine Länge betrug 10'/),;, Om. Nachdem er auf 5!j, 
Um. verkürzt worden war, floss das Wasser schon beim Null- 
punkt ab, doch zeigte derselbe schon beginnende Fäulniss. 

Aus dieser Beobachtung und deren Resultaten glauben wir 
uns zu dem Schlusse berechtigt, dass der Grund für die gros- 
sen Druckdifferenzen in Heidenhain’s und v. Wittich’s 
Versuchsresultaten wohl kaum in etwas Anderem zu suchen 
sein dürfte, als in der Undurchgängigkeit des Ureters. Ja 
diese Wahrscheinlichkeit steigert sich zur Gewissheit, wenn 
man die in Vorhergehendem bereits angegebenen und in Nach- 
stehendem enthaltenen Resultate vergleicht. Diese ergeben 
nämlich: h 

1. Je näher die Canüle der Blase sich befand, resp. je 
kürzer das vom Wasser durchströmte Stück des Ureters war, 
ein desto niedriger Druck genügte, um den Sphinkter zu über- 
winden und Abträufeln hervorzubringen. Der niedrigste Druck 
aber zeigte sich in allen Versuchen, wenn die Canüle direct in 
die Blase gesetzt oder durch den Ureter bis in dieselbe‘ vor- 
geschoben wurde. 

2. War der in seiner ganzen Länge benutzte Ureter weit 
und durchgängig, so bedurfte es ebenfalls keines sehr hohen 
Druckes, damit continuirliches Absickern des Wassers eintrat. 
Bei hohem Druck aber zeigte es sich stets, dass der Ureter 
ganz oder theilweise contrahirt war, das Wasser gar nicht oder 
nur ein Stück denselben anfüllte, oft auch plötzlich denselben 
und gleichzeitig die bis dahin contrahirte Blase ausdehnte und 
meist sofortiges Abträufeln erfolgte. Wurde der eine Ureter 
hierauf ausgeschnitten und mit ihm allein experimentirt, so 
zeigte sich das eben erwähnte Resultat: dass nämlich ein sehr 
hoher Druck allein erforderlich war, um den Widerstand des 
contrahirten Ureters zu überwinden. Füglich kann der hohe 
Druck nicht auf Rechnung des Sphinkters geschrieben werden, 
da in Wahrheit der Druck in der Blase gar nicht vorhan- 
den war. | 

v. Wittich hat selbst diese Beobachtung gemacht, ohne je- 
doch den Fehler erkannt zu haben. Seite 26 wird von ihm 
mitgetheilt: 

„Bei dem Hunde (Versuch No. 8) fand sich nach 24 Stun- 
den ebenfalls eine geschrumpfte starre Blase, aber die Wider- 
standsfähigkeit des Sphinkters und der Blasenmusculatur waren 


Durch welchen Mechanismus wird der Verschluss u. s. w. [23 


einander annähernd gleich, erst bei einer Druckhöhe von 100 
Centimetern begann die Blase sich zu dehnen und fiel der erste 
Tropfen aus der Urethra. 

Dies ist offenbar ein gleicher Fall, wie ich deren mehrere 
beobachtet habe. Die Blase blieb starr und dehnte sich nicht 
aus, weil im Ureter kein Durchgang für das Wasser vorhan- 
den war. Erst bei 100 Cm. Druck wurde jener durchgängig, 
die Blase ausgedehnt und bei dieser Grösse des Druckes auch 
gleichzeitig Abträufelu hervorgerufen. { 

Der von mir unter Versuch III. erzählte Fall findet jetzt 
ebenfalls hierin seine Erklärung. Bei ihm wurde schon er- 
wähnt, dass die Blase vom Ureter aus sich nicht recht zu fül- 
len schien. Ebenso dürfte es bei Versuch IV. der Fall ge- 
wesen sein, wo kurze Zeit nach dem Tode ein verhältniss- 
mässig niedriger Druck genügte, während in der Todtenstarre 
anfangs 68 Cm. Druck nur allmähliges Abträufeln erzeugten. 

Ferner glaube ich die Beobachtung v. Wittich’s, dass 
nach der Todtenstarre und mit der Anzahl der Versuche die 
Tragfähigkeit des Sphinkters immer geringer wird, hierauf be- 
ziehen zu müssen. Nach der Starre ist der Ureter eben ge- 
wöhnlich nieht mehr so contrahirt, wie in derselben, daher wird 
das Wasser auch bei einem geringeren Drucke schon in die 
Blase gelangen und so früheres Abträufeln erfolgen. 

XIII. Versuch. Ein weibliches lebendes Kaninchen. Der 
Ureter war in seiner ganzen Länge von 5'/,; Cm.; bei 25 Um. 
-Druck vermochte es das Wasser nicht mehr zu halten. Nach- 
dem es durch Verbluten getödtet und Wasser von +50°R. in 
die Blase eingespritzt worden war, brachten 12 Cm. Druck con- 
tinuirliehes Abträufeln hervor. Als die Canüle in die Blase 
gesetzt wurde, genügten 8 Cm. Druck. 

XIV. Versuch. Ein weibliches Kaninchen, dessen Ureter 
in seiner ganzen Länge benutzt wurde, entleerte im Leben bei 
17 Cm. Druck das Wasser im Strahl; bei der Wiederholung 
erfolgte bei 16 Cm. langsames Abfliessen. Der Ureter war in 
diesem Falle sehr weit, so dass das Wasser leicht nach der 
Blase floss und diese schnell ausdehnte. Wiederum jetzt Töd- 
tung und Injection von auf +50°R. erwärmten Wassers. Bei 
3Cm. Druck continuirliches Abträufeln; dasselbe als der Ureter 
um-?/, der Länge verkürzt worden war. Ebenso lieferte die 
Wiederholung und schliessliche Einführung der Canüle in die 
Blase ein gleiches Resultat. 

XV. Versuch. An einem weiblichen Hunde fand ich 2 
Stunden nach dem Tode den Ureter ziemlich eng und contra- 
hirt, der höchste Druck am Ende des Pfeilers genügte noch 
nicht, um. denselben durehgängig zu machen. Nachdem er um 
die Hälfte verkürzt worden war, strömte das Wasser plötzlich 
bei einem Druck von 124 Cm. nach der Blase, dehnte diese 
rasch aus und es erfolgte eontinuirliches Abträufeln. Jetzt 
wurde der Ureter auf '/;, der ursprünglichen Länge verkürzt 


124 Sauer: 


und bei 107 Cm. Druck Abträufeln erzielt. Zuletzt ergab sich 
nach Einführung der Canüle durch den Ureter in die Blase 
bei 16 Om. Druck continuirliches Abträufeln. Bei der Wie- 
derholung fand dasselbe statt. 

Dieser Versuch zeigt auf's Deutlichste, wie mit Verkürzung 
des contrahirten Ureters der Widerstand in ihm schwand und 
bei direeter Füllung der Blase der Sphinkter nur eine niedrige 
Belastung ertrug. 

28 Stunden nach dem Tode wurde der Versuch mit dem 
unverkürzten zweiten Ureter auf's Neue angestellt. Derselbe 
zeigte sich nicht mehr so contrahirt. Bei 26 Cm. angekom- 
men begann die Blase sich zu füllen und auszudehnen; bei 42 
Cm. trat Abträufeln ein. Der um die Hälfte verkürzte Ureter 
wurde bei 16 Cm. durchgängig, das Absickern erfolgte bei 32 
Cm. Hierauf wurde jener um °/, verkürzt; bei 8Cm. begann 
die Blase sich zu füllen, bei 22 Cm. das Abträufeln. Endlich 
wurde die Oanüle auch hier durch den Ureter in die Blase ge- 
nt Absickern bei 16 Cm. Druck, bei der Wiederholung bei 
14 Cm. 

Hierbei zeigt sich mit der Verkürzung des Ureters ein con- 
stantes Sinken des nöthigen Druckes um 10 Cm.; in der Blase 
stellte sich derselbe Druck von 16 Cm. heraus wie 28 Stunden 
vorher. 

XVI. Versuch. Ein weibliches Kaninchen, dessen Ureter 
weit und durchgängig war, zeigte im Leben bei einem Druck 
von 15 Cm. wiederholte Entleerung der Blase im Strahl. Tod 
durch Verbluten und Injection von +50° R. warmen Wassers. 
Beide hierauf angestellten Experimente ergaben bei 9 Cm. Druck 
continuirliches Abträufeln; nach Einführung der Canüle durch 
den Ureter in die Blase erfolgte dies bei 7 Cm. Die Blase 
wurde immer ziemlich weit ausgedehnt. 

XVI. Versuch. Bei einem männlichen lebenden Kanin- 
chen liess der in seiner ganzen Länge benutzte Ureter das 
Wasser leicht nach der Blase fliessen. 13 Cm. Druck bewirk- 
ten wiederholte Entleerung im Strahl. Nach der Tödtung und 
Injection in die Blase erfolgte bei 6 Cm. langsames Absickern, 
bei der Wiederholung erst bei 340m. Nach 24stündigem Lie- 
gen trat in der Todtenstarre bei 26 Cm. Druck in zwei auf 
einander folgenden Experimenten continuirliches Abträufeln ein, 
nachdem die Canüle in die Blase geführt worden, zwei Mal bei 
6 Cm. Druck. 

Dieses letzte und. das erste Resultat nach dem Tode lässt 
im Vergleich mit den anderen schliessen, dass der in seiner 
ganzen Länge benutzte Ureter doch ein Hinderniss für den 
Durchtritt des Wassers abgegeben haben muss. : 

XVlI. Versuch. Ein männliches Kaninchen entleerte 
wiederholt bei einem Druck von 26 Cm. das Wasser im Strahl. 
Bald nach dem Tode und nach geschehener Injeetion genügten 

in beiden Experimenten 9 Cm. Druck, um continuirliches Ab- 


Durch welchen Mechanismus wird der Verschluss u. s. w. 125 


träufeln hervorzurufen. Der Ureter war in seiner ganzen Länge 
benutzt worden. Ein zuletzt in die Blase gleichzeitig einge- 
schaltetes Manometer ergab in dieser denselben Druck wie an 
dem senkrechten Pfeiler. 

XIX. Versuch. Ein männlicher Hund 4 Stunden nach 
dem Tode. Zuerst wurde der Ureter in seiner ganzen Länge 
benutzt. Erst bei einem Druck von 35 Um. wurde derselbe 
durchgängig und gleichzeitig trat auch Abträufeln ein, welches 
aber bald wieder aufhörte. Bei genauer Untersuchung zeigte 
sich der Ureter an einer Stelle contrahirt Es wurde jetzt 
Wasser von + 50° R. eingespritzt, worauf elektrische Reizung 
weder an der Blase noch am Ureter Oontractionen hervorzu- 
rufen vermochte. Der neue Versuch erwies nun den Ureter 
als ganz durchgängig; bei 13 Om. erfolgte eontinuirliches Ab- 
träufeln und nach Verkürzung jenes um ?/, seiner. Länge bei 
16 Cm. 

28 Stunden nach dem Tode wurde der andere Ureter in 
seiner ganzen Länge benutzt, durch welchen kein erwärmtes 
Wasser injieirt worden war. Ein Druck von 39 Cm. machte 
plötzlich denselben durchgängig und begann die Blase auszu- 
dehnen; bei 45 Cm. erfolgte das Abträufeln. Die Wiederho- 
lung zeigte erst bei 125 Cm. den Ureter durchgängig, die 
Blase füllte sich und es erfolgte Abträufeln. Als die Canüle 
durch den Ureter in die Blase geschoben wurde, genügten 14 
Cm., um starkes Abträufeln herbeizuführen. 

Dieser Fall liefert einen abermaligen schlagenden Beweis, dass 
nur die durch Contraetion bedingte Undurchgängigkeit des Ureters 
so hohe Zahlenwerthe finden lässt, wie v. Wittich sie angiebt, 
der Sphinkter aber einen so hohen Druck gar nicht erfährt. 
Mithin sind die früher von Heidenhain und jetzt von mir 
gefundenen niedrigen Zahlen unbedingt die richtigen wirklichen 
Druckwerthe für die Eröffnung des Sphinkters. 

XX. Versuch. Ein weibliches Kaninchen. Der Ureter 
war weit und durchgängig, die Blase dehnte sich von Anfang 
aus; das Abträufeln erfolgte im Leben bei 50 Cm. Nach dem 
Tode wurde wieder Wasser von +50° R. injieirt. Continuir- 
liches Abträufeln wurde durch einen Druck von 6 Cm. hervor- 
gerufen. Gleiches Resultat ergab die Wiederholung, sowie der 
Versuch nach directer Einführung der Canüle durch den Ure- 
ter in die Blase. 

XXI. Versuch. An einem männlichen Hunde wurde 
2 Stunden nach dem Tode der Ureter weit und durchgängig 
gefunden, die Blase contrahirt. Bei 10 Cm. trat continuirliches 
Abträufeln ein. Die Wiederholung zeigte den Ureter contra- 
hirt, so dass kein Durchgang des Wassers erzielt werden 
konnte; als er um die Hälfte verkürzt worden war, machten 
90 Cm. ihn durchgängig, die Blase füllte sich und es erfolgte 
Abträufeln. Hierauf Injection von +50° R. erwärmtem Was- 
ser, continuirliches Abträufeln bei 16 Cm. 21 Stunden nach 


126 Sauer: 


dem Tode wurden ebenfalls 16 Cm. zur Erreichung des Ab- 
träufelns erforderlich gefunden; derselbe Druck stellte sich her- 
‚aus, als die Canüle in die Blase selbst vorgeschoben wurde. 
Bei Durchleitung des Wassers durch den anderen unversehrten 
Ureter war derselbe weit und durchgängig, die Blase dehnte 
sich sofort aus. 20 Cm. riefen sofort Abträufeln hervor. 

XXIH. Versuch. Ein männlicher Hund zeigte 3 Stunden 
nach dem Tode die Blase und den Ureter in contrahirtem Zu- 
stande. 60 Um. Druck machten letzteren plötzlich durchgängig, 
die Blase begann sich zu dehnen, hielt aber sogleich wieder 
inne; selbst 123 Cm. Druck vermochten hierauf die Durchgän- 
gigkeit nicht wieder herzustellen. Dicht hinter der Canüle in 
einer ungefähren Länge von !/, Zoll war der Ureter ampullen- 
artig erweitert, dahinter kam eine durch Contraction eng ein- 
geschnürte Stelle. Es wurde Wasser von + 50° R. eingespritzt, 
worauf der Ureter weit und durchgängig wurde. Die Blase 
dehnte sich nun schnell — bei 13 Cm. erfolgte starkes conti- 
nuirliches Abträufeln. Ich schnitt sodann den anderen Ureter 
ganz aus, sah aber bei 126 Um. Druck noch keinen Tropfen 
an der Endöfinung zum Vorschein kommen, erst bei fortschrei- 
tendem Druck am Schlauche zeigte sich Abfliessen, das aber 
mit Nachlass des Druckes sofort aufhörte, 

XXI. Versuch. Ein männlicher Hund 1 Stunde nach 
dem Tode. Blase und Ureter waren contrahirt. Bei 75 Cm. 
wurde letzterer durchgängig, es trat zugleich continuirliches 
Abträufeln ein, wobei die Biase jedoch contrahirt blieb. Es 
wurde dieselbe mit dem Ureter und Penis ausgeschnitten und 
flach auf ein Brett gelegt. 127 Cm. konnten noch keine Durch- 
gängigkeit des Ureters herbeiführen. Der um die Hälfte ver- 
kürzte Ureter wurde nach Trennung von der Blase allein zum 
Experiment verwandt. Bei 56 Cm. Druck floss das Wasser am 
anderen Ende ab; nachdem er um ?/, kürzer gemacht, geschah 
dies schon bei 23 Cm. Der andere Ureter für sich allein be- 
nutzt zeigte sowohl bei seiner ursprünglichen Länge, als auch 
der Hälfte derselben unter 123 Cm. Druck noch keine Durch- 
gängigkeit. Nachdem jedoch Wasser von + 50° R. durch ihn 
gespritzt worden war, trat schon beim Nullpunkt Abfliessen ein. 

XXIV. Versuch. An einem männlichen Hunde fand ich 
1'!/,; Stunde nach dem Tode Blase und Ureter contrahirt. 24 
Cm. Druck bewirkten eine allmählige Durchgängigkeit, die 
Blase dehnte sich schnell und es erfolgte starkes und conti- 
nuirliches Abträufeln.. Bei der Wiederholung zeigte sich nur 
!/, des Ureters ausgedehnt, während die übrigen ?/, stark con- 
trahirt waren und es auch bis zu einem Druck von 104 Cm. 
blieben. Dieser jedoch überwand die Contraction, die Blase 
füllte und dehnte sich, es trat starkes Abfliessen ein. Nach- 
dem der Ureter um die Hälfte verkürzt worden war, waren 
sogar 114 Om. Druck nöthig, um den Widerstand desselben zu 
überwinden. Inzwischen war Todtenstarre eingetreten. Als 


Durch welchen Mechanismus wird der Verschluss u, s. w. 127 


zuletzt die Canüle durch den Ureter in die Blase geführt wurde, 
erfolgte bei 10 Cm. Druck continuirliches Abträufeln. 

24 Stunden nach dem Tode wurde der zweite Ureter in 
seiner ganzen Länge ausgeschnitten und der Versuch mit ihm 
allein vorgenommen. Der erste Tropfen wurde bei 22 Cm. 
Druck an der Endöffnung sichtbar. Bei 34 Cm. trat schnel- 
leres Abträufeln ein, bei 57 Cm. continuirliches Abfliessen. 

“ = 

Uebersehen wir nun nochmals die lange Reihe der ange- 
stellten Versuche, um zu einem endgültigen Urtheil über den 
Mechanismus zu gelangen, welch®& den Blasenverschluss be- 
wirkt, so drängt sich uns die Frage auf: Welchen Druck sind 
die den Blasenausgang umgebenden Gebilde vermöge ihrer 
blossen Elastieität zu tragen im Stande? 

Die Antwort hierauf geben diejenigen Versuche, welche 
nach Beseitigung aller activen Muskelcontractionen angestellt 
worden sind (was in unseren Versuchen durch Einspritzen von 
Wasser von +50° R. in die Blase geschah). 

Eine Uebersicht der Ergebnisse liefert folgende Tabelle: 


Druck bei welchem 
» das Harnabträufeln begann, 
Thier, wenn die Canüle 
Versuch an welchem der Versuch | in den Ureter | in die Blase 
angestellt wurde gesetzt wurde 


| 
| 
| Cm. | Cm. 


VI. | Männliches Kaninchen N 
Vin | $ 2 17 
ViB:- | > 5 8 
IR. $ E 2 
XVI. & x | 6 6 
XV. > Re | 9 | 
XI. | Weibliches Kaninchen 12 8 
XIV. e N 3 3 
xVI. \ { | 9 7 
XX. r 5 | 6 6 
XIX. Männlicher Hund | 18 14 
XXI. 5 5 16 16 
xt. den RS 


Aus diesen Zahlenergebnissen ist mit Sicherheit zu schlies- 
sen, dass wenn der Druck in der Blase über 2— 18 Centimeter 
steigt, die Elastieität nicht mehr ausreicht, um den Abfluss zu 
verhindern, dass also dann zur Sicherung des Blasenschlusses 
active tonische Muskelcontraction eintreten muss. 

Man könnte gegen die Richtigkeit dieses Schlusses den Ein- 
wand erheben wollen, dass das warme Wasser die elastische 
Kraft der zum Verschlusse dienenden Gebilde verringere. — 


128 Sauer: 


Dieser Einwand erscheint schon misslich, wenn man bedenkt, 
dass die Elastieität quergestreifter Muskeln nach dem Verluste 
der Erregbarkeit steigt. Wir haben indess noch zwei andere 
Gründe, welche jenen Einwand widerlegen. 

Erstens hat uns der directe Versuch gelehrt, dass das warme 
Wasser die Elastieität der glatten Muskeln wenigstens keines- 
falls in dem Maasse herabsetzt, wie es der Fall sein müsste, 
wenn jener Einwand begründet sein sollte Wir füllten die 
Blase eines seit 24 Stunden todten Hundes unter 30 Cm. Druck 
mit Wasser und bestimmten ihr Gewicht. Hierauf wurde sie 
entleert, in Wasser von 50°R,. erwärmt und von Neuem unter 
demselben Drucke gefüllt. Es hatte eine Gewichtszunahme um 
0,37 Grm. stattgefunden, während der gesammte Blaseninhalt 
12,5 Grm. betrug. Wollten wir nun auch diese gesammte Ge- 
wichtszunahme auf Rechnung des Blaseninhaltes setzen, (was 
jedenfalls nicht richtig ist, weil die Blase bei dem längeren 
Verweilen in Wasser von +50° ohne Zweifel etwas gequollen 
sein wird), so würde diese doch nur 1/33,3 des Gesammtvolu- 
mens betragen, also innerhalb der bei einem solchen Versuche 
unvermeidlichen Fehler liegen. Keinesfalls, und das constatirt 
zu haben genügt für unsere Zwecke, kann von einer erhebli- 
chen Zunahme der Dehnbarkeit der glatten Muskelfasern nach 
Einwirkung von Wasser von +50°R. die Rede sein. | 

Zweitens ist oben eine Reihe von Versuchen an eben ge- 
tödteten. Thieren aufgeführt, bei welchen, vorausgesetzt dass 
die aus den etwaigen Ureterwiderständen resultirenden Fehler 
durch Einführung der Canüle in die Bläse beseitigt waren, 
sich Druckwerthe als Maasse für die elastische Schlussfähigkeit 
der Sphinkteren ergaben, die ganz innerhalb derjenigen Gren- 
zen liegen, welche die eben vorher aufgeführte Reihe giebt. 

Wir stellen diese Werthe noch einmal zusammen: 


Thier, |Druck,, bei welchem 
Versuch an welchem die Versuche das ra 15 

angestellt wurden een 

Cm. 
I, Männliches Kaninchen 17, 
X. ; ! 1 
ST. e, R 1 
XVII. 3 4 6 
11. Weibliches Kaninchen 14 
XXIV. Männlicher Hund 10 
IV. Weiblicher Hund 14 
XI. ER = 4 
XV, 2 9» 16 


Was den v. Wittich’schen Einwand gegen die Gültigkeit 
dieser Versuche (Eröffnung des Annulus cerv. elast. durch ac- 
tive Contraetion des Detrusor) betrifft, so ist schon oben bei. 
Versuch I. das Nöthige bemerkt worden. 


Durch welchen Mechanismus wird der Verschluss u. s. w, 129 


Die durch die blosse Elastieität des Sphinkters getragenen 
Druckwerthe sind also sehr gering; es ist kein Zweifel, dass 
im Leben meistentheils der Druck in der Blase ein weit hö- 
herer ist. Dann muss sofort die tonische Contraction des 
Sphinkters ins Spiel treten. Will man nun freilich an Worten 
hängen, so wird man sagen, dass der Tonus des Sphincters 
noch immer nicht erwiesen sei, denn die active Contraction 
desselben sei nicht benöthigt, so oft der Druck in der Blase 
unter 2—18 Oentimeter sinkt; — ein Einwurf, dem wir zu be- 
gegnen weder wissen, noch auch wünschen. 

Als Gegengründe eines Tonus hat man ]) den starken 
Druck angeführt, welcher bei todten Thieren zur Entleerung 
der Blase mit der Hand erforderlich sei; 2) hat v. Wittich 
die von ihm gefundenen hohen Zahlenwerthe dagegen auf- 
gestellt. 

Was den ersten Einwurf betrifft, so glauben wir ihn durch 
Folgendes widerlegen zu können. 

So oft wir bei der Wiederholung der Experimente die ge- 
füllte Harnblase ausdrückten, und dabei den Druck der Finger 
auf den Gipfel der Blase wirken liessen, so dass diese im Gan- 
zen nach unten geschoben wurde, hatten wir eine ziemlich be- 
deutende Kraft anzuwenden, um den Harn auszutreiben; fast 
immer floss auch das Wasser nur ab, ohne einen Strahl zu 
bilden. Zogen wir dagegen die Harnblase, einzig sie mit den 
Fingern umfassend, nur ein wenig nach oben hin, so vermochte 
‚ der geringste Druck zweier Finger sehr leicht den Harn in 
vollem Strahle zu entleeren. Niemals auch fanden wir nach 
dem Tode an den Thieren, welche zu den Versuchen benutzt 
wurden, eine vollständig straff ausgedehnte Blase, im Gegen- 
theil war sie stets selbst bei ziemlicher Anfüllung schlaf. 

Was v. Wittich’s hohe Zahlenwerthe betrifft, so erklären 
sich dieselben einerseits aus dem schon mehrfach dargethanen 
Widerstande im Ureter, der wahrscheinlich von ihm übersehen 
wurde und welcher noch lange nach dem Tode fortdauert, 
wenn die Ringmuskeln der Harnleiter im contrahirten Zustande 
todtenstarr geworden sind, andererseits können aber vielleicht 
auch die Muskelfasern der Pars prostatica urethrae im contra- 
hirten Zustande erstarrt gewesen sein und dem Ahfluss des 
Wassers einen gleichen Widerstand wie im Ureter dem Eintritt 
desselben entgegengesetzt haben. Dass die Einführung eines 
kleinen gefetteten Bougies diesen Widerstand nicht aufzuheben 
vermochte, ist wohl einleuchtend. 

Auf diese Weise findet auch der unter Versuch V. mitge- 
theilte Fall seine Deutung. Durch den Einschnitt in die Pro- 
stata wurde der Widerstand aufgehoben und das Abfliessen be- 
günstigt. Dass diese letztere Erklärung nicht ohne Grund ist, 
wird dadurch sehr wahrscheinlich, dass, wenn die glatten Mus- 
keln vor dem Erstarren sich zusammen zu ziehen verhindert 
gewesen sind (Injection von heissem Wasser), nun und nim- 

Reichert's u, du Bois-Reymond's Archiv. 1861. ee) 


130 Sauer: Durch welchen Mechanismus u. s.. w. 


werden, wie sie v. Wittich fand. 
Er % * 
x 
Die Annahme eines Sphinkterentonus musste uns trotz der 
obigen physiologischen Ergebnisse so lange noch misslich er- 
scheinen, als der Sphinkter selbst nicht von dem Verdachte ge- 
reinigt war, eine Fiction der Physiologie zu sein. 

Schon v. Wittich hat zu den Angaben Barkow’s über 
den Bau der zum Blasenverschlusse dienenden Theile der 
Harnblase wichtige Zusätze gemacht. Er fand, dass beim Men- 
sehen in das Planum elasticum Barkow’s zahlreiche, nament- 
lich an Carminpräparaten deutlich sichtbare Muskelbündel ein- 
gesprengt sind, wenn schon er geneigt ist, Barkow darin bei- 
zustimmen, dass ein Sphinkter vesicae im eigentlichen Sinne 
als eine continuirliche, den Ausgang der Blase vor der Harn- 
röhrenmündung umgebende Muskellage nicht existire. Dagegen 
macht er darauf aufmerksam, dass die ringförmig verlaufenden 
starken Muskelbündel der Prostata sehr wohl den Dienst eines 
die Blase schliessenden Muskels versehen könnten und schreibt 
geradezu der Musculatur der Prostata die Function eines Bla- 
sensphinkters zu. 

Wir müssen nach unseren Erfahrungen am Hunde und Ka- 
ninchen noch weiter gehen und es späteren Untersuchungen 
anheimstellen, wie weit sich beim Menschen dieselben Verhält- 
nisse wiederfinden, wie bei den obigen Thieren, es bedauernd, 
dass uns menschliche Blasen zur Untersuchung nicht zur Dis- 
position standen. Bei beiden Thieren findet sich am 
unteren Ende des Blasenhalses, vor der Prostata, 
ein starker musculöser Sphinkter als continuirliche, un- 
unterbrochene Ringfaserschicht, der nach unten hin continuir- 
lich mit der Ringmusculatur der Prostata zusammenhängt. Die 
Ueberzeugung der Anwesenheit desselben verschafft man sich 
leicht auf folgende Weise. Man schneidet die Blase sammt 
Prostata aus, öffnet den Blasengrund, entleert den Inhalt und 
erhärtet dann die ganzen Organe in absolutem Alkohol, Nach 
24—28 Stunden gelingt es leicht, Querschnitte durch die ganze 
Blase an dem unteren Theile derselben zu machen. Man hellt 
sie durch ein wenig Essigsäure auf, thut aber zweckmässig, sie 
nicht in Essigsäure liegen zu lassen, sondern, nachdem hinrei- 
chende Durchsichtigkeit erreicht ist, sie in einer sehr verdünn- 
ten und mit wenig Glycerin versetzten Chromsäure aufzube- 
wahren. Schon bei sehr geringer Vergrösserung überzeugt 
man sich von der Anwesenheit einer starken ringförmig 
verlaufenden Muskellage. Fig. I. stellt. einen solchen. Quer- 
schnitt vom Hunde, etwa 2-—-2'/, Linien über dem Orificium 
internum urethrae durch die Blase geführt, dar. Das Lumen 
der Blase ist winklig verzogen, weil die Blase in dem Alkohol 
sehr geschrumpft ist. Dasselbe wird zunächst von der Schleim- 


mermehr so hohe Druekwerthe von dem Sphinkter ertragen 


Johannes Bergholz: Ueber die Harnmenge u, 8. w. 131 


haut umgeben, auf welche der Sphinkter folgt. Nach aussen 
sind quer und schräg durchschnittene Bündel der äusseren La- 
gen der Blase sichtbar. Fig. II. stellt einen Durchschnitt der- 
selben Blase an der Uebergangsstelle in die Urethra, noch 
dieht vor der eigentlichen Prostata dar. Die Verhältnisse sind 
hier dieselben, nur sieht man in der Submucosa bereits Drü- 
senschläuche von gleichem Bau wie die Prostatadrüsen. 

Bei stärkerer Vergrösserung erkennt man, was mit blossem 
Auge oder bei schwacher Vergrösserung zu sehen nicht mög- 
lich ist, dass in der Submucosa ein reiches Netz elastischer 
Fasern vorhanden ist. Fig. III. stellt einen Querschnitt durch 
die Blasenwand, ein wenig über der Stelle des Schnittes Fig. 1. 
dar. Die Submucosa enthält hier ein dichtes elastisches Netz 
(Analogon des Planum elasticum Barkow’s beim Menschen). 
Fig. IV. endlich ist ein Schnitt durch die innere Hälfte der 
Pars prostatica urethrae und die Prostata selbst von einem 
grösseren Hunde, der wohl keiner weiteren Erläuterung bedarf. 
Uebrigens ist zu bemerken, dass das elastische. Netz der Sub- 
mucosa, ein Analogon des Annul. cery. elast. Barkow’s, beim 
Kaninchen sehr viel weniger ausgebildet ist, als beim Hunde. 
Wenigstens findet‘ sich‘ schon vor der Mitte der Prostata keine 
Spur desselben mehr; es folgt die Ringmusculatur unmittelbar 
auf die Schleimkaut. ° 

Die Resultate der physiologischen Untersuchungen finden 
somit an den anatomischen Ergebnissen eine vollkommen be- 

friedigende Unterstützung.) 


Ueber die Harnmenge bei Bewegung der unteren 
und oberen Extremitäten. ten 


Von 
JOHANNES BERGHOLZ aus Holstein. 


„Körperliche Anstrengung, setzt die absolute Wassermenge 
des Harns herab,“ sagt Funke in seiner Physiologie. Hier- 
mit im Widerspruch war mir die Bemerkung, aufgefallen, dass 
ich viel Harn lassen musste, wenn ich einen Marsch ‚machte, 
nachdem ich längere Zeit gesessen hatte. Ich beschloss dies 
zu controliren. Ich stellte die Versuche Vormittags an, damit 
eine grössere Mahlzeit keinen Einfluss ausüben konnte. Ich 
hatte Morgens nur ein Frühstück genossen aus 2 Tassen Kaffee 
und etwas Butterbrod. Ich nahm bei den Versuchen Rücksicht 


1) Die anatomisch-mikroskopische Untersuchung und deren Er- 
läuterung hatte Herr Professor Heidenhain die Güte selbst in die 
Hände zu nehmen. 


9* 


132 Johannes Bergholz: Ueber die Harnmenge u. s. w. 


auf den Puls. Der Harn wird aus dem Blute abgeschieden, man 
sollte denken, je schneller das Blut, in den Nieren .kreist, je 
mehr Harn. Es schien mir wahrscheinlich, dass auf ‚gleiche 
Anzahl Pulsschläge, auch gleiche Quantitäten Harn kommen 
würden. Diese Meinung bestätigte sich nicht. — Es ist wohl 
zu: bemerken, dass meine Körpergrösse 68 Zoll dänisch Maass, 
Gewicht 146 Pfund ist. 

Diese Versuche ergeben Folgendes. , Einige andere Ver- 
suche, die ich noch weiter zur Oontrole machte, ergaben ziem- 
lich dieselben Verhältnisse. | | 


Zeit in eG A 
welcher Een 208 B 
der Harn Re 
gelassen Fu ER el eu | 8 
wurde = = = ==, = 
Min. jan 1. 
Morgens nach 9 Uhr, nachdem | 
um 63 Uhr ein Frühstück aus 
Kaffee und Butterbrod ge- | 
nommen. Nach geringer Be 
werugela.1). u Bien 9 15 80| 15! 1,00 1,258 1017 
Ballen nsekınasınviur]| aib1 80|  15| 1,00: 11,258 
Rascher Marsch Re Bsiite 20 104] 20) 1,00 | 0,961 
Daranf Ruhe 24, „ic, 15 100| 20] 1,353 |1,333 
Weitere. chubası .°" 0 „ur % 15 801 20| 1,333 | 1,666 
15 sol 15| 1,00 | 1,2581 
Langsamer Spaziergang. . . 60 80) 90| 1,50 | 1,876 
Ruhe . . 15 76) 15) 1,00 |1,315 
An einem anderen Tage betrug 
der Harn von 94 Uhr Abends 
vorher bis 64 Uhr Morgens| 540 - | 76| 480| 0,888 | 1,115/1020 
Frühstück aus Kaffee u. But- 
terbrod. Bewegung 60 80) 65| 1,083 | 1,354 1017 
Marsch . . TR, 60 100) 95] 1,6 |1,583|1012 
Rubesy Auen Be Aeel 15 88] 15| 1,0 1,137 
Weitere Ruheiii.»is10.! „ai. 50 88] 50) 1,00 | 1,137 
30 88| 30] 1,00 | 1,137 1017 
Frühstück aus Butterbrod. =D 
ter kaltes Bad . . . ; 60 100) 90| 1,5. | 1,500,1010 
1 ee 20 ss 20.10. [1,137 
An einem anderen Tage betrug 
der Harn von 9 Uhr 20Min. 
Abends vorher bis 6 Uhr 
20 Min. Morgens . . . 540 76| 460) 0,852 | 1,115, 1020 
Spazierenge hen ohne Frühstück 30 801 20| 0,666 | 0,833 
Frühstück, geringe Bewegung 
der unteren Extremitäten. . 45 80) 3835| 0,777, 0,97911025 
Bewegung der oberen Extre- 
mitäten . . 3 15 120) 10 0,666 | 0,505 
Marsch in hoher Temperatur 105 100| 105| 1,00 |1,00 1020 
Kuber 0," ; 25 88) 20) 0,8 0,909 
An einem anderen Tage Ruhe 85 76| 105| 1,235 | 1,358]1023 
Beweg. d. oberen Extremität. 15 104| 15) 1,00 | 0,961 
Beweg. d. unteren Extremität. 15 96| 20| 1,333 | 1,588, 1020 


C. B. Reichert; Der Faltenkranz u. s. w. 133 


Aus dieser Tabelle folgt: Wenn wir die Menge des Urins, 
die in der Ruhe abfliesst, als eine mittlere auffassen, so geht 
die Menge, die bei Bewegung der unteren Extremitäten abge- 
sondert wird, über diese mittlere hinaus, bei Bewegungen der 
oberen Extremität bleibt sie unter derselben, und für diesen 
Fail hat der im Anfan® angeführte Ausspruch seine Rich- 
tigkeit. 

ei In Beziehung auf den Puls ergiebt sich dasselbe Verhält- 
niss. Auf 100 Pulsschläge wird bei Bewegung der- unteren 
Extremitäten eine grössere Menge abgesondert als in der Ruhe, 
bei Bewegungen der oberen Extremitäten eine geringere Menge. 

Es ist, auch von vorn herein wohl denkbar, dass Bewegun- 
gen. der unteren Extremitäten einen grösseren Druck in den 
Gefässen der Nieren zur Folge haben können. 

. Die angeführten Beobachtungen haben eine praktische Be- 
deutung, die anzuführen ich nicht unterlassen möchte. Bewe- 
gungen der unteren Extremitäten also wirken diuretisch. In 
der That, ich habe mehrfach bemerkt, dass ‚Wassersuchten, bei 
denen sonst Bewegung gestattet werden konnte, sich von dem 
Augenblick an, wo die Kranken herum zu gehen anfingen, er- 
heblich besserten, dass von da an die Diurese auffällig sich 
vermehrte. 


Der Faltenkranz an den beiden ersten Furchungs- 
kugeln des Froschdotters und seine Bedeutung für 
die Lehre von’ der Zelle. 


Von ' 
C. B. REICHERT. 


Die Nähe des Frühjahrs veranlasst mich, die Aufmerksam- 
keit der Naturforscher auf den zierlichen Faltenkranz zu len- 
ken, welcher bei beginnender Bildung der Meridianfurche be- 
fruchteter Froscheier an den diese Furche begrenzenden Rän- 
dern sichtbar ist. K.E.v. Bär hat meines Wissens denselben 
zuerst beobachtet; du Bois-Reymond und ich haben ihn 
ausführlicher bei unseren Mittheilungen über den Furchungs- 
process der Batrachier-Eier (Müller’s Archiv 1841. S. 536) 
besprochen; im verflossenen Winter, wurde die Erscheinung von 
Lieberkühn, G. Wagener, A. Baur und mir, von Neuem 
verfolgt. Im Allgemeinen scheint der Faltenkranz wenig ge- 
kannt und noch weniger in seiner wichtigen Bedeutung beachtet 
zu sein; man schwieg, darüber oder erlaubte sich leider in ge- 
wohnter Weise Aeusserungen, wo allerdings das Schweigen 
noch viel besser gewesen wäre. 

In der erwähnten Abhandlung wurde der Furchungsprocess 


134 ©. B. Reichert: 


— da man an der damals herrschenden Ansicht Schwann’s 
von der Zellengenesis festhielt, — nicht richtig gedeutet; was aber 
über die Beschaffenheit der Faltenkränze und über ihre nächste 
Bedeutung für die Furchungskugeln mitgetheilt worden ist, das 
behält auch heute noch seine volle Richtigkeit. Die Art und 
Weise, wie die Erhabenheiten des sogenannten Faltenkranzes 
aus dem Grunde der entstehenden Meridianfurche hervortreten 
und an den Wänden derselben divergirend aufsteigend sich ver- 
lieren, ferner mit der Vertiefung der Furche, d. h. mit dem 
stärkeren Auseinanderweichen der beiden, theilweise sich ab- 
rundenden Furchungskugeln, in Zahl und Form sich verändern 
und schliesslich schwinden, lässt keine andere Deutung zu, als . 
die, dass die beiden auseinanderweichenden und bei Zerstörung 
der Dotterhaut leicht zerfliessenden Furchungskugeln bereits 
von einer festeren Grenzschicht, einer Membran, umhüllt seien. 
Wer die Erscheinung vor Augen hat, der kann auch darüber 
nicht im Zweifel sein, dass die Furchung der leicht zerfliessen- 
den Dottermasse nicht durch einen in dieselbe eindringenden 
Fortsatz bewirkt sein könne, mag man den letzteren von der 
Dotterhaut oder von jener um die im Volumen verkleinerte 
Dotterkugel befindlichen Membran hervorwachsen lassen. Das 
Entstehen des Faltenkranzes ist nur dadurch zu erklären, dass 
die beiden ersten, eng aneinander gepressten und fest adhäri- 
renden Furchungskugeln bereits vor dem Auseinanderweichen 
vollständig von elastischen Hüllen umgeben seien, und dass die 
letzteren, indem die Kugeln, wahrscheinlich in Folge der 
Schwere, mit ihren Randpartieen sich allmälig trennen und 
abrunden, ‘durch die ungleichmässige und schwierig erfolgende 
Lösung der Adhärenzjungleichmässig angespannt und zur Fal- 
._tenbildung veranlasst werden. Auch bei den später auftreten- 
den, nächsten Furchen werden Faltenzüge beobachtet; sie sind 
aber nicht so zahlreich, nicht so auffällig und ausgeprägt. 
Froscheier, an welchen der in Rede stehende Faltenkranz 
vorhanden ist, können um die Laichzeit ohne Schwierigkeit 
herbeigeschafft werden, sobald man die künstliche Befruchtung 
anwendet. Die Erscheinung wird bei gewöhnlicher Zimmertem- 
peratur etwa zwei Stunden nach der künstlichen Befruchtung am 
schwarzen Pole der Eier sichtbar und kann bei hellem, wo mög- 
lich schräg auffallendem Sonnenlichte, während des ersten Auftre- 
tens und der darauf folgenden Veränderungen mit einer guten Lupe 
leicht verfolgt werden. Häufig sieht man, dass über die Stelle, 
an welcher bald darauf die Meridianfurche einzuschneiden be- 
ginnt, feine Fältehen in querer Richtung hinüberziehen. Es 
scheint mir, als ob diese Fältchen durch Anspannung der Hülle 
gebildet werden, welche die beiden ersten Furchungskugeln in 
Form von eng aneinander gepressten Halbkugeln einschliesst, 
und durch deren Einriss und Auflösung das theilweise Ausein- 
anderweichen derselben eingeleitet wird. Diese Hülle wäre 
dann die Membran der Kugel des Dotters, welche etwa eine 
halbe oder eine Stunde nach der Befruchtung auftritt, und den 


Der Faltenkranz an den beiden ersten Furchungskugeln u. s. w. 135 


Beginn des Furchungsprocesses anzeigt. Da diese Kugel völ- 
lig mit den später erscheinenden Furchungskugeln in ihrer 
Beschaffenheit übereinstimmt, so hatte ich sie die erste Fur- 
chungskugel genannt. 

Wer mit der Lupe zu beobachten versteht, wird die Er- 
scheinungen des Faltenkranzes so finden, wie sie früher und 
jetzt beschrieben wurden; wer aber sich die so geringe Mühe 
nicht geben will, dieselben zum Gegenstande seiner Untersu- 
chung zu machen, von dem darf man voraussetzen, dass er 
ihre Bedeutung nicht versteht, oder die Thatsache, die daraus 
folgt, mit der ganzen Tragweite fürchtet. Ich darf hier die 
Bedeutung des Faltenkranzes für das Verständniss des Fur- 
chungsprocesses selbst füglich um so mehr übergehen, als die 
Zeit wohl gelehrt hat, dass dergleichen Erläuterungen gegen- 
wärtig vergeblich gemacht werden. Der Furchungsprocess ist 
aber nach der Ansicht Aller ein Bildungsvorgang, bei welchem 
einfachste organisirte Formelemente, „Zellen“ gebildet werden, 
An allen Furchungskugeln sind mit Leichtigkeit der Kern und 
der Zelleninhalt nachzuweisen. Der Nachweis, dass auch die 
Zellmembran an allen Furchungskugeln sich vorfinde, ist aller- 
dings viel schwieriger, wie in so vielen anderen Fällen. Es 
darf aber nur an einer einzigen Furchungskugel eine 'Hülle, 
die Zellmembran, constatirt sein, so ist es zunächst eine For- 
derung, dass dieselbe auch bei allen übrigen Furchungskugeln 
angenommen werde, so lange nicht das Gegentheil vollkom- 
‚men klar dargelegt ist; und ferner ist dadurch bewiesen, dass 
die eben gebildeten jungen Zellen nicht blos Klümp- 
chen von Dotter mit Kernen darstellen, sondern 
dass zu denselben drei integrirende Bestandtheile, 
Kern, Inhalt und Membran gehören. Eine solche That- 
sache wiegt dann mehr, als eine ganze Heerstrasse voll Deduc- 
tionen über Erscheinungen zellenartiger Körper, bei welchen 
jeder solide Forscher die Tugend der Entsagung auszuüben 
gezwungen ist. Diese Thatsache muss ferner im regelmässigen 
(Gange empirischer Forschung überall da bei neugebildeten 
Zellen ihre Anwendung finden, wo etwa der Nachweis der 
Zellmembran nicht gelingen sollte, und wo nicht striete bewie- 
sen werden kann, dass eine Zellmembran fehlt und überhaupt 
nie vorhanden gewesen ist. 

Ich weiss, dass diese Forderung vielfachen Anstoss erregen 
wird, da jedem Mikroskopiker bekannt ist, welche grosse 
Schwierigkeiten in vielen Fällen den Bemühungen entgegen- 
treten, die An- und Abwesenheit von Zellmembranen zu be 
weisen. Dennoch ist die Forderung durchaus gerechtfertigt. 
Es gab früher eine Zeit, in welcher die Lehre von der Zelle, 
und dass dieselbe aus Kern, Inhalt und Membran bestehe, zu 
begründen war. Damals galt die strenge Forderung allein, die 
Anwesenheit der bezeichneten Bestandtheile und also auch der 
Membran nachzuweisen. Dieser Beweis ist aber gegenwärtig 
in so vielen Fällen geliefert, dass nunmehr der umgekehrte 


136 A. Fick: Ueber das Jürgensen’sche Phänomen. 


Fall eintritt, d. h. es muss von Jedem, der da behauptet, dass 
die Membran zu den ursprünglichen Bestandtheilen der Zelle 
nicht gehöre, verlangt werden, dass er klare Objecte vorführe 
und daran einen verständlichen Gegenbeweis liefere. 


Ueber das Jürgensen’sche Phänomen. 
(Briefliche Mittheilung an Prof. du Bois-Reymond.) 
Von Prof. A. Fick. 


Zürich, 28. Januar 1861. 

So eben lese ich die Abhandlung von Jürgensen über die Be- 
wegung fester in Flüssigkeiten suspendirter Körper unter dem Einfluss - 
des elektrischen Stromes (Archiv u. s. w. 1860. S. 673), und sofort 
drängt sich mir eine Erklärung dieser interessanten Erscheinung auf, 
welche sie mit anderen bekannten physikalischen 'T'hatsachen in un- 
mittelbare Beziehung bringt. Wie ich es ansehe, steht sie nämlich 
keineswegs mit den von Wiedemann und Anderen über Elektro- 
diffusion gemachten Beobachtungen in „scheinbarem Widerspruch“ 
(S. 675 a. a. O.), sie ist vielmehr nur die Kehrseite derselben und 
konnte sogar aus jenen vorhergesagt werden. Bekanntlich ist nachge- 
wiesen, dass die Kräfte, welche den Elektrodiffusionsstrom in Bewe- 
gung setzen, nicht an den Elektroden, sondern in den Poren der 
Scheidewand ihren Sitz haben. Man darf also wohl annehmen, überall 
da, wo eine elektrisch durchströmte Flüssigkeitsmasse einen festen 
Körper berührt, wird eine mechanische Kraft wach, welche das be- 
nachbarte Flüssigkeitstheilchen stromabwärts (nach der negativen Elek- 
trode hin) treibt. Nach dem Principe von der Gleichheit der Action 
und Reaction muss aber das berührende feste Theilchen einen gleichen 
Druck in entgegengesetztem Sinne — stromaufwärts — erleiden. Die 
poröse Scheidewand kann in den Versuchen über Elektrodiffusion die- 
sem Druck nicht ausweichen wegen ibrer festen Verbindung mit den 
anderen Theilen der Apparate. In den Versuchen von Jürgensen 
bildet nun der Inbegriff aller in irgend einem Querschnitt der Strom- 
bahn liegenden festen Körperchen gleichsam eine bewegliche Scheide- 
wand, welche durch jenen Druck wirklich in Bewegung gesetzt wird. 
Es stimmt zu dieser Erklärung offenbar sehr gut, dass alle diejenigen 
Bedingungen, welche der Elektrodiffusion günstig sind, in Jürgen- 
sen’s Versuchen auch die Bewegung der suspendirten festen Körper- 
chen förderten, insbesondere grosser Leitungswiderstand der Flüssigkeit.!) 


1) Ich habe die hier von Hın. Fick gegebene Theorie des Jürgensen’schen 
Phänomens bereits in der Sitzung der physikalischen Gesellschaft am 28. Dee. v. J., 
als Hr, Quincke über dasselbe berichtete, im Wesentlichen gleichlautend  ausge- 
sprochen. Ich fiigte hinzu, dass vielleicht ein Zusamm-nhang bestehe zwischen dem 
Umstande, dass nur die capillare Wandschicht zu wandern scheine, und dem, dass 
sie vermuthlich nicht elektrolysirt werde (Vgl. v. Grotthuss, Physisch-chemische 
Forschungen. 40. Nürnberg 1520 S. 68.) Hr. Quincke hat aber seitdem, was Hrn. 
Fiek noch unbekannt war, eine Bahn der Versuche betreten. auf der man erst seine 
weiteren Erfolge abwarten muss, ehe man sich wieder mit einiger Sicherheit Vermv- 
t{hungen über diesen Kreis von Erscheinungen hingeben kann. (Monatsberichte der 
Berliner Akademie, 10. Januar 1861.) E. d. B.-R. 


Besr. i,ic..h,t 1 ze,uänie; 
S. 704 des vorigen Jahrganges, Z. 18 v. u. steht durch einen Ueber- 
setzungsfehler 
„unter“ statt „ohne den Einfluss des Gehirns“. 
Die eingeklammerte Bemerkung des Berichterstatters ist somit überflüssig. 


Hermann Meyer: Die Beckenneigung. 137 


Die Beckenneigung. 


(Sechster Beitrag zur Mechanik des menschlichen Knochengerüstes.) 


Von 
Prof. HERMANN MEYER in Zürich. 


Ein richtiges Verständniss der Bewegungen des menschli- 
ehen Körpers kann nur dadurch gegeben sein, dass eine ge- 
wisse leicht bestimmbare Ausgangsstellung aufgestellt und nach 
dieser sowohl Richtung als Grad der Bewegung bestimmt wird. 
Von diesem Standpunkte aus habe ich früher meine Untersu- 
chungen über die Ortsbewegung mit der Untersuchung des’ auf- 
rechten Stehens begonnen (Vgl. Müller’s Archiv 1855 S. 9, 
S. 365, 8. 497, S. 548 und 1854 S. 478); und von demselben 
‚Standpunkte ging ich auch aus, als ich das in meinem Lehr- 
buche der Anatomie verkleinert abgebildete Skelet componirte. 
Wie schon meine frühere in Gemeinschaft mit Horner unter- 
nommene Arbeit über die normale Krümmung der Wirbelsäule, 
so ist auch die vorliegende über die Beckenneigung eine Er- 
gänzung jener Untersuchung über das aufrechte Stehen. 

Eine besonders wichtige Stellung in der Auffassung und 
Composition des Skeletes nimmt nämlich bekanntlich die Hal- 
tung des Beckens ein, welche, neben Anderem, besonders auch 
für die Haltung der Wirbelsäule ein Hauptbestimmungsmoment 
sein muss. Ich habe in meinen früheren Arbeiten mich in 
dieser Beziehung der herrschenden Ansicht angeschlossen, weil 
ich dieselbe hinlänglich begründet glaubte, und habe mir nur 
folgende Modificationen derselben erlaubt: 

Die geläufige Ansicht giebt der Conjugata eine Neigung 
von 59°—65° (im Mittel 60°) gegen den Horizont. Ich .gab 
einer von mir aufgestellten Normalconjugata eine Neigung 


von 30° gegen den Horizont in der Meinung, damit eine con- 
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1861, 10 


138 Hermann Meyer: 


stantere Bestimmuug für die Beckenneigung zu geben. Die 
Normalconjugata geht nämlich von dem oberen Rande der 
Symphysis ossium pubis zu der durch eine Einknickung be- 
zeichneten Mitte des dritten Kreuzbeinwirbels, welcher Punkt 
nicht so sehr wie das Promontorium, nach welchem die Con- 
jugata hingeht, in seiner Lage durch die Entwickelungsver- 
hältnisse der Wirbelsäule influenzirt wird (Vgl. Müller’s 
Archiv 1853 S. 540). ' 

Neuere Untersuchungen, welche ich zuerst in vorläufiger 
Mittheilung am 14. Juni 1358 der naturforschenden Gesellschaft 
in Zürich vortrug (Vgl. Vierteljahrsschrift dieser Gesellschaft 
1858. S. 405), haben mich nun allerdings keine Ursache finden 
lassen, die Ansicht von der grösseren Brauchbarkeit der Nor- 
malconjugata der Conjugata gegenüber zu verlassen; . dagegen 
musste ich mich überzeugen, dass die geläufige Ansicht über 
die Neigung der Conjugata (beziehungsweise der Normalcon- 
jugata) bedeutende Modificationen erfahren muss. Die Resul- 
tate dieser Untersuchungen gebe ich nun in dem Folgenden, 
mir vorbehaltend, später noch Ergänzungen, gewonnen durch 
genauere Messapparate und zahlreiche Messungen, nachzutragen. 

Ehe ich auf den Gegenstand selbst eingehe, sei es mir ge- 
stattet, noch einige Worte über meine Skeleteomposition vor- 
zubringen, weil derselben von competenter (künstlerischer) Seite 
der Vorwurf gemacht worden ist, dass sie unnatürlich steif sei. 

Dass die von mir componirte Figur, welche verkleinert in 
meinem Lehrbuche der Anatomie (Seite 29 Fig I und $. 145 
Fig. 95) wiedergegeben ist, steif sei, kann und will ich nicht 
läugnen, indessen kann ich darin keinen Vorwurf gegen die 
Composition überhaupt erblicken. Allen ästhetischen Neben- 
rücksichten fremd, hatte ja diese Composition allein den Zweck, 
aus der ganzen Zahl möglicher und individuell verwendeter 
Stellungen eine solche hinzustellen, welche nach einfachen 
Grundsätzen leicht zu bestimmen und damit eine brauchbare 
Ausgangsstellung für die Bestimmung von Bewegungen wäre. 
Diese Aufgabe erfüllt meine Composition. Die Figur ist voll- 
ständig symmetrisch gestellt; im Rumpfe ist die Haltung 
der Wirbelsäule und des Beckens durch die Untersuchungen 


Die Beckenneigung, 139 


über diese Punkte festgestellt; für den Kopf ist diejenige 
Stellung gewählt, in welcher der Boden der Nasenhöhle hori- 
zontal liegt; — in der oberen Extremität liegt die (uer- 
projeetion beider Schlüsselbeine horizontal; die Pars acromialis 
beider Schlüsselbeine liegt in derselben auf die Mittelebene 
senkrechten Linie; die Constructionslinie des Armes ist senk- 
recht und die Stellung der Hand eine solche, wie sie durch die 
mittlere Stellung des Radius zur Ulna vorgeschrieben ist; — 
in der unteren Extremität ist die Constructionsaxe des 
Beines in der Querprojection senkrecht gestellt, und die in dem 
Fusse durch die Axe der grossen Zehe und den Mittelpunkt 
der Ferse gehende Linie ist beiderseits senkrecht auf die Quer- 
ebene des Körpers gerichtet; die in der Profilprojection sicht- 
bare Neigung der Beinaxe um 7° vor die Senkrechte ist durch 
die Untersuchung über das aufrechte Stehen gegeben. — Dass 
eine solehe Stellung eine steife sein muss, versteht sich von 
selbst, dass sie aber als Ausgangsstellung sehr brauchbar sei, 
dieses zu beweisen, ist ganz allein schon der Umstand genü- 
send, dass sie im Wesentlichen dieselbe ist, welche bei mili- 
tärischen Uebungen als Ausgangsstellung stets benutzt wird. 
‘Meine Composition ist eigentlich nur die mathema- 
tisch formulirte militärische Ausgangsstellung ohne 
den Knieschluss und die Auswärtsrotation der Beine. — Dass 
eine Stellung, wie diejenige des Thorwaldsen’schen Christus 
schöner und ästhetischer ist, wird Niemand bestreiten mögen 
und ich am wenigsten. Aber ist diese Stellung auch so leicht 
und bestimmt zu formuliren? und ist sie als Ausgangsstellung 
für Bewegungen in gleicher Weise brauchbar, wie die von mir 
eomponirte Stellung? 


Die Bestimmungsweise der Conjugataneigung. 

Die gegenwärtige Ansicht über die im aufrechten Stehen 
vorkommende Beckenstellung, wie sie bestimmt wird durch die 
Neigung der Conjugata gegen den Horizont, wurde zuerst frü- 
heren ungenügenden Angaben gegenüber durch F. ©. Nägele') 


1) Das weibliche Becken. Karlsruhe 1825, 


140 Hermann Meyer: 


für das weibliche Becken begründet, später durch die Gebrüder 
Weber!) für das männliche Becken ergänzt und durch 
Krause?) bestätigt. Die Methode, deren sich diese Forscher 
bedienten, bestand darin, dass sie an lebenden Individuen den 
Neigungswinkel des unteren geraden Durchmessers gegen den 
Horizont bestimmten und daraus den Neigungswinkel der Conju- 
sata berechneten, nachdem an getrockneten Becken die mittlere 
Grösse des Winkels zwischen diesen beiden Beckendurchmes- 
sern gefunden war. Auf die Brauchbarkeit dieser Methode 
habe ich später noch einmal zurückzukommen, und habe hier 
nur zu erwähnen, dass in der Anwendung derselben bei Nä- 
gele unbewusst, bei Weber dagegen bewusst die Meinung 
herrscht, es sei die Neigung der Oonjugata für dasselbe Indi- 
viduum eine absolute, unveränderliche Grösse, so lange nicht 
eine Krümmung der Wirbelsäule gegeben sei. — Weber 
(S. 122—123) begründet seine Meinung von der Unveränder- 
lichkeit der Conjugataneigung durch seine Auffassung von der 
Art und Weise, wie das Becken und mit demselben der Rumpf 
aurch die Oberschenkelknöpfe getragen wird. Dieses geschieht 
nämlich nach ihm dadurch, dass der in sich unveränderlich ge- 
haltene Rumpf im labilen Gleichgewichte über der gemein- 
schaftlichen Axe beider Hüftgelenke äquilibrirt wird. Wäre 
dieses wirklich der Fall, dann müsste allerdings bei allen nicht 
liegenden und nicht sitzenden Stellungen, bei welchen der 
Rumpf durch beide Beine gestützt wird, das Becken und die 
Wirbelsäule gegen einander und gegen den Horizont eine un- 
veränderliche Lage haben; und jene Methode würde dann eine 
möglichst grosse Zuverlässlichkeit besitzen. | 

Ich habe indessen bereits in meinem Aufsatze über das auf- 
rechte Stehen (Müller’s Archiv 1853 8. 947) gezeigt, dass 
die Art, wie das Becken von den Beinen getragen wird, eine 
andere sei, nämlich die, dass in der aufrechten Stellung das 
Hüftgelenk sich in einem Maximum von Streckung, d.h. Rück- 
wärtsstellung der Beine gegen das Becken befindet, und dass 


1) Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge. Göttingen 1836. 
2) Handbuch der menschlichen Anatomie. 2. Auflage. Hannover 
1841. °S. 327. 


Die Beckenneigung. 141 


sodann der Rumpf, dessen Schwerlinie hinter der gemein- 
schaftlichen Hüftaxe herunterfällt, durch die Spannung der 
Hüftgelenkbänder, insbesondere des Lig. ileo-femorale‘, festge- 
halten und‘ruhend auf den Oberschenkelköpfen fixirt wird. — 
Aus diesem Satze folgt, dass unter allen Verhältnissen, in wel- 
chen der Rumpf’ohne besonders darauf gerichtete Muskelthä- 
tigkeit von den Oberschenkelköpfen getragen wird, die Stel- 
lung des Beckens von der Spannung der in der 
Hüftgelenkcapsel enthaltenen Faserstreifen abhän- 
gig ist. 

Nachdem dieser Satz gewonnen war, war durch denselben 
zugleich die Möglichkeit gegeben, die Frage über die Stellung 
des Beckens auf dem Versuchswege zu ermitteln. Es war 
nämlich nunmehr zulässig, dass herausgenommene Becken mit 
den beiden Femora und mit unversehrten Hüftcapseln zur Lö- 
sung der Frage benutzt wurden. An solchen Präparaten durfte 
nur möglichst starke Rückwärtsneigung des Beckens erzeugt 
und dann die Neigung des Beckens gegen die Beinaxe mit 
Hülfe der Conjugata oder der Normalconjugata bestimmt wer- 
den, und es war sodann hierdurch das Mittel gegeben, die 
Beckenneigung gegen den Horizont in dem Lebenden zu be- 
stimmen. 

Für die Erzeugung der Beckenneigung im aufrechten Ste- 
hen wirken nämlich offenbar zwei Momente zusammen und 
diese sind: 

1) die Neigung des Beckens gegen die Beinaxe und 

2) die Neigung der Beinaxe gegen den Horizont. 

Die letztere ist an dem Lebenden leicht durch Hülfe des vor- 
deren Trochanterrandes und des Condylus externus femoris zu 
erkennen, und daher ist, wenn die Neigung der Conjugata oder 
Normalconjugata gegen die Beinaxe bekannt ist, auch für alle 
Stellungen der Beinaxe in Bezug auf Rückwärts- oder Vor- 
wärtsneigung die Neigung des Beckens gegen den Horizont 
unschwer zu berechnen. 

Die Hauptaufgabe für Erkennung der Beckenneigung muss 
daher diejenige bleiben, die Neigung der gewählten Linie des 
Beckens zu der Beinaxe zu bestimmen oder vielmehr zu der- 


142 Hermann Meyer: 


jenigen Ebene, welche durch beide Beinaxen gelegt werden 
kann. Hierauf richtete ich denn auch meine Untersuchungen, 
und da ich bei vorläufigen Versuchen gefunden hatte, dass die 
Neigung der Conjugata zu der Beinaxe keineswegs dieselbe 
ist, sondern mit den Abductions- und Rotationsgraden der 
Oberschenkel wechselt, so construirte ich einen Apparat, wel- 
cher es erlaubte, diese Einflüsse genauer zu ermitteln. 

Jedes Femur wurde in einen Schienenapparat eingeschraubt, 
welcher sich mit einer senkrecht gestellten Axe in einer Hülse 
bewegt. Die Hülse bewegt sich mit einem Cirkelgelenke im 
Sinne der Querebene des Körpers auf einem Klötzchen, wel- 
ches sich in einer Rinne seitwärts verschieben lässt. Durch 
die Drehung des Schienenapparates um seine Axe kann eine 
Rotation des Femur um seine mit dieser Axe in Oontinuität 
stehende Längenaxe ausgeführt und deren Grösse durch eine 
angebrachte Kreistheilung gemessen werden; und durch die 
Bewegung in dem Cirkelgelenke mit gleichzeitiger Verschiebung 
der Klötzchen kann Abduction und Adduction der Femora 
erzielt und zugleich an angebrachter Kreistheilung gemessen 
werden. — Ein Gewicht von einigen Pfunden an das Kreuz- 
bein angehängt unterhält statt der fehlenden Schwere des 
Rumpfes den Zug des Beckens nach rückwärts, und ein Mes- 
singstab, in der Richtung der Normalconjugata durch Einschla- 
gen in die Mitte des dritten Kreuzbeinwirbels befestigt, zeigt 
durch ein an ihm aufgehängtes Senkel an einer Kreistheilung 
für die jedesmalige Stellung die Neigung der Normalconjugata 
gegen die Senkrechte und, da die Femuraxen senkrecht in dem 
Apparate stehen, auch zugleich die Neigung der Normalcon- 
jJugata gegen die Beinaxe. 

Durch Hülfe dieses Apparates erhielt ich für jedes unter- 
suchte Becken eine Tabelle, welche die Werthe der Conjugata- 
neigung für alle ausführbaren Abductions- und Rotationsgrade 
der Femora und deren verschiedene Combinationen enthält. 
Auf diese Tabellen gründet sich die folgende Darstellung. 


Differenz in der Neigung der ÖOonjugata und der 
Normalconjugata. 


Die geläufigere Auffassung der Beckenneigung ist nicht auf 


Die Beckenneigung. 143 


den in meinen Versuchen bestimmten Neigungswinkel zwischen 
der Normalconjugata und der Beinaxe gerichtet, sondern auf 
den Neigungswinkel zwischen der Conjugata und dem Hori- 
zont. Des leichteren Verständnisses wegen habe ich deshalb 
in dem Folgenden die Bezeichnung der Beckenneigung stets 
nach der Neigung der Conjugata gegen den Horizont gegeben. 

In Bezug auf den Antheil, welchen die Stellung, der Bein- 
axen an der Conjugataneigung besitzt, war ich dabei allerdings 
_ genöthigt, ohne Rücksicht auf die individuellen Schwankungen, 
den früher von mir gefundenen Neigungswinkel derselben von 
7° gegen die Senkrechte anzunehmen und in Rechnung zu 
bringen. 

Für die Uebertragung des gefundenen Winkels der Nor- 
maälconjugata auf die Oonjugata war dagegen die Bestimmung 
des Winkels zwischen diesen beiden Linien nothwendig. Ich 
habe deshalb an jedem untersuchten Becken diesen Winkel 
direet gemessen und somit die Neigungsdifferenz beider Linien 
für jedes einzelne Becken bestimmt. Ich fand dafür folgende 
Werthe: 

Für männliche Becken 1 219 
2 30° 
3 34° 
4 36° Maximum 37° 
b) 30° Minimum 26° 
6 37° 
7 26° 
8 28° 
5) 31° 
30° 
32° 
33° Maximum 33° 
32° Minimum 28° 
33° 
28° 
31° 
Mittel der männlichen Becken 31° 
Mittel der weiblichen Becken 31,3° k 
Gesammtmittel . . 31,15° 


Für weibliche Becken 


PO m 


[In Du 


Ich benutzte diese Gelegenheit gern, um noch genauere 


144 Hermann Meyer: 


Einsicht in das gegenseitige Verhältniss der Conjugata und der 
Normaleonjugata zu gewinnen und bestimmte für diesen Zweck 
an einer Reihe getrockneter Becken den Winkel zwischen bei- 
den durch Berechnung aus den gemessenen Längen der Con- 
jugata, der Normalconjugata und des Beckentheiles des Kreuz- 
beines. Ich fand auf diese Weise folgende Werthe: 


Für männliche Becken 34° 30‘ 
Zara 
SI A 
34° :15/ 
29° 26° 
Für weibliche Becken 33° 39’ 
a. 
LS 
5 
BISEEe Maximum 33° 39° 
SEIT! Minimum 25° 39 
98° .30° 
28° 14° 
2 
31994 
Mittel der männlichen Becken 33° 27‘ 
Mittel der weiblichen Becken 29° 7,5‘ 
Gesammtmittel Be SR 


Maximum 35° 43° 
Minimum 29° 26’ 


Beide Bestimmungen, directe Messung und Berechnung, ha- 
ben somit das gleiche Ergebniss einer Differenz der Neigung 
zwischen Conjugata und Normalconjugata um 31° geliefert. 
Das Maximum war in beiden Bestimmungen bei einem männ- 
lichen Becken (mit 37°, beziehungsweise 35° 43°) — das Mi- 
nimum war dagegen in der ersten Bestimmung bei einem männ- 
lichen Becken (mit 26°) und in der zweiten bei einem weibli- 
chen Becken (mit 25° 39°). 

Vergleiche ich hiermit meine früheren Messungen (Mül- 
ler’s Archiv 1853. S. 541), bei welchen ich als Mittel aus 
11 Becken (männlichen und weiblichen) den Werth 30%/,, 
fand, und als Maximum 34°, als Minimum dagegen 26°, so 
lässt sich in gerundeten Zahlen das Gesetz aufstellen, dass die 
Neigung zwischen Conjugata und Normalconjugata 
bei beiden Geschlechtern im Mittel 30° beträgt, mit 


Die Beckenneigung. 145 


einer Sehwankung von 10° (5° über und 5° unterdas 
Mittel). 

Da die von Krause angegebenen Neigungsschwankungen 
der Conjugata sich in denselben Grössen und in derselben 
Vertheilung gegen das Mittel bewegen, und da ich nachweisen 
konnte, dass vorzugsweise die Neigung der Conjugata wegen 
der veränderlichen Lage des Promontoriums die Ursache dieser 
Schwankungen sein musste, so war ich in früherer Arbeit ver- 
anlasst, die Normalconjugata als constantere massgebende 
Linie aufzustellen; und wenn ich in der folgenden Darstellung 
die Beckenneigung dennoch durch die Conjugata bestimme, so 
geschieht dieses, wie erwähnt, nur im Interesse allgemeinerer 
Verständlichkeit. Damit indessen die von mir direct gefunde- 
nen Maasse des Winkels zwischen Normaleonjugata und Bein- 
axe der Benutzung ebenso zugänglich seien, wie die aus ihnen 
abgeleiteten Werthe der Conjugataneigung, so will ich noch 
mit einigen Worten angeben, in welcher Weise ich die letz- 
teren aus den ersteren abgeleitet habe. 

Da die Beinaxen im Versuche senkrecht standen, so ver- 
‚ wandelt Subtraction von 90° den gefundenen Winkelwerth in 
die Angabe der Neigung der Normalconjugata gegen den Ho- 
rizont bei senkrechten Beinaxen; durch die Vorwärtsneigung 
der Beinaxen um 7° wird in dem gewöhnlichen aufrechten 
Stehen der Neigungswinkel der Normalconjugata gegen den 
Horizont um eben so viel grösser; die Grösse desselben ist da- 
her gleich dem gemessenen Winkel (A) minus 90° plus 7%. — 
Soll dann aus dieser Grösse der Neigungswinkel der Conjugata 
gegen den Horizont abgeleitet werden, so ist zu derselben der 
Winkel (W) der Neigungsdifferenz zwischen Conjugata und 
Normalconjugata zu addiren. Der Neigungswinkel der Con- 
jJugata ist demnach gleich 

zA-W’+Tı ZW 
oder ZA —035T 4 ZW) 
Der in Klammern stehende Subtrahend ist natürlich für jedes 
Becken entsprechend dem individuellen Werthe von 7 W ver- 
schieden. Für die einzelnen von mir untersuchten Becken ge- 


146 Hermann Meyer: 


staltet sich nach Massgabe der oben mitgetheilten Werthe: von 
ZW folgendermassen: i 


Für männliches Becken 1 56° Für weibliches Becken 1 53° 
H:58n 2731548 
3.492 3,505 
4.472 4 al, 
5 8 Dur 
6 46° 6’ 
NH E20. 
Saas 
259° 


Für das Mittel 52° 


Durch Addition dieser Zahlen zu den in dem Späteren an- 
gegebenen Conjugataneigungen werden demnach aus diesen 
sogleich die Grössen der Winkel zwischen Normalconjugata 
und Beinaxen gefunden. 


Die mögliche Grösse der Abduction und der Ro- 
tation der Oberschenkelbeine. 


Die Stellungen der Oberschenkelbeine, in welchen die 
Beckenneigungen gemessen wurden, waren die möglichen Ab- 
duetionsgrade und in jedem derselben die möglichen Rota- 
tionsgrade. 

Die benutzten Abductionsgrade sind um immer 10° 
Divergenz der Beinaxen von einander entfernt; es sind die 
Grade 

Minus 4° bis 10° Divergenz (Knieschluss), 

0° Divergenz (Parallelismus der Beinaxen), und dann 
+10°, 20°, 30°, 40°, 50°, 60°, 70°, 80° Divergenz 
oder nach der Neigung der einzelnen Beinaxe gegen den Ho- 
rizont bestimmt: 

95°, 90°, 85°, 803,757, 79%, 65°, 1607,3 53950508 

Die Minus-Divergenz beim Knieschluss betrug zwischen 4° 
und 10° (d. h. Neigung der einzelnen Beinaxe gegen den Ho- 
"rizont um 92° bis 95°); bei dem weiblichen Becken No. 7 
wich indessen der Knieschluss so wenig von dem Parallelis- 
mus der Beine ab, dass für ihn keine besondere Reihe gewon- 
nen werden konnte. 


Die Beckenneigung. 147 


Bei 60°, 70°, 80° Divergenz (also bei 60°, 55°, 50° Nei- 
gung der einzelnen Beinaxe gegen den Horizont) begannen, je 
nach der Individualität des Beckens früher oder später, die Be- 
wegungen unsicher zu werden, und es zeigte sich Neigung zum 
Austreten des Kopfes aus der Pfanne. Damit ist demnach die 
Grenze der Abductionsmöglichkeiten gegeben. 

In jeder einzelnen der bezeichneten Abductionsstellungen 
wurden immer von 5° zu 5° die in derselben möglichen Ro- 
tationsstellungen gewonnen und dann die Werthe der entspre- 
chenden Beckenneigungen auf der Kreistheilung abgelesen. 

Dabei zeigten sich nun vor Allem einige interessante Ver- 
hältnisse in Bezug auf die Rotationsmöglichkeit, welche 
ich gemeinschaftlich mit der Erklärung der von mir angewen- 
deten Benennungen der Rotationsgrade hier ausführen will. 

Die Rotation erscheint bekanntlich als Rotation nach innen 
und als Rotation nach aussen (Einwärtsrotation und Auswärts- 
rotation). Beides sind natürlich relative Begriffe und für die 
Anwendung der einen oder der anderen dieser beiden Bezeich- 
nungen kann, da sie nur die Richtung der Bewegungen an- 
‘ deuten, immer nur die jedesmalige Stellung als Ausgangspunkt 
massgebend sein. Will-man indessen diesen Begriffen im In- 
teresse zweekmässigerer Anwendung eine absolute Bedeutung 
geben, so muss man einen feststehenden leicht zu bezeichnen- 
den Ausgangspunkt für beide Richtungen der Bewegung als 
Nullpunkt der Rotation aufstellen. Als solcher bietet sich 
nun diejenige Stellung beider Oberschenkelbeine, in welcher 
die stärksten Wölbungen der vier Condylen nach hinten in dersel- 
ben Ebene liegen. Diese Stellung ist annähernd dieselbe, wie 
diejenige, welche die Oberschenkelbeine im aufrechten Stehen 
einnehmen; sie befinden sich dabei nur in Folge der in der 
Gestalt des Condylus internus femoris begründeten Schlussro- 
tation in einer Rotationsstellung um 5° nach innen (Vgl. mein 
Lehrbuch der Anatomie $. 141 Fig. 91). — Aus dem eben 
aufgestellten Nullpunkte der Rotation sind nun die beiden Be- 
wegungen möglich: 

der Rotation nach innen oder Minus-Rotation und 

der Rotation nach aussen oder Plus-Rotation. 


148 Hermann Meyer: 


Massgebend für die Benennungen „nach innen“ und „nach 
aussen“ ist die Richtung, in welcher die Fussspitze durch die 
betreffende Bewegung geführt wird. 

Es stellte sich nun im Verlaufe der Versuche heraus, dass 
nieht nur bei verschiedenen Individuen die Gebiete der mögli- 
chen Rotationen verschieden sind, sondern dass auch bei dem- 
selben Individuum je nach dem Abductionsgrade der Beine die 
Grösse und die Vertheilungsweise der Rotationsmöglichkeit sich 
verschieden verhält. — Die folgende Tabelle giebt eine Zu- 
sammenstellung der Rotationsmöglichkeiten, wie ich sie gefun- 
den, und zwar sowohl in der Schlussstellung, als auch in der 
grössten, noch für den Versuch brauchbaren Abduction (Sprei- 
zungsstellung). Die mit — und mit + bezeichneten Reihen ge- 
ben die mögliche Rotationsgrösse im Sinne der Minus-Rotation, 
beziehungsweise der Plus-Rotation an. Die Reihe daneben 
giebt die Summe beider Rotationsgrössen an. 


bei Schluss bei Spreizung 
Zusam- Zusam- 
Te r men + men 
Männliche Becken 1 30° | 35° 55° A Ei 1 65° 
24; \425° »|:80%.| 85° 4541209045907.) 652 
Se ae 050. | 552 20° 1453 65° 
a | 450 °|25° | 70° | 350 500 "| 85° 
SB ES ag 0 25° | 40° 65° 
6 .,| 45°... 30° us 35° 160° 95° 
Te DO 70 15° | 550 70° 
et ee | 60er 
9 | 35° |35° | 70° || 25° ..60° 85° 
Weibliche Becken 1 407°.7.1,85° 78-2 | a. | 5 302 
2 | 450 1350 || 00 40° | 50° | 90° 
3 358 352 70° 30° 50° 80° 
4 552 33 90° 50° bs 105° 
5) 3 35° 70° 30° 50° ‚80° 
6 502887 85° 35° 25° 60° 
d. 45° | 40° 85° | 40° 60° 100° 
Mittel d. männl. Becken | 32,2° | 32,8° | 65,0° || 24,4° | 50,5° | ..75,0° 
Mittel d. weibl. Becken | 43,6° | 35,7° | 79,3° || 37,0° | 49,0° | 86,0° 


Gesammtmittel | 37,9° | 33,25° 


72,15° || 30,7° | 49,75°| .80,5° 


Aus diesen Zahlen gehen folgende Sätze für die Rotations- 
möglichkeit der Femora hervor: 


Die Beckenneigung. 149 


1) Die Rotationsmöglichkeit ist in der Spreizung grösser 
als in der Schlussstellung. 

2) Die grössere Rotationsmöglichkeit ist bei Schluss nach 
innen, bei Spreizung dagegen’ nach aussen. — Auf runde Zah- 
len zurückgeführt zerfallen nämlich die 70° Rotationsmöglich- 
keit bei Schluss in 40° Rotation nach innen und 30? Rotation 
nach aussen, — und dagegen die 80° Rotationsmöglichkeit bei 
Spreizung in 30° Rotation nach innen und 50° Rotation nach 
aussen. 

3) Die Rotationsmöglichkeit ist in beiden Stellungen für 
das weibliche Becken grösser als für das männliche (um circa 
0°-15°). 

4) Die grössere Ausdehnung der Rotationsmöglichkeit für 
das weibliche Becken vertheilt sich indessen nicht gleichmässig 
auf die beiden Richtungen der Rotation, sondern sie gehört 
vorzugsweise der Minusseite an, indem auf der Plusseite die 
Rotationsmöglichkeiten bei beiden Geschlechtern annähernd 
‘ gleich sind. — Bei dem weiblichen Becken ist daher sowohl 
in der Schlussstellung als auch in der Spreizungsstellung eine 
‚ entschieden grössere Rotationsmöglichkeit nach innen, als bei 
dem männlichen Becken. 


Einfluss der Abduetion für sich und der Rotation 
für sich auf die Conjugataneigung. 


Um den Einfluss der Stellung der Oberschenkelbeine auf 
die Neigung des Beckens möglichst einfach und übersichtlich 
zu zeigen, habe ich die folgenden Tabellen berechnet Jede 
derselben zeigt zwei sich kreuzende Reihen. 

In der horizontalen Reihe ist der Einfluss der Rotation 
auf die Beckenstellung dadurch nachgewiesen, dass die Mittel 
aller Beckenstellungen, welche bei Parallelismus der Beinaxen 
in den verschiedenen Rotationsgraden beobachtet wurden, in 
eine Reihe zusammengestellt sind. 

In der senkrechten Reihe ist in gleicher ie der Ein- 
fuss der Abduction auf die Beckenstellung dadurch nachge- 
wiesen, dass die Mittel aller für die verschiedenen Abductions- 


Reihe zu- 


57,9°| 53,2°| 50,20] 48,4° 


ın eıne 


Mittel der 
männlichen Becken 


v 


63,2°| 60,70| 57,4°| 55,6°| 54,7°| 54,90) 54,2° 


Hermann Meyer. 


Mittel der 
weiblichen Becken 


60,3°| 57,8°| 54,0°| 52,3° 


Mittel von 


grade bei 0° Rotation gefundenen Werthe 
beiderlei Becken 


sammengestellt sind. 


150 


Rotationsgrade 


0° 


52,10 
47; 
43,8° 
42,6° 
44,3° 
45,3° 
ber 
56,4° 
65,4° 
58,2° 
54,9° 
50,3° 
48,3° 
47,9° 
49,0° 
51,4° 
56,9° 
60,9° 
95,2° 
51,2° 
47,1° 
45,5° 
| 45,1° 
48,2°| 
51,3°| 
56,7° 
63,1° 


f, 


47,5°| 47,9°| 49,1°| 51,3°| 55,5°| 59,80] 64,90 


ohne Rücksicht darau 


55,8°| 57,5°] 60,6°| 66,7°| 72,3°| 79,1°| 8g,1° 


54,9°| 59,0°| 63,99] 69,5°| 76,29 


ob die Convergenz der Femuraxen wirklich 10° oder nur 4° oder 
5° betrug oder einen dazwischen liegenden Werth hatte. 


Anm. Der Divergenzgrad Minus 10° bedeutet in dieser und folgenden 
Tabellen nur überhaupt den Knieschluss, 


Die Beckenneigung. 151 


In der ersten Tabelle sind die Mittel aus den männlichen, 
in der zweiten die Mittel aus den weiblichen, und in der drit- 
ten die Mittel aus beiden auf diese Weise geordnet. — Die 
Winkelgrössen sind die Neigung der Conjugata gegen den Ho- 
rizont. 

Aus diesen Tabellen ist Folgendes zu erkennen: 

1) Bei dem männlichen Becken gelangt bei unveränder- 
tem Parallelismus der Beinaxen die Neigung der Conjugata 
gegen den Horizont nur durch die Rotation der Femora 
um ihre Längenaxen aus einem (bei —25° Rotation liegenden) 
Maximum von 63,1° durch ein Minimum von 47,5° hin- 
durch zu einem (bei + 35° Rotation liegenden) anderen Maxi- 
mum von 64,2°. — Bei dem weiblichen Becken geht unter 
den gleichen Bedingungen die Conjugataneigung aus einem 
(bei — 35° Rotation liegenden) Maximum von 63,2° durch ein 
Minimum von 54,2° hindurch zu dem anderseitigen (bei + 35° 
Rotation liegenden) Maximum von 88,1°. 

Die Neigungsdifferenzen zwischen den beiden Maxima 
und dem Minimum dieser Reihen stellen sich demnach folgen- 


’dermassen heraus: 


Männliche Becken Weibliche Becken 
Differenz Differenz 
Minusmaximum _.63,1° 63,2° 
15,6° 9,0° 
Minimum 47,5° 54,2° 
IE 33,9° 
Plusmaximum 64,2? 88,1° 


Das Minimum dieser Reihen liegt bei männlichen Becken 
zwischen 0° und 15° Rotation, -— bei weiblichen Becken 
unter - 5° oder zwischen — 10° und — 5° Rotation; d.h. beide 
sind gleichweit von dem Minusmaximum der Rotation entfernt. 

2) Bei dem männlichen Becken wird bei unverrücktem 
Festhalten an dem Nullpunkte der Rotation nur durch Ab- 
duetion der Femora die Neigung der Conjugata aus einem 
(bei Knieschluss liegenden) Maximum von 52,1° durch ein 
Minimum von 42,6° hindurch zu einem (in grösster Spreizung 
liegenden) anderen Maximum von 65,3° geführt. — Bei dem 
weiblichen Becken geht unter den gleichen Bedingungen die 


152 Hermann Meyer: 


Neigung der Conjugata aus einem (bei, Knieschluss liegenden) 
Maximum von 68,2° durch ein Minimum von 47,9° hindurch 
zu einem (in grösster Spreizung liegenden) anderen Maximum 
von 60,9°. 

Die Neigungsdifferenzen zwischen den beiden Maxima 
und dem Minimum dieser Reihen. stellen sich demnach folgen- 
dermassen heraus: 


Männliche Becken Weibliche Becken 
- Differenz Differenz 
Schlussmaximum 52T 68,2° 
9,5° 20,3° 
Minimum 42,6° 47,9° 
22470 130% 
Spreizungsmaximum 65,3° 60,9° 


Das Minimum dieser Reihen liegt bei den männlichen 
Becken: unter 20° Divergenz der Femuraxen, bei den weibli- 
chen Becken dagegen erst unter 30° Divergenz derselben. 

3) Aus der dritten Tabelle, welche das Mittel aus den bei- 
den ersten zieht, ist zu ersehen, dass unter den angegebe- 
nen einfachen Bedingungen die Conjugataneigung über- 
haupt ohne Rücksicht auf das Geschlecht folgende Verschie- 
denheiten zeigen kann: 


A. Bei Parallelismus der Beinaxen. 


Differenz. 
Minusmaximum (bei —25° Rotation) . . . . 60,3° 9,70 
Minimum (bei 0° Rotation) . „2... .91,2° ne 
Plusmaximum (bei +35° Rotation). . . . . 76,2° ? 

B. Bei 0° Rotation. 

Differenz. 
Schlussmaximum (bei Knieschluss) . . . . .55,2°° 1a 
Minimum (bei .30° Divergenz) ... . „.= -.....45,1° er 


Spreizungsmaximum (bei grösster Spannung) . 63,1° 
Um diese Verhältnisse noch an einem individuellen 
Beispiele deutlich zu machen, füge ich die betreffenden Reihen 
des weiblichen Beckens No. 7 bei, welches ein wohlgebautes 
jugendliches Becken war. Zu bemerken ist dabei nur, dass in 
diesem Becken der Knieschluss mit so wenig Convergenz der 
Femuraxen gegeben war, dass die oben als - 10° Divergenz be- 
zeichnete Reihe mit der Reihe 0° Divergenz zusammenfällt. 


153 


Die Beckenneigung. 


066 


oP+ 


068 


.se+ 


064 


c08+ 


089 |08°09 


09%+ 


00°+ 


09% 
08'69 
0g‘19 

069 

8 

oLF 

olF 
0487 
Rd 


089 |09°09 08'69 | 06% | 069 | 068 


or 


olt 


04 0) Bu 


+ | o0 


peıdsuorrg}o4Y 


066 


061L- 


009 


006 zu 


019 


FC 


069 


c0E Ze 


069 


098 — 


069 


OF zZ 


oL9 


067 ' 


apeı3 
-Zuad.19A 
-Iq 


[e) 
[=7 
eZ) 


008 


(6) 
=) 


11 


Reichert’s u, du Bois-Reymond's Archiv. 1361. 


154 Hermann Meyer: 


Um ferner zu zeigen, welche Verschiedenheiten sich bei den 
einzelnen Becken in diesen Reihen zeigen, gebe ich in den 
folgenden Tabellen eine Zusammenstellung der unter denan- 
gegebenen Bedingungen gewonnenen Maxima und Minima 
der Conjugataneigung bei allen vermessenen ‚Becken. 
fügt sind in kleinem Druck in der Tabelle A die entsprechen- 
den Rotationsgrade, in der Tabelle B die entsprechenden Di- 
vergenzgrade, unter welchen die betreffenden Werthe gefunden 


wurden. 
A. Bei Parallelismus der Beinaxen. 
em | Minimum | 
Männliche Becken 1 | 55° | 30° , 41° 5 | 
DRS + 95.21.50 0° | 
a 
47162 23014993 N 
5 | 96° | —25° | 48° 45° 
Gar Tas 20% 90:5 15° 
7.1 695417052 150.5 440° 
8.112.200. 30.838550 er 
9 | 69° | —35° | 43,50) 0°b.-+5° 
Weibliche Becken 1 | 73° 40° | 58° 0° b.150 
2.100890 | an 34 —zelbro 
© DR 50 (eo) eh (0) 
a mo oda | Sie 
5-.1-67° | —350 | 54° m 
6 | 67° | —50° | 61° —30° 
7 1671-159 1-1 bh. — 
B. Bei 0° Rotation. 
| ee Minimum | 
Männliche Becken -1 | 47° 1200 31 410° | 
2 .155° | 0 1a850 10 | 
3 |. 5802.00, Seh, -Fandı 
a er 
: I 10, ne an 20° 
5 40 
7 | 55,5°) —ıo0° | 49° 440° 
844° |: Os. 
9 1.49% | —100 1-37° 399 | 
Weibliche Becken 1 |63° | —109|49° | +00 | 
2. | 38,5%) —100 1139,59]. 5-1800-# | 
SS ‚61° —10° | 40,5°! 40° 
"4.58%. | os As ta 
5 160° | —10° | 40° |-t30° b. -+40° 
6 171° | -ı0° | 70°%,5 o° 
72.1.59° 0° |-47° |-t30° b..+40° 


Beige- 


Plus- 
maximum 
60% 4392 
102 tan 
65° | 425° 
Zi 120 
Bene 
74° | +435° 

Has 
45° 1 -445° 
579° | 435° 
Ba 22 
50 in 
86°= | 435° 
70° | 435° 
85° | 1350 

150%) 35° 
93° | +40° 

Spreizungs- 
maximum 

104° | 150° 
I -lens 
97° | 480° 
44° | 170° 
70 70° 
50° | -+s0° 
93° | 70° 
41°: ebene 
55,50 | +s0° 
69°. | -+480° 
40° | 70° 
53 
56° | 70° 
52°. 0° 
19. | -t70° 
76° | +390° 


Anm. In diesen und den folgenden Tabellen ist „bis“ durch „b.“ bezeich- 
net, weil das geläufige Zeichen eine Verwechselung mit dem Minus 


zeichen veranlassen könnte, 


‚Die Beekenneigung. 155 


Mögliche Maxima und Minima der Oonjugataneigung. 


Die bisherigen Zusammenstellungen zeigten nur den Einfluss 
der Rotation der Femora und der Abduction derselben für sich 
allein auf die Beckenstellung; und für diesen Zweck sind 
einerseits die Differenzen in der Conjugataneigung mitgetheilt, 
welche bei gleichbleibendem Abductionsgrade (0°) nur durch 
Rotation erzielt werden, und andererseits diejenigen Differen- 
zen, welche bei gleichbleibendem Rotationsgrade (0°) nur durch 
Abduction erreicht werden. Durch die Maxima und Minima 
dieser Reihen sind indessen noch keinesweges die in der Becken- 
neigung überhaupt möglichen Maxima und Minima bestimmt. 
Diese liegen vielmehr in anderen Reihen. 

Wie in dem gewählten Abductionsgrade (0°), so sind näm- 
lich auch in allen anderen Abductionsgraden die durch den 
Rotationsgrad bestimmten Minima in der Nähe des Nullpunktes 
der Rotation gelegen, die Maxima dagegen in den höchsten 
Graden der Minus- oder der Plusrotation.. — In ähnlicher 
Weise sind auch für alle anderen Rotationsgrade, wie für den 
gewählten Rotationsgrad (0°) die durch den Abductionsgrad 
"bestimmten Minima in den mittleren Abductionsgraden (20°, 
30°, 40° Divergenz der Femuraxen) zu finden, die Maxima da- 
gegen in den höheren Abductionsgraden (Knieschluss und 
grösste Spreizung). Hieraus geht nun schon unmittelbar her- 
vor, dass die niedrigsten Beckenneigungen überhaupt da ge- 
funden werden, wo mittlere Rotationsgrade mit mittleren Ab- 
ductionsgraden zusammenfallen, und dass von diesem Punkte 
aus nach allen anderen Stellungscombinationen hin sich Zu- 
nahme der Beckenneigung zeigen muss, so dass die grössten 
Neigungswinkel da gefunden werden müssen, wo die höheren 
Grade der Minus- oder der Plusrotation mit den extremeren 
Abductionsgraden zusammenfallen. 

Unter den möglichen Beckenstellungen muss sich daher 
zeigen: 

l) ein Maximum auf der Minusseite der Rotation, entweder 
in der Schlussstellung oder in der Spreizungsstellung, 
11° 


Hermann Meyer 
entweder in die Schlussstellung oder in die Spreizungs- 


der Nähe von dem Nullpunkte der Rotation fällt, und 
stellung fällt. 
Diese drei Grössen der Conjugataneigung sind für alle ge- 
messenen Becken in folgender Tabelle zusammengestellt. Neben 


2) ein Minimum, welches in mittlere Abductionsgrade in 
3) ein Maximum auf der Plusseite der Rotation, welches 


156 


[} u = = 
© {ab} . ee 7 eg a 
A Maximum der >: Maximum der 
u =) Minusseite Minimum Plusseite 
ir: I SERESWEDBErN IN 
© :5 R 2 BE Br 
= s, Männliche Becken 1 83° 2° +70° 36° | — 17,50.) -H15° 780: | 14005 |ekro? 
a 2 |109° |—20 +70° | 48,5° 0° | 10° 92% | 4309 I =10° 
g Ss 3 95° |—20° |+70° |- 50,5° | —i0° | +10° 81° 445° | -+70° 
© E 4 96° —35° | 470° | 39° | -+ 6,5% | 440° 73° | +25 [10° 
SS 5 96° 35° | 470° | 44° | -+7,5° | +20° Ba 350° 00 
6 810 1450 | —5° 140° | — 2,5%. | -+40° 752° | #309 I 5° 
S 7 1112° |—ı15° |-10° | 48° 145° | 410° | 143° 145° |—y? 
R= Ep 8 73° |-30° | —5° | 29,5° | + 7,5% | +15° 54,5°| 460° | -+60° 
Ew: =; 9 105° ns +30° | 37° 1 — 2,5% | +30° 740: 1 +30 |=10° 
5 Weibliche Becken ı [107° !-35° |-ts0° | 48° |—ı0° |-430° 98° | 435° | 10° 
8 2 76° I—a0° 70° | 32° | — 7,5% | 420° 56° | 450% |=470° 
3 ER 3 94 0 +70° | 40° | — 7,5° | +30° 98° | +35 | —ı0° 
27 4 90° | —50 +70° | 48° |—5° |-435° 78% | 135% 10° 
ee, 5 5 93° | —300° I-H7o° | 89° | — 7,5% | 430° 97° | 435° | —10° 
re e 6: 1,1190 Is Stan? 5617 30° 0051 170% | 1352 10° 
u 8 Zi 89° 415° I-480° 1 47° 1-2? I-+435° 93° | 440° 0° 
e = "@ Mittel d. männl. Becken | 94,49| —24,.° 41,4° | + 0,4° | taı,1° | 83,8°| +437,2° 
= = e= Mittel d. weibl. Becken | 94.,4°| —39,3° 45,0° | — 9,93°| +25,7° | 98,6°| -+36,4° 
en De We RE er ae ET a ge ee aarere n: Fero 
S = : Gesammtmittel | 94,47) —31,9° | | 4.382 | = 4,10) +423,4° | 91 2°) +36,8° | 
S (eb) 
5 = E Anm. Das Mittel aus den Abductionsgraden der Maxima zu ziehen, ist unzulässig, weil 
n.5 diese Grade mit Entschiedenheit entweder dem einen oder dem anderen Stellungs- 
= = S extreme angehören und eine Ausgleichung durch Ziehen des Mittels diesen Cha- 
= = e rakter verwischen würde. 
m » 


Die Beckenneigung. 157 


Diese Zusammenstellung lässt leicht erkennen, welche be- 
deutende Differenzen in der Beckenstellung desselben Indivi- 
duums möglich sind; zu besserer Uebersicht stelle ich jedoch 
in dem Folgenden noch einmal besonders die Differenzen zwi- 
schen jedem Minimum und den beiden zugehörigen Maxima 


zusammen, 


Differenz zwischen Mi- 


E Summe 
nimum und Bor 
Maximum der; Maximum der| Differenzen 
Minusseite Plusseite 
Männliche Becken 1 | 47° 42° 89° 
2 60,5° 43,5° 104° 
3 44,5° 30,5 75° 
4 57° NS 91° 
5 52° 40° 92° 
6 41° 39° 76° 
7 64° 95° 159° 
8 43,50 25° 68,5° 
9 68° 370 105° 
Weibliche Becken 1 592 50° 109° 
2 49° 24° | 68° 
3 54° 580 | ı..112° 
+ 42° 30° | 1230 
5 54° 580 (0 2120 
6 Zr 109° 160° 
TR 42° 46° | 88° 
Mittel der männl. Becken 53,1° 42,40 | 95,50 
Mitte! der weibl. Becken 49,4° 83,60 | 103,0° 
Gesammtmittel | 51,20 | 48,00 era 93° 


Diese Zahlen sprechen es zwar unmittelbar aus, welche be- 
deutende Schwankungen in der Conjugataneigung bei verschie- 
denen Individuen und bei verschiedenen Stellungen desselben 
Individuums gefunden werden; indessen wird die Grösse die- 
ser Schwankungen noch mehr erkannt, wenn man findet, dass 
das höchste Maximum der Minusseite . . . 112° 
dasıniedrigste Minimum ..% “uses ee 299° und 
das höchste Maximum der Plusseite . . .. 170° 

beträgt. 

Aus diesen Zusammenstellungen gehen nun folgende Sätze 

hervor: 

1) Eine absolute Beckenneigung kann nicht aufgestellt wer- 

den, selbst nicht für dasselbe Individuum, 


158 


Hermann Meyer: 


2) Für jedes Becken giebt es ein Minimum der Neigung 


3) 


4) 


5) 


6) 


Q) 


und zwei Maxima, eines für die Rotation nach innen 
(Minus-Rotation) und eines für die Rotation nach aussen 
(Plus-Rotation). 

Das Minimum liegt im männlichen Becken durch- 
schnittlich bei 0° Rotation und 20° Divergenz der Bein- 
axen, — in weiblichen dagegen bei 0° Rotation nach 
innen und 25° Divergenz der Beinaxen. 


Das Maximum der Minusseite findet sich bei dem ° 


stärksten Rotationsgrade nach innen. Da aber in dieser 
Haltung der Beine unter den verschiedenen durch die 
Abduetion bedingten Stellungen ein Minimum der Becken- 
neigung vorkommt, welchem zwei Maxima entsprechen, 
(eines in der Schlussstellung und eines in der Spreizstel- 
lung, vgl. später über die Maximalpunkte), so hängt es 
von der Individualität ab, ob das absolute Maximum der 
Minusseite sich in der Schlussstellung oder in der Spreiz- 
stellung findet. Das Gewöhnliche scheint zu sein, dass 
es in der Spreizungsstellung gefunden wird. 

Das Maximum der Plusseite findet sich bei dem 
stärksten Rotationsgrade nach aussen. Ans dem gleichen 
Grunde, welcher vorher für das Maximum der Minusseite 
angegeben wurde, wechselt auch hier die Lage desselben 
so, dass es entweder in der entschiedenen Schlussstel- 
lung oder in der entschiedenen Spreizungsstellung liegt. 
Das Gewöhnliche scheint zu sein, dass es in der Schluss- 
stellung sich findet. 

Die Minimalneigung der Conjugata beträgt im 
Mittel zwischen 40° und 50°. Der Winkel scheint bei 
weiblichen Becken durchschnittlich etwas grösser zu sein- 
— Den sehr extremen Werth obiger Tabelle von 61° ab- 
gerechnet, schwanken die Neigungswinkel zwischen 30° 
und 50°. 

Die Maximalneigung der Minusseite beträgt im 
Mittel 95. Der Winkel scheint bei beiden Geschlechtern 
nicht verschieden zu sein. — Die Einzelwerthe schwan- 
ken zwischen 76° und 110°. 


Die Beckenneigung. 159 


8) Die Maximalneigung der Plusseite beträgt im 
Mittel 90°. Der Winkel ist im weiblichen Becken ent- 
schieden grösser als im männlichen (um ce. 15°). — Die 
extremen Werthe von 170° und 143°, sowie die nach der 
anderen Seite hin extremen Werthe von 54,5° und 56» 
abgerechnet, schwanken die Einzelwerthe zwischen 75° 
und 100. 


Anm. In den Sätzen 3, 6, 7 und 8 sind, was wohl statthaft, nur 
gerundete Zahlen gebraucht. 


Die Minimalreihen der Conjugataneigung. 


Die eben mitgetheilten Maxima und Minima stehen, wie 
sich leicht denken lässt, nicht vereinzelt, sondern sind durch 


‚allmählige Uebergänge unter einander in Verbindung, welche 


den zwischenliegenden Combinationen von Rotation und Ab- 


duetion entsprechen. Die Art dieser Verbindung wird am 


besten zu erkennen sein, wenn sogleich beispielsweise eine der 
kleineren Tabellen über die möglichen Conjugataneigungen 
vorangestellt wird. Ich wähle dafür das männliche Becken 
No. 2, bei welchem übrigens, wie die Vergleichung der 
Maxima und des Minimum mit den entsprechenden Werthen 
der anderen Becken lehrt, der Neigungswinkel durchgängig ein 
ziemlich hoher ist. 

Die Werthe dieser Tabelle zerfallen in zweierlei Rei- 
hen, nämlich in die senkrechten durch die Rotationsgrade 
bestimmten Reihen und in die wagerechten durch die Ab- 
ductionsgrade bestimmten Reihen. Jede dieser zweierlei Rei- 
hen (mit Ausnahme der unvollständigen in den höheren Rota- 
tionsgraden beider Seiten) ist so gegliedert, dass sie an beiden 
Enden ein Maximum und dazwischen an irgend einer Stelle 
ein Minimum hat. Hebt man nun alle Minima der einzelnen 
Reihen hervor, so erhält man zwei sich durchkreuzende Mi- 
nimalreihen. 

Die eine Minimalreihe, welche in horizontaler Richtung durch 
die verticalen Spalten geht, zeigt bei jedem Rotationsgrad an, 
unter welchem Abductionsgrad für ihn die niedrigste Becken- 
stellung ist; diese Reihe heisse der Kürze wegen in dem Fol- 
genden: horizontale Minimalreihe, 


Ss a Rotationsgrade 
. Femur- 
axen |-25°| —20°| —15°%] -10°| —5° 0° | +5° | +10° | 415° +20°| +25° -+30°| +35°| +40°| 45° 
| 
10% 170% | 080 | 580 | 560 | 55,50 | 550 | 55,50 | 560 | 500 | 64° | 720°] 920 
2 0° 60 iO | 550 ZT 520 | 5050| 509 | 510 50% | 54,50 | 570 | 020 | 70? 
> 10° 670 | 590 | 580 |50,50| 49° |48,5°| 49° | 49% | 500 | 52° | 55% | er | 69 
Ss 20° I g0 | 580 | 550 | 500 | 490 | 490 | 490 | 50% | 51° | 53° | 570 | @° 
5 +30° 500 I 000 | 59) 50 5 15 5 51,50 | 520 "| 500 5 570. 6 1660 
5 -+40° 000 | 720 | 660 | 000 | 55% | 53° | 530 | 53% | 54° 550 | 580 |. 610 | 67% | 709 
= +50° 90 | 80 | 0 | 840 | 598 [570 1560 |-56% | 570 | 590 © 60% Ines? eat |720 
Ei -+60° 94° | 960 | 770 | 080 | 040 | 90 161% | 610 | 0 | 60 | 650 1'680 | mid | wa 
-+70° 109° \1010 | 900 | 880 | 780 | 760 | 740 | 740 | 50 | 700 | 0 | 70 | 0 1880. 


Anmerkung. Durch Addition von 35° werden obige Werthe der Conjugataneigung in den Winkel 
zwischen Normalconjugata und Beinaxe verwandelt (vgl. oben Ende des Abschnittes über die 
Differenz der Neigung der Conjugata und der Normalconjugata). 


160 


Die zweite Minimalreihe, welche in verticaler Richtung 


durch die horizontalen Spalten geht, zeigt bei jedem Abduc- 
tionsgrade an, unter welchem Rotationsgrade für ihn d 


le nie- 


drigste Beckenstellung ist; — diese Reihe heisse der Kürze 


lreihe., 


verticale M 


dem Folgenden 


wegen in 


ınıma 


Die Beckenneigung. 161 


Wo beide Reihen sich durchkreuzen, da ist das absolute 
Minimum für das individuelle Becken, und von diesem Punkte 
aus nehmen die Werthe in beiden Minimalreihen nach beiden 
Seiten hin allmählig zu. — Beide Reihen sind in obiger Ta- 
belle durch gewöhnliche Grösse der Ziffern gegeben; das ab- 
solute Minimum und die später noch näher zu besprechenden 
Maximalpunkte durch fette Schrift und die Zwischenwerthe 
durch kleinere Schrift. 

Die horizontale Minimalreihe beginnt in dem obigen 
Beispiele unter —25° Rotation (nach innen) mit 67° Conju- 
gataneigung und geht bei 0° Rotation durch das Minimum 
48,5°, um unter +45° Rotation (nach aussen) wieder 70° zu 
zeigen. Es ist zu bemerken, dass diese Reihe eine absteigende 
Richtung hat, in der Weise, dass dieselbe unter dem stärksten 
Rotationsgrade nach innen (-25°) bei einer Divergenz der 
Beinaxen von 10° beginnt und in dem stärksten Rotationsgrade 
nach aussen (+45°) sich in einem Divergenzgrade der Bein- 
axen von 40° befindet. 

Aehnliche Verhältnisse bietet die verticale Minimal- 
reihe. Sie beginnt bei — 10° Divergenz der Beinaxen (Knie- 
schluss) mit 55° Conjugataneigung, geht dann bei + 10° Di- 
vergenz der Beinaxen durch das Minimum 48,5° und zeigt bei 
+ 70° Divergenz wieder 74°. Auch bei dieser Reihe ist eine 
schief gehende Richtung de? Art zu bemerken, dass sie in der 
Schlussstellung unter 0° Rotation beginnt und in der Sprei- 
zungsstellung unter + 12,5° (Mittel zwischen +10° und + 15°) 
Rotation endet, 

Diese sehiefe Richtung beider Minimalreihen ist, 
vereinzelte Ausnahmen abgerechnet, allgemeines Gesetz. In- 
dessen zeigt sich nicht immer, wie in dem vorliegenden Bei- 
spiele, ein so reiner und ungestörter Gang, sondern die schiefe 
Richtung kommt manchmal auch unter Schwankungen nach 
beiden Seiten hin zu Stande. 

In den folgenden Tabellen gebe ich nunmehr für alle ge- 
messenen Becken die beiden Endpunkte und den kleinsten 
Werth der beiden Minimalreihen der Conjugataneigung; und 


=: =. A. Minimalreihen 
nn aus den Werthen der in den verschiedenen Rotationsgraden vorkommenden durch Abduction erzeugten 
8 
s 5 Conjugataneigungen (horizontale Minimalreihen). 
ro 
Be Er | 
a5 Anfangswerth auf der E Endwerth auf der 
= &n Minusseite der Rotation IKlemster Werth Plusseite der Rotation 
58 Bi SA Fe A RS & 
" 8 5 Männliche Becken 1 155° |—50° | 0° 36° |—10° b.—=5° |-H10% b.-H200| 58° | +40° | +50° 
= = 8 2 167° | —25° +10° 48,5° 0° * —+10° 70° | 45° +40° 
m» 7 © 357° 1—30° | 0%b.-t10° |50,5°| 10° +10 749 | 4450 +50 
> & 2 4 60° | —145° 10° 39° | —5° b.-+20°|-+30° b.-+50°| 46° | -440%.!-H50° b.-+70° 
En Rn 5.1920 |—350 | +20° 44° | +5° b, --io° 20° 56° |-+40° 40° 
3 = 6 ! 620. | —40° 440° 40° |—10%b.-+5° 40° 590 | 4600 !-t70° b. -+80°, 
Te 7 166° |—25° 1100 48° 350 100 69% | -4550 50° 
g N 8 1600 |—30° 10° 29,50) +5° b. +10°/-+20° b.+30°| 51° |-4600 |440° b. +50° 
3 =» 9=| 5907) —35° -+20° 37° | —5° b. 0° -F30° 92° | -460° -+60° 
Er! < 3% "Weibliche Becken 1 700 | —40° +10 48° |-15%b.—;5° 30° 68% |+50% | . -+40° 
28 2 1630 | —45° 4100 32° |—10% b. —;5° 4200 520 | 1500 440° 
> = 3.1610 |—35° -+100 40° |—10° b. —;° 30° 63% | 4459 +50 
2.8 4 1660 |—55° I+20° b. 4300| 48° |—ı15% b. +50 430° b.-+40°| 61° | -+55° -+70° 
ES 5 1600 | —359 10° 39% |—10° b. —5° 30° 67° | +50° 70° 
> Sp 6 1670 | —;50° 0° 61° —30° 0° 85° | 425° -+30° . 
s S 22 7 188,5 |—45° -F40° 47° \—15° b.—10%1+430° b.+400| 58° | -+60° lo 
© = Mittel d. männl. Becken | 64,2° 41,4° 59,40 
25 Mittel d. weibl. Becken | 63,6° 45,0°| 64,9° 
[ar un 
EN & 2 [3 
2 E 3 Gesammtmittel | 63,90] | | 43,20) | 62,2°) 


Die Beckenneigung. 


[OYTWywwesa%) 


uo79ag "gem 'P TON 
wy9ag 'uugm 'p [ON 


| 


i 


uoy99g SoyaTqloM 


uay99ag SOUL JUUBA 


| |o0°09 | | Kae 3) o1Fg 

| o1‘T9 0‘Cr BA: 

06‘84 297 08°08 
005 [00H "Q 0OS-HI0G°F9 [008 "q PEF|0TF"q o8r| SLR | 00 gott 068 | 4 
0%+ 0°°+ 066 0 OR 019 | „I 083° "Q „| 089 | 9 
+ [004 "Q „0 064 o0E+ BEE 0 0 
UT ER TE IF EHE 2 Tr ee EV 
BREROT RG Set ec |. 7 0w 029g 20 = 07.1.0 | 8 "E80 55 
HN 0 | 00 0 019 00. 088 | O0 | 00 9 0° |09'8E | 
008+ |os7+ 'q „+ 0989 008+ ae Sr STK a 0 0899| I 
0084 |008+ "q „0e+| „8F g0E-+- AL Bes) 05 ce | 6 
0094 0084 068 |o08+ °Q 008107 "Q oc 10968 | or — 008-+ oE6E | 8 
Alan 08° oll o0T+ o°+ PS u A Zn ande Wet u le 7} 
0084 o°+'4 0 004 ort tg OR] 0'900 086, 9 
ot |008+ "q oStH| 009 o0°+ ERBE im Er Ar 0er Bean 
0 OEHq | 05H 0 "0er rg = Bl | rg) er 
0%+ m en Alz: OL ug 0 JE de | € 
02H ort -q Alaz oVL ort 0° vg 8F „I 0° 068 6 
+ - Br | 069 1008 -q orH 0.4 90T 098.) 0 0° ol | I 
RB BE ER EEE IR FREE EERTEER: 

= hs Eee 
Sunzwuads ssnjqosoruyg 


1958018 190g YIIOMpuy 


wo M 199surofy]l 


1094 yoMmsduejuy 


-(USGIOIJBUNLUL ofe01194) uodundtoN 


094309219 UOINBIOY Y9ınp USPUSWWOYJIOA USpeIdsuogonpqy UPUSPaImdsI9A UEP UI Aep uoymaM Uep Sne 


uayrsapewıum 


Folgende Zusammenstellung der Mittel lässt das Ergebniss 
der in diesen Tabellen mitgetheilten Bestimmungen übersicht- 


lich erkennen 


164 


Stärkste Rotation 
nach innen 


63,9° Du) 


Hermann Meyer: 
Schlussstellung 
old 50,8° 
40 (9) 


=) 
Oss,6° old au, o\ ® 


® 
UONEIOY 9ISYA1EIS 


ol d5s,9 
60, (% ) 


61,1 
Spreizungsstellung 


Aus dem Mitgetheilten über die Minimalreihen sind folgende 
Sätze abzuleiten: 
1) Ist das Becken seiner freien Bewegung im Hüftgelenk 


durch die Schwere des Rumpfes überlassen, und werden 
die Beine aus der Schlussstellung in die Spreizstellung 
gebracht, so durchläuft, da die Rumpfschwere dem Becken 
für jeden Abductionsgrad eine Minimalstellung geben 
muss, die Conjugata eine Reihe von Neigungen, welche 
mit 54,1° (gerundet: 55°) anfängt, durch das absolute 
Minimum 43,2° (gerundet: 45°) hindurchgeht und mit 
60,0° endigt. Die Beine werden dabet allmählig (manch- 
mal unter Schwankungen) etwas nach aussen rofirt. 


2) Ist das Becken seiner freien Bewegung im Hüftgelenke 


3 


nr 


durch die Schwere des Rumpfes überlassen, und werden 
die Beine aus der stärksten Rotation nach innen in die 
stärkste Rotation nach aussen gebracht, so durchläuft 
gleichfalls aus dem unter 1 angegebenen Grunde die Con- 
jugata eine Reihe von Neigungen, welche mit 63,9° (ge- 
rundet: 65°) beginnt, durch das absolute Minimum 43,2° 
(gerundet: 45°) hindurchgeht, und mit 62,2° (gerundet: 
60°) endigt. Die Beine werden dabei allmählig (manch- 
mal unter Schwankungen) in etwas stärkere Abduction 
gebracht. 

In der stärksten Rotation nach innen und in der Sprei- 
zungsstellung sind die Minimalwerthe der Conjugatanei- 
gung bei beiden Geschlechtern gleich gross; in der stärk- 
sten Rotation nach aussen dagegen ist derjenige bei dem 
weiblichen Becken bedeutend höher als derjenige bei dem 
männlichen Becken; in der Schlussstellung und dem ab- 
soluten Minimum scheint der Werth bei dem weiblichen 
Becken etwas höher zu stehen. 


Die geschehene Mittheilung der Endwerthe und des Mini- 
mum aller Minimalreihen ist zwar geeignet, über die Gestal- 
tung; dieser Reihen hinlänglich Aufklärung zu geben, indessen 
wird es zur Ergänzung des Gesagten doch noch angemessen 
sein, die Mittel aus allen Minimalreihen als ganze Reihen noch 
beizufügen. Ein Beispiel von individueller Gestaltung der Rei- 
hen ist bereits oben gegeben. | 


ENDEN a GR Ri 


ee 


165 


Die Beckenneigung. 


o8'88 ob“Lg 09'648 o0L+ 
ge 0684 09'298 .09+ 
09°6F „808 0487 .0s+ 
olLr oh‘ 87 09°4F ort 
ol er 0897 ogEr .08+ 
„6er orLr oP’or .05+ 
ol’9F 00°6F Fer oT+ 
5 0667 oL‘gg ol9F 0 
078 oL“9G °6.1q 0I— 


ayrununmeson | TTS UUOTIgIEM | uaypagg ueyptuugun uexeurog op 
ie =) uap sn® [oyıW usp sne [EI ZU9S.19A1AT 


-"UOYDIT UAUASKEWAF AANHIJMLURS UAUTOATLULLL 
-TUIA UOTEOTIEA dop UHMLEMJoI up sne uoyrapeununmy "gq 


08'68 |09‘98 |o1‘0G |08‘8F |09°9P |o8°cr |o9FF |o8 Fr |o‘er |osFr lorf9r lo8‘6H |o8‘8s | | | Temruyuuesog) 


hen sind die Mittelwerthe in der Weise gewon- 
für jeden derselben die unter gleichem Rotations- (be- 


1 


0669 \oP‘C9 |oTFE |o1'88 |.6°6H Pr rar oC9R loL'CH |o9°G# \ohar oPLH \oP°6r |o9°TE |o#°gg | UONPag Tglem ‘p sne [joy - 


oP‘0G |o8‘2r I00'97 |oeFr |oE'Er |09'8r 06TR |o8°TR lol‘ar \oP'ER |09°9P \oT°TG |oT'2G u9799g] "[uugur'p sne [Joy 2 
Zi Sea — © 
oGEe+ 008+ 09C%+ v0%+ ah OI+ sr 0) 09” o0TI—- ol 008—- 0467 o0E—- ost 5 

opB.A13suorg}oy = 


UNI UAUESSHWMAF AAYHIWWIRS UOYTEAEWIULNA]; USTE}UOZLIOU OP UHuMEM[ONN] Up Sne ‚uogroıpewmurg "1 


Anm, 


nen, dass 


166 Hermann Meyer: 


ziehungsweise Abductions-) Graden liegenden Werthe der indivi- 
duellen Minimalreihen benutzt wurden, wobei natürlich ner dieje- 
nigen Rotations- (Abductions-) Grade berücksichtigt: werden konn- 
ten, für welche bei allen (oder wenigstens nahezu allen) Becken 
im Versuche Werthe erhalten waren. Die Maxima und Minima 
dieser Reihen .können deshalb auch nicht mit den vorher gewon- 
nenen Mitteln übereinstimmen, da diese letzteren die Mitiel der 
einzelnen Maxima und Minima sind, ohne Rücksicht auf die Stel- 
lung derselben nach dem Rotations- oder Abductionsgrade. 


Die Maximalpunkte der Conjugataneigung. 


In dem Obigen war bei der Aufstellung der Maxima auf- 
fallend, dass dieselben zwar stets in den beiden Extremen der 
Rotation gefunden wurden, dass sie dagegen in den verschie- 
denen Individuen entweder in die Schlussstellung oder in die 
Spreizungsstellung fielen. Die Ursache für dieses auffallende 
Verhältniss ist die, dass aus den Gründen, welche aus dem 
letzten Abschnitte deutlich sind, in jedem der beiden extremen 
Rotationsgrade zwei Maxima gefunden werden, von welchen 
eines in der Schlussstellung, das andere in der Spreizungs- 
stellung liegt. Je nach der Individualität ist dann das eine 
oder das andere von diesen grösser und wird damit zum ab- 
soluten Maximum seiner Seite (Plusseite, beziehungsweise Mi- 
nusseite der Rotation). 

Für ein jedes Becken giebt es demnach vier Maxima der 
Maximalpunkte, und diese liegen: 

1) bei stärkster Rotation nach innen in der Schlussstellung, 
23 2, & 5 5 » » » Ppreizstellung. 
3) bei stärkster Rotation nach aussen in der Schlussstellung, 
4)... 5 e > = » „ Spreizstellung. 

Die Werthe dieser Maximalpunkte der Conjugataneigung 
waren für die gemessenen Becken folgende. Die Benennung 
der Spalten (1, 2, 3, 4) weist auf die soeben gegebene Ueber- 
sicht hin. In besonderer Spalte ist zur Vergleichung das ab- 
solute Minimum hingestellt. 


Die Beckenneigung. 167 


nn DE 
ug m———— 


| % NE ET 2 | 3 4 Leer 
Männliche Becken 1 Männliche Becken 1 | 162° | 890 | me | me | eo 62° 83° PT 78° 36° 
Bi 795%1:1099%. 410,920 .i.,88P 48,5° 
län ES ee ar 50,5° 
4 | 66° | 96° 1.78%.) 49° 39? 
Asee:. | OB 1 44° 
Bi 800 |. oe 40° 
7 BHZaPst 11958 ii ar 48° 
Biel 730 0 hr GO un MA |. 5E58 29,50 
aa. 108 TA, 1 Da 
Weibliche Becken 1 | 269% | 107° tor 81° 48° 
| 2 730.760 Aul# BAD N. -5BD 32° 
3 | ga gg 709 40°. 
a Insel 908 art gr laisger 
5 | 68° 959541.979, 44769° 39° 
Ba 119° © 170° 999 61° 
zilsere ae gas li ea ar 
Mittel d. männl. Becken | 72,9° | 93,0° | 82,0°. | 67,3° ‚> | 93,00 | 82,00 | eo | ae 41,4° 
Mittel d. weibl. Becken 71 f% 94, ‚4° | 98,3? | 71 ‚g° a 45, ‚0° 
Gesammtmittel 72,0° | "93,7° | 902° | 696° Isel ar 43,2° 


Uebersicht über die möglichen Beckenstellungen. 


Es lässt sich nunmehr folgende Uebersicht über die ver- 
schiedenen möglichen Beckenstellungen und deren gegenseitiges 
Verhältniss geben. 

Schlussstellung 


70° 30° 90° 
: 2 
Eee. wu 1. 3 
SS Brrde » 450 2a 
= = es . 

ETRÄTLTN 4 

TE "60058 
= = = 
B 3 

95° 60° a 

Spreizstellung. 


Für diese Zusammenstellung, mit welcher zum leichteren Ver- 
ständniss die oben gegebene tabellarische Zusammenstellung 
der möglichen Conjugataneigungen in dem männlichen Becken 
No. 2 zu vergleichen ist, sind nur die Gesammtmittel in Run- 
dung benutzt, 

In den vier Ecken stehen die vier Maxima (70°, 95°, 90°, 


168 Hermann Meyer: 


70°), — und in der Mitte durchkreuzen sich, durch punktirte 
Linien angedeutet, die beiden Minimalreihen, die verticale 
(55°....45°.... 60°) und die horizontale (65°....45°.... 60°). 

Die vier Endpunkte der zwei Minimalreihen sind zugleich 
die Minima von vier Maximalreihen, welche die Conjugata- 
neigung durchläuft: 

1) wenn die Beine in Schlussstellung aus stärkster Rotation 
nach innen in stärkste Rotation nach aussen gebracht 
werden !£70° „22.99 08.90d 

2) wenn die Beine in Spreizstellung aus stärkster Rotation 
nach innen in stärkste Rotation nach aussen gebracht 
werden sK)9 . 0... 00° co. . 109), 
wenn die Beine in stärkster Rotation nach innen aus der 
Schlussstellung in die Spreizstellung gebracht werden 
ROTER 60 NO O0 

4) wenn die Beine in stärkster Rotation nach aussen aus 
der Schlussstellung in die Spreizstellung gebracht werden 
07% ...,000. .2.,10>), 

Die Zwischenräume zwischen den Minimalreihen und den 

Maximalreihen werden durch allmählig wachsende dazwischen 
gelegene Werthe ausgefüllt. 


Die Neigung der Conjugata im aufrechten Stehen. 


Nachdem durch das Bisherige erkannt ist, wie sehr abwech- 
selnd bei demselben Individuum die Beckenneigung sich findet, 
so ist zugleich deutlich, dass man von der Beckenneigung als 
einer absoluten Grösse, durchaus nicht reden kann und dass 
man von der Beckenneigung eines Individuums erst dann einen 
Begriff hat, wenn man das Minimum und die Maxima für die- 
selbe bestimmt hat. 

Um dieses thun zu können, müsste man eine Methode ken- 
nen, welche in gleicher Weise, wie mir es an dem Präparate 
möglich gewesen ist, die Beckenneigung am Lebenden für alle 
möglichen Stellungen zu ermitteln erlaubte. Eine brauchbare 
Methode dieser Art habe ich indessen bis jetzt noch nicht auf- 
finden können, und ich musste es aus diesem Grunde auch 
unterlassen, die oben mitgetheilten Ergebnisse meiner Versuche 


Die Beckenneigung. 169 


am Präparat durch Versuche am Lebenden zu controlliren und 
zu. berichtigen. Ein Vergleich dieser Art würde ohne Zweifel 
die Zahl der brauchbaren Rotationsgrade in etwas beschränkt 
haben. Aus den Grundsätzen, auf welche sich meine Versuche 
gründeten, ist es jedoch deutlich, dass die von mir aufgestell- 
ten Schwankungsgesetze als solche eine wesentliche Modifica- 
tion nicht erfahren haben würden; und darauf weisen auch die 
Versuche hin, welche ein Jeder leicht an sich selbst wieder- 
holen kann, Man wird sich nämlich bei Annehmen einer grös- 
seren Abduction beider Beine von der steileren Beckenstellung 
leicht ‘überzeugen durch Beobachtung der gegenseitigen Stel- 
lung der Spina anterior superior cristae. ossis ilium und der 
Symphysis ossium pubis, oder auch durch die veränderte Nei- 
gung eines auf den Hüftgelenken festgehaltenen Lineals; nicht 
minder überzeugt man sich von der steileren Beckenneigung 
durch das starke Muskelgefühl in der Lendengegend, welches 
durch die Anstrengung der Lendenmuskeln für Aufrichten der 
Wirbelsäule erzeugt wird. Mit den gleichen Mitteln kann man 
auch erkennen, dass bei Knieschluss das Becken steiler geht, 
als bei etwa 10° Divergenz der Beinaxen; und nicht minder 
kann man die steilere Stellung des Beckens in stärkster Ro- 
tation nach innen, so wie in stärkster Rotation nach aussen 
in gleicher Weise erkennen. — Man kann sich demnach durch 
diese Versuche von dem Vorhandensein des Minimum und der 
vier von dem Minimum sehr verschiedenen Maximalpunkte 
überzeugen, und kann dadurch wenigstens die Hauptgrundlage 
der aufgestellten Schwankungsgesetze verificiren. 

Dass auch sogar die gewonnenen Zahlwerthe durch Ver- 


' suche am Lebenden keine wesentlichen Modificationer.erfahren 


| 
\ 
\ 


würden, dafür sprechen einerseits ebenfalls die Grundsätze, auf 
welche die Versuche am Präparat sich stützen, und anderer- 
seits die Thatsachen, welche sich in der Erörterung über die 


‚ früheren Versuche, die Beckenneigung zu bestimmen, heraus- 


stellen werden. 


Die Schwierigkeit, einen normalen Winkel für die Becken- 
neigung aufzustellen, wird neben diesen Schwankungen bei dem 


einzelnen Individuum noch bedeutend dadurch vermehrt, dass 
Reichert's u, du Bois-Reymond’s Archiv. 1861. 12 


170 Hermann Meyer: 


auch zwischen den einzelnen Individuen sehr erhebliche‘ Ver- 
schiedenheiten beobachtet werden. Als Beweis könnte ich 
ausser den Ergebnissen meiner Versuche die Erfahrungen von 
Nägele und Weber anführen, wenn nicht für die grosse 
Schwankung in den von diesen Forschern gefundenen Einzel- 
werthen noch andere nicht minder wichtige Ursachen zu finden 
wären, welche später noch zu besprechen sind; indessen kann 
hier doch so viel erwähnt werden, dass Nägele (S. 6) bei 
weiblichen Individuen den Stand der Steissbeinspitze zu:der 
durch den unteren Rand der Symphysis ossium pubis gelegten 
Horizontalen um 31 Linien schwankend fand (22'“ über und 
9 unter der Horizontalen) und dass ebenso Weber ($. 126) 
bei männlichen Individuen die Höhe der Steissbeinspitze über 
der bezeichneten Horizontalen schwankend fand um 23,5 Mil- 
limeter, wodurch eine Schwankung in dem Neigungswinkel: 
des unteren geraden Durchmessers um 20° 33’ bedingt wurde. 

Zur Bestätigung der Schwankung zwischen den einzelnen 

Individuen erinnere ich unter Hinweisung auf das oben Mitge- 
theilte nur an folgende Punkte aus meinen Versuchen: 

1) der Stand des höchsten der vier Maximalpunkte über 
dem Minimum schwankte zwischen 41° und 109° (oder, 
nach Weglassung zweier extremer Differenzen von 95° 
und 109°, zwischen 41° und 68°), 

2) Die Summe der Differenzen zwischen dem Minimum und 
dem Maximum der Plusseite und der Minusseite schwankte 
zwischen 68° und 160° (oder, nach Weglassung zweier 
extrem hoher Summen, zwischen 68° und 112°). 

3) Die Minima schwankten zwischen 29,5° und 61° (oder, 
nach Weglassung des letzteren sehr hohen Werthes, zwi- 
schen 29,5° und 50,5°). Br 

Soll nun trotz dieser erschwerenden Verhältnisse etwas Be* 

stimmtes über die Beckenneigung gesagt werden, so kann die- 
ses nur Bezug haben auf eine bestimmte, genau defi- 
nirbare Stellung. Als solche kann nun keine andere be- 
zeichnet werden, als diejenige des aufrechten Stehens. Von 
den verschiedenen Arten, welche auch in dem aufrechten Ste- 
hen noch möglich sind, nehme ich folgende drei als dieje- 


Die Beckenneigung. 171 


nigen heraus, bei welchen die schärfste Bezeichnung mög- 

lich ist, | 

1) Die von mir in meinem Aufsatze über das aufrechte Ste- 
hen (Müller’s Archiv 1853 S. 9) und in meinem Lehr- 
buche der Anatomie (Seite 141 u. 142) als leichtest zu 
bezeichnende Stellung gewählte. — Beide Beinaxen sind 
unter einander parallel; die Neigung beider Beine be- 
trägt 83° gegen den Horizont; das Femur befindet sich 
in derjenigen Rotationsstellung, welche in den oben mit- 
getheilten Versuchen mit minus 5° bezeichnet ist; 

2) dieselbe Stellung nur mit Knieschluss statt des Paralle- 
lismus der Beinaxen, wobei demnach die beiden Femur- 
axen eine Convergenz nach unten von 4°—10° zeigen; 

3) die militärische Stellung, d. h. Neigung der Beinaxen 
gegen den Horizont von 83°, — Knieschluss, — und 
solche Rotationsstellung der Beine, dass die Mittellinien 
beider Füsse unter einander einen rechten Winkel bilden. 
Aus den Constructionen in meinem Lehrbuche ist leicht 
abzuleiten, dass dieses diejenige Rotationsstellung ist, 
welche in den oben mitgetheilten Versuchen als plus 10° 
bezeichnet ist. 

Bei diesen drei Stellungen ergaben sich folgende unter A 
aufgeführte Neigungen der Conjugata. Die jeder Stellung 
angehörige Reihe ist durch dieselbe Zahl bezeichnet, welche 
die Stellung in der eben gegebenen Aufzählung führt. 

Anm. Da aus dem unmittelbar gemessenen Neigungswinkel der Nor- 
malconjugata gegen die Beinaxe die folgenden unter A stehenden 
Werthe für den Neigungswinkel der Conjugata gegen den Hori- 
zont durch Berechnung gefunden sind, und da dabei ein Nei- 
gungswinkel der Beinaxe gegen den Horizont (von 83°) voraus- 
gesetzt wurde, welcher jedenfalls auch individuellen Schwankungen 
ausgesetzt ist, so habe ich in B die Neigungswinkel der Conjugata 
gegen die Beinaxe hinzugefügt und in C die Neigungswinkel der 
Normalconjugata gegen die Beinaxe. Diese Werthe sind alsdann, 
da sie frei sind von einem weiteren individuell schwankenden 
Factor, für weitere Benutzung jedenfalls brauchbarer, wenn auch 
die Werthe der Conjugataneigung gegen den Horizont wegen der 


geläufigen Auffassungsweise dieser Verhältnisse unmittelbarer ver- 
ständlich sind. 


12* 


ei 


FEZE B © 
KEiSuTBeeTEhr Te 
Männliche Becken 1 41° |48° 149° |194° |131° | 139° 97° 1104° | 105° 
2° 00,00 155550° | 56° =) 188,5° | 138,5°| 139°° |103,5°°1 108,5° | 109° 
3 0532 [5565° 1.61% >| 196°2 15183502] 144% 102° =) 105,52. 110° 
E de AO 153% 1,550 2) 18202 186% 7) 138° 96° | 100% 151029 
2 © "50,32. 56% 153° 21 188,50 121392 =) 136°%= 1.103,5°°| 109°” |7106° 
© be 52 "552 4582-1 are 21382 =. 1360 98° #101? 99° 
BZ 2 end 1572. 36592 2 Tara 121402 = 13802 | 1110 © 11992 121122 
= Ba 141? 1950080 2 194° 97° | 100° 96° 
E = 9 u ee 50 | 1970 113505) 133° 96° | 101,5° ı 102° 
s Weibliche Becken 1 | 58,5° | 63° |63,5° | 141,5° | 146° | 146,5° | 111,5° | 116° | 116,5° 
en 22 4, Kosh>.3055 11705 19lena 192,50 55° 89,5° | 90,5° 
Hi 3 555° 160,50 465° | 138°” 1714350 148° 105° = 110,52 21152 
4 Dos 57800 :.61° 196° [7140,59 144° | 104° "2108,50 1122 
Dr Id 60 1042 78 1970212482 2114792 1.1042 2) 11092: 51? 
67) 688 1.692 ° 8859215105. 121592 =) 169,50 151930 2) 1940°- 7741,59 
7. 10914599 2].605°2| 149% *]1422 9143,52 | 11 2) 11402 1119,59 
Mittel der männl. Becken | 48,4° | 52,8° | 52,6° | 131,4° | 135,8° | 135,6° | 100,4° | 104,8° | 104,6° 
Mittel der weibl. Becken | 54,5° | 58,2° | 62,9° | 137,5° 141,2° | 145,9° | 106,2%° | 109,9° | 114,6° 
Gesammtmittel |51,45° 55,50° 57,150 134,45°| 138,50°) 140,75°| 103,30°| 107,35°| 109,60° 


172 


Die eben gegebene Zusammenstellung lehrt | 
1) dass bei beiden Geschlechtern für die Haltung des Beckens 


frechten Stehen nicht unwesentliche Verschieden- 


heiten bestehen, indem die Conjugataneigung der mäon- 


lichen Becken für die drei Stellun 


ım au 


sen um 6,1°, um 5,4° 


und um 10,3° geringer ist, als die Conjugataneigung 


- 


blichen Becken. — 


den gleichen Stellungen bei wei 


In 


mm LT nm nm nn nn nn nn nn ne nn nn nn m mn 


Die Beckenneigung. 173 


Dass eine geschlechtliche Verschiedenheit der Conjugata- 
neigung vorhanden sei, wurde bereits durch die früheren 
Untersuchungen von Nägele und Weber erkannt; nur 
erscheint in diesen das Verhältniss gerade umgekehrt, in- 
dem Nägele ($. 2) die Conjugataneigung bei weiblichen 
Becken zu 55°—60° bestimmt, und Weber (S. 127) 
nach derselben Methode diejenige des männlichen Beckens 
zu 65°. 
2) ist es bemerkenswerth, dass die in obiger Zusammen- 
stellung gegebenen Werthe mit Bestimmtheit unter den 
bisher als Regel angenommenen Werthen bleiben, was 
besonders für den Neigungswinkel des männlichen Beckens 
auffallend ist. — In der ungezwungenen aufrechten Stel- 
lung (1) ist der Winkel für männliche Becken 48,4” und 
für weibliche Becken 54,5°%;5 — etwas höhere Werthe 
zeigt erst die gezwungenere Stellung (2), nämlich 52,8° 
für männliche und 58,2° für weibliche Becken; — in der 
noch gezwungeneren mit Auswärtsrotation verbundenen 
Stellung (3) bleibt der Werth für männliche Becken im- 
mer noch bedeutend unter dem gewöhnlich angenomme- 
nen Werthe, indem er 52,6° beträgt; nur der Werth für 
weibliche Becken, welchen schon die Stellung (2) den 
allgemein angenommenen 60° nahe gebracht hat, über- 
schreitet diese letztere Zahl und steigt auf 62,9°. 
Woher diese unter 1 und 2 angegebene Verschiedenheit der 
Resultate? Die Methode der Untersuchung giebt hierauf Antwort. 

Die Methode von Nägele, welche von den späteren 
(Weber, Krause) nachgeahmt wurde, war folgende: Bei 
einer aufrecht stehenden Person wurde ein Senkel von dem 
unteren Rande der Symphysis ossium pubis auf den Boden hin- 
abgelassen und ein anderes von der Steissbeinspitze ebenfalls 
auf den Boden; — die Differenz der Länge der beiden Senkel 
und der gegenseitige Abstand derselben gaben dann die beiden 
Katheten eines rechtwinkligen Dreieckes, dessen Hypotenuse 
der untere gerade Durchmesser war, und es war nicht schwie- 
rig, mit diesen Daten die Neigung des genannten Durchmes- 
sers gegen den Boden (den Horizont) zu berechnen. An ge- 
trockneten Becken wurde sodann der Winkel zwischen dem 


174 Hermann Meyer: 


unteren geraden Durchmesser und dem oberen geraden Durch- 
messer (Conjugata) gesucht und das Mittel. der für, diesen 
Winkel gefundenen Werthe zu dem gefundenen Neigungswin- 
kel des unteren geraden Durchmessers addirt. Hiermit war 
der Neigungswinkel der Conjugata gegen den Horizont so ge- 
nau als möglich gefunden. 

Bei der schwierigen Zugänglichkeit des Untersuchungsob- 
jectes ist diese Methode so genau und befriedigend; als. es ver- 
langt werden kann, und es würde auch gegen dieselbe keinerlei 
Einwendung gemacht werden dürfen, wenn sie nicht neben der 
Nichtberücksichtigung der Stellung der Beinaxen mit Nothwen- 
digkeit eine wichtige Fehlerquelle enthielte, deren Vorhan- 
densein den betreffenden Forschern entgangen ist, weil sie in 
der Grösse der Beckenneigung eine für dasselbe Individuum 
unveränderliche Grösse erblickten. 

Es ist nämlich deutlich, dass die Untersuchung in einer 
Stellung gemacht wurde, welche nicht die Stellung des ge- 
wöhnlichen aufrechten Stehens war und daher auch keinen un- 
mittelbaren Schluss auf diese erlaubte, Die Untersuchung 
wurde ja mit Nothwendigkeit in gespreizter Stellung der 
Beine unternommen und, wie oben gezeigt, ist ein Unterschied 
in dem Divergenzgrade der Beine von entschiedenstem Einflusse 
auf die Beckenneigung. Ferner führten ohne Zweifel die be- 
treffenden Individuen bei der Untersuchung eine Rotation 
der Beine nach innen aus, weil eine solche, da sie den M. 
slutaeus maximus und die hintere Flexorengruppe des Ober- 
schenkels nach aussen verschiebt, nothwendig ist, um die Steiss- 
beinspitze zugänglich zu machen; — dass auch eine solehe 
Rotation die Beckenneigung influeneirt, ist ebenfalls in dem 
Früheren gezeigt. — Neben diesen beiden das Resultat wesent- 
lich influeneirenden durch die Methode gebotenen Beinbewe- 
gungen können auch noch andere nicht berücksichtigte 
Bewegungen von Einfluss ausgeführt worden sein, wie z.B. 
ein Vorwärtsneigen im Fussgelenk, um dem Untersuchenden das 
Becken entgegen zu führen, oder ein Bücken, um dem Unter- 
suchenden zuzusehen u. s. w. — Bewegungen der letzteren Art 
lassen sich natürlich nicht in vergleichende Berechnung ziehen, 
da sie nur von der Willkür des Individuums abhängig sind, 


En EEE Men 


Die Beckenneigung. 175 


dagegen kann der Einfluss der Spreizung und der Rotation an 
der Hand der von mir gewonnenen Tabellen unschwer erkannt 
werden. 

Um nun zu vergleichen, in wie weit diese Momente wirk- 
lich das Resultat der früheren Untersuchungen haben bestim- 
men‘ helfen, habe ich die Neigungswinkel zusammengestellt, 
welche an den von: mir gemessenen Becken die Conjugata in 
den Spreizungsgraden von 40°, 50° und 60° Divergenz der 
Beinaxen bei — 15° und bei 5° Rotation zeigte, d.h. bei 
dem Rotationsgrade des ungezwungenen aufrechten Stehens 
(-5°) und bei demjenigen Rotationsgrade, welcher um 10° 
nach innen. von diesem liegt (der muthmasslichen Stellung 
der Individuen des Versuches). Die Mittel aus diesen Wer- 
then sind in dem Folgenden im Vereine mit den oben gewon- 
nenen Werthen zusammengestellt. | 


Männliche 


= 
u 
2 
Ei 
= 
® 


| 
j Mittel 
Stellung der Beinaxen Becken | Becken 

—15° | 5° | -15° | 5° | -15° | —5° 
Knieschluss 52,8° 158,2 55,50° 
Parallel 48,49 154,5° | 51,45° 
40° Divergenz 59,3° | 49,3° | 50,4° | 49,2° | 54,85°| 49,25° 
50° Divergenz 63,75» 1.588,62. 1:54,19.) 525291 58,90°| 52,92 
60° Divergenz 680 1999 00,8 | 56,4° | 64,55") 57,8° 

l 


Die unter — 15° Rotation stehenden Zahlen sind diejenigen, 
welche .der oben bezeichneten Stellung entsprechen, die das un- 
tersuchte Individuum während der Untersuchung einzunehmen 


‚gezwungen war. Wie man sieht, stimmen. sie in merkwürdiger 


Weise mit: den Ergebnissen der Untersuchung von Nägele 
(55°—60° für das weibliche Becken), von Weber (65° für das 
männliche Becken), und von Krause (55°—65° für das Mit- 
tel). — Wir haben hier nicht nur die höheren Zahlen der ge- 
läufigen Ansicht über die Conjugataneigung, sondern auch 
das oben ebenfalls bezeichnete auffallende Verhältniss, dass 
die Zahlen für das männliche Becken höher sind, als diejenigen 
für das weibliche Becken. Beides ist aus den früher aufge- 
stellten Gesetzen über die Schwankungen in der Conjugata- 
neigung hinlänglich erklärt: 


176 Hermann Meyer: 


die höheren Zahlen überhaupt sind erklärt durch die Diver- 
genzgrade und den Rotationsgrad des Versuches, und 
die höheren Zahlen für das männliche Becken sind durch 
die Thatsache erklärt, dass die horizontale Minimalreihe 
(die durch Rotation bedingten Minima in den verschiede- 
nen Divergenzgraden umfassend) bei dem männlichen 
Becken entfernteg von den höherer Divergenzgraden ge- 
legen ist, bei dem weiblichen Becken dagegen näher an 
denselben. 


Diese Uebereinstimmung überzeugt auf das Bestimmteste, 


dass die von Nägele, Weber und Krause gemessenen 
Conjugataneigungen wirklich die in der bezeichneten Diver- 
genz- und Rotationsstellung geltenden sind und keine unmit- 
telbare Anwendung für die Auffassung der Haltung im auf- 
rechten Stehen erlauben. 

Zugleich aber ist auch aus dem Erfolge dieser Verglei- 
chung zu erkennen, dass meine an dem Präparate gewonnenen 
Zahlwerthe wirklich unmittelbare Anwendung auf Lebende ge- 
statten. 

Es ist nun auch erklärlich, warum Nägele über die 
Schwierigkeit zu klagen hatte, bei demselben Individuum das- 
selbe Resultat zu erhalten. Er sagt $. 5: dass dieses Verfah- 


ren, so leicht es auch zu sein scheint, und so einfach es auch 


wirklich ist, gleichwohl einige Uebung erfordere, hiervon kann 
sich Jeder, der noch keine Messungen der Art angestellt hat, 
leicht überzeugen, wenn er nämlich die Messung an derselben 
Person wiederholt oder von einem anderen wiederholen lässt, 
wo sich gemeiniglich ein bedeutender Unterschied ergeben 
wird.“ — Wir werden, um den Grund für den von Nägele 
hier bemerkten Umstand zu finden, nicht nur an die mangel- 
hafte Uebung des Untersuchenden und die Schwierigkeit der 
Untersuchung selbst zu denken haben, sondern auch daran, 
dass das Individuum der Untersuchung sich bei einer jeden 
neuen Untersuchung etwas anders stellen wird, und dass ein 


jeder Untersuchende für seine Bequemlichkeit eine etwas an- 


dere Stellung verlangen wird, so dass also immer etwas andere 


Divergenz- und Rotationsgrade zur Untersuchung kommen. — - 
In Uebereinstimmung hiermit ist der Umstand, dass Weber 


Die Beckenneigung. 177 


(S. 129) an Becken, bei welchen er im getrockneten Zustande 
die Neigung nach anderen Grundsätzen bestimmte, die bedeu- 
tenden Schwankungen nicht fand, wie in seinen Untersuchun- 
gen lebender Personen (S. 126). Bei 15 lebenden Individuen 
betrug nämlich die Schwankung 20°, 33°, bei 7 ap 
Becken dagegen nur 8°. _ 

Die von Nägele und Weber göfundenen Schwankungen 
erscheinen deshalb nicht allein als Aeusserungen individueller 
Verschiedenheiten, sondern auch als Folge wechselnder Stel- 
lung der untersuchten Individuen. 


Als Resultate der oben mitgetheilten Untersuchungen las- 
sen sich in Bezug auf die Beckenneigung folgende Sätze hin- 
stellen, wobei für die Bestimmung der Conjugataneigung die 
Stellung der Beinaxen gegen den Horizont zu 83° angenom- 
men ist: 

1) Die Beckenneigung verschiedener Individuen zeigt grös- 
sere Verschiedenheiten, als man bisher geglaubt hat. 

2) Bei demselben Individuum zeigt die Beckenneigung sehr 
grosse Verschiedenheiten, welche (abgesehen von der Neigung 
der Beinaxe gegen den Horizont) abhängig sind von dem Di- 
vergenzgrade und dem Rotationsgrade der Beinaxen. i 

3) Unter den verschiedenen Beckenneigungen desselben 
Individuums giebt es ein Minimum und vier Maxima. 

4) Das Minimum beträgt 40—45° Conjugataneigung (bei 
weiblichen etwas mehr als bei männlichen) und ist vorhanden 
bei männlichen Becken in 20° Divergenz und 0° Rotation der 
Beinaxen, — bei weiblichen Becken dagegen in 25° Divergenz 
und 10° Einwärtsrotation der Beinaxen. 

59) Die vier Maxima finden sich in den Vereinigungen 
extremster Divergenzstellung (Knieschluss oder grösste Sprei- 
zung) mit den extremsten Rotationsgraden (nach innen oder 
nach aussen). Die Maxima besitzen durchschnittlich 90—100° 
Conjugataneigung. 

6) Für das ungezwungene Aufrechtstehen mit parallelen 
Beinaxen ist die Conjugataneigung bei männlichen Becken ge- 
gen 50° und bei weiblichen Becken gegen 55°. — Bei Knie- 
schluss und mehr noch bei Auswärtsstellung der Fussspitzen 


. 


178 P. L. Panum: 


ist sie etwas höher, nämlich über 50° bei männlichen und un- 
gefähr 60° bei weiblichen Becken. 
7) Die bisher angenommenen ‚Werthe_ für die Fe 


neigung im aufrechten Stehen gehören einer Spreizstellung 


(40—60° Divergenz der Beinaxen) mit Einwärtsrotation an. 


« 
Ueber die einheitliche Verschmelzung verschieden- 
artiger Netzhauteindrücke beim Sehen mit zwei 
Augen. 


Von 


Prof. Dr. P. L. Panvm. 
(Schluss der oben S. 111 abgebrochenen Abhandlung.) 


Volkmann hat allerdings richtig gefühlt, dass.ich einen 
recht nachdrücklichen Angriff. auf die. von ihm so: belieb- _ 
ten psychischen Erklärungen in der physiologischen Optik über- 
haupt und hier speciell im Gebiete des Binocularsehens  ge- 
macht habe. Dieser Angriff geht aber weder von meiner -zu- 
nächst rein empirischen, nur einen Ausdruck der Thatsachen 
enthaltenden Aufstellung der correspondirenden Empfindungs- 
kreise aus, auch nicht von irgend welcher anatomischen Hy- 
pothese, sondern er ist in den Resultaten meiner Analyse des 
gemeinschaftlichen Gesichtsfeldes und in der Begründung der- 
jenigen Erklärungen enthalten, die ich oben im gedrängten 
Resume hingestellt habe. Wenn Volkmann daher einen Ver- 
such machen will, die psychischen Erklärungen in dem Um- 
fange, in welchem er sie vertritt, zuretten, so muss er den Grün- 
den entgegentreten, die ich seinen Auffassungen in meiner Analyse 
des germeinschaftlichen Gesichtsfeldes entgegengestellt habe, 

Anstatt aber die einzelnen, auf dem Wege der experimen- 
tellen Analyse ermittelten Momente unter möglichst ver- 
einfachten Bedingungen zu untersuchen, hat Volkmann 
eine Reihe von Versuchen vorgeführt, bei: welchen gleichzeitig 
mehrere der von mir hervorgehobenen Momente zur Geltung 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 179 


kommen, und Volkmann hat gemeint, dass diese auf solche 


Weise mehr ‘oder weniger complieirten Versuche einzig und 
allein durch seine psychologischen Hypothesen erklärt werden 
könnten. Er ist hiervon so fest überzeugt, dass er nicht im 
Entferntesten an die Möglichkeit einer anderen Erklärung, etwa 
dureh die von mir hervorgehobenen Momente gedacht hat. Ich 
werde nun zeigen, dass diese Momente auch bei den von Volk- 
mann angegebenen Versuchen sehr wesentlich in Betracht 
kommen, und wenn es gelingt diese durch dieselben zu erklä- 
ren, so folgt‘ daraus zunächst, dass diese Versuche für die von 
Volkmann vertretenen psychologischen Erklärungen Nichts 
beweisen. | 

Bevor ich aber zu den Einzelversuchen Volkmann’s über- 
gehe, sei es mir erlaubt einige kurze, allgemeinere Bemerkun- 


gen vorauszuschicken. Ich habe in meiner Schrift S. 42—46 


beispielsweise gezeigt, wie die verschiedenen, von mir. festge- 
stellten Einzelmomente bei complieirteren stereoskopischen Ob- 
jeeten in Betracht kommen, wie sie zur Gesammterscheinung 
im Sammelbilde zusammenwirken, und wie man ein sol- 
ches complieirtes Bild mittelst meiner Erklärungen. zu entwir- 
ren oder zu entziffern hat. In den complicirten Bildern kön- 
nen alle die oben angeführten Einzelmomente neben einander 
zur Geltung kommen, jedenfalls kommen aber mehrere dersel- 
ben gleichzeitig in Betracht, wobei sehr oft das eine Moment 
modifieirend und beeinträchtigend auf das andere einwirkt. 
Die Einführung: des einen oder des anderen Momentes in 
ein complieirtes Bild ist daher für den Einzelversuch bezüglich 
der, reinen Sinnlichkeit durchaus kein zufälliger Umstand, 
wie Volkmann anzunehmen scheint. Ebenso wie die Reac- 
tionen eines; chemischen Stoffes durch die Gegenwart eines an- 
deren modifieirt und getrübt werden können, so kann auch die 
Reaction des einen Sinlichkeitsmodus durch das ‚Hinzutreten 


‚eines zweiten und dritten modificirt werden, und es sind daher 


eomplieirte Bilder im Ganzen ebenso wenig geeignet, die ele- 
mentaren Verhältnisse der Sinnlichkeit festzustellen, wie ein 
Gemisch von mehreren Stoffen geeignet ist, die Reaction der 
einzelnen Stoffe zu zeigen. Es kommt z. B. die binoculare 


180 P,. L. Panum: 


Farbenmischung in der Regel neben der binocularen Synergie 
des Alternirens und mit ihr abwechselnd zur Geltung. Die 
Macht der Conturen und der ihnen im Einzelbilde angrenzen- 
den Grundfärbung greift in beide Synergien ein und kann be- 
wirken, dass sie local, wenigstens zeitweilig, nicht zur Geltung 
kommen können. So ist z. B. in der nächsten Umgebung: der 
freien Balkenenden im Sammelbilde der Kreuze in meinen Far- 
bentafeln weder ein Alterniren, noch eine Mischung des Gelb 
und des Blau wahrnehmbar, indem die den Balken in den Ein- 
zelbildern anliegenden Grundfarben durch die Macht der der 
Contur anliegenden Grundfärbung zu einer so intensiven Oom- 
ponente werden, dass die andere Farbe, Blau oder Gelb, hier 
ganz unterdrückt wird. Dies wird aber wohl Niemand als 
einen Beweis gegen die binoculare Synergie der Farbenmischung 
oder gegen die binoculare Synergie des Alternirens geltend 
machen wollen. 

Wie nun die Synergie des Alternirens die Synergie der Far- 
benmischung und die Macht der den Conturen anliegenden 
Grundfärbung beide jene Synergien stören kann, so kann auch 
die Synergie des Einfachsehens in complicirten Bildern 
durch verschiedene andere der angeführten Momente mehr oder 
weniger, zeitweilig oder local, beeinträchtigt werden. — Wenn 
z. B. diejenigen Momente, welche für die Einstellung der 
Augenachsen und für das Fixiren derselben von Belang 
sind, im Bilde verändert werden, so können begreiflicher Weise 
leicht Doppelbilder solcher Conturen auftreten, die vorhin im 
Sammelbilde einfach gesehen wurden, indem die zusammenge- 
hörigen Netzhautbilder hierdurch eine andere Lage bekommen, 
wodurch sie aus den correspondirenden Bezirken herausgerückt 
werden, und indem alsdann die Macht der CGonturen' eine'mehr 
oder weniger vollständige mosaikartige Ausfüllung des Sam- 
melbildes bewirkt. — Auch die Synergie des Alternirens kann 
die binoculare Synergie des Einfachsehens stören. Die Unklar- 
heit, welche durch einander sehr ungleiche Conturen oder Far- 
ben im Sammelbilde hervorgebracht wird, macht nämlich 
die Augenstellung so unruhig, dass es dem Willen 
‘schwer oder unmöglich wird, diese Unruhe zu bewältigen, und 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. 8. w. 181 


diese Unruhe der Augenstellung muss wiederum ein Zerfallen 
des vorhin einfachen Sammelbildes bewirken. — Es würde 
aber für meine Auffassung durchaus nichts Auffälliges haben, 
wenn die Grenzen der empirisch gefundenen Empfindungskreise 
durch solche Schwankungen der Netzhautfunction, wie sie bei 
der binocularen Synergie des Alternirens durch Ungleichheit 
der beiderseitigen Erregungen offenbar vorhanden sind, etwas 
kleiner würden, als wo solche die Klarheit des Bildes trübende 
Ungleichheiten nicht vorhanden sind. — Wenn nun durch Un- 
ruhe der Augenbewegungen, sei :es durch Alterniren des Bil- 
des, sei es durch die Möglichkeit verschiedene Bildtheile alter- 
nativ. zur Deckung bringen zu können, sei es durch die An- 
strengung des Auges bei einer schwierigen Einstellung u. s. w. 
ein Zerfall des vorhin einfach gesehenen Sammelbildes in Dop- 
pelbilder bewirkt wird, so können die Doppelbilder unwillkür- 
lich in einer bestimmten Stellung festgehalten werden, wenn 
im Bilde Momente gegeben sind, welche eine solche bestimmte 
Lagerung der Doppelbilder, d. h. mit anderen Worten, eine 
bestimmte Augenstellung, motiviren, z. B. indem einander ent- 
sprechende dominirende Linien bei der neuen Stellung. zur 
Geltung gebracht werden. Unter allen Umständen ergiebt es 
sieh von selbst, dass solche Momente um so leichter ein Zer- 
fallen des bisher einfach gesehenen Sammelbildes in Doppel- 
bilder bewirken können, je näher die eine der Componenten 
der äusseren Grenze des correspondirenden Empfindungskreises 
liegt, oder mit anderen Worten, je grösser die Differenz des 
Abstandes und der Form ist, welche durch die binoculare Sy- 
nergie des Einfachsehens überwunden werden soll. Ich habe 
selbst nicht nur ausdrücklich bemerkt, dass die empirisch ge- 
fundenen correspondirenden Empfindungskreise verschiedener 
Individuen einen verschiedenen Durchmesser haben, sondern 
auch dass an den Grenzen derselben ein Schwanken der Sy- 
nergie des Einfachsehens stattfindet, so dass das Einfachsehen 
nur schwierig und momentan gelingt, „indem die Linien des 
Sammelbildes in einzelmen Augenblicken wohl ein- 
fach erscheinen, dann aber wieder ein nebelhaftes 
Doppelbild, gewöhnlich zwischen den beiden Stri- 


182 | P. L. Panum: 


chen, bemerkbar wurde.“ (S. 54.) Es ist daher, um den 
Einfluss derjenigen Momente, welche ein Zerfallen des einfachen 
Bildes in ein Doppelbild bewirken können, zu untersuchen, 
nicht rathsam, sich auf so extreme Abstandsdifferenzen zu be- 
schränken, dass die Doppelbilder zeitweilig von selbst hervor- 
treten, sondern man hat namentlich die geringeren Abstands- 

differenzen auch in Betracht zu ziehen, wo ohne besondere 
Complicationen niemals Doppelbilder wahrgenommen werden, 
vorausgesetzt, dass die Augenstellung den Bildern entspricht. — _ 
Endlich muss ich noch bemerken, dass es sich, meiner ganzen Dar- 
stellung zufolge, von selbst versteht, dass die Macht der Conturen 
und der den Conturen anliegenden Grundfärbung in compli- 
eirten Bildern neben der binocularen Synergie des Einfach- 
sehens zur Geltung kommen kann. Es versteht sich ferner, 
meiner ganzen Darstellung zufolge, von selbst, dass eine Con- 
tur in einem Gesichtsfelde nur mit einer ganz oder annähernd 
entsprechenden Contur im anderen Gesichtsfelde zum einheit- 
lichen Sammelbilde combinirt werden kann, nicht aber etwa 
mit zwei oder drei solehen Conturen, und eben so wenig mit 
einer ganz abweichenden Oontur oder mit einem Punkte. Ist 
ein Punkt oder eine Contur in einem Bilde enthalten, während 
sich an der entsprechenden Stelle im anderen Bilde nichts Der- 
artiges, sondern nur eine gleichmässige Grundfärbung vorfin- 
det, so kommt im Sammelbilde die Macht der Contur zur 
Geltung: und es wird jener nur einseitig vorhandene Punkt 
oder eine solche Contur mosaikartig in das Sammelbild einge- 
tragen. Dieses kann natürlich auch dann geschehen, wenn ein 
solcher Punkt oder eine solche Contur einer der im Sammel- 
bilde zur Deckung gebrachten Linien noch so nahe liegt, wenn 
er nur deutlich gesehen werden kann, und wenn an der cor- 
respondirenden Stelle des anderen Sehfeldes nur eine gleich- 
mässige Grundfärbung, ohne differente, im Sammelbilde Kreu- 
zung oder Berührung bedingende Conturen, vorhanden ist. 
Durch das Zusammenwirken der binocularen Synergie des Ein- 
fachsehens und der Macht der Conturen wird es möglich, dass 
das Vermögen der räumlichen Verschmelzung und der räum- 
lichen Sonderung beim Binocularsehen in gewissem Sinne gleich- 


en nn in nee un. 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 183 


zeitig zur Geltung kommen kann, was für das deutliche Sehen 
mit zwei Augen, wie oben angedeutet wurde, ein nothwendiges 
Erforderniss und keineswegs, wie Hasner meinte’ (vgl. oben), 
ein in sich unlöslicher Widerspruch ist. 

Wenden wir uns nach diesen Vorbemerkungen, die sich 
besonders auf Volkmann’s il erste Versuche beziehen, zur 
näheren Untersuchung der von Volkmann angegebenen Ex- 
perimente, welche seiner Meinung zufolge nur auf psychische 
Weise erklärt werden können. . 

Volkmann’s Versuch 1 zeigt, dass man im Sammelbilde 
drei und nicht zwei Linien sieht, wenn in einem Bilde drei, im 
anderen zwei senkrechte, einander entsprechende Linien so an- 
gebracht sind, dass die zwei Linien des einen Gesichtsfeldes 
mit zwei unter den drei Linien des anderen Gesichtsfeldes zur 
Deckung gebracht werden, und dass dies selbst dann geschieht, 
wenn der Abstand der dritten Linie von einer der beiden zur 
Deckung gebrachten geringer ist, als der Durchmesser eines 
eorrespondirenden Empfindungskreises. Dieser Versuch ent- 
spricht im Wesentlichen ganz derjengien Erscheinung, welche 
die stereoskopische Betrachtung des von mir in Fig. 54 ange- 
gebenen Objects ergiebt, wobei ein Kreis des einen Gesichts- 
feldes mit zwei etwa 1'/; Mm. von einander entfernten, ähnli- 
chen Kreisen des anderen Gesichtsfeldes eombinirt, im Sam- 
melbilde zwei Kreise, nicht einen Kreis erkennen lässt. Ich 
leite das Auftreten der dritten Linie Volkmann’s und des 
zweiten Kreises in meinem Versuche von der Macht der 
Contur ab, der zufolge dieselbe mosaikartig in das Sam- 
melbild eingetragen wird. | 

Volkmann’s Versuch 4 zeigt, dass ein Punkt mit kleinen 
Kreisen, Quadraten, Dreiecken u. s. w., deren grösste Aus- 
dehnung nicht mehr als 1 Mm. beträgt, bei günstiger Augen- 
stellung so combinirt werden kann, dass er frei schwebend in 
der Mitte der Figur gesehen wird. ‚Dieser Versuch erinnert 
lebhaft an manche der von mir angegebenen, namentlich z. B. 
an den auf S. 42 angegebenen Versuch, wo die Buchstaben 


184 P. L. Panum: 


pun 
19p0 
pun 


“ 


Bez ® 


combinirt werden. Ich habe diese Erscheinung dadurch er- 
klärt, dass die Conturen sich überall viel stärker geltend ma- 
chen, als eine gleichmässige Grundfärbung, und dass sie dem 
zufolge mosaikartig in das Sammelbild eingetragen werden. 
Dass dies auch dann erfolgt, wenn sie einer der zur binocu- 
laren Deckung gebrachten Linie oder einer vom anderen Auge 
allein gesehenen Contur sehr nahe liegt, würde nur dann etwas 
Auffallendes haben, wenn sämmtliche Punkte des correspon- 


i 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 185 


direnden Empfindungskreises ein solidarisch verbundenes und 
in jeder Beziehung identisch empfindendes Ganze ausmachten, 
in welchem, gleichzeitig mit dem correspondirenden Punkte a 
im anderen Auge, nur ein einzelner, nicht aber mehrere em- 
pfindende Punkte wirksam erregt werden könnten — eine Mei- 
nung, die mir vollständig fremd und nur von Volkmann auf- 
gestellt ist, um sie, wie mir scheint, ganz unnöthiger Weise, 
experimentell zu widerlegen. | 

Bei Volkmann’s drittem Versuche werden dem linken 
Auge drei senkrechte Linien a, b und c so dargeboten, dass 
a und b 2 Mm., b und e 5 Mm. von einander entfernt sind, 
während dem rechten Auge drei gleiche senkrechte Linien, d, 
e und f, so dargeboten werden, dass die Entfernung zwischen 
d und e 5 Mm., zwischen e und f 2 Mm. beträgt. Dieses Ob- 
jeet erinnert lebhaft an dasjenige, das ich in meiner Schrift als 
Fig. 35 habe abdrucken lassen, nur mit dem Unterschiede, dass 
ich jederseits vier Linien angebracht habe, deren gegenseitige 
Abstandsdifferenz jedoch nur reichlich 1 Mm., anstatt in Volk- 
mann’s ÖObjeete 3 Mm. beträgt. Beschränkt man die Ab- 
standsdifferenz auch in Volkmann’s Objeete auf reichlich 
1 Mm., so erkennt man im Sammelbilde auch nur drei Linien, 
nach der Dimension der Tiefe geordnet, ebenso wie bei mei- 
nem Objecte vier Linien im Sammelbilde erscheinen. Vergrös- 
sert man die Abstandsdifferenzen bei gleichbleibender Augen- 
stellung, so müssen natürlich Doppelbilder entstehen, und 
zwar zerfällt n Volkmann’s Falle die eine mittlere Linie, 
in meinem Falle zerfallen die beiden mittleren Linien in ihre 
Componenten, indem dieselben nunmehr ausserhalb der corre- 
spondirenden Empfindungskreise fallen, und durch die Macht 
der Conturen mosaikartig in das Sammelbild eingetragen wer- 
den. Soweit entsprechen diese Fälle also so ziemlich den vor- 
hergehenden. Volkmann giebt nun aber an, dass er die 
Linien ab und de trotz ihrer Abstandsdifferenz von etwa 3 
Mm. zum einheitiichen Bilde combiniren kann, während Dop- 
pelbilder auftreten, wenn die Linien c und f auch sichtbar sind. 
Er meint daher, dass die Linien e und f die Einheit des Bil- 


des stören, und erklärt dies so, dass die Aufmerksamkeit für 
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv. 1861. 13 


186 P. L. Panum: 


die Abstandsdifferenz durch dieselben „aus ihrem Schlafe 
gerüttelt werde“. Bezüglich dieser Angabe ist jedoch er- 
stens zu bemerken, dass die Abstandsdifferenz von 3 Mm. eine 
so bedeutende ist, dass die grosse Mehrzahl der Beobachter 
bei’derselben immer Doppelbilder erkennt. Da Volkmann 
sich so ausspricht, als hätte ich dieses Maass angegeben, muss 
ich mir erlauben, die betreffende Stelle aus meiner Schrift 
wörtlich zu citiren. Es heisst S. 54:. „Bei Anwendung ge- 
wöhnlicher Linsenstereoskope finde ich nun, dass zwei Dop- 
pellinien, deren Abstände um 1 Mm. von einander differiren, 
leicht und unfehlbar im gemeinschaftlichen Gesichtsfelde beim 
binocularen Sehen mit einander verschmelzen. Beträgt der 
Unterschied der Abstände 2 Mm., so ist das Verschmelzen auch 
noch vollkommen möglich; bei einer Differenz von 3Mm. 
sehe ich aber schon immer Doppelbilder. Professor 
Karsten gelang ein vollständiges Verschmelzen noch bei die- 
ser Differenz der Abstände, bei einem Unterschiede von 4 Mm. 
aber treten die Doppelbilder entschieden auf.“!) Indem ich 
dann die Versuche mit dem von mir angegebenen Apparate 
ohne Linsen übergehe, bei welchen der Abstand des Objects 
vom Kreuzungsmittelpunkte eines jeden Auges 460 Mm. betrug, 
heisst es ferner: „Ich konnte bei Anwendung dieses Appa- 
rates zwei jederseits befindliche Linienpaare, deren Abstände 
um 2 Mm. von einander differirten, leicht ohne Nebenbilder im 
gemeinschaftlichen Gesichtsfelde vereinigen; wenn der Un- 
terschied der Abstände der Linien 3Mm. betrug, 
gelang dies nur schwierig und momentan, indem die 
Linien des Sammelbildesin einzelnen Augenblicken 
wohl einfach erschienen, dann aber wieder. ein. nebelhaftes 
Doppelbild, gewöhnlich zwischen den beiden Strichen, bemerk- 
bar wurde“ u.s.w. Die von Volkmann in seinem Versuche 
angewandte Abstandsdifferenz liegt also wenigstens an der aller- 
äussersten Grenze der Empfindungskreise, für die meisten Augen 
fällt sie schon ganz ausserhalb derselben auf entschieden nicht 


1) Die gegenseitige Entfernung des rechten und linken Bildes be- 
trug bei diesen Versuchen 6—7 Centimeter. 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 187 


correspondirende Netzhautstellen. Sofern also die störende 
Wirkung der Linien e und f überhaupt wirklich in Betracht 
kommt, so betrifft sie nur die äussersten Grenzen der 
correspondirenden Empfindungskreise, an welchen das Einfach- 
sehen so unsicher ist, dass die Doppelbilder durch die gering- 
sten Veranlassungen oder selbst spontan ab und zu sichtbar 
werden. Ich glaube es aber in Abrede stellen zu dürfen, dass 
die Linien e und f immer die angegebene störende Wirkung 
äussern, und bin der Meinung, dass die Veränderungen 
der Augenstellung, welche durch das Auftreten oder 
Verschwinden der Linien eund f unwillkürlich ver- 
anlasst werden, in diesem Versuche Ursache des 
Auftretens oder respective des Verschwindens der 
Doppelbilder an den äussersten Grenzbezirken der 
correspondirenden Empfindungskreise sind. Hier ist 
es nämlich keineswegs gleichgültig, ob die einander näher lie- 
genden Linien e und f, oder die von einander entfernteren Li- 
nien b und e fixirt werden. Wenn Letzteres der Fall war, 
während e und f bedeckt waren, und dabei wenigstens augen- 
blicklich ein einfaches Sammelbild mit drei Linien vorhanden 
war, so wird das plötzliche Erscheinen der Linien ce und f in 
der Regel eine Augenbewegung veranlassen, wodurch sie fixirt 
werden, und bei einer solchen Augenbewegung zerfällt die 
vorhin fixirte Linie e f in ihre Componenten, sie wird aber wie- 
der einfach, wenn beim Verschwinden der Linien ce und f 
wiederum die Linien b und e fixirt werden. Das Erscheinen 
der Linien e und f oder das Verschwinden derselben hat dem 
entsprechend auch nicht die von Volkmann angegebene Wir- 
kung, wenn man unausgesetzt die Linien a und d fixirt, und 
diese Augenstellung trotz aller Veränderungen im Bilde eon- 
sequent behauptet, was allerdings eine ziemlich bedeutende 
Uebung voraussetzt. — Von dem Einflusse der Augenstellung 
auf die Grenzen, innerhalb deren das Einfachsehen noch mög- 
lich ist (oder auf die empirisch gefundenen Durchmesser der 
eorrespondirenden Empfindungskreise), kann man sich beson- 
ders durch Objecte mit verschiebbaren Linien überzeugen, wie 
ich sie für die Bestimmung der natürlichen Augenstellung 
13* 


188 P. L. Panum:. 


(S. 20) in Anwendung gebracht habe (Vgl. unten S. 168—173), 
Das Zerfallen der vorhin nur mit Mühe und etwas zweifelhaft 
einfach gesehenen Linie in ein Doppelbild und das Einfach- 
sehen einer vorhin als Doppelbild gesehenen Linie erklärt sich 
somit durch die Veränderungen der Augenstellung, welche 
durch Veränderungen im Bilde meist ganz unwillkürlich her- 
vorgerufen werden. Dass die Aufmerksamkeit hierbei irgend 
eine Rolle spielen sollte, erscheint mir als eine ganz willkür-_ 
liche und durch die Erscheinungen nicht motivirte Annahme. 
Es würde übrigens offenbar meine ganze Auffassung durch- 
aus nicht alteriren, wenn es sich durch andere Versuche er- 
geben sollte, dass es möglich wäre durch Uebung und Auf- 
merksamkeit auf die Doppelbilder den empirisch gefundenen 
Umfang seiner correspondirenden Empfindungskreise etwas zu 
vermindern; meine Aufstellung der correspondirenden Em- 
pfindungskreise und meine Erklärung des Einfachsehens bei 
Erregung anderer beiderseitiger Netzhautpunkte als eben der 
Mittelpunkte der correspondirenden Empfindungskreise durch 
eine unmittelbare Sinnesempfindung (die binoculare 
Synergie des Einfachsehens) würde offenbar nur dann ernstlich 
gefährdet sein, wenn es sich nachweisen liesse, dass die Auf- 
merksamkeit allein im Stande wäre, die correspondirenden 
Empfindungskreise auf wirkliche Punkte zurückzuführen, oder 
ihren Umfang auf Null zu reduciren, das hat aber Volk- 
mann selbst als unmöglich erkannt. — In diesem Versuche ist 
dies aber so wenig der Fall, dass ich mich vergebens bemüht 
habe, irgend einen Unterschied in der Grösse der Empfindungs- 
kreise bei Anwendung einfacher Doppellinien in den. beiden 
_ Sehfeldern und bei Anwendung eben solcher Doppellinien ne- 
ben anderen, einander in beiden Sehfeldern so weit entspre- 
chenden Conturen, dass sie zur binocularen Deckung im Sam- 
melbilde gebracht werden können.!) Hierbei ist freilich vor- 


1) Wenn ein Unterschied der Durchmesser der correspondirenden 
Empfindungskreise in einfachen und in complieirten Objecten wirklich 
in der Weise vorhanden wäre, dass dieselben im ersteren Falle grös- 
ser gefunden würden, so würde man zunächst veranlasst werden zu 
fragen, ob nicht bei den einfachen Bildern der in den Abständen der 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 189 


auszusetzen, dass nicht Veränderungen im Bilde während 
der Beobachtung die Augen zur Bewegung verleiten, durch 
welche die objeetive Lage der Netzhautbilder verändert wird, 
Alsdann hat die Veränderung der Erscheinung aber offenbar 
zunächst eine sinnliche und nicht eine psychische Ur- 
sache, wenn auch eine psychische Erregung an der Verände- 
rung der Augenstellung Antheil gehabt haben mag. 

Bezüglich dieses dritten Versuches muss ich noch bemerken, 
dass Volkmann ihn zunächst nur gegen jene widersinnige, 
mir untergeschobene Hypothese von der solidarischen Verpflich- 
tung sämmtlicher in einem correspondirenden Empfindungs- 
kreise liegenden empfindenden Punkte, mit einem bestimmten 
empfindenden Punkte im anderen Auge identisch zu empfin- 
den, gerichtet ist. 

Volkmann’s Versuch 4 zeigt, dass ein jederseits zwischen 
zwei einander entsprechenden aber verschieden weit von ein- 
ander befindlichen Senkrechten angebrachter horizontaler Strich, 
der die beiden Senkrechten jederseits mit einander verbindet, 
die Einheit des Sammelbildes nicht stört (Fig. 4), während ein 
eben soleher Querstrich die Einheit des Bildes wesentlich be- 
einträchtigt, wenn er links und rechts in verschiedener Höhe 
angebracht ist (Fig. 5). Abgesehen davon, dass die Abstands- 
differenz der Doppellinien l und r in Volkmann’s Figur 5 
durch einen Zeichenfehler merklich grösser ist, als in Fig. 4, 
ergiebt sich aus einer näheren Untersuchung der von Volk- 
mann eingeführten Complication Folgendes: Wenn die hori- 
zontalen Abstandsdifferenzen, wie in Volkmann’s Öbjecte, 
reeht ansehnlich sind (2'/;, Mm. in Fig. 5, 2 Mm. in Fig. 4), so 
werden bei der von Volkmann verzeichneten Stellung der 
Horizontalen zu einander allerdings in der Regel Doppel- 
bilder siehtbar, obgleich in einzelnen Augenblicken die Ver- 
schmelzung gelingt (vgl. meine Schrift S. 54). Das mit Dop- 
pelbildern behaftete Sammelbild erscheint aber keineswegs im- 


beiderseitigen Linien im äusseren Bilde beobachtete Unterschied durch 
ungleiche Accommodationsveränderungen beider Augen in den Netz- 
hautbildern verhältnissmässig geringer werden könnte, was natürlich 
bei complieirten Bildern unmöglich ist (Vgl. oben S. 15). 


190 P.L. Panum: 1317 


mer in der von Volkmann angegebenen Weise, so dass die 
links gelegenen Senkrechten der beiden Bilder combinirt wer- 
den, sondern es können auch die rechts gelegenen Senkrechten 
beider Bilder zur Deckung kommen, oder die rechts gelegenen 
des einen mit der links gelegenen des anderen, ‚oder es er- 
scheinen’alle vier senkrechte Linien im Sammelbilde und be- 
merkenswerther Weise oft in schräger Stellung zu einan- 
der. In der Regel wechseln alle diese verschiedenen Phasen 
des Sammelbildes und es ist besonders von der Entfernung des 
rechten und linken Sammelbildes von einander abhängig, ob 
die eine oder die andere Phase bei längerer Betrachtung blei- 
bend sichtbar wird. Macht man den senkrechten Abstand der 
Horizontalen grösser, so kann man bei mässigen Abstands- 
differenzen der Senkrechten (von 1—1'/, Mm.) nur zwei senk- 
rechte Linien im Sammelbilde erkennen. Das einheitliche Bild 
wird besonders auch durch eine grössere Länge der senkrech- 
ten Linien wesentlich befördert, die Doppelbilder treten dahin- 
gegen bei kurzen Linien, wie Volkmann $ie gewählt hat, 
leichter auf. Es gelingt ferner die einheitliche Verschmelzung 
leicht, wenn man die Unterschiede der Horizontalen um so 
viel geringer macht, dass auch sie zu einer einfachen Linie im 
Sammelbilde verschmelzen können, was noch immerhin bei 
einer Abstandsdifferenz von reichlich 1 Mm. vollkommen mög- 
lich ist. Bei einer senkrechten 2 Mm. grossen Abstandsdiffe- 
renz der Horizontalen und einer gleichen Abstandsdifferenz der 
Senkrechten gelingt die totale Verschmelzung der Senkrechten 
schwierig, die der Horizontalen gar nicht, aber bei geringeren 
(horizontalen) Abstandsdifferenzen der Senkrechten gelingt doch 
ihre einheitliche Combination bleibend, indem man eine vor- 
dere und eine hintere senkrechte Linie sieht, welche durch zwei 
horizontale Querstriche verbunden sind; die Combination ge- 
lingt auch hier leichter bei Anwendung langer als kurzer senk- 
rechter Linien. Diese von Volkmann nicht beachteten oder 
wenigstens nicht besprochenen Verhältnisse weisen nun, wie 
mir scheint, unzweifelhaft darauf hin, dass die Unruhe der 
Augenbewegungen, welche durch Einführung der beider- 
seitigen, in ungleicher Höhe gelegenen Horizontalen hervorge- 


ne, 
Te 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 191 


rüfen wird, einen sehr wesentlichen Einfluss auf das 
Zerfallen des Sammelbildes der senkrechten Linien 
hat. Dieser Einfluss macht sich um so stärker geltend, je 
kürzer die senkrechten Linien sind, weil dadurch ihre domi- 
nirende Wirkung auf die Augenstellung geringer wird. Eine 
solehe Unruhe der Angenstellung macht sich überall bemerk- 
bar, wenn solche Ungleichheiten in den Einzelbildern vorhan- 
den sind, dass sie im Sammelbilde zur Wahrnehmung kommen. 
Dies ist besonders dann der Fall, wenn die Ungleichheit, wie 
im vorliegenden Beispiele, derartig ist, dass sie gleichsam auf- 
fordert zu versuchen, ob nicht die durch die Ungleichheit der Ein- 
zelbilder bedingte Unklarheit im Sammelbilde durch eine an- 
dere Augenstellung gehoben werden könnte? Dieses würde 
hier freilich nur unvollkommen, aber beim Fixiren der Quer- 
linien doch einigermaassen dadurch erreicht werden können,. 
dass der eine Bulbus etwas nach oben, der andere etwas nach 
unten rotirt würde. Die Aufforderung diesen Versuch zu ma- 
chen, ist bei grossen Abstandsdifferenzen der Querstriche kaum 
vorhanden, bei so geringen Abstandsdifferenzen, dass die bei- 
den Querlinien, trotz ihrer ungleichen Lage, doch noch mit 
einander zum einfachen Bilde combinirt werden können, ist sie 
auch nicht merklich, sie ist aber besonders stark, wenn der 
senkrechte Abstand der Querlinien nur gering, aber doch zu 
gross ist, um durch die binoculare Synergie des Einfachsehens 
gehoben zu werden. Diese Combinationsbewegung der Augen 
ist freilich nicht unmöglich, sie ist aber sehr schwierig; sie 
müsste durch ein ganz ungewohntes und beiderseits un- 
gleiches Zusammenwirken der Mm. reecti sup. und inf. und 
der Mm. oblig. sup. und inf. ausgeführt werden. Hieraus 
würde die schiefe Stellung, welche die senkrechten Doppellinien 
so oft im Sammelbilde zu einander einnehmen, ihre Erklärung 
finden. Es wird in diesem Falle das Fixiren aber auch noch 
dadurch erschwert, dass die Stellen, wo die horizontalen und 
die senkrechten Linien einander schneiden, zufolge der Macht 
der Conturen, den Blick stärker auf sich ziehen, als die übri- 
gen einander entsprechenden Punkte der gegenseitigen Senk- 
rechten; bei einer solehen Augenstellung, die hierdurch indieirt 


192 P. L. Panum: f 


wird, fallen aber die anderen Bildtheile zum grossen Theil auf 
solche Netzhautpartieen, welche nicht zu einander in der Be- 
ziehung correspondirender Empfindungskreise stehen. Dass die 
Schwierigkeit, den geeigneten Fixationspunkt zu finden und 
vollkommen zu fixiren, den wesentlichsten Antheil an der Stö- 
rung des Einfachsehens der Senkrechten in diesem Falle hat, 
lässt sich dadurch beweisen, dass man die Einfachheit der 
Senkrechten im Sammelbilde (bei mässigen Abstandsdifferenzen) 
wieder herstellen kann, indem man in gleicher Höhe an, ne- 
ben oder zwischen den Senkrechten (also in verschiedener Lage. 
zu den Querstrichen) beiderseits einen Punkt oder ein kleines 
Kreuz anbringt, das man fest fixirt. 

Die oben besprochene Unruhe der Augenstellung wird übri- 
gens auch dann bemerkt, wenn irgend welche Unklarheit 
im Sammelbilde vorhanden ist, auch dann, wenn sie, wie bei 
einander kreuzenden oder berührenden ganz ungleichartigen 
Conturen, nicht durch eine richtige und bestimmte Augenstel- 
lung gehoben werden könnte. Bei derselben kommt endlich 
das Auge zeitweilig in der einen oder anderen Stellung zur 
Ruhe, und bei Gegenwart dominirender Linien im Bilde 
werden diese für die Augenstellung massgebend, wenn. .die 
Augenstellung bei ihrer Fixation nicht allzu unbequem ist. PR 
Es bleibt noch eine offene Frage, ob nicht einerseits die ob- 
jective Stärke, und andererseits die Ungleichheit der Erregung 
der beiden Netzhäute, welche sowohl bei ungleicher Deutlich- 
keit der beiderseitigen Bilder, als durch Alterniren der ein- 
ander im Sammelbilde kreuzenden und berührenden Con- 
turen vorhanden ist, nicht einen merklichen Einfluss auf 
_ die Grösse der jedesmaligen individuellen empirisch gefun- 
denen correspondirenden Empfindungskreise hat? Dieses würde 
aber, wie bereits bemerkt, für mich nichts Auffallendes haben, 
da ich, wie oben angeführt, ein zeitweiliges Schwanken der 
Grösse der empirisch gefundenen correspondirenden Empfin- 
dungskreise schon anerkannt hatte, bevor Volkmann dasselbe 
betont hatte. Es ist hiernach wohl klar, dass es keinesweges, 
wie Volkmann behauptet, „offenbar“ ist, dass die Senk- 
rechten nicht verschmelzen, „weil die Seele, wenn sie der Un- 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u, s. w. 193 


gleichheit der Längen der Querstriche ihre Aufmerksamkeit zu- 
wendet, nun auch die Begrenzung derselben durch ungleich 
distante Senkrechte mit wahrnimmt“, und es ist sehr übereilt, 
daraus, wie Volkmann es thut, zu schliessen: „Es ist also 


das Einfachsehen der Senkrechten in den beiden ersten Fällen 


DE CHE DEE Ft 


en m 


nur einem Mangel an Aufmerksamkeit zuzuschreiben.“ 

Volkmann’s Versuch 5 ist nur eine ganz unwesentliche 
Modifieation seines Versuchs 3. Es soll nämlich die Abstands- 
differenz zweier senkrechten Linien in beiden Gesichtsfeldern 
etwas weniger als 3 Mm. betragen; Volkmann sieht dann ein 
einfaches Sammelbild, wenn aber z. B. beiderseits links eine 
gleiche Anzahl gleicher und gleichweit von einander entfernter 
Linien sichtbar werden, soll es nicht gelingen, die am weite- 
sten rechts gelegene Linie des Sammelbildes einfach zu sehen. 
Es kommen hier meines Erachtens ganz die beim dritten Ver- 
suche angeführten Momente in Betracht. Bei Beschränkung 
der Abstandsdifferenz auf 1'/,—2Mm. gelingt das Einfachsehen 
der rechts gelegenen Linie mir vollkommen, trotz der Gegen- 
wart der anderen Senkrechten und bei der Abstandsdifferenz 
von 3Mm., die in Volkmann’s Objeete in der That ange- 
wandt ist, kann ich die beiderseitig rechts gelegenen Doppel- 
linien, auch wenn sie allein sind, nicht combiniren. Die grössere 
Auswahl der möglichen Augenstellungen und die Veränderung 
der Fixationspunkte bei plötzlichen Veränderungen im Bilde 
erklärt es leicht, dass das Einfachsehen gestört wird, wenn 
das Einfachsehen von vorn herein dadurch unsicher gemacht 
ist, dass die Bilder an die alleräussersten Grenzen der cor- 
respondirenden Empfindungskreise oder vielleicht schon etwas 
jenseits derselben fallen. 

Volkmann’s Versuch 6 ist im Wesentlichen eleiehkisdunb 


| tend mit seinen Versuchen 1 und 2. Dass die Punkte a und 
' b, von denen jener links, dieser rechts von einer durch Ein- 
‚ stellung der Augenachsen zur Deckung gebrachten Senkrechten 


liegen, nicht verschmelzen können, das verbietet die Macht der 
Conturen. Die Punkte ce und d, welche beide rechts an der 


ı Senkrechten oder unter etwas verschiedenen Breitegraden in 
‚ den concentrischen Kreisen liegen, verschmelzen in der That 


* 


194 P. L. Panum: 


im Sammelbilde zu einem einfachen Punkte, wenn die Ab- 
standsdifferenz, namentlich in senkrechter Richtung, nicht zu 
gross ist. Ich muss Volkmann’s Behauptung, „dass durch 
die Erregung identischer Netzhautpunkte das Verschmelzen von 
Bildern, welche auf differente Punkte fallen, verhindert wird“, 
entschieden in Abrede stellen, wenn es sich um mässige Ab- 
standsdifferenzen handelt,' und wenn man den von mir schon 
angeführten und von Volkmann bestätigten Umstand berück- 
siehtigt, dass die Durchmesser der correspondirenden Empfin- - 
dungskreise von oben nach unten merklich kleiner sind, als 
von rechts nach links. Es ist mir unbegreifich, wie Volk- 
mann dazu kommt, zu behaupten, „dass die den beiden Augen _ 
unter den gewöhnlichen Verhältnissen der stereoskopischen Ver- 
suche gebotenen Bilder nur differente Punkte erregen“ und 
„dass die Seele dann diesen Unterschied übersieht“, während 
sie: denselben, wenn nicht blos differente, sondern auch iden- 
tische Punkte erregt werden, des Gegensatzes wegen wahr- 
nimmt.“ Nur differente Punkte werden nur bei solchen 
stereoskopischen Bildern erregt, wie ich sie in meiner Schrift. 
Fig. 3 gezeichnet habe, bei gewöhnlichen stereoskopischen 
Bildern, ja schon in solchen, wie in meiner Fig. 10, werden 
doch immer sowohl „identische“ als auch „differente* Punkte 
erregt. | 
In Volkmann’s Versuch 7 werden zwei ungleich lange 
Doppellinien jederseits angebracht, deren Abstand linkerseits 
5‘ Mm., rechterseits 7,5 Mm. beträgt. : Sucht man diese unglei- 
chen Linien zu combiniren, so sieht man (in der Regel) kein 
einfaches Sammelbild, sondern meistens drei Linien, oder vor- 
übergehend vier. Dies erklärt sich meines Erachtens folgen- 
dermaassen: Die Macht der: den Enden der kurzen Linien an- 
liegenden. Grundfärbung bringt eine Continuitätsstörung und 
Unklarheit im Sammelbilde hervor. Diese Unklarheit im Sam- 
melbilde, welche von einer solchen Ungleichheit der Conturen 
und 'Färbungen der beiderseitigen Bilder herrührt, dass die Sy- 
nergie des Einfachsehens sie nicht zu heben vermag, macht: die 
Augenstellung, so unruhig, dass es dem Willen schwer oder 
unmöglich wird, vollkommen zu fixiren, und es muss schon in 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 195 


Folge dieser Unruhe der Augenstellung das Sammelbild leicht 
zerfallen. Dies geschieht besonders dann, wenn man denjeni- 
gen Theil des Sammelbildes betrachtet, wo nur einerseits Dop- 
pelbilder vorhanden sind, weil hier dem einen Auge ein jeder 
Anhaltspunkt für die richtige Einstellung fehlt. Von dem Ein- 
Ausse dieses Umstandes kann man sich dadurch überzeugen, 
dass es, wenigstens bei mässigen Abstandsdifferenzen und bei 
hinlänglieher Uebung im Fixiren, gelingt, die Einheit des Sam- 
melbildes, auch bei der genannten Anordnung; zu bewahren, 
wenn man beiderseits an entsprechenden Stellen der Gesichts- 
felder z. B. ein kleines Kreuz anbringt, das man unverändert 
fixirt. Dieser Versuch erfordert aber viel Uebung, schon weil 
es überall schwer ist, die Einstellung der Augen auf den Bild- 
theil, dem man die Aufmerksamkeit besonders zuwendet, zu 
verhindern, noch mehr aber hier, wo die Synergie des Alter- 
nirens, unabhängig vom Willen und von der Aufmerksamkeit, 
bald die eine, bald die andere Componente hervortreten lässt. 
Bei senkrechten Linien von grösserer Länge gelingt das Fixiren 
besser als bei kürzeren senkrechten oder schrägen Linien, 'weil 
erstere die Augenstellung stärker dominiren. Ausser dem 
Einflusse des Fixirens könnte bei diesem Versuche indess viel- 
leicht auch noch das durch die Ungleichheit der Componenten 
hervorgerufene Schwanken der Netzhautfunction an sich das 
Einfachsehen in ähnlicher, mehr directer Weise: beeinträchtigen, 
wie die Empfindung der binocularen Parallaxe durch Ungleich- 
heit der zur Deckung kommenden Conturen beeinträchtigt wird. 
Es ist somit doch keinesweges, wie Volkmann meint, „of- 
 fenbar“, dass die Einheit der Bilder hier nur. dadurch ge- 
stört wird, „dass hier die Hinzufügung neuer Unterschiede zu 
den schon vorhandenen die Aufmerksamkeit aus ihrem 
Schlafe rüttelt* (sie!). 

In Volkmann’s Versuch 8 sind im linken Bilde zwei 
gleiche senkrechte Reihen von Punkten verzeichnet, im rechten 
Bilde ist eine eben solche Reihe vorhanden, in der zweiten 
Reihe stehen aber die Punkte nicht senkrecht unter einander, 
sondern sind den Punkten der ersten Reihe theils mehr, theils 
weniger genähert. Volkmann konnte.die beiderseitigen Punkte 


196 NP WL; Panum: 


der zweiten Reihe des linken und des rechten Bildes nicht 
gleichzeitig zur Deckung bringen, sondern sieht in der Richtung 
mehrerer Horizontalen deutlich drei Punkte, die sich sofort in 
zwei zusammenzogen, wenn er sie scharf fixirte. Erfolgte diese 
Verschmelzung, welche für Volkmann mit einem Gefühle von 
Anstrengung verbunden war, so wurden die Doppelbilder der 
benachbarten Horizontalen um so auffälliger. Volkmann fin- 
det, dass dieser Versuch die Augen in hohem Grade ermüdet 


und fast schmerzhaft ist, wohingegen die Vereinigung zweier 


ungleich distanter Doppelpunkte gar nicht anstrengend ist und 
sogar ohne Mitwirkung des Willens erfolgt. Bei diesem  Ver- 
suche muss ich zunächst bemerken, dass ich sämmtliche Punkte 
der zweiten Reihe im Sammelbilde einfach, ohne Doppelbilder 
sehe, wenn die seitlichen Abstandsdifferenzen mässig sind, d.h. 
für mich, wenn sie nicht über 2 Mm. hinausgehen; ich finde 
den Versuch auch nicht ermüdend, indem er eigentlich ganz 
gleich ist dem Dove’schen Versuch zur Erkennung falscher 
Banknoten. Es ist aber allerdings gewiss, dass es bei einer 
Vielheit solcher einander gleicher Punkte schwieriger ist, ohne 
Hülfe dominirender Linien die rechte Augenstellung zu 
finden, als wenn nur zwei oder je zwei Punkte combinirt wer- 
den, weil die Schwierigkeit richtig zu fixiren im ersteren 
Falle grösser ist; hierin liegt meines Erachtens die ganze 
Schwierigkeit, und nicht in den von Volkmann als „offen- 
bar“ hingestellten psychischen Verhältnissen. Volkmann 
meint nämlich, „dass die Seele hier gar keinen Anlass hat, die 
von differenten Netzhautpunkten ausgehenden Impressionen zu 
verschmelzen, indem die Verschmelzung ihrem Drange, in dem 
Gesehenen schon Bekanntes wiederzufinden, nicht Genüge lei- 
sten würde.“ Es ist doch schwer einzusehen, wie diesem 
„Drange der Seele“ dann mehr oder weniger Genüge ge- 
schieht, wenn je zwei ungleich weit von einander entfernte 
Punkte oder Linien zu einem Sammelbilde combinirt werden, 


in welchem der eine Punkt oder die eine Linie schräg vor dem 


oder der anderen erscheint, als wenn, wie hier, mehrere 
Punkte bezüglich der dritten Dimension verschieden geordnet 
erscheinen. Dass ferner „die in drei senkrechten Reihen dis- 


u 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 197 


ponirten Punkte die Seele veranlassen, alle Punkte in solcher 
Richtung zu suchen, wodurch sie auf das Abweichen der vier- 
ten Punktreihe von der Senkrechten mit Nachdruck hingewie- 
sen wird,“ muss ich in Abrede stellen, da ich bei mässigen 
seitliehen Abstandsdifferenzen, ja selbst bei dem ziemlich an- 
sehnlichen in Volkmann’s Objecte, die Punkte rechts ein- 
fach, aber nicht in senkrechter Reihe geordnet, sehe. Ich 
glaube, dass dies auch Volkmann gelingen wird, wenn er 
zwei zusammengehörige Punkte z. B. durch ein kleines Kreuz 
markirt, oder sonst eine geeignete Fixationsmarke in den bei- 
derseitigen Bildern anbringt. 

In Volkmann’s ziemlich complieirtem neunten Versuch 
werden jederseits zwei Nadeln in etwas verschiedener Entfer- 
nung von einander in der Weise mit drei entfernteren Li- 
nien zur Deckung gebracht, dass die eine der letzteren durch 
zwei combinirte Nadelbilder, ein linkes und ein rechtes, gedeckt 
wird, während die beiden anderen Linien je durch eine der an- 
deren im Sammelbilde ebenfalls eombinirten Nadeln bedeckt 
wird. Man soll dann zwei Nadeln aber drei Linien im Sam- 
melbilde sehen. Da Volkmann auf eine specielle Er- 
klärung dieser merkwürdigen Erscheinung verzichtet und 
sich begnügt „anzudeuten*, dass auch hier die Verschie- 
denheit der Erscheinung unter psychischen Einflüssen zu Stande 
kommt, so darf ich hier wohl von diesem Versuche absehen, 
den zu constatiren ich mich vergebens bemüht habe, und er- 
laube mir nur zu fragen, ob nicht die ungleiche Accom- 
modation für die nahen Nadein und die fernen Linien die Er- 
seheinung Volkmann’s bedingt haben könnte? ob nicht fer- 
ner das Fixiren unter diesen Verhältnissen sehr erschwert wird? 
und ob nicht die einander deckenden, aber doch ungleichen 
Conturen der Nadeln und der Linien vielleicht an der Störung 


des einfachen Bildes Antheil gehabt haben könnten? 


Volkmann’s Versuch 10 zeigt, dass zwei beiderseitig senk- 


rechte Linien, deren Abstandsdifferenz 2,5 Mm. beträgt, nicht 
| beide einfach gesehen werden können, wenn man, vom Mittel- 
| punkte der beiden links gelegenen Senkrechten aus, beiderseits 


eoncentrische Kreise zieht, so dass die beiderseits rechts gele- 


198 P, L, Panum: 1. 72 


gene Linie in nicht entsprechenden Punkten von den Kreisen 


geschnitten werden, und dies erscheint Volkmann merkwür- 


dig, weil dieselben Doppellinien ohne Gegenwart der concen- 
trischen Kreise einfach gesehen werden können. Hierbei ist 
in Betracht zu ziehen, dass die Abstände der durch die Kreu- 
zung und überdies durch starke Punkte als zusammengehörig 
bezeichneten Stellen in der rechts und links gelegenen Senk- 
rechten das Maass der Empfindungskreise überschreite. Wäh- 


rend der Abstand der Senkrechten von einander im Verhält- - 


niss der Sinus wächst, wächst nämlich der Abstand der mar- 
kirten Punkte im Verhältniss der Bögen.‘ Es wird den Augen 
durch diese Figur zugemuthet, nicht die wirklich zusammenge- 
hörigen Punkte der beiderseitigen Senkrechten zur, Deckung zu 
bringen, was, obgleich nur schwierig, noch gelingen ‚könnte, 
sondern es wird verlangt, ganz verschiedenartige, durch die 
Kreuzung und die Punkte fälschlicher Weise als zusam- 
mengehörig bezeichnete Punkte der beiden Senkrechten 
zu combiniren, was bei der Abstandsdifferenz unmöglich ist, 
Bei der grossen Verschiedenheit der beiderseitigen Bilder und 
bei der Unmöglichkeit, sie durch irgend eine Einstellung der 
Augen sämmtlich innerhalb correspondirender Empfindungs- 
kreise zu bringen, werden solche Bildtheile fixirt, welche bei- 
derseits identisch sind und die beiden nicht mit einander über- 


einstimmenden Linien werden durch die Macht der Conturen 


mosaikartig in das Sammelbild eingetragen. Dass in diesem 
Versuche ein Doppelbild der rechts gelegenen Senkrechten nur 
dadurch entsteht, dass das Maass der correspondirenden Em- 
pfindungskreise überschritten ist, geht daraus hervor, dass Je- 
dermann dasselbe Bild vollkommen einfach sieht, wenn 
man die horizontale Abstandsdifferenz der beiden Senkrechten 
geringer macht, etwa 1—1!/,—2 Mm. — Es ist mir ganz un- 


verständlich, wenn Volkmann bezüglich dieses Versuches 


sagt, dass bei stereoskopischer Betrachtung der rechts gelegenen | 
Senkrechten dieselben Punkte verschmelzen, welche im Sy- 


stem der concentrischen Kreise, als bezüglich der Polarkreise 
identisch gelegen, bezüglich der Meridiane aber als different, 


eine Duplieität der Raumanschauung erfordern und als unver- 


wu 


Der 


Ueber die einheitliche Verschmelzung, verschiedenartiger u. s. w. 199 


einbar auseinander gehalten werden. Bei der Combination 
zweier einfachen Senkrechten werden nämlich doch nicht solche 
Punkte combinirt, welche in verschiedener, sondern welche in 
gleicher Höhe liegen. Es ist mir daher auch Volkmann’s 
Schlussfolgerung hieraus unverständlich, dass deshalb „jenes 
Verschmelzen nur auf Rechnung der Seele kommen kann, 
welche Reize, die ihr in Folge der Nervenleitung als verschie- 
den zufliessen, zu identischen Raumanschauungen ausprägt.“ 
In seinem elften Versuche notirt Volkmann auf einer 
durchgehenden feinen Horizontalen links zwei Punkte a b, 
4Mm. von einander entfernt, und rechts zwei andere, cd, 
4,75 Mm. von einander entfernt. Unter dem Stereoskope decken 
sich diese Punkte so, dass sie als zwei erscheinen. Darauf 
zieht er durch sämmtliche Punkte kleine schräge Linien. Die 
beiden durch a und e gezogenen Linien weichen nach entge- 
gengesetzten Seiten etwa um 2°, die durch b und d gezogenen 
aber ungefähr um 45° von einer imaginären Senkrechten ab. 
Im Sammelbilde sieht Volkmann nun die durch a und e ge- 
zogene Linie einfach, die durch b und d gezogenen kreuzen sich 
aber oberhalb der Horizontalen.. Dies Bild kann man bei ge- 
wisser Augenstellung sehen, dann nämlich, wenn man die 
Augen so rotirt, dass die schrägen Linien a und c nahezu auf 
die Mittelpunkte der. betreffenden :correspondirenden Netz- 


 hautstellen fällen, Alsdann bildet auch, was Volkmann über- 


sehen zu haben scheint, die Horizontale des rechten Feldes 
einen stumpfen Winkel mit der des linken Feldes. Wenn man 
aber im Fixiren geübt ist, oder demselben durch Fixationszei- 
chen zu Hülfe kommt, so kann man noch manche andere Sam- 
melbilder erhalten, z. B. man kann den früheren Fixations- 
punkt in der Horizontalen festhalten und sieht dann zwei 


, Kreuze, etwa wie in Volkmann’s idealem Sammelbilde s', 


oder man kann die oberen Enden der schrägen Linien a und 
 e, oder der Linien b und d, oder die unteren Enden der einen 
oder der anderen fixiren und in jedem dieser Fälle bekommt 


| 
\ 
{ 
| 


| 


ı man ein ganz anderes Sammelbild, jedesmal bestimmt durch 


die mosaikartige Eintragung der verschiedenen Conturen in das 
Sammelbild, kraft der Macht der Conturen. Nur durch 


200 P. L. Panum: 


ihre Vermittelung vermag die Seele bei der Volkmann’schen 
 Combination die differenten Netzhautpunkte b und d zu unter- 
scheiden, nicht „weil sie von x aus eine nachdrückliche Mah- 
nung erhält, es mit dem Betrachten genauer zu machen, als in 
dem Falle, wo sie (NB. bei anderer Augenstellung. P.) beide 
Punkte identificirte.* Es ist aber ein gänzliches Missverständ- 
niss, wenn Volkmann meint, dass meine correspondirenden 
Empfindungskreise hier nahezu auf 0 d. h. auf 0,75 Mm. redu- 
eirt seien, denn meine correspondirenden Empfindungskreise 
kommen nur für solche Conturen in Betracht, die einander so 
ähnlich sind, dass sie innerhalb der durch die correspondiren- 
den Empfindungskreise gesetzten Grenzen zur binocularen 
Deckung gebracht werden können; für ganz heterogene Con- 
turen kommen sie gar nicht in Betracht, sondern für sie kommt 
die Macht der Conturen zur Geltung. 

Volkmann hat somit in seinen 11 ersten Versuchen Nichts 
vorgebracht, das irgend einen Beweis dafür enthielte, dass die- 
jenige Function, die ich als binoculare Synergie des Einfach- 
sehens auf die unmittelbare Sinnesempfindung zurück- 
geführt habe, von psychischen Ursachen, vom Spiele der Auf- 
merksamkeit und der Phantasie abhängen sollte. Diejenigen 
Veränderungen und Complicationen der Bilder, die nach Volk- 
mann’s Meinung beziehungsweise zum Organismus zufällig 
und rein psychische Factoren sein sollten, sind, wie ich 
glaube im Vorstehenden nachgewiesen zu haben, Factoren, 
welche unabhängig von der psychischen Thätigkeit sehr direct 
in einer von Volkmann übersehenen Weise in die unmit- 
telbare Sinneserregung eingreifen und als sinnliche Mo- 
mente in gesetzmässiger Weise für die Wahrnehmung des 
Sammelbildes bestimmend sind. Die von mir gegen die psy- 
chische Erklärung des Einfachsehens bei Erregung differenter 
Netzhautpunkte und für die Erklärung desselben durch unmit- 
telbare Sinnlichkeit, bei den reinen und einfachen Versuchen 
geltend gemachten Gründe sind aber durch Volkmann’s Ver- 
suche gar nicht berührt worden, und ich muss sie nach wie 
vor festhalten. 

Aus den von Volkmann als Versuch 12—26 aufgeführten 


"Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u.s. w. 201 


Experimenten scheint es mir ganz unmöglich zu sein, auch 
nur irgend den Schein eines Argumentes für die von ihm be- 
liebten psychischen Erklärungen abzuleiten. Sie zeigen nach 
Volkmann selbst, „dass die Neigung differenter Netzhaut- 
punkte, statt räumlich getrennter Erscheinungen einfache Bilder 
hervorzurufen, von ihrer gegenseitigen Lage abhängt, 
sie enthalten mit anderen Worten nur eine 
nähere Präcisirung der von mir aufgestell- 
tenempirischen correspondirenden Empfin- 
dungskreise! Wie diese Versuche dafür sprechen soll- 
ten, dass das Einfachsehen unter diesen Verhältnissen von 
psychischen Thätigkeiten, dem Einflusse der Aufmerksamkeit 
und Phantasie anstatt von der unmittelbaren Sinnesempfindung 
abhängen sollte, ist wirklich schwer abzusehen. Es werden 
der freien Aufmerksamkeit und Phantasie hierdurch doch allzu 
eigenthümliche, an die Localitäten der: Netzhaut gebundene 
Gesetze vorgeschrieben! Mir scheint im Gegentheil der Um- 
stand, dass das Einfachsehen in so gesetzmässiger Weise von 
der gegenseitigen Lage der beiderseits erregten differenten 
Netzhautpunkte abhängt, ein recht wichtiges Argument 
für meine Auffassung darzubieten, der zufolge die- 
ses Einfachsehen eine specifische binoculäre Sin- 
nesenergie ist. 

Eben so wenig beweisend sind nun ferner diejenigen Ver- - 
suche Volkmann’s, welche darthun sollen, dass es ein psy- 
chisches Moment, ein Spiel der Aufmerksamkeit ist, wodurch 
die Doppelbilder unterdrückt werden. Diese von Volkmann 
als Versuch 27 und 23 angeführten Experimente habe ich näm- 
lich sehr oft, sowohl vor als nach dem Lesen seiner Abhand- 
lung angestellt, ich sehe dabei aber die für Volkmann un- 
sichtbaren Doppelbilder in der That! Wenn ich, wie Volk- 
mann in seinem Versuche 27 angegeben, eine Stelle der Tapete 
fixire und die daneben liegenden Stellen derselben mit je einem 
Doppelbilde des nicht fixirten Fingers bedecke, so sehe ich im- 
mer abwechselnd das rechte oder linke Doppelbild des Fin- 
gers und die dahinter liegende Partie der Tapete. Es ist mir 


durchaus unmöglich bei längerer Betrachtung das ganze 
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiy. 1861, 14 


202 P. L. Panum: 


Tapetenbild stetig festzuhalten; trotz der auf die Tapete con- 
centrirten Aufmerksamkeit macht sich bald der rechte, bald der 
linke Finger in ganz unwillkürlichem Wechsel bemerkbar, 
und macht die betreffende Stelle der Tapete unsichtbar, nach- 
dem sie vorher undeutlich geworden ist. Ebenso erkenne ich 
beide Doppelbilder des hellen Punktes, welche in Versuch 28 
ungleich weit seitlich vom fixirten Finger liegen; sie sind bei 
gleichmässigem Hintergrunde beide bleibend sichtbar, natürlich 
vorausgesetzt, dass nicht das eine Doppelbild auf die Eintritts- - 
stelle des N. opticus fällt, was bei der von Volkmann an- 
gegebenen Weise den Versuch anzustellen allerdings wohl ge- 
schehen kann. Ist der Hintergrund conturirt, so dass die bei- 
den Doppelbilder des hellen Punktes im gemeinschaftlichen 
Gesichtsfelde durch einander kreuzende oder berührende Oon- 
turen erheblich gestört werden, so treten beide mit diesen 
abwechselnd hervor. Alsdann ist es aber offenbar die bi- 
noculare Synergie des Alternirens, welche die bleibende Wahr- 
nehmung der Doppelbilder stört. Dass übrigens der Mangel 
an Aufmerksamkeit beim gewöhnlichen Sehen den Hauptgrund 
enthält, warum die Doppelbilder von der grossen Mehr- 
zahl der Menschen so wenig beachtet werden, das habe ich 
vollkommen eingeräumt und ausdrücklich bemerkt, zugleich 
habe ich aber gemeint, dass dieses Moment bei einem phy- 
siologischen Beobachter, der gerade die Doppel- 
bilder studirt, nicht in Betracht kommen dürfte. Wenn 
man sagt, dass Menschen, welche nur praktisch sehen, ohne 
das Sehen zu studiren, den Doppelbildern als „werthlosen Phä- 
nomenen* ihre Aufmerksamkeit entziehen, so hat das einen ver- 
nünftigen Sinn, obgleich dieser Umstand auch für den blossen 
Praktikter im Sehen nicht allein die Doppelbilder unsichtbar 
macht, indem ausser den Accommodationsverhältnissen auch 
das von mir hervorgehobene Moment des Alternirens jedenfalls 
einen sehr wesentlichen Antheil an dem Verlöschen und Un- 
sichtbarwerden der Doppelbilder haben muss und wirklich hat. 
Wenn man aber sagt (a. a. O. S. 65), dass auch „die Seele“ 
eines physiologischen Beobachters, der über die 
Doppelbilder specielle Studien macht, „die Doppel- 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 203 


bilder mit deprimirender Nichtachtung behandelt“ 
(sicl), so gestehe ich, dass eine solche Naturforscherseele mir 
ein vollkommen unbegreifliches Ding ist. Wenn Volkmann 
also auf seinem Beobachtungsresultate besteht, so muss ich ja 
allerdings einräumen, dass unsere psychische Organisation eine 
merkwürdige Verschiedenheit darbietet, indem Volkmann wirk- 
lich für Alles blind zu sein scheint, worauf er nicht seine Auf- 
merksamkeit speciell gerichtet hat, während es scheint, dass ich 
mehrere gleichzeitige Eindrücke besser percipiren kann, als 
Volkmann. 

Eine solche allerdings höchst merkwürdige individuelle Ei- 
genthümlichkeit der Volkmann’schen Psyche berechtigt aber 
jedenfalls nicht dazu, diejenigen Fälle, wo Niemand, weder 
Volkmann noch ich, noch irgend ein Beobachter, bei geeig- 
neter Augenstellung im Stande ist, irgend eine Spur eines Dop- 
pelbildes wahrzunehmen, z.B. bei geeigneter Betrachtung obiger 
Fig. 31 (S. 11) in eine Reihe mit denjenigen zu stellen, wo 
unzweifelhaft Doppelbilder vorhanden sind. Denn in jenen 
Fällen sind die Doppelbilder unsichtbar, obgleich ich ihnen 
meine volle Aufmerksamkeit zuwende, und obgleich der Grund 
gleichmässig gefärbt ist, so dass die Synergie des Alternirens 
die Wahrnehmung derselben nicht stört; in ihnen erfolgt daher 
das Einfachsehen nicht aus Mangel an Aufmerksamkeit, son- 
dern trotz der Aufmerksamkeit! Deshalb schien es mir nöthig 
zu sein, jene Art des Einfachsehens, wo die Doppelbilder 
Allen unsichtbar sind, als etwas ganz Besonderes hinzustel- 
len, für dieselben den Begriff der correspondirenden Empfin- 
dungskreise aufzustellen und sie als binoculare Synergie des 
Einfachsehens, als eine specifische unmittelbare Empfindungs- 
weise zu bezeichnen. 

Diese Unterscheidung derjenigen Fälle, wo Doppelbilder 
effeetiv vorhanden sind, welche nur zeitweilig, unter geeig- 
neten Verhältnissen und durch nachweisbare Bedingungen (Man- 
gel an Aufmerksamkeit, Synergie des Alternirens, Aceommo- 
dation) unterdrückt werden können, von denjenigen, wo Nie- 
mand die Doppelbilder erkennen kann, obgleich er mit vollster 
Aufmerksamkeit nach ihnen späht, und obgleich sie hier nach- 

14* 


204 P. L. Parum: 

k 
weisbarermassen weder durch die Synergie des Alternirens, 
noch durch Aceommodationsverhältnisse unterdrückt werden 
können, muss man meines Erachtens entschieden festhalten. 
Es sind dies zwei ganz verschiedenen Ordnungen angehörige 
Erscheinungen, wie ich es im zweiten Capitel meiner Schrift 
eingehend erörtert habe.) 


1) Auch Herrn Bergmann gegenüber muss ich diese Unterschei- 
dung des Verlöschens und zeitweiligen Verschwindens effectiv vorhan- 
dener Doppelbilder, und des vollständigen Fehlens des einen, der ur- 
sprünglichen Aufstellung der identischen Punkte zufolge erwarteten 
Doppelbildes z. B. im Sammelbilde der beiderseitigen Doppellinien mit 
geringen Abstandsdifferenzen festhalten. Herr Bergmann sagt (a. 
a.0.): „Da es äusserst leicht ist Doppelbilder wahrzunehmen, welche 
weit diesseits oder jenseits des Horopters liegen, sofern dieselben sich 
nur ungefähr in der Richtung des fixirten Punktes befinden, da man 
ferner durch Uebung es dahin bringt, Doppelbilder auch dann wahr- 
zunehmen, wenn die Punkte nicht fern vom Horopter oder auch etwas 
seitwärts liegen, so darf man sie consequenter Weise für alle 
ausser dem Horopterkreise liegende Punkte als vorhanden annehmen, 
wenn auch ihre Abweichungen so schwach sein können, dass man 
sie nicht als Doppelbilder erkennt (sic!). Wollte man nun 
von hier aus das Erkennen der Tiefe bei ruhenden Augen erläu- 
tern, so dürfte man sich allerdings nicht auf das Sehen oder Wahr- 
nehmen der Doppelbilder, auf ihr Erkennen als solche berufen, 
da man sich derselben bei der gewöhnlichen Praxis des Sehens über- 
haupt nicht bewusst wird und in manchen Fällen selbst durch Uebung 
sie nicht sicher erkennen kann. Aber es schien mir consequent sie 
überall anzunehmen und es war ganz natürlich, wenn man sich vor- 
stellte, dass ihr Vorhandensein dem Bilde einen eigenthümlichen Cha- 
rakter verleihe, welcher es von dem durch ein Auge gelieferten Bilde 
unterscheide und das Zusammenwirken beider Augen zu dem bedeu- 
tenden Hülfsmittel des Erkennens der dritten Dimension machen, wel- 
ches es offenbar ist. Diese einfache und durchgreifende Erklärung, zu 
welcher die Wirkung der Muskeln dann nur als ein allerdings sehr 
gewichtiges Complement hinzutritt, hat Referent seit dem Erscheinen 
der Wheatstone’schen Beobachtungen immer für richtig gehalten“ 
u.s. w. Insofern aber die Doppelbilder als solche nicht wahrnehm- 
bar sind, muss man, wie mir scheint, doch consequenter Weise 
zugeben, dass sie als solche für den Beobachter und für die sinn- 
liche Empfindung gar nicht vorhanden sind! Die von Berg- 
mann aufgestellte Consequenz enthält also den directen und sehr 
inconseguenten Widerspruch, dass die Doppelbilder als solche vor- 


0 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 205 


Volkmann will nun allerdings auch speciell nachweisen, 
dass es einen psychischen Grund habe, dass wir bei geringen 
Abstandsdifferenzen, innerhalb der Grenzen der correspondi- 
renden Empfindungskreise einfach sehen. Das folgert Volk- 
mann aus seinen Versuchen 29—31 und Versuch 52, welche 
zunächst zeigen sollen: 1) dass dieim Sammelbilde wahr- 
genommene Abstandsdifferenz nahezu gleich wird 
der halben Summe der beiderseitigen Abstände und 
2) dass nur diejenigen Theile eines Bildes Lagen- 


handen seien, und als solche doch nicht vorhanden sein sollen! 
Herr Bergmann würde vielleicht seine eigentliche Meinung besser 
ausgedrückt haben, wenn er gesagt hätte, dass diejenige eigen- 
thümliche Sinneserregung, welche bei den Doppelbildern be- 
züglich der dritten Dimension des Raumes oft wahrgenommen wird, 
auch dann oft noch vorbanden ist, wenn die Doppelbilder als solche 
nicht mehr wahrnehmbar oder vorhanden sind. Wenn man aber dies 
unbedingt zugeben muss, so stellt sich ja die Erscheinung der Dop- 
pelbilder als solcher als etwas für die Tiefenempfindung ganz 
Unwesentliches heraus, da diese gerade dann in der allerausgezeichnetsten 
Weise empfunden wird, wenn die Doppelbilder nicht wahrnehmbar 
sind! Gerade bei den geringen, den correspondirenden Empfindungs- 
kreisen entsprechenden Abstandsdifferenzen, bei: welchen die Doppel- 
bilder nicht „zum Theil“, „beinahe“ oder „zeitweilig“, sondern im- 
mer und ganz vollständig — fehlen, ist die Empfindung der dritten 
Dimension so ausserordentlich bestimmt markirt, wie niemals bei Ge- 
genwart effectiver Doppelbilder, und wie z. B. aus Dove’s bekann- 
tem Versuche zur Erkennung falscher Banknoten hervorgeht, so aus- 
serordentlich fein, dass man oft erst durch sie auf sehr geringe Unter- 
schiede der seitlichen Abstandsdifferenzen in den beiderseitigen Bildern 
aufmerksam wird. Es erscheinen mithin diesen Thatsachen gegenüber 
die als solche wahrnehmbaren Doppelbilder als eine unwesentliche 
Zugabe, welche die reine Empfindung der binoeularen Parallaxe eher 
stört als befördert. Dass sie wirklich nur eine solche, unter Umstän- 
den unvermeidliche Zugabe sind, geht auch noch aus den Versuchen 
hervor, bei welchen diese Tiefenempfindung unter solchen Verhält- 
nissen zum Vorschein kommt, bei welchen die Doppelbilder gar nicht 
vorhanden sein können, z. B. wenn eine einzige Linie des linken 
Bildes mit einer von zwei parallelen entsprechenden Linien des rech- 
ten Bildes, oder ein einfacher Kreis mit einem Doppelkreise combinirt 
wird, welcher Versuch Herrn Bergmann nach meinen obigen Be- 
merkungen na hträglich hoffentlich vollständig gelingen wird, 


206 P.L. Panum: 


veränderungen im Sehfelde erfahren, für welche im 
anderen Auge Punkte und Linien geboten sind, mit 
welchen sie verschmelzen können. Wie dies aber auf 
eine psychische Erklärung hinweisen soll, indem die Seele 
die scheinbare Mittelgrösse berechne und in das Sammelbild 
hineinzeichnen sollte, das ist mir ganz unbegreiflich. Mir scheint 
dieses Factum sich vielmehr als ein Act rein und unmittelbar 
sinnlicher Empfindung zu manifestiren, analog der binocularen 
Synergie der Farbenmischung der ungleich gefärbten, verschie- 
den weit von einander entfernten Doppellinien. — Wenn Volk- 
mann mit Beziehung auf diese Versuche behauptet, dass. die 
Seele, nachdem sie gründlich gelernt habe die Doppelbilder zu 
ignoriren, auch lerne, dieselben zu einem einfachen Bilde zu 
verschmelzen, so lässt sich diese Behauptung schon vom psy- 
chologischen Standpunkte aus widerlegen, wenn es feststeht, 
dass die geistige Thätigkeit beim Erlernen immer von bestimm- 
ten, zunächst in der Organisation der Sinnesorgane begrün- 
deten sinnlichen Wahrnehmungen ausgeht. Die verschiedenen 
unmittelbaren sinnlichen Eindrücke kann die Seele nämlich 
wohl auf verschiedene Weise verwerthen, je nach dem Grade 
der Aufmerksamkeit, der ihnen zugewandt wird, treten sie leb- 
hafter für das Bewusstsein hervor, oder sie treten anderen Ein- 
drücken gegenüber so ganz in den Hintergrund, dass sie gar 
nicht zum Bewusstsein gelangen.!) Es kann dieses Ignoriren 
für bestimmte Eindrücke auch zur Gewohnheit, und gewisser- 
massen zur anderen Natur. werden,?) Der unmittelbare sinn- 


1) Bezeichnend hierfür ist folgende kleine Geschichte, die mir von 
einem vollkommen zuverlässigen Augenzeugen berichtet worden ist: 
Ein sehr leidenschaftlicher Kegelspieler war über das Spiel in einen 
heftigen Streit gerathen, als er gerade werfen sollte. Ein Spassvogel 
legte ihm einen zusammengerollten Igel an die Stelle der Kugel hin; 
er ergriff das Thier zu wiederholten Malen, liess es aber immer wie- 
der fallen und seine Handbewegungen zeigten deutlich, dass er die 
Stiche der Stacheln empfand. In seiner Aufregung verwerthete 
er aber diese „nachdrücklichen Mahnungen“ gar nicht, bis das Ge- 
lächter der Umstehenden ihn zur Besinnung und zur Erkenntniss der 
empfundenen aber nicht beachteten Stiche brachte. 

2) Bezeichnend hierfür ist die Gewöhnung eines Gelehrten an den 
Lärm eines Handwerks oder einer Fabrik. 


mt nn mn m m nn = 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 207 


liche Eindruck ist aber trotz dieses Ignorirens immer nicht nur 
vorhanden, sondern er wird auch von der Seele wahrgenom- 
men, sobald sie ihn wahrnehmen will, d. h. sobald sie ihm 
die Aufmerksemkeit zuwendet, und es werden alsdann die Ein- 
drücke unwandelbar in der von der unmittelbaren Sinn- 
lichkeit dictirten, ursprünglichen Weise pereipirt. 
Dies geschieht selbst dann, wenn die Seele sich vollkommen 
bewusst ist, dass das Gesehene der Wirklichkeit nicht ent- 
spricht und auf Täuschung beruht, z. B. bei stereoskopischer 
Betrachtung der Halske’schen Objecte oder meiner Fig. 57. 
Nach Volkmann sollte dahingegen die Seele sich selbst durch 
consequentes Ignoriren gewisser Eindrücke zuerst bleibend 
und absolut unfähig machen, diese Eindrücke beim besten 
Willen, trotz angestrengter Aufmerksamkeit und trotz aller 
Uebung zu pereipiren, und darauf sollte sie noch die unmittel- 
bare Empfindung in anderer Form wieder in’s Leben 
rufen können. Das Eine wie das Andere ist aber meines Er- 
achtens eine psychologische Unwöglichkeit. Die von Volk- 
mann angeführten Urtheilstäuschungen bezüglich der schein- 
baren Grössen haben auch, insofern wir uns von ihnen nicht 
freimachen können, ganz gewiss immer bestimmte, unmittel- 
bar sinnliche Grundlagen, von welchen die Täuschungen 
des Urtheils ausgehen, wie ich das in meiner Abhandlung: 
Ueber die scheinbare Grösse der gesehenen 
Objecte im Archiv für Ophthalmologie von Arlt, Don- 
ders und Gräfe Bd. IV. 1. Heft. S. 1—36 für verschiedene 
hierher gehörige Fälle nachgewiesen habe. 

Die Erscheinungen, welche Volkmann in seinen sieben 
letzten Versuchen, Versuch 33—39 bespricht, werden von ihm 
selbst als paradox bezeichnet. Er meint freilich, es sei un- 
streitig, dass es auch hier psychische Vorgänge seien, welche 
durch ihr Hinzutreten zu den rein sinnlichen Bedingungen die 
letzten Erfolge umgestalten, er findet aber, dass die Art und 
Weise, wie dies hier geschehe, minder klar sei. 

In seinem Versuche 33 wirft Volkmann zunächst die Frage 
auf, wie es zugehe, dass die zwei einander zugewandten Bögen, 
die er in seiner Fig, 19 verzeichnet hat, zu einer Linse, ohne 


208 P. L. Panum; 


Tiefenempfindung; verschmelzen, wenn man ihre Endpunkte 
fixirt, während man eine einfache, nach vorn gebogene. Linie 
wahrnimmt, wenn man die Mitte fixirt? Ich kann diese Beob-. 
achtung aber nicht constatiren, denn wenn ich. die Mitte der 
Bögen fixire, so sehe ich ganz deutlich die Doppelbilder der 
Enden in einem )(förmigen Sammelbilde; wenn: ich: aber die 
Endpunkte der Bögen fixire, so sehe ich, wie Volkmann, die 
linsenförmige Figur, indem die Mitte der Bögen doppelt ge- 
sehen wird. Meine Beobachtung entspricht ganz dem Um- 
stande, dass die Abstandsdifferenz zwischen der Mitte und den 
Enden dieser beiderseitigen Bögen volle 6 Mm. beträgt, also 
die mittleren horizontalen Durchmesser der empirisch gefunde- 
nen correspondirenden Empfindungskreise nach meinen und 
Volkmann’s eigenen Bestimmungen etwa um das Dreifache 
übertreffen! Auch alle anderen Personen, denen ich Volk- 
mann’s Object gezeigt habe, sehen deutlich die Doppelbilder 
der Enden der Bögen, wenn sie die Mitte fixirten. Es fragt 
sich bezüglich dieser „paradoxen“ Erscheinung also zunächst 
nur, wie es zugegangen sei, dass Volkmann die Doppelbilder 
der Bogenenden, die doch unzweifelhaft vorhanden waren, über- 
sehen konnte, während er die Doppelbilder der Mitte der Bö- 
gen bei veränderter Augenstellung nicht übersah? Hier muss 
auch ich allerdings eine psychische Erklärung annehmen. 
Wenn man nämlich die Mitte der Bögen fixirt, so verschmel- 
zenihre Mitten soweit, als die Durchmesser der cor- 
respondirenden Empfindungskreise es erlauben, zu 
einem einfachen Bilde. Dieses einfache Bild der combinir- 
ten Mitten stellt aber einen nach, vorn gekrümmten Bogen 
dar. Diese Erscheinung entspricht ganz und gar der von mir 
aufgestellten allgemeinen Regel, dass das Sammelbild bei der 
Combination solcher 'beiderseitigen Bildpunkte, deren Abstand 
von einander geringer ist, weiter nach vorn, und dahingegen 
bei, gleichzeitiger Combination zweier solcher beiderseitigen 
Bildpunkte, deren Abstand grösser ist, weiter nach hinten zu 
liegen scheint, kurz es entspricht die Erscheinung: vollkommen 
meiner Aufstellung der binocularen Parallaxe. Diese Empfin- 
dung hat nun, vermuthe ich, Volkmann frappirt, indem es 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 209 


ja auch wirklich auffallend ist, dass die Seele genöthigt ist, 
das Sammelbild in dieser Gestalt hinzunehmen, obgleich sie die 
Einzelbilder kennt, und obgleich sie also weiss, dass das Sam- 
melbild den Objeeten nicht entspricht. Ueber diese Wahrneh- 
mung der Tiefe hat Volkmann dann vermuthlich die Dop- 
pelbilder der Enden übersehen, und indem er die Aufmerksam- 
keit seiner Zuhörer auf die Tiefenerscheinungen hingelenkt hat, 
ist es ihnen wohl ebenso ergangen. Beim Fixiren der Enden 
der Bögen wächst der gegenseitige Abstand in einem sehr 
starken Verhältnisse und es kann keine Tiefenempfindung zur 
Beobachtung kommen, sondern es macht sich die mosaikartige 
Eintragung allein, ohne Complication geltend und wird dann 
von einem Jeden bemerkt. — Wenn man aber die Bögen so 
flach macht, dass die Abstandsdifferenz ihrer Mitten und ihrer 
Enden das Maass der individuellen correspondirenden Empfin- 
dungskreise nicht übertrifft, so verschmilzt die ganze Linie zu 
einem ganz einfachen, nach vorn gekrümmten Bogen, einer- 
lei ob man die Enden oder die Mitten der Bögen 
fixirt! Vo#kmann findet es ferner „paradox“, dass verschie- 
dene Personen, die er zur Wiederholung des Versuches auf- 
forderte, das Linsenbild erst fanden, als er sie auf die Art 
und Weise, wie man es willkürlich hervorrufen kann, aufmerk- 
sam gemacht hatte, bei unbefangener Beobachtung aber immer 
den nach vorn gekrümmten Bogen sehen. Dies erklärt sich 
aber nach dem, was ich über die Einstellung der Augen beim 
binoeularen Sehen entwickelt habe, wie mir scheint, sehr leicht. 
Einmal beträgt nämlich die Entfernung der Mitte des rechten 
Bogens von der des linken 60 Mm., die der Bogenenden nur 
94 Mm. Ersteres Maass aber entspricht näher der „natür- 
liehen Augenstellung“ der meisten Menschen als letzteres. 
Dazu kommt noch hinzu, dass die Mitten der Bögen domi- 
nirende Linien abgeben, indem gleichzeitig viele ihrer 
Punkte auf einheitlich empfindenden Netzhautstellen zur Deckung 
gebracht werden können, was bei der Einstellung für die Enden 
der Bögen nicht der Fall ist, da die Linien sich hier so schnell 
von einander entfernen. Bringt man nach aussen neben den 
Bogenenden oder anderswo in der Tangente für die Mittel- 


210 P. L. Panum 


punkte der Bögen jederseits eine Fixationsmarke an, so kann 
man natürlich auch mit ihrer Hülfe dasjenige Sammelbild er- 
halten, das man wahrnimmt, wenn man die Mitte der Bögen 
fixirt. 

In Volkmann’s Versuch 34 sind zwei eben solche, ein- 
ander zugewandte Bogen, deren jeder mit einer senkrechten 
Sehne versehen ist, beiderseits verzeichnet. Diese können nun 
entweder zu einer durch eine senkrechte Linie in 2 Hälften 
getheilten Linse, oder zu einer schmäleren Linse, ohne senk- 
rechte Theilung combinirt werden. Letzteres soll nach V olk- 
mann bei unbefangenem Sehen, Ersteres schwieriger und bei 
absichtlicher Anstrengung der Augen erfolgen, und dies findet 
Volkmann paradox. Diese Angabe ist aber nicht unbedingt 
richtig, sondern es hängt zum Theil von der Entfernung der 
beiderseitigen Bilder von einander und zum Theil von der na- 
türlichen Augenstellung ab, ob das eine oder das andere Bild 
wahrgenommen wird. Die von Volkmann benutzten Entfer- 
nungen sind aber geringer, als das gewöhnliche Maass der na- 
türlichen Augenstellung (nur 55 Mm.). Wefn nun schon 
dieser Umstand die letztere der Volkmann’schen Combina- 
tion begünstigt, so kommt auch noch ein anderer”Umstand der 
diesem Sammelbilde entsprechenden Augenstellung zu Hülfe, 
nämlich dass jederseits zwei, freilich etwas ungleiche domini- 
rende Linien zur Geltung kommen. Bei bedeutenderen, die 
natürliche Augenstellung übertreffenden Entfernungen tritt da- 
hingegen bei unbefangenem Sehen das andere Sammelbild 
leichter auf, indem sich hier alsdann die senkrechten Sehnen 
als dominirende Linien geltend machen. Volkmann findet es 
aber ferner noch paradox, dass dieselben Figuren bei horizon- 
taler Lage der Sehnen als Sammelbild entweder eine horizon- 
tale Linse, welche durch eine horizontale Linie in zwei Hälften 
getheilt ist, oder ein über einander gelegtes (etwas undeutliches) 
Bild der beiden einander entgegengesetzten Bögen blicken las- 
sen, je nachdem man beide Sehnen in gleicher Höhe lagert, 
oder je nachdem man die Sehne des einen und den Bogen des 
anderen Bildes einander gegenüber legt. Volkmann sucht 
im letzteren Falle den Grund der Nichtverschmelzung in dem 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 211 


| äusserst geringen Werthe der Grenzdistanz in der Richtung des 
Perpendikels. Bei genauerer Untersuchung findet man aber, 


| 
| 
| 


| 


dass diese „paradoxe* Erscheinung sich wesentlich daraus er- 
klärt, dass die senkrechten Durchmesser der correspondirenden 
Empfindungskreise, wie ja auch Volkmann selbst gefunden 
hat, erheblich kleiner sind, als die horizontalen Durchmesser 
derselben. Denn wenn man die durch die binoculare Synergie 
des Einfachsehens auszugleichende Abweichung der Bögen von 
ihren Sehnen, dem geringen senkrechten Durchmesser der cor- 
respondirenden Empfindungskreise entsprechend, vermindert, so 
gelingt die einheitliche Verschmelzung der horizontalen Kreis- 
absehnitte zu einer linsenförmigen Figur vollkommen. Es war 
also der Werth der Grenzdistanz in der Richtung des Perpen- 
dikels in Volkmann’s Figur nicht, wie er meint, zu 
gering, sondern zu gross. Eine gewisse Schwierigkeit 
bleibt jedoch bei der Combination dieser horizontalen Kreis- 
segmente, indem es schwierig ist, die rechte Augenstellung zu 
finden. Diese Schwierigkeit lässt sich aber heben, wenn man 
durch die Mitte des Bogenabschnittes jederseits eine Senkrechte 
anbringt, oder beiderseits an entsprechenden Stellen eine Fixa- 
tionsmarke anbringt. Die Combination der horizontalen Kreis- 
segmente zu einer durch eine Horizontale getheilten liegenden 
Liese tritt mittelst mosaikartiger Eintragung ein, wenn die 
Sehnen der beiderseits angebrachten Bögen in gleicher Höhe 
liegen. 

Volkmann’s Versuch 35, bei welchem 5° grosse, mit ihrer 


 Oeffnung nach oben gerichtete, aber etwas verschieden geneigte 


Winkel jederseits angebracht werden, zeigt, dass dieselben ent- 
weder so combinirt werden können, dass die im Scheitel ver- 


einigten Winkel im Sammelbilde neben einander erscheinen, 


oder so, dass ein einfacher Winkel sichtbar wir. Volkmann 
findet es auffallend, dass bald das eine, bald das andere Sam- 
melbild sich am leichtesten darbietet, läugnet den Einfluss der 
Distanz der im Stereoskop befindlichen Bilder auf die Form 
des Sammelbildes und erklärt sie dadurch, dass für einige 
Augen die Senkrechte eine solche Anziehungskraft habe, dass 
diese vor Allem auf „identische“ Punkte gebracht wird, wäh- 


212 RIP. Panum: | 


rend es für andere Augen ee mehr Befriedigendes hat, die 
beiden Winkelbilder zur Einheit zu bringen. Wenn man aber 
die betreffenden Winkel einmal so beweglich macht, dass man 
sie einander nähern und sie von einander entfernen kann, und 
ein anderes Mal so, dass man sie in ihrem Scheitelpunkte dreh- 
bar macht, während man sie im Stereoskope betrachtet, so wird 
man nicht umhin können, den Einfluss der Distanz auf die 
Form des Sammelbildes anzuerkennen, indem Jederwann bei 
gewisser Entfernung der beiderseitigen Winkel oder bei ge- 
wisser Drehung ihrer Oeffnungen nach aussen nur das Volke 
mann’sche Sammelbild S’ und bei gewisser Näherung der 
Winkel oder bei gewisser Drehung der Winkelöffnungen nach 
innen nur das Sammelbild S sehen kann. Es kommen fü 
dieses Object zwei verschiedene Augenbewegungen in Betracht 
nämlich einerseits der Convergenzgrad und andererseits die 
Rotationsbewegung der Bulbi; in der letzteren sind die mei- 
sten Augen viel weniger geübt, als in der ersteren. Meines 
Erachtens kommen nun bei diesem Versuche, wie bei so vielen | 
anderen von mir angeführten Beispielen (vgl. z. B. meine Fig.) 
12—16), zwei Momente für die Einstellung der Augen in Be- 
tracht, nämlich ein sinnliches (der binoculare Reflexinstinet) | 
und ein psychisches (der binoculare Intelligenzinstinet). Der 
Versuch 55 Volkmann’s zeigt nur eben dasselbe. Der von | 
Volkmann nicht besprochene, besonders bei beweglichen 
Winkelbildern sehr interessante körperliche oder Tiefeneffeet, 
entspricht übrigens vollkommen den Gesetzen der Synergie der 
binocularen Parallaxe. | 

Volkmann’s Figur 36 zeigt, dass zwei krumme Linien, 
deren Halbmesser =2 Mm. und deren Spannweite 3Mm. be- 
trägt, bei ihrer Combination im Sammelbilde nicht einheitlich ı 
verschmelzen, und dass es für den Eindruck, den die Bögen ı 
machen, von grösstem Belange ist, ob die innere Seite dersel- - 
ben nach rechts oder nach links gewendet ist. Indem er die- - 
sen Fall mit Versuch 35 zusammenstellt, bei welchem ihn die 
einheitliche Verschmelzung grösserer Bogen mit viel beträcht- - 
licherer Abstandsdifferenz der Mitten und der Endpunkte der ı 
Bogen gelang, schliesst er, dass die Doppelbilder des Versuchs 36 | 


. 
N 


| Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s.w., 213 


mit den von mir aufgestellten correspondirenden Empfindungs- 
kreisen in Widerspruch ‚stehen. Der Unterschied der entgegen- 
gesetzten Richtungen soll nach Volkmann selbstverständlich 
von der Seele um 80 lebhafter empfunden werden, je mehr 
Grade des Kreises er umfasst. — In der That zeigt dieser Ver- 
|such jedoch nur, dass die correspondirenden Empfin- 
|dungskreise in der Gegend des deutlichsten Sehens, 
in welche hier das ganze Bild fällt, bedeutend klei- 
|ner sind, als auf den mehr seitlichen Netzhautpartieen, was 
|ja auch aus anderen Versuchen Volkmann’s (Versuch 12 ff.) 
hervorgeht. Bei den kleinen Bogen mit Radien von 2 Mm. 
‚und einer Spannung von 3 Mm. beträgt der Abstand der Mitte 
der Sehne von der Mitte des Bogens 1,32 Mm., also die Ab- 
Te (oder Grenzdistanz Volkmann’s) zwischen den 
Mitten und den Enden der beiderseitigen Bogen 2,64 Mm. Dies 
übersteigt aber in der Gegend des deutlichsten Sehens weit das 
Maass der correspondirenden Empfindungskreise; denn bei An- 
| wendung senkrechter paralleler Doppellinien nach meinem Vor- 
‚gange fand Volkmann je nach dem Werthe der Oonstanten, 
| welche die Entfernung von der Stelle des deutlichsten Sehens 
‚ausdrücken, folgende Verhältnisse (a. a. O. S. 38): 


Werth der Grenzdistanzen 
für die Substitute 3 für die Substitute b 


| 
Werth der Constanten 


Kalm. ....... 0,09 Mm. 1,75 Mm. 
ER, IBgREE OR, 
| BASE airline, 2,995, 


Wenn also die Empfindungskreise 1,5 Mm. vom Punkte des 
' deutlichsten Sehens entfernt einer Grenzdifferenz von nur 
' 0,59 Mm. entsprechen, !) wie sollten dieselben denn hier, bei 
einer Grenzdistanz von 2,64 Mm. Einfachsehen vermitteln kön- 
nen? Wenn man die Abstandsdifferenzen (Grenzdistanzen) 
‚ zwischen den Endpunkten der Bogen dem billigen Maasse der 
‚ eorrespondirenden Empfindungskreise entsprechend geringer 


‚macht, so tritt auch bei ihnen, trotz der viel grösseren 


1) Meine Bestimmungen wurden mit grösseren Werthen der Con- 
| stanten gemacht, daher auch das Maass der correspondirenden Em- 
; pfindungskreise (bei mittlerer Augenstellung) grösser ausfallen musste, 


| eben so wie in Volkmann’s anderen Versuchen. 


214 P. L. Panum: 5 det 


Gradzahlen des Kreises, die sie, verglichen mit den 
Kreisen grosser Durchmesser, umfassen, vollkommen 
einheitliche Verschmelzung mit entsprechendem Tiefeneffeete 
ein, vorausgesetzt, dass die Mitten der Tangente der Bogen 
fixirt werden. — Schliesslich ist nur noch zu bemerken, dass 
der Vergleich, den Volkmann mit seinem Versuch 33 hier 
anstellt, in dem von ihm gewünschten Sinne doch wohl nicht 
zutreffen kann, da er bei diesem durchaus die Doppelbilder der 
Bogenenden, deren Grenzdistanz volle 6 Mm. beträgt, wie be- 
reits oben angeführt, übersehen haben muss. | 
In seinem Versuch 37 hat Volkmann links eine Senks 
rechte, rechts einen nach oben geöffneten Winkel angebracht, 
dessen rechter Schenkel senkrecht steht, so dass die 5° grosse 
Winkelöffnung links von demselben liegt. Bei der Combination 
dieses Bildes erkennt man im Sammelbilde einen Winkel, Bi | 
sen Oeffnung nach Volkmann derjenigen des im rechten 
Sehfelde verzeichneten Winkels vollkommen an Grösse gleich- 
kommt, einerlei, ob die Senkrechte des linken Sehfeldes mit | 
dem senkrechten oder dem schrägen Schenkel combinirt wird. 
Diese Angabe ist richtig, sofern sich kein Tiefeneffeet im | 
Bilde bemerkbar macht, d. h. sofern beide Schenkel des im 
Sammelbilde gesehenen Winkels in der Ebene des Papiers zu 
liegen scheinen. Dies kann und muss aber erfolgen, wenn die 
Augen sich so einstellen, dass die im Sammelbilde einander 
deckenden Oonturen auf zusammengehörige Mittelpunkte der 
correspondirenden Empfindungskreise oder nach der alten No- 
menelatur auf wirklich correspondirende Netzhautpunkte ge- ' 
bracht werden. Für die Combination der beiderseitigen Senk- 
rechten kann das einfach durch Oonvergenzbewegungen gesche- 
hen, für Combination der Senkrechten des linken Feldes mit | 
dem schrägen Winkel des Schenkels im rechten Felde kann I 
aber dasselbe durch entsprechende Rotationsbewegungen! 
der Bulbi erreicht werden. Dass solche Rotationsbewegungen | 
der Bulbi ausführbar sind, geht schon daraus hervor, dass! 
ich zwei nach unten convergirende Linien noch dann A 
sehen kann, wenn der Convergenzwinkel bis 10° beträgt, wo). 
gegen es beim Convergiren der Linien nach oben kaum noch 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 215 


bei einem Convergenzwinkel von 4° gelingt (s. meine grössere 
Schrift $S. 23). Dass sie aber bei diesem Versuche auch wirk- 
lieh zur Ausführung kommen, gehi aus folgenden Erscheinun- 
gen hervor: Wenn man in den beiden Bildern andere, vom 
Winkel unabhängige, beiderseitige senkrechte Linien anbringt, 
welche im Sammelbilde nicht zur Deckung kommen, so neh- 
men sie im letzteren eine geneigte Stellung zu einander ein, 


wenn man die ursprüngliche Senkrechte des linken Feldes mit 
dem schrägen Schenkel des Winkels im rechten Felde combi- 
 nirt; dahingegen bewahren sie ihren Parallelismus, wenn man 


die beiderseitigen Senkrechten zur gegenseitigen Deckung bringt. 
Wenn man ferner die Lage des Sammelbildes in toto berück- 
sichtigt, und dieselbe mit derjenigen des rechten Einzelbildes 
vergleicht, so erkennt man, dass die Winkelöffnung des Sam- 
melbildes mehr gerade nach oben gerichtet ist, wenn man die 
Senkrechte mit der Schrägen combinirt, wohingegen dieselbe 
bei Combination der beiden Senkrechten im Sammelbilde eben 
so wie im rechts gelegenen Einzelbilde nach links und oben 


geöffnet ist. Dieses erklärt sich vollkommen durch die Rota- 


tion der Bulbi, an welche Volkmann gar nicht gedacht zu 


' haben scheint, und durch die einfache mosaikartige Eintragung 


der nur in einem Bilde vorhandenen Contur in das Sam- 


 melbild. 


Wenn sich aber ein Tiefeneffect im Bilde bemerkbar macht, 


was den Regeln der binocularen Parallaxe zufolge alsdann er- 
‚ folgen muss, wenn in einem Auge die Mittelpunkte, im an- 
' deren seitlich gelegene Punkte der correspondirenden Em- 
pfindungskreise von den Netzhautbildern getroffen werden 
(wenn also die Rotation nicht erfolgt oder nicht den gehö- 


rigen Grad erreicht), so ist es nicht wahr, dass der Winkel 


des Sammelbildes dem Winkel des rechts liegenden Einzelbildes 
gleich erscheint. Denn alsdann tritt der aus der links gele- 


genen Senkrechten und dem schrägen Schenkel des rechts ge- 
 legenen Winkels combinirte Schenkel des im Sammelbilde sicht- 


baren Winkels aus der Ebene des Papiers heraus und über die 
wirkliche Neigung desselben zu dem einfach mosaikartig in die 
Ebene des Papiers eingetragenen anderen Schenkel, ist in der 


216 loB.s Is: Panum: 


That kein bestimmtes Urtheil möglich. Will man die Neigung 
alsdann auf die Ebene des Papiers beziehen, so ist dies nur durch 
einen Act psychischer Abstraetion möglich, und man bleibt in 
- Zweifel, ob man diejenige Winkelöffnung angeben soll, welche 
man im rechten Einzelbilde sieht, oder ob man eine kleinere 
Winkelöffnung wahrnimmt, gebildet aus der mosaikartig ein- 
getragenen Linie und aus derjenigen, welche durch Combina- 
tion der ungleich geneigten Linien der beiden Einzelbilder ent- 
standen ist. 

Es ist indess noch eine Combination dieser beiderseitigen 
Bilder möglich. Es können nämlich die Augen auch so ein- 
gestellt werden, dass die Senkrechte des linken Feldes weder 
mit dem senkrechten, noch mit dem schrägen Schenkel des im 
rechten Einzelbilde sichtbaren Winkels zur Deckung kommt, 
sondern so in einer Mittelstellung verharrt, dass dieselbe sich 
mit dem schrägen Schenkel des Winkels im Sammelbilde kreuzt. 
Alsdann muss die binoculare Synergie des Alternirens der sich 
im Sammelbilde kreuzenden oder berührenden Conturen zur 
Geltung kommen. Man kann alsdann die senkrechte Linie des 
linken Gesichtsfeldes mit einer etwas veränderten Neigung ne- 
ben dem senkrechten Schenkel des im linken Bilde vorhande- 
nen Winkels sehen, während die schräge Linie in der Gegend 
der Kreuzung durch die Macht der der Contur der Senkrechten 
anliegenden Grundfärbung zeitweilig unsichtbar wird, um 
bei fortgesetzter Betrachtung nach einiger Zeit wieder hervor- 
zutreten. Wenn dann die Kreuzung der Senkrechten des lin- 
ken Feldes mit dem schrägen Schenkel des Winkels im rech- 
ten Felde dem Scheitelpunkte nahe liegt, so kann demnach 
durch die Macht der der Contur (der Senkrechten) anliegenden 
Grundfärbung zeitweilig die Continuität des im Sammelbilde 
wahrgenommenen Winkelbildes gestört erscheinen. | 

Es geht aus dem Vorstehenden, wie mir scheint, deutlich 
hervor, dass es durchaus nicht exact ist, wenn Volkmann 
sagt, die Seele schwanke zwischen Beibehaltung des Winkels 
und den Ansprüchen der Senkrechten des linken Feldes, ent- 
scheide sich aber fast immer zu Gunsten der ersteren und gebe 
nur in selteneren Ausnahmsfällen die Continuität des Winkels 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 217 


zu Gunsten der Ansprüche jener Senkrechten auf. Die Seele 
hat nämlich freilich. ihren Antheil an der Einstellung der 
Augen, und sie kann hierdurch dazu beitragen, dass verschie- 
dene unmittelbare Sinnesempfindungen durch binoculare Be- 
trachtung des Objects zur Perception kommen, sie kann freilich 
auch ferner. die verschiedenen unmittelbaren Sinnesempfindun- 
gen in verschiedener Weise durch die Aufmerksamkeit und 
durch den Denkaet combiniren, und sie kann dadurch dasselbe 
sinnliche Object verschieden beurtheilen, sie kann aber nicht, 
wie Volkmann meint, aus eigener Machtvollkommenheit we- 
sentlich neue, von der Sinnlichkeit nicht gebotene Erscheinun- 
gen im Bilde unmittelbar hervorrufen, 

Volkmann’s Versuch 38 schliesst sich vollkommen an 
den vorhergehenden an. Auch hier kommen unzweifelhaft 


‚Rotationsbewegungen der Bulbi in Betracht, wenn die links 


gelegene Senkrechte mit einer von zwei einander parallelen 


schrägen Linien des rechten Sehfeldes so combinirt wird, dass 


im Sammelbilde zwei einfache parallele Linien ohne Tiefenem- 
pfindung erscheinen. ‘Denn es wäre sonst das Einfachsehen 
bei der vorhandenen, 4 Mm. betragenden Abstandsdifferenz der 
beiden Enden der Senkrechten und einer der schrägen Linien 
nicht möglich. Dasselbe geht aus der schrägen Stellung bei- 
derseits gezogener senkrechter, nicht zur Deckung kommender 
Hülfslinien hervor, und die steilere Haltung des Sammelbildes, 
als des rechts gelegenen Einzelbildes, welche hier auch von 
Volkmann bemerkt worden ist, entspricht ganz einer solchen 
Rotation der Bulbi. Wenn nun die Senkrechte mit einer der 
schrägen Linien auf die Mittelpunkte correspondirender Em- 
pfndungskreise gebracht ist, so erklärt die mosaikartige Ein- 
tragung der im rechten Einzelbilde allein vorhandenen schrä- 
gen Linie vollkommen die von Volkmann angegebene Er- 
scheinung, dass sie der combinirten Linie im Sammelbilde pa- 
rallel erscheint; denn mit der Rotation des Bulbus würde ja 
auch ihre Lage ebenso verändert werden, wie die der ihr paral- 
lelen schrägen Linie, welche mit der Senkrechten des anderen 
Feldes combinirt wurde. Auch in diesem Versuche kann sich 


aber ein Tiefeneffect bemerkbar machen, den Volkmann nicht 
Reichert's u, du Bois-Reymond’s Archiv. 1861. 15 ‘ 


218 P. L. Panum: 


erwähnt. Dieser Tiefeneffect wird dann, meiner Meinung nach, 
dadurch bedingt, dass eine solche Augenstellung gewählt wird, 
bei der die Senkrechte des linken Feldes und die eine schräge 
Linie des anderen Feldes nicht auf die zusammengehörigen 
Mittelpunkte, sondern auf excentrisch gelegene seitliche 
Punkte der correspondirenden Empfindungskreise gebracht und 
dadurch im Sammelbilde combinirt wird. Sobald dieser Tie- 
feneffect wahrgenommen wird, erscheinen die beiden Linien 
des Sammelbildes auch nicht länger parallel, sondern die aus 
der Senkrechten und der schrägen combinirte Linie tritt, der 
Regel der Synergie der binocularen Parallaxe entsprechend, 
aus der Ebene des Papiers heraus. Es kann dann für die un- 
mittelbar sinnliche Wahrnehmung nicht von einem Parallelis- 
mus der Linien des Sammelbildes die Rede sein. Die Bezie- 
hung der beiden im Sammelbilde wahrgenommenen Linien auf 
die Ebene des Papiers kann dann nur auf unsichere Weise 
durch eine psychische Abstraction zu Stande kommen, und es 
ist nicht möglich, den Parallelismus in der Ebene des Papiers 
vom Tiefeneffeet so zu abstrahiren, dass die re 
zwingend würde. 

Volkmann’s Versuch 39 unterscheidet sich von dem vor- 
hergehenden dadurch, dass die Augenbewegungen nicht im 
Stande sind, die Verschiedenheiten der Einzeibilder im Sam- 
melbilde auszugleichen. Es wird nämlich eine senkrechte Linie 
des linken Sehfeldes mit einem von zwei flachen parallelen Bo- 
gen combinirt. Der combinirte Bogen des Sammelbildes er- 
scheint hierdurch verflacht, wie Volkmann angiebt; über den 
Parallelismus des aus der Senkrechten und dem Bogen com- 
binirten Bogens des Sammelbildes mit dem anderen, nur mo- 
‚saikartig in das Sammelbild eingetragenen Bogen, spricht Volk- 
mann sich nicht aus, er zeichnet sie aber im Sammelbilde, $. 
Fig. 31, parallel. Es ist ihm sehr wahrscheinlich, dass Indi- 
-vidualitäten vorkommen werden, bei welchen sich die Sammel- 
bilder anders gestalten, als bei ihm, und er fügt schliesslich 
‘hinzu: „Sollte sich diese Vermuthung bestätigen, so würde sie 
‘nur einen neuen Beweis liefern, dass der Mangel an Ueberein- 
stimmung zwischen dem realen Bilde der vereinigten Netzhäute 


en 


Nam mn mn nm m ann nn Sn nn m 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 219 


von der einen Seite und dem imaginären Bilde des Sehfeldes 
von der anderen Seite, welche den Punkt angiebt, um welchen 
sich alle stereoskopischen Erscheinungen drehen, nicht von 
Strueturverhältnissen des Sehorgans, sondern von psychologi- 
schen Einflüssen abhänge.* 

Ich sehe dieses Object folgendermassen, wenn ich, je nach 
der gegenseitigen Entfernung der beiden Bilder, die Senkrechte 
mit dem einen oder dem anderen der beiden Bögen combinire. 
Die aus der senkrechten geraden Linie und dem flachen Bogen 
combinirte Linie erscheint nach vorn, aus der Ebene des Pa- 
piers heraus, gekrümmt, die Krümmung ist aber zugleich etwas 
nach links gewandt. Dies entspricht ganz der für die Synergie 
der binocularen Parallaxe allgemein gültigen Regel. Wenn 
der Beobachter auf den Tiefeneffect d. h. die Krümmung nach 


vorn, nicht aufmerksam geworden ist, sondern die Krümmung 


auf die Ebene des Papiers bezieht, so ist es ganz richtig, dass 
der Bogen verflacht erscheint. Der andere Bogen erscheint in 
der Ebene des Papiers, durch die Macht der Contur, mosaik- 
artig so eingetragen, wie er sich im Einzelbilde findet. Es 
können aber die verschiedenen Beobachter in der That dar- 


über in Zweifel sein, ob die gleiche Krümmung oder der Pa- 
rallelismus Mit der anderen krummen Linie im Sammelbilde 


zur Geltung kommt; denn die sinnliche Empfindung der Krüm- 


mung der combinirten Linie nach vorn drängt sich auch dann 
dem Beobachter auf, wenn sie nicht als solche vom Bewausst- 
sein aufgefasst und gewürdigt wird, weil ihr nicht die nöthige 
Aufmerksamkeit zugewandt wurde. ') Ein schräg nach vorn 


er: 


1). Viele Menschen kennen die Empfindung der binocularen Pa- 
rallaxe nicht als eine besondere und ganz eigenthümliche Empfindung, 
bevor sie sie von den anderen sinnlichen Momenten, welche das Ur- 
theil über Tiefe und Abstand bestimmen helfen, isolirt kennen gelernt 
haben. Sie behaupten oft hartnäckig mit einem Auge die Tiefe eben 
so. wohl als mit zweien wahrzunehmen.. Wenn man solehen Leuten 
aber zuerst die von Halske zuerst angegebenen beweglichen stereo- 
skopischen Objecte, und dann ganz einfache Objecte zeigt, worin nur 
der specifisch binoculare "Tiefeneffect zur Geltung kommt, so lernen sie 
sehr bald dieselbe auch in den complicirten Bildern als besondere Em- 


15* 


2920 P.. L..Panum: 


gekrümmter Bogen, wie er hier empfunden wird, kann aber 
mit einem nur seitlich gekrümmten Bogen weder rücksichtlich 
der Krümmung, noch rücksichtlich des, auf die Ebene des nur 
seitlich gekrümmten Bogens bezogenen Parallelismus mit Si- 
cherheit verglichen werden. Es ist dieser Versuch daher in 
der That ganz geeignet, das Urtheil verschiedener Beobachter 
zu verwirren und dem entsprechend verschiedene Beschreibun- 
gen des trotz seiner scheinbaren Einfachheit doch wirklich so 
complieirten Sammelbildes zu veranlassen. Bei allen Beobach- 
tern ist aber doch, meiner Erfahrung zufolge, eine Verständi- 
gung über das in diesem wie in jedem Sammelbilde wirklich 
Wahrnehmbare möglich, wenn sie auf die verschiedenen zu be- 
rücksichtigenden Momente aufmerksam gemacht werden, 1) auf 
die verschiedenen möglichen Einstellungen der Augen, die Mo- 
tive, wodurch dieselben veranlasst werden, und die Erfolge 
für das Sammelbild; 2) auf die von der Synergie des Einfach- 
sehens (oder von den correspondirenden Empfindungskreisen) 
abhängigen Formveränderungen des mit der Senkrechten com- 
binirten flachen Bogens, sofern dieselbe auf die Ebene des Pa- 
piers bezogen gedacht- wird; 3) auf die von der Synergie der 
binocularen Parallaxe -abhängige Krümmung des combinirten 
Bogens schräg nach vorn, und endlich 4) auf die einfache 
mosaikartige Eintragung des anderen nicht combinirten Bogens 
in seiner ursprünglichen Gestalt und Lage in die Ebene des 
Papiers, durch die Macht der Contur. Wenn es gelungen ist, 
die verschiedenen Beobachter auf alle diese in Betracht kom- 
menden Momente aufmerksam zu machen, so überzeugt man 
sich, dass sie Alle von vorn herein dasselbe gesehen und 
empfunden haben, dass ihre verschie denen Beschreibungen nur 
davon herrührten, dass sie nicht von vorn herein auf Alles das, 
was in Betracht kommt, aufmerksam geworden waren, und dass 
ihre Urtheile und Angaben eben hierdurch verwirrt und ein- 
ander widersprechend wurden. — Die verschiedenen Beschrei- 
bungen dieses Sammelbildes, für welches Volkmann übrigens 


pfindungsweise kennen, der sie nur bisher keine specielle Aufmerk- 
samkeit geschenkt hatten. 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w.' 22] 


keine psychische Erklärung bisher versucht hat, beweisen also 
keineswegs, wie Volkmann meint, dass der Mangel an 
Uebereinstimmung der einzelnen Netzhautbilder einerseits und 
des binoeularen Sammelbildes andererseits von psychischen 
Einflüssen abhängt. 

Es dürfte aus vorstehender Analyse der trotz ihrer schein- 
baren Einfachheit doch mehr oder weniger complieirten 
Versuche Volkmann’s hervorgehen, dass dieselben durchaus 
nicht beweisen, was sie beweisen sollen, nämlich, dass die 
Unterschiede, welche das binoceulare Sammelbild bei Verglei- 
chung mit den einzelnen Netzhautbildern darbietet, von psy- 
chischen Thätigkeiten abhängen sollten. Es lassen sich die- 
selben vielmehr ganz ungezwungen auf diejenigen unmittelbar 
sinnlichen und somit in der Organisation begründeten Momente 
zurückführen, welche bei der experimentellen Analyse des ge- 
meinschaftlichen Gesichtsfeldes festgestellt wurden. Die Gründe, 
welche ich, auf möglichst vereinfachte Versuche gestützt, 
gegen die exclusiv psychischen Erklärungen beigebracht, und 
die Beweise, die ich für den Antheil der unmittelbaren Sinn- 
lichkeit an ‘diesen Erscheinungen aufgeführt habe, sind aber 
von Volkmann gar nicht berührt worden. Insofern es also 
Volkmann’s Absicht gewesen ist, seine freilich sehr beque- 
men und sehr elastischen, meiner Ueberzeugung nach aber auch 
sehr unwahren und illusorischen Erklärungen durch seine neuen 
Versuche zu retten, so ist seine Vertheidigung eben so verfehlt 
zu nennen, wie sein Angriff auf meine, von jeder Erklärung 
unabhängige, rein empirische Aufstellung der correspondirenden 


, Empfindungskreise, bezüglich deren er nur eine von ihm selbst 


erfundene, mir aber völlig fremde, von ihm sogenannte ana- 
tomische Hypothese wirklich widerlegt hat. - 

Um neuen Missverständnissen vorzubeugen, sei es mir hier 
nun noch schliesslich erlaubt, ein paar allgemeine Bemerkungen 
hinzuzufügen. | ! 

Indem ich versucht habe, die Erscheinungen des Binoeular- 
sehens auf die Grundlage gewisser eigenthümlicher unmittel- 
barer Sinnlichkeitsweisen zurückzuführen, die nur beim Sehen 
mit zwei Augen möglich sind, so habe ich damit natürlich 


222 ‚P.L Panum: 


keineswegs einen sehr grossen Einfluss der psychischen Thä- 
tigkeiten auf die Wahrnehmungen geläugnet. Dieser Einfluss 
ist, meiner Meinung nach,. ein doppelter. Einerseits vermögen 
wir durch geistige Thätigkeit zum Theil die Bedingung für 
diese oder jene unmittelbare Empfindung herbeizuführen, in- 
dem die Augenstellung zum Theil (aber freilich nicht 
ausschliesslich) durch sie bestimmt wird. : Andererseits 
sind es aber auch psychische Thätigkeiten, durch welche Vor- 
stellungen und Begriffe (zum Theil ohne dass wir uns - 
des dabei stattfindenden Denkacts bewusst sind) aufgebaut wer- 
den. Die unmittelbaren Empfindungen können von der Seele 
oft auf verschiedene Weise verwerthet werden, und es können 
daher aus denselben unmittelbaren Empfindungen verschiedene 
Vorstellungen und Begriffe resultiren, aber doch nur inso-. 
fern, als diese Constructionen der Seele nicht mit 
der unmittelbaren Sinnlichkeit in Widerspruch kom- 
men. Die unmittelbar sinnlichen Eindrücke können auch von 
der Seele durch Ableiten der Aufmerksamkeit ignorirt werden, 
sie machen sich aber immer wieder in derselben un- 
wandelbaren Weise geltend, sobald man ihnen die 
Aufmerksamkeit zuwendet. Der Beobachter ist alsdann 
gezwungen, sie so und nicht anders zu sehen, wie sie von 
der unmittelbaren Sinnlichkeit pereipirt werden. Es sind die 
auf die sinnlichen Empfindungen gestützten Vorstellungen und 
Begriffe mithin, innerhalb der durch die unmittelbare Sinnlich- 
keit gesetzten Grenzen, wandelbar und veränderlich. 
Die unter gegebenen Umständen vorhandenen, unmittelbar sinn- 
lichen Eindrücke oder Empfindungen sind aber durch ihre Un- 
wandelbarkeit und durch den unerbittlichen Zwang 
charakterisirt, durch welchen sie allen Bemühungen unserer 
Psyche Trotz bieten, wenn diese ein anderes Resultat. heraus- 
zubringen sucht, als. das durch die unmittelbare Sinnlichkeit 
gebotene, oft der Wirklichkeit und der vorgefassten Meinung, 
widersprechende. Diese Charaktere müssen uns, meine ich, 
leiten, wenn. wir versuchen wollen, zu unterscheiden, wie viel 
von unseren Wahrnehmungen auf unmittelbarer Sinnlichkeit be- 
ruht, und wie viel die psychischen Thätigkeiten bei der Con-. 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 223 


struction von‘ Vorstellungen und Begriffen hinzugethan haben. 
Nur wenn ‚wir consequent diesen Charakter der unmittelbaren 
Sinneseindrücke einerseits und andererseits der aus ihnen ab- 
geleiteten ‚Vorstellungen und Begriffe festhalten, können wir, 
meiner Meinung nach, diese von jenen unterscheiden, und die 
Grenzen der Psychologie und der Physiologie in diesem Ge- 
biete richtig abstecken, 

‚Die Aufstellung der vier oben angeführten, dem Binoeular- 
sehen eigenthümlichen specifischen unmittelbaren Sinnesempfin- 
dungen: der Synergie der Farbenmischung, des Alternirens, 
des. -Einfachsehens durch correspondirende Empfindungskreise 
und der binocularen Parallaxe betrachte ich insofern nur als 
eine vorläufige, als die Beziehungen dieser specifischen Sinnes- 
energien zu einander, so wie zum binocularen Reflexinstinct, 
zur Macht ‘der Gontur und zur Macht der der Contur zunächst 
anliegenden Grundfärbung, noch nicht in erschöpfender Weise 
festgestellt sind. Ich habe darüber nur einige, Andeutungen 
geben können. ‚So habe ich nachgewiesen, dass bei dem ab- 
wechselnden Verlöschen und wieder Sichtbarwerden derjenigen 
Stellen, wo. verschiedenartige Conturen im Sammelbilde einan- 
der kreuzen oder berühren, einerseits die Macht der Contur 
und ‚andererseits die der Contur. des anderen Bildes anliegende 
Grundfärbung ungleiche Componenten abgeben, welche theils 
die bei: verschiedenen sehr lebhaften Farben so hervortretende 
binoeulare Synergie des Alternirens zur Geltung kommen las- 
sen,..theils aber im verwischten Bilde eine Mischempfindung, 
ganz ‚derjenigen entsprechend, welche bei: verschiedenen, recht 
matten Farben als binoculare Farbenmischung so. deutlich ist, 
und welche ich daher der binocularen Synergie. der. Farben- 
mischung zugerechnet habe, — Ferner habe ich auf. die genaue 
Beziehung des binocularen Reflexinstinets, bei’ welchem nur 
senkrechte oder schräge Linien dominirende Objecte ab- 
geben, zur. Synergie der binocularen Parallaxe hingewiesen, 
welche ebenfalls nur bei senkrechten: oder schrägen, nicht 
aber bei horizontalen Linien zur Geltung kommen. Endlich 
habe ich bezüglich der binocularen Synergie des Einfachsehens 
durch correspondirende Empfindungskreise die Frage aufgewor- 


294 ie P. L. Panum: dat 


fen, ob’ sie nicht vielleicht auf das: Unterdrücktwerden der 
einen Contur durch die ihrer Componente anliegende Grund- 
färbung, also auf die Macht der der Contur anliegenden Grund- 
färbung zurückgeführt werden könnte? Dieselbe Frage wurde 
später von Bergmann aufgeworfen. Die experimentelle Un- 
tersuchung ergab aber, dieser Supposition gegenüber, ein nega- 
tives Resultat, indem zwei beiderseits ungleichfarbige Linien 
im Sammelbilde beide in der Mischfarbe erscheinen, indem 
ferner Schraffirungen am äusseren Rande der engen und am 
inneren Rande der weiten Doppellinien ein Sammelbild erge- 
ben, worin beide Linien auf beiden Seiten, innen und aussen, 
schraffirt erscheinen, und indem endlich sich der specifisch bi- 
noculare Tiefeneffect bei Abstandsdifferenzen in horizontaler 
Richtung geltend macht. Hieraus ging also hervor, dass nicht 
die eine Linie einfach unsichtbar geworden war. Man könnte . 
aber ferner noch, wie Hasner es gethan, die Frage aufwer- 
fen, ob nicht die Synergie des Einfachsehens durch correspon- 
dirende Empfindungskreise auf die Synergie der binocularen 
Parallaxe zurückgeführt werden könnte? Für das Einfachsehen 
solcher beiderseitig ungleichen, einfachen oder doppelten Con- 
turen, bei welchen die Abweichung auf kleine Abstandsdiffe- 
renzen der zusammengehörigen Punkte in horizontaler Rich- 
tung zurückzuführen sind, würde diese Annahme in der 'That 
sehr gut zutreffen. Folgender von Herrn Dr. Lehmann hier- 
selbst mir angegebene Versuch, den ich durchaus constatiren’ 
kann, schien auf den ersten Blick sehr für eine solche Zurück- 
führung der binocularen Synergie des Einfachsehens durch cor- 
respondirende Empfindungskreise auf die Synergie der binocu- 
laren Parallaxe zu sprechen: Man fertigt ein in horizontaler 
Richtung verschiebbares Objeet an, in welchem jederseits eine 
gleiche Senkrechte und ein Punkt so angebracht sind, dass die 
beiderseitigen Punkte in gleicher Höhe, beiderseits links ‚oder 
beiderseits rechts neben der :Senkrechten liegen, und dass die 
Entfernung der beiderseitigen Punkte von einander um:1 bis 
2 Mm. grösser ist, ‚als die Entfernung der beiderseitigen Linien 
von. einander. Bei stereoskopischer Betrachtung dieses Objects 
erscheint nun beim Fixiren der ‚beiderseitigen Senkrechten der 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 225 


Punkt doppelt, die Linie aber noch einfach, wenn man die 
beiderseitigen Bilder über ein gewisses Maass hinaus von ein- 
ander entfernt. Treibt man die Entfernung der beiderseitigen 
Bider noch um ein Weniges weiter, so entstehen Doppelbilder, 
sowohl der Punkte als auch der senkrechten Linien. Dieses 
liesse sich, so scheint es beim ersten Blick, so deuten, dass 
das Doppelbild des Punktes auftrete, wenn die beiderseitige 
Entfernung der Bilder denjenigen Grad erreicht hätte, wo die 
Projeetionslinien der Senkrechten noch im Raum mit einander 
zusammenstossen könnten, während die Projectionslinien der 
weiter von einander entfernten Punkte bereits divergirten, 
also nicht im Raum zusammentreffen würden, und man könnte 
meinen, dass dies der Grund des Auftretens des Doppelbildes 
sei, während die Linie noch einfach erscheint. (Vgl. obige Fig. 
56 8.76.) "Dass indess die Synergie des Einfachsehens doch 
nicht einfach auf die Synergie der binocularen Parallaxe zurück- 
geführt werden kann, sondern von ihr unabhängig ist, geht 
daraus hervor, dass auch horizontale Doppellinien, von 
ungleicher Abstandsdifferenz in senkrechter Rich- 
tung, vollkommen einfach, aber ohne Tiefeneffect 
im Sammelbilde gesehen werden (Siehe meine grössere 
Schrift S. 66 Fig. 38). Dieser interessante Versuch Leh- 
männ’s, der auf den ersten Blick die Selbständigkeit der Sy- 
nergie des Einfachsehens durch eorrespondirende Kreise zu be- 
drohen schien, enthält aber bei genauerer Untersuchung gerade 
eine schöne Bestätigung derselben. Wenn man sich nämlich 
bemüht die beiderseitigen Senkrechten zu fixiren, während sie 
sich seitlich von einander entfernen, so muss endlich nothwen- 
dig eine Stellung eintreten, bei der es nicht mehr möglich ist 
die Augen so'auf das Objeet einzustellen, dass die Bildpunkte, 
die wir fixiren wollen, auf die Mittelpunkte der corre- 
spondirenden Empfindungskreise gebracht werden können. Es 
fallen dann 'nothwendig die Netzhautbilder der Senkrechten, 
die wir zu fixiren uns bemühen, auf peripherische Partieen 
der beiderseitig correspondirenden Empfindungskreise, und sie 
erscheinen hierbei im gemeinschaftlichen Gesichtsfelde noch ein- 
fach, seben durch die binoeulare Synergie des Einfachsehens 


226 P. L. Panum. 


durch correspondirende Empfindungskreise. Die beiden weiter 
von einander entfernten Punkte müssen alsdann aber schon bei- 
derseits ausserhalb der Bezirke der correspondirenden Empfin- 
dungskreise fallen, und sie erscheinen dem entsprechend dop- 
pelt. Dass diese Erklärung des Lehmann’schen Versuches 
richtig ist, das geht aus folgenden Abänderungen ‚desselben 
hervor. ‘Wenn man die beiderseitigen Bilder desselben Objeets 
einander so stark nähert, dass die Bilder bei einer ein: wenig 
weiter gehenden Näherung als Doppelbilder aus einander fah- 
ren, so tritt zuerst. das Doppelbild der senkrechten Linie auf, 
während die weiter von einander entfernten Punkte noch ein- 
fach erscheinen. Hierbei ist es gleichgültig, ob man:sich ’be- 
müht, die beiderseitigen Senkrechten oder die beiderseitigen 
Punkte zu fixiren. Wenn man anstatt den Abstand der Punkte 
von einander grösser zu machen, als den gegenseitigen Ab- 
stand der Senkrechten, das Object so einrichtet, dass der Ab- 
stand der beiden Punkte von einander geringer ist, als der 
gegenseitige Abstand der beiden Senkrechten, so erscheinen, 
bei sehr grosser Entfernung der Bilder von einander (also bei 
möglichst paralleler oder divergenter Augenstellung) zuerst die 
Linien doppelt, während ‘die Punkte noch einander ‚decken; 
bei sehr grosser Näherung der Bilder an einander. (also bei 
möglichst convergenter Augenstellung) erscheinen umgekehrt 
zuerst die Punkte doppelt, während die Linien noch einander 
decken. 

Dieser Versuch ist mir darum : besonders interessant, weil 
durch ihn das: Verhältniss der empirischen Aufstellung der cor- 
respondirenden Empfindungskreise und der Synergie des Ein- 
fachsehens durch Vermittelung der wirklichen correspondiren- 
den Empfindungskreise zu einander so bestimmt ‘und richtig 
markirt wird. Es ‚geht nämlich aus demselben hervor, dass 
die empirische. Feststellung der Grenzen der correspondirenden 
Empfindungskreise durch Schwierigkeiten, welche ‘es unmöglich 
machen die zusammengehörigen Netzhautbilder auf die Mit- 
telpunkte der correspondirenden Empfindungskreise zu: brin- 
gen (oder welche ein vollkommenes Fixiren verhindern), 
wesentlich beeinträchtigt werden kann. Hieraus folgt, dass die 


nn un nem 


Ueber die einheitliche Verschmelzung verschiedenartiger u. s. w. 227 


Veränderlichkeit der empirisch gefundenen Durchmesser 
der correspondirenden Empfindungskreise bei verschiedenen 
Augenstellungen nicht beweist, dass die wirklichen correspon- 
direnden Empfindungskreise ebenfalls in ihrer Grösse veränder- 
derlich sind. Auch die bei demselben Individuum zu verschie- 
denen Zeiten wechselnde Grösse der empirisch gefundenen cor- 
respondirenden Empfindungskreise könnte davon abhängen, dass 
das Vermögen vollkommen, d. d. durch die Mittelpunkte 
der correspondirenden Empfindungskreise zu fixiren, zeitweili- 
gen Veränderungen unterworfen wäre, und es könnten dann 
die wirklichen correspondirenden Empfindungskreise bei dem- 
selben Individuum, auf denselben Netzhautpartieen eine con- 
stante Grösse haben. Dasselbe Moment könnte vielleicht theil- 
weise auch für die individuellen und bezüglich der Lage auf 
der Netzhaut localen Verschiedenheiten der empirisch gefun- 
denen Empfindungskreise in Betracht kommen. — Es ist dieses 
Verhältniss der empirisch gefundenen und der wirklichen cor- 
respondirenden Empfindungskreise der Neizhäute in gewisser, 
aber freilich durchaus nicht in jeder Beziehung analog demje- 
nigen Verhältnisse, das zwischen den empirisch gefunde- 
nen Empfindungskreisen der Haut und den idealen, 
theoretischen oder wirklichen Empfindungskreisen der- 
selben z. B. der Auffassung Weber’s zufolge besteht. 

‚Vorläufig meine ich demnach, dass die binoculare Synergie 
des Einfachsehens durch correspondirende Empfindungskreise 
neben den oben angeführten specifischen binocularen Sinnes- 
synergien und neben den drei anderen oben angeführten sinn- 
lichen Momenten, der Macht der Contur, der Macht der der 
Contur zunächst anliegenden Grundfärbung und dem binocu- 
laren Reflexinstinet als selbständige binoculare Sinnesenergie 
aufrecht zu erhalten ist, bei voller Anerkennung des Einflusses 
der höheren Seelenthätigkeiten auf die Einstellung der Augen 
und auf die Bildung der Vorstellungen und Begriffe. 


228 h Max Schultze: | be 


IE; 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Pe. 
tromyzon und: ihr Verhalten im polarisirten Lichte, 


Von 


Prof, Max ScHUuLTZE in Bonn. 
(Hierzu Taf. V. und VI.) 


Kölliker beschreibt in dem ersten Hefte der Würzburger 
naturwissenschaftlichen Zeitschrift 1860. S. 6 ff. unter den ver- 
schiedenen Epithelialzellen der Neunaugen eine sehr eigen- 
thümliche Form, welche er mit dem Namen Schleimzellen 
belegt. Es sind flaschen- oder kolbenförmige Gebilde, welche 
mit ihrer Längsaxe senkrecht auf die Oberfläche der Lederhaut 
gerichtet und in grosser Zahl und in ziemlich gleichen Abstän- 
den in die Epidermis eingebettet sind. | 

Ich kenne die in Rede stehenden Zellen der Haut von 
Petromyzon fluviatilis schon seit mehreren Jahren und habe sie 
als eine grosse Merkwürdigkeit Bekannten wiederholt gezeigt.') 
Aber die in Halle gelegentlich angestellten Beobachtungen 
konnte ich erst hier in Bonn, als ich wieder einmal lebende 
Neunaugen und zwar von Wesel erhielt, vervollständigen. Mit 
Kölliker’s Ansicht, nach welcher die Zellen eine Beziehung 
zur Schleimsecretion der Haut haben sollten, stehen meine Be- 
obachtungen in directem Widerspruch, so dass ich schon des- 
halb mich verpflichtet fühle, die Aufmerksamkeit der Histiolo- 
gen für diese Gebilde noch einmal in Anspruch zu nehmen. 
Weiter bieten dieselben so viele von Kölliker übersehene’ 
Eigenthümlichkeiten von allgemein histiologischem Interesse, 
dass eine recht ausführliche Beschäftigung mit denselben nach 
manchen Seiten hin helle Streiflichter werfen kann. 


1) Kölliker erzählte ich von denselben bei dessen Besuch in 
Halle im Frühjahr 1858. 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon u. s. w. 229 


Wie die beigefügten Abbildungen, Fig. 1, 2, 3, am besten 
zeigen und Kölliker richtig beschreibt, haben die Gebilde 
ungefähr die Form eines Thränenfläschehens der römischen 
Gräber. Einem rundlich abgesetzten mehr oder weniger bau- 
chigen Körper, in dessen Innern fast immer zwei rundliche 
Kerne dicht neben einander liegen, schliesst sich ein in Länge 
und Dicke variirender Hals an, welcher entweder breit abge- 
stutzt, ähnlich dem umgebogenen Rande eines Flaschenhalses, 
oder seltener fein ausgezogen (Fig. 3), schliesslich. aber doch 
wieder abgestutzt endigt. Kölliker giebt weiter an, dass 
ihre Lage der Art sei, dass sie mit dem letzterwähnten viel- 
leicht offenen Ende an die Oberfläche ‚der Haut heranragen, 
mit dem anderen bauchig geschlossenen der Lederhaut zuge- 
wandt sind. In der That ist die Lage die umgekehrte, wie 


jeder Querschnitt durch die gehärtete Epidermis zeigt. Das 


 abgestutzte Ende des Flaschenhalses steht genau auf 


der Lederhaut auf, und der Kolben der Keule liegt 
jenach der Länge der Gebilde näher oder ferner der 
Oberfläche der Epidermis. Doch erreicht er: letztere nie 
vollständig, ist vielmehr hier von gemeinen Epidermiszellen mit 
Porencanälen bedeckt (vgl. Fig. 4). 

Kölliker nannte die Gebilde Schleimzellen, offenbar 
um sie den secernirenden Zellen der Haut anderer Thiere (ein- 
zelligen Drüsen) zu vergleichen. Das Secret solle durch grös- 
sere oder kleinere Oefinungen (Porencanäle) am abgestutzten 
Ende des Halses nach aussen gelangen. Da dieses Ende aber, 
der Kölliker’schen Beschreibung entgegen, nicht nach oben, 
sondern der Lederhaut zugewandt ist, kann an einen Ver- 
gleich mit, einzelligen Drüsen nicht gedacht werden, und führen 
uns denn auch die: feineren histiologischen Verhältnisse der ver- 


' meintlichen Schleimzellen auf ganz andere Wege. 


Die Kolben, wie wir die in Rede stehenden zelligen Ge- 
bilde nennen wollen, zeichnen sich schon im frischen Zustande, 
in welchem sie sich nur schwer isoliren lassen, durch einen 
eigenthümlichen Glanz, bedingt durch starke Lichtbrechung, 
aus, Von Protoplasma, d.h. von weichem, körnigem Zellenin- 
halte ist an denselben durchweg nur ein kleiner Rest übrig. 


230 Max Schultze: 


Dieser liegt in dem oberen dieken Theile, meist ziemlich nahe 
oder dicht an dem abgerundeten Ende, und umschliesst ge- 
wöhnlich zwei rundlich ovale Kerne, in deren Innerem meist je 
ein Kernkörperchen recht deutlich hervortritt. Die Umgebung 
dieses Protoplasmaklümpchens, sowie der ganze halsartige 
Theil der Kolben ist dagegen aus einer homogenen, stark licht- 
brechenden, ziemlich festen Masse gebildet.) Dieselbe scheint 
ihren Ursprung einer allmähligen von aussen nach innen vor- 
schreitenden Verdichtung der Zellsubstanz — des Protoplasma’s - 
— zu verdanken, bei welcher schliesslich das Zellenlumen bis 
auf die erwähnte Kernhöhle geschwunden ist. Hie und da 
bleibt auch in der Axe des Halses der Kolben ein stellen- 
weis unterbrochener Rest der ursprünglichen Zeilhöhle übrig 
(Fig. 3), in welchem sich Ueberreste des körnigen Protoplasma 
vorfinden, wie auch Kölliker gesehen hat. Für .eine Entste- 
hung der Kolben aus allmählig fortschreitender Verdichtung 
des Protoplasma spricht auch die ebenfalls von Kölliker be- 
schriebene concentrische Streifung, die man in der dichten Sub- 
stanz der Gebilde wahrnimmt. An frischen Präparaten nur 
ausnahmsweise, an Spirituspräparaten dagegen constant 
und sehr deutlich tritt eine Streifung in dem angeschwollenen 
Ende der Kolben hervor, unregelmässig concentrisch um das 
Klümpchen unveränderten Protoplasma’s.. Da dieses meist 
excentrisch dem oberen Ende der Kolben ganz nahe liegt, so 
sind die Schichtungslinien, wie wir die Streifen vorläufig 
nennen wollen, auch nicht ganz kreisförmig, bleiben viel- 
mehr noch oben offen (Fig. 2). Gegen den Hals der Kol- 
ben werden die Schichtungslinien unregelmässig und gehen in 
eine meist undeutlichere Längsstreifung über. Solche Spiritus- 
präparate erscheinen dem Ansehen frischer gegenüber etwas 
geschrumpft, die äusseren Conturen wellig, übrigens viel schär- 
fer und dunkler als im frischen Zustande, ein Beweis, dass die 
Masse noch stärkere Lichtbrechung angenommen hat. | 


1) Diese Masse verhält sich gegen Kalilauge von 32-35pCt. wie ! 
die Substanz der Muskelfasern, so dass eine kurze Maceration der r. 
frischen Epidermis in der genannten Kalilauge vortrefflich zur Tsoli- 
rung der Kolben dient. 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon u. s. w. 231 


Dem frischen Zustande ähnlicher erhalten sich die Kolben 
in dünnen Chromsäurelösungen (!/, Gran) oder besser bei all- 
mähliger Erhärtung in doppelt chromsaurem Kali, 2—4 Gran 
auf die Unze Wasser. Für diese Erhärtungsmethode ist, wie 
in anderen Fällen, zu berücksichtigen, dass für gewöhnlich nur 
kleine Stücke des Gewebes und diese in verhältnissmässig viel 
Flüssigkeit eingelegt werden müssen. Die Epidermis solcher 
Präparate zerfällt meist sehr leicht in ihre einzelnen Elemente, 
und unter diesen zeichnen sich dann, neben den später auch noch zu 
erwähnenden von Kölliker sogenannten Körnerzellen, die 
Kolben deutlich aus. Sie sind etwas stärker lichtbrechend als 
im frischen Zustande, ihre Gestalt ist aber vollkommen unver- 
ändert, 'ebenso das homogene Ansehn des verdichteten und das 
'körnige des die Kerne umschliessenden Protoplasma. Nament- 
lich ist von den Schichtstreifen, wie sie an Spirituspräpa- 
raten zu sehen sind, Nichts wahrzunehmen. Dagegen tritt eine 
höchst eigenthümliche, von Kölliker nicht erwähnte Structur 
an diesen Kolben entgegen, nämlich eine feine, parallele Quer- 
streifung des Halses (Fig. 1 und 3). Dieselbe ist an einzel- 
nen deutlicher als an anderen zu sehen, oft sehr scharf, immer 
jedoch erst bei klarer 3—400maliger Vergrösserung zu erken- 
nen. Es sind feine Parallellinien, welche dicht nebeneinander 
den halsartigen Theil der Kolben so umkreisen und durch- 
setzen, wie die Querstreifen ein Muskelprimitivbündel. Wie hier 
‚liegen sie nicht bloss in der Oberfläche, sondern sind der Aus- 
‘druck einer die ganze Dicke des Gebildes betreffenden Diffe- 
'renzirung. In der That haben wir es, wie bei den Muskeln, 
mit abwechselnden Scheiben einer das Licht stärker 
und einer'schwächer brechenden Substanz zu thun. 
Betrachtung bei starken 6—800mal. Vergrösserungen, z. B. mit 
‘den nieht genug zu rühmenden neuen Hartnack’schen Linsen 
No. 9 und 10 & immersion (nach Art der stärksten Amiei- 
schen in Wasser zu tauchen) lässt die Schichtung aus verschie- 
den stark lichtbrechenden Scheiben erkennen, und die Anwen- 
dung des Polarisationsapparates lehrt, dass diese Schei- 
ben, wie nach Brücke’s Entdeckung bei den Muskeln, ab- 
wechselnd einfach und doppeltbrecehend sind. Um diese 


932 Max Schultze: 


Thatsache zu constatiren, bedarf es ausser der starken Ver- 
grösserung der von Hugo von Mohl dem Polarisationsappa- 
rate zugefügten Beleuchtungslinse. Dieselbe bietet, wie 
ich schon an einem anderen Orte erwähnt habe, !) den grössten 
Vortheil bei allen schwierigeren Untersuchungen mit dem Po- 
larisationsapparat. Die Kolbenhälse haben eine optische Axe 
in der. Längsrichtung und verhalten sich in Beziehung auf 
diese optisch positiv, wie die Muskelprimitivbündel. Ich habe 
die Versuche mit den Quarzprismen nach Brücke’s Me- 
thode gemacht. 

Dass die Kolbenhälse die gleiche optische Wirkung‘ wie 
Muskelfasern ausüben, davon kann man ‚sich am'.Jleichte- 
sten überzeugen, wenn man sie untersucht, nachdem man 
zwischen die Nicol’schen Prismen ein. Glimmerblättehen 
eingeschoben, welches das Roth erster Ordnung giebt und 
dasselbe so orientirt, dass es bei gekreuzten Prismen ‚das 
Maximum .der Helligxeit liefert. Die Hälse der Kolben. er- 
scheinen dann, wenn sie mit ihrer Längsaxe einen Winkel 
von 45° zu den Polarisationsebenen der Prismen. bilden, 
blau oder gelb wie Muskelfasern in gleicher ‚Lage. 
Fig. 7 a und a‘ stellt ein Paar solcher Kolben auf rothem 
Grunde dar, bei welchem Bilde das Glimmerblättchen ebenso 
gelagert war, wie bei dem Versuche, nach welchem Brücke’s 
vortreffliche Darstellungen der blauen und gelben Muskelfasern 
angefertigt sind.) Bei 800mal. Vergrösserung erscheint ein 
Kolbenhals, an welchem die Scheibenschichtung recht deutlich 
ist (bei gleicher Lage des Glimmerblättchens wie vorhin), wie 
Fig. 7 b, abwechselnd roth und blau gebändert, in welchem 
Bilde die rothen Schichten natürlich den Scheiben einfach bre- 
chender Substanz entsprechen. ! 

Gleicht insoweit der Hals der Kolben einem Muskelprimi- 
tivbündel, so unterscheidet er sich von einem solchen zunächst 
- dadurch, dass die Differenzirung in Scheiben eine so scharfe 


1) Die Hyalonemen. Ein Beitrag zur Naturgeschichte der ' 
Spongien. Bonn 1860. $. 18. 

2) Untersuchungen über den Bau der Muskelfasern mit Hülfedes ı 
polarisirten Lichtes. Wien 1858. 


| 
|® 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon u. s. w. 233 


net 


nicht ist, wie bei den reifen quergestreiften Muskelfasern. 
Schon dass im frischen Zustande an den Kolben von den 
| Querstreifen Nichts oder nur sehr wenig zu sehen ist, diese 
vielmehr erst bei möglichst gleichmässiger Erhärtung durch 
Kali biehromieum scharf hervortreten, giebt ein Zeugniss, dass 
die Differenzirung in den betreffenden Gebilden, wenn auch 
| auf dem Wege zur Ausbildung von Muskelstructur, sich doch 
| nur erst mit den embryonalen Anfängen zu solcher vergleichen 
| lässt, wie sie als allmählige Metamorphose des Protoplasmas 
der Muskelzellen bei Embryonen zu beobachten ist. Dass aber 
eine Vergleichung mit Muskelsubstanz auch abgesehen von den 


1 


| optischen Verhältnissen und der Structur zulässig. sei, lehrt die 
chemische Beschaffenheit der Kolben. Dieselben bestehen aus 
einer eiweissartigen Substanz von eigenthümlicher Consistenz, 
wie wir. sie ausser von den Muskeln höchstens noch von der 
Axencylindersubstanz der Nerven kennen. In. Zucker und 
Schwefelsäure färben sie sich intensiv, roth, in sehr verdünnter 
Salzsäure werden sie blass und quellen auf, dabei geht ebenso 
| wie beim Aufquellen in Essigsäure und verdünnten Alkalien 
| die Fähigkeit das Licht doppelt zu brechen, verloren. Eine 
| Absonderung in,Scheiben kommt bei Behandlung mit Salzsäure 
Fi pro Mille nicht zum Vorschein, die Substanz quillt scheinbar 
| gleichmässig an. Lässt man dagegen verdünnte Salzsäure auf 
' Kolben, die vorher in mässig concentrirten Lösungen von Kali 
‚ biehromicum erhärtet waren, einwirken, so tritt die Querstrei- 
fung ausserordentlich deutlich hervor. Im frischen . Zustande 
| hat also die doppeltbrechende Substanz die Resistenz der glei- 
|chen in den Muskeln gegen verdünnte Salzsäure noch nicht 
‚erreicht. Bekanntlich ist diese Resistenz der Muskeln nach 
‚ dem Alter der Thiere sehr verschieden, und gelingt es bei Em- 
tg viel schwerer, die Bowman’schen Disc’s darzu- 
‚stellen als bei Erwachsenen, indem sich bei ersteren schnell 
‚ Alles löst, bei letzteren die doppeltbrechenden Scheiben dage- 
‚gen länger persistiren, bis: auch sie der lösenden Einwirkung 
| der Salzsäure unterliegen. 
| Ein: weiterer Unterschied zwischen einem Muskelbündel und 


dem Kolbenhalse besteht darin, dass in letzterem: keine, Spur 
|  Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv. 1861, 16 


234 Max Schultze: 


von Längsstreifung sichtbar, jedenfalls eine Differenzirung in 
Fasern vergleichbar den Muskelfibrillen nicht vorhanden ist. 
Auch fehlt eine Spaltbarkeit der Kolben in dieser Richtung ganz. 
Wir haben oben die Beobachtungen bei polarisirtem Lichte 
nur mit Rücksicht auf den Hals der Kolben mitgetheilt. 
Complieirter werden die Erscheinungen in dem.keulenförmig 
angeschwollenen Theile derselben. Liegen die Kolben wie in 
Fig. 7a und a’ dargestellt ist, so erkennt man, während der 
Hals eine gleichmässig blaue oder gelbe Farbe zeigt, im an- 
geschwollenen Ende eines jeden eine Abwechselung von blau, 
gelb und roth, dass es schwer hält, sich in dieser scheinbaren 
Regellosigkeit zu orientiren. Zugänglicher wird uns die Er- 
scheinung, wenn wir den Kolben so zu sagen auf den Kopf 
sehen, wenn wir ein Stückchen frischer‘ oder erhärteter Epi- 
dermis abheben und so in der Fläche ausbreiten, dass die ur- 
sprünglich äussere Fläche nach oben, die innere nach unten | 
auf den Objectträger zu liegen kommt. Stellen wir jetzt bei 
gekreuzten Nicols ohne Glimmerblättchen und mit mässig star- 
ker Vergrösserung ein, so erblicken wir auf dunklem Grunde ı 
eine grosse Zahl gleichmässig ausgestreuter heller Punkte, und 
einen jeden derselben, wie Fig. 7c mit schwarzem Kreuz ge- 
zeichnet, die Kreuzschenkel in den Polarisationsebenen der | 
Prismen. Das Bild ist ganz dasselbe wie bei regelmässig kug- 
ligen Amylonkörnern, und verdankt auch einer ähnlichen Ur- 
sache seine Entstehung, insofern als wir auch hier wie beim ı 
Amylon, namentlich deutlich an Spirituspräparaten, concentrische ! 
Linien im Inneren des doppelt brechenden Körpers finden, de- ı 
ren Mittelpunkt der Durchschnittspunkt der Kreuzschenkel ist. | 
Legen wir ein Glimmerblatt wie das früher angewendete zwi- 
schen die Prismen unter das Object, so erscheint letzteres jetzt U 
wie Fig. 7d. Das schwarze Kreuz hat sich in ein rothes! 
umgewandelt und die Quadranten erscheinen abwechselnd blau 
und gelb. Die Farbenstellung ist bei allen gleich, also bei deri 
Lage des Glimmerblattes, die Brücke und ich anwandten,ı 
bei welcher eine Muskelfaser, welche schief von rechts obeni 
nach links unten liegt blau, .die rechtwinklig: orientirte gelb! 
erscheint, sind die Quadranten links oben und rechts unten: 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon un. s. w. 235 


blau, die anderen gelb. Die Farbenstellung beim Amylon, 
dasselbe mag hergenommen sein, woher man will, ist stets die 
umgekehrte. 

Das Kreuz, welches unsere Kolben aus der Haut von Pe- 
Iromyzon geben, gleicht demjenigen eines Körpers mit nega- 
tiver Axe doppelter Brechung, also demjenigen des Kalkspathes. 
Hiervon kann man sich auf verschiedenen Wegen überzeugen. 
Zur Vergleichung bediente ich mich einiger in Canadabalsam 
eingelegter Polythalamienschalen mit nahezu kugligen Kam- 
mern, Globigerinen, deren jede Kammer der krystallinischen 
und zwar regelmässig strahligen Anordnung des Kalkes wegen 
ein Schönes negatives Kreuz giebt. Die Farbenvertheilung in- 
nerhalb des ersten Ringes ist bei Anwendung des oft erwähn- 
ten rothen Glimmerblattes dieselbe, wie bei den Kolben, die- 
selbe wie bei der im Querschnitt ebenfalls ein negatives Kreuz 
gebenden Cellulosefaser (Bastzelle), dieselbe wie bei der Kry- 
stallinse des Auges und vielen anderen Körpern — während 
bei Körpern mit positiver Axe doppelter Brechung die Far- 
benstellung eine umgekehrte ist, vorausgesetzt dass die Glim- 
merplatte die gleiche Lage behielt. Ein gleiches Resultat in 
Betreff des Kreuzes der in Rede stehenden Kolben ergaben 
andere Prüfungsmittel, wie die Physiker sie anzuwenden ge- 
wohnt sind, z.B. die Einschaltung einer sehr dünnen Glimmer- 
platte zur Beobachtung der Verschiebung der Kreuzschenkel 
bei Drehung derselben. 

Die Beobachtung einzelner Epidermisstücke von der Fläche 
im Polarisationsapparate ist das beste Mittel, die Menge und 
Vertheilung der Kolben in der Haut kennen zu lernen. Sie 
zeichnen sich bei Anwendung polarisirten Lichtes viel schärfer 
aus, als bei Beobachtung mit gewöhnlichem Lichte, wo sie zwar 


. Ihrer grösseren Durchsichtigkeit und homogenen Beschaffenheit 


wegen auffallen, welche Eigenschaften aber oft durch die über 

ihnen liegenden anderen Zellen verdeckt werden. Um die 

Kreuze mit voller Deutlichkeit zu sehen, muss stets die äussere 

Fläche der Epidermis nach oben gewandt liegen, und muss die 

Einstellung auf oder in die Nähe dieser oberen Fläche ge- 

schehen. Hat man die Epidermis umgekehrt auf den Object- 
16* 


236 Max Schultze: 


träger gebracht, so sieht man die der Lederhaut aufsitzenden 
Enden der Kolben oben frei liegen, denn sie reichen hier, wie 
oben auseinandergesetzt wurde, bis an die Grenze der Epider- 
mis. Diese Enden zeigen aber bei Betrachtung im Polarisa- 
tionsapparat kein Kreuz doppelter Brechung. Um letzteres 
auch bei dieser Lage der Epidermis zu sehen, muss der Tubus 
des Mikroskopes gesenkt werden, um die in der Tiefe. verbor- 
genen kolbigen Enden zu erreichen. Erst wenn diese richtig 
eingestellt sind, erscheint das Kreuz, aber getrübt. 

Der Hals zeig; im Querschnitt keine Erscheinungen von 
Doppelbrechung, verhält sich also auch in dieser Be- 
ziehung wie ein Muskelprimitivbündel. Er besitzt 
eine optische Axe in der Längsrichtung und in Bezug auf diese 
ist er positiv. 

Aber wie reimt sich damit das negative Kreuz im natür- 
lichen oder künstlichen Querschnitt des oberen Endes?! Bis- 
her sind Körper mit so eigenthümlichen Erscheinungen der 
Doppelbrechung nicht bekannt geworden. Dennoch sind un- 
sere Kolben nicht die einzigen Gebilde dieser Art, es finden 
sich solehe vielmehr in der organischen Natur sehr verbreitet 
und können auch leicht künstlich nachgemacht werden. 

- Der Baumwollenfaden, die durch Verdickungsschichten mehr 
oder minder vollständig ausgefüllten Bastzellen, lassen sich 
zur Vergleichung heranziehen. Hugo von Mohl, welcher 
zuerst die das Licht doppelt brechenden Pflanzentheile in ne- 
gative und positive unterschied,!) erkannte die Cellulose- 
hobhlkugel d.h. die Pflanzenzelle, gleichviel ob mit dicker oder 
dünner Wand und den künstlichen Querschnitt derselben, also 
auch den der langgestreckten Bastzelle, als negativ. Als er 
aber zugleich die Beobachtung machte, dass die Bastzelle oder 
der Baumwollenfaden im natürlichen Längsschnitt sich wie der 
von Brücke als positiv bestimmte Muskelfaden: verhalte, 
meinte er, da nach seiner Bestimmung der Cellulosefaden ne- 
gativ sei, müsse es der Muskelfaden auch sein. Mohl be- 
gnügte sich den Widerspruch zwischen seinen und den Beob- 


1) Botanische Zeitung. 1858. No. 2. S. 11. 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon u. s. w. 237 


achtungen Brücke’s zu constatiren, seine Beobachtungsme- 
thode mitzutheilen') und die Lösung des Räthsels einem An- 
deren zu überlassen. Die Methode der Bestimmung, ob ein 
Körper optisch positiv oder negativ, ist bei H. v. Mohl so 
richtig, wie bei Brücke. Es besteht in der That auch gar 
keine Differenz zwischen den Angaben beider Forscher. H. v. 
Mohl hat ganz Recht, wenn er sagt, der Querschnitt des Oel- 
Julosefadens ist negativ, er durfte daraus aber nicht schliessen, 
dass der Längsschnitt, natürlicher oder künstlicher, auch ne- 
gativ sein müsse. Dieser ist vielmehr positiv wie die Mus- 
kelfaser. 

Wenn ein doppeltbrechender Körper sich in der einen Rich- 
tung positiv und rechtwinklig darauf negativ zeigt, so heisst 
das, dieser Körper habe mindestens zwei optische Axen, welche 
rechtwinklig aufeinander stehen. Das Muskelprimitivbündel ist 
nach Brücke optisch einaxig, die Axe geht in der Längsrich- 
tung des ceylindrischen Fadens. Die solide gewordene Bast- 
zelle, die Baumwollenfasern haben auch eine optische Axe in 
der Längsrichtung, denn der Querschnitt zeigt ein Kreuz, wie 
eine Kalkspathplatte, rechtwinklig auf die optische Axe ge- 
schliffen. Solche Fäden müssen aber nach dem Vorhergehen- 
den, da sie sich im Längsschnitt mit Rücksicht auf die Längs- 
axe positiv, im Querschnitt dagegen mit negativem Kreuze 
zeigen, mindestens noch eine andere Axe doppelter Brechung 
rechtwinklig auf jene erste haben. Die Längsaxe ist das Cen- 
trum für die vollkommen gleichmässige concentrische Schich- 
tung der Bastzelle, Danach ist, wenn wir eine verschwindend 


dünne Scheibe rechtwinklig auf die Längsaxe ablösen, die 


moleculäre Structur in der Richtung der Radien dieser Scheibe 


überall dieselbe. Keiner dieser Radien oder Durchmesser 


kann vor dem anderen einen Vorzug haben — wenn also in 
einer dieser Linien eine optische Axe liegen soll, müssen alle 
die Bedeutung von optischen Axen haben: welche Vorausetzung 
denn auch durch die Beobachtung bestätigt wird. Der gleich- 
mässig concentrisch geschichtete Cellulosefaden besitzt ausser 


1) Botanische Zeitung. 1858. No, 52. 8. 375. 


238 ‚Max Schultze: 


seiner Längsaxe noch unendlich viele Axen doppelter 
Brechung rechtwinklig auf jene. 

Etwas ganz ähnliches findet statt bei einer gleichmässig ge- 
schichteten Kugel, sei dieselbe hohl wie eine Pflanzenzelle 
mit geschichteter Cellulosemembran oder solide wie ein Amy- 
lonkorn. Es fragt sich, wie viele optische Axen ein solches 
das Licht doppelt brechendes Gebilde habe. Es ist, wie ich 
glaube, nur die eine Annahme möglich, dass unendlich viele 
optische Axen vorhanden seien, welche alle durch das Schich- 
tungscentrum hindurch gehen. Denn nach allen diesen Rich- 
tungen verhalten sich die in Rede stehenden Gebilde wesent- 
lich gleich. 

Es ist viel über die Ursache der Doppelbrechung solcher 
gleichmässig geschichteter organischer Gebilde gestritten wor- 
den. Es fragt sich, mit welcher der aus der anorganischen 
Natur bekannten Erscheinungen der Doppelbrechung jene 
zusammenzustellen sei. Eine Kugel mit unendlich vielen 
Axen doppelter Brechung erzeugt man bekanntlich aus einer 
homogenen Glaskugel, wenn man dieselbe von aussen her 
erwärmt oder abkühlt. Fixiren wir irgend einen Moment 
aus ihrer allmähligen Erwärmung oder Erkältung, also z. B. 
den, wo bei der Erwärmung eben das Centrum der Kugel die 
erste Einwirkung, der eindringenden Wärme verspürt, während 
aussen noch eine stetige Zunahme der Wärme stattfindet, so 
haben wir es gewissermaassen mit einer geschichteten Ku- 
gel zu thun, welche in jeder Schicht eine andere Temperatur 
hat, und in Folge dessen sich durch und durch in einem Zus 
stande moleculärer Spannung befindet. Diese Spannung wird 
für jede einzelne Schicht in einer Verschiedenheit zwischen ra- 
dialen und tangentialen Zugkräften bestehen, und es müssen, 
wenn bei der Erwärmung von aussen her die tangentialen Zug- 
kräfte überwiegend auftreten, bei der Erkältung die radialen 
die Oberhand gewinnen. Dieselbe Spannung aber lässt sich 
ebenso wie durch verschiedene Wärmegrade auch durch Druck 
von aussen oder von innen erzeugen. Druck von aussen 
ist gleich Erkältung von aussen und macht optisch ne- 
gativ, Druck von innen bei einer Hohlkugel ist gleich der 


EUER NEE, 


| Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon u. s. w. 239 


Erwärmung von aussen und macht optisch positiv.') 
Endlich, und dieser Fall dürfte für uns von besonderer Wich- 
tigkeit sein, bedarf es, um die zur Doppelbrechung nothwen- 
dige Spannung in einer Kugel hervorzubringen, gar nicht einer 
stetig fortwirkenden äusseren oder inneren Ursache, wie Tempe- 
raturwechel oder Druck: es ist denkbar und kommt vor, dass die 
Einflüsse, welche bei der Entstehung der Kugel aus dünnen 
Schichten die Bildung jeder einzelnen Schicht beherrschten, 
der Art waren, dass diese Schichten alle in einem solchen Zu- 
stande der Spannung sich ablagerten, in einem solchen Kampf 
tangentialer und radialer Zugkräfte fest wurden, dass ibnen 
nun die Doppelbrechung als etwas Unveräusserliches inhärirt. 
Bleibt das Verhältniss dieser Kräfte zu einander in allen 
Schichten dasselbe, d. h. ist es dieselbe Kraft, welche bei Bil- 
dung aller Schichten die Oberhand behielt, so wird der so ge- 
bildete Körper durch und durch optisch positiv oder negativ 
sein. Wechseln aber die Kräfte einmal, so würde die Stelle, 
wo der Wechsel stattfand, eine neutrale Zone sein, von wel- 
cher nach der einen Seite negative, nach der anderen positive 
Doppelbrechung sich zeigte. 

Solche bleibende Spannungsverhältnisse der einzelnen Schich- 
ten bietet das schnell gekühlte Glas dar — eben solche sind 
es nach meiner Meinung, denen die geschichteten aus Cellulose 
bestehenden Pflanzentheile, die Amylonkörner und viele andere 
ähnlich gebildete Körper ihre Fähigkeit das Licht doppelt zu 
brechen verdanken. Aber nicht blos diese Doppelbrechung 
schlechthin, sondern auch die Verschiedenheiten in Betreff des 
Einflusses auf den Gang des ordinären und des extraordinären 
Strahles — die Unterschiede zwischen optisch positiven und 
negativen Körpern — werden sich, wenn unsere Ansicht rich- 
tig ist, auf die Verschiedenheiten der Spannung ebenso zurück- 
führen lassen müssen, wie wir dies für eine durch äussere Erwär- 
mung positiv und durch Erkältung negativ gemachte ursprünglich 
homogene Glaskugel können. Das Amylonkorn ist positiv, 


SE N sn an nn 2 - > 
nenn msn ade 


a 2 


1) Vgl. Neumann, die Gesetze der Doppelbrechung des Lichtes 
u, s. w. in den Abhandl. der Akad. der Wiss. zu Berlin aus d. J. 
1841. Th. 2. 


240 Max Schultze: Koi all 


nicht weil es aus Amylon besteht, wie H. von Mohl anneh- | 
men möchte, der die chemischen Verhältnisse offenbar zu sehr 
in den Vordergrund stellt, sondern weil die Genese des Amy- 
lonkornes es mit sich bringt, dass jede seiner Schichten eine 
solche moleeulare Spannung besitzt, wie die Substanz einer von 
aussen erwärmten und in allmähliger Durchwärmung begriffe- 
nen Glaskugel. Diese Spannung ist dieselbe wie bei einer 
Hohlkugel, die von innen her gedrückt wird. Es ist von 
Wichtigkeit hier anführen zu können, dass nach der Ansicht’ 
der Botaniker die Oentralsubstanz des Amylonkornes sich in 
einem Zustande der Queliung befindet,!) also einen Druck 
von innen nach aussen ausübt, welcher in Verbindung 
mit einem ähnlichen, den die ebenfalls gequollene Zwischen- 
substanz zwischen den Schichten ausübt, hinreichen dürfte, 
die Doppelbrechung im positiven Sinne hervorzurufen. ' Hier- 
nach wird also Schacht gegen H. von Mohl in Schutz zu 
nehmen sein, indem in der That ganz unabhängig von der che- 
mischen Zusammensetzung; .nur die Verhältnisse der moleeu- 
laren Anordnung als Ursache der Doppelbrechung betrachtet 
werden können. | 

Von grosser Wichtigkeit ferner für Erklärungsversuche 
nach den angedeuteten Prineipien wird die Analyse der Ent- 
stehungs- und Wachsthumsvorgänge der betreffenden Körper 
sein.' Lagert sich, aus flüssiger oder breiweicher Substanz er- 
härtend und dabei sich zusammenziehend, eine dünne Schicht 
einer Substanz auf die andere, so wird voraussichtlich ein 
Körper (er habe die Gestalt einer Kugel) mit negativen 
Axen doppelter Brechung entstehen, indem die Schichten sich 
in dem umgekehrten Spannungsverhältnisse befinden werden, 
als bei dem in jeder seiner Schichten von innen nach aussen 
gespannten Amylonkorn, welches positiv ist. Es fällt nicht 
schwer, solche kuglige Körper künstlich zu erzeugen. Ich 


—_— 


“ 
1) Vergl. u. A, Nägeli, die Stärkekörner, Zürich 1858, S. 297 


und an vielen anderen Stellen. Dass das Wachsthum der Stärkekör- 
ner, wie Nägeli beweist, wesentlich‘ durch Einlagerung nicht 
durch Auflagerung erfolgt, passt vortrefflich zu unseren obigen Be- 
trachtungen. { 


Me a [Te Te ee 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon u. s.w. 241 


wählte sehr dünnes Collodium, und indem ich auf eine steck- 
nadelknopfgrosse Glaskugel, welche keine Doppelbrechung 
zeigte, nach einander viele Schichten desselben auftrug, erhielt 
ich nach kurzer Zeit eine das Licht sehr vollkommen doppelt 
brechende Kugel, welche sich negativ verhielt. Dabei er- 
wähne ich, dass die zur Darstellung des Collodium verwandte 
Schiessbaumwolle auf dem Querschnitt ein positives Kreuz!) 
gab, woraus folgt, dass nicht die Beschaffenheit der Sub- 
stanz selbst, nicht ihr @hemisches Verhalten die Ur- 
sache der optischen Eigenschaften der künstlich erzeugten Col- 
lodiumhohlkugel war, welche in solchem Falle vielmehr auch 
ein positives Kreuz hätte geben müssen. 

In einem ähnlichen Zustande der Spannung, wie bei der 
Collodiumhohlkugel, haben wir uns die Schichten der Cellu- 
losemembranen der Pflanzenzellen zu denken, welche auch 
optisch negativ sind. Dieselbe erhärten auf und aus der Ober- 
fläche des Protoplasmas, ziehen sich während dieser Erhärtung 
voraussichtlich etwas zusammen, wie wenn sie einem Druck 
von aussen ausgesetzt wären, und verhalten sich demnach ne- 
gativ. Dass nach H. von Mohl aus der negativen Cellulose 
positiveKork- oder Cuticularsubstanz entstehen kann,!) 
ist weiterer Betrachtung sehr werth. Wenn nach den eben 


1) Nach H. von Mohls Entdeckung wird das optische Verhalten 
der Baumwolle bei deren Umwandlung in Schiessbaumwolle so geän- 
dert, dass was vorher negativ war, jetzt positiv wird. Der Querschnitt 
der Baumwolle als eines geschichteten Cellulosefadens ist negativ, der 
Längsschnitt nach unserer Bestimmung (natürlicher oder künstlicher) 
positiv. Umgekehrt bei der Schiessbaumwolle. Schacht (Anatomie 
und Pbysiologie der Gewächse Th.II. S. 589) macht mit Recht darauf 
aufmerksam, dass die Umwandlung eine so allmählige ist, dass man 
bei sehr kurzer Einwirkung des Säuregemisches eine Schiessbaumwolle 
erzeugen kann, welche noch die ursprünglich der Baumwolle zukom- 
mende Art der Doppelbrechung, wenn auch in geschwächtem Maasse, 
besitze, oder welche gar keine Doppelbrechung zeige. Letzterer Zu- 
stand ist ‚derjenige, wo eben das Positiv in Negativ umschlagen will. 
Der Zustand kann, wenn die Baumwolle zu rechter Zeit aus dem 
Säuregemisch herausgenommen wird, fixirt werden. 

2) Siehe unter Anderem den citirten Aufsatz in der botanischen 
Zeitung S. 12. | 


242 Max Schultze: 


ausgesprochenen Grundsätzen eine Erklärung dieser Verände- 
rung gegeben werden soll, würde nachzuweisen sein, dass die- 
selbe mit einer Umänderung der Spannung der einzelnen 
Schichten in den umgekehrten Zustand als vorher Hand in 
Hand gehe. Dass dabei die nach H. von Mohls Beobach- 
tungen in die persistirende Cellulose sich einlagernde 
fremde Substanz, die sich durch Kalilauge wieder heraus- 
lösen lässt, eine Rolle spiele, ist mehr als wahrscheinlich, und 
man könnte den Nachweis versuchen, dass diese Einlagerung 
eine ähnliche Umänderung der Spannungsverhältnisse zur Folge 
haben müsse, wie sie in den ebenfalls positiven Amylonkörnern 
bestehen, welche nach Nägeli’s gründlichen Untersuchungen 
ja auch nur durch Einlagerung wachsen. So dürfte in einem 
ähnlichen Verhalten der Schlüssel zu der merkwürdigen Um- 
änderung der optischen Eigenschaften bei Umwandlung, von 
Baumwolle in Schiessbaumwolle zu suchen sein. Man hätte 
sich zu denken, dass durch Einwirkung der starken Säuren 
die Substanz zwischen den Gelluloseschichten, die Sub- 
stanz, auf deren Anwesenheit es beruht, dass man überhaupt 
Schichtstreifen auf dem Querschnitt sieht, einer starken 
Quellung, einer chemischen Veränderung mit Volumszunahme 
unterworfen sei, wobei ein ähnlicher Effect zu erwarten steht, 
wie beim Wachsthum der Stärkekörner durch Einlagerung, 
ein Effect, der den geschichteten Körper positiv macht. 
Wenn ich mich in Betreff der Polarisationserscheinungen, 
welche organische Körper darbieten, an diesem Orte weitläu- 
figer geäussert habe, als für mein ursprüngliche Aufgabe 
nothwendig erscheint, so geschah dies besonders deshalb, um 
den Widerspruch zwischen den Angaben von Mohl’s und 
Brücke’s in Betreff der Muskeln zu lösen, ohne welche Lö- 
sung die Erscheinungen an den Kolben der Petromyzon-Haut 
nicht verständlich geworden wären. Wir kehren jetzt zu die- 
sen zurück. Nachdem wir den Hals der Kolben und dann 
die Ansicht derselben von oben bei natürlicher Lage im pola- 
risirten Lichte betrachtet haben, können wir uns jetzt auch an 
die Deutung, der etwas verwirrten Farbenerscheinungen machen, 
von denen oben bereits die Rede war, welche in dem keulen- 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon u. s. w. 245 


förmig angeschwollenen Theile auftreten bei Beobachtung der- 
selben im natürlichen Längsschnitte und auf Roth gebender 
Glimmerplatte, wie sie in Fig. 7a und a‘ dargestellt sind. 

Die Erscheinung hängt auf das Genaueste mit der Schich- 
tung des keulenförmigen Theiles der Kolben zusammen. Die 
Sehichten sind concentrisch um den am blinden Ende des Kol- 
ben befindlichen körnigen Protoplasmaklumpen. Dieser bricht 
das Licht nicht doppelt, erscheint also in der Farbe des Grun- 
des. Derjenige Theil der geschichteten Masse, dessen Schicht- 
streifen von links oben nach rechts unten verlaufen, hat eine 
blaue, die entgegengesetzt verlaufenden Streifen zeigen sich 
dagegen mit gelber Farbe. Wo beide ineinander übergehen, 
die Schichtstreifen also die Richtung der Polarisationsebenen 
einhalten, tritt roth als Farbe des Grundes auf. Es ist also 
dieselbe Vertheilung der Farben, wie in den regelmässigeren 
Bildern Fig. 7d, welche bei Betrachtung der Kolben von oben 
entworfen sind. Die Keulenenden der Kolben können für sich 
als Kugeln betrachtet werden, und müssen also, da ihre opti- 
schen Axen alle gleichwerthig sind, von jeder Seite betrachtet 
dasselbe negative Kreuz geben. Hier ist dieses nur sehr ver- 
wischt durch die allmählige Abweichung der Schichten. Jetzt 
wird zugleich verständlich, dass die Querstreifung des 
Halses nicht, wie Mancher glauben könnte, eine Fortsetzung 
der an der Uebergangsstelle von Kopf und Hals allerdings 
auch quer verlaufenden Schichtstreifen ist. Wäre dies der 
Fall, so würde in unserer Fig.7 der Hals der Kolben die ent- 
gegengesetzte Farbe haben müssen, als er sie darbietet, näm- 
lich statt blau gelb und umgekehrt. Der Hals der Kolben a 
ist blau, der des Kolben a‘ gelb, wie diejenigen Stellen des 
Kolbenknopfes, in welchen die Schichten in der Längsrich- 
tung verlaufen. Daraus geht hervor, dass wenn die Doppel- 
brechung im Kolbenhalse auch auf Schichtung beruht, diese in 
der Längsrichtung liege, wonach also die Querstreifung 
nicht von derselben Art Schichtung abhängig sein kann, wie 
sie im oberen Theile des Kolben existirt, vielmehr als Folge 
einer secundären Differenzirung zu deuten ist. 

Hiermit ist unsere Beschreibung der Structur und optischen 


244 Max Schultze: 


Eigenschaften der Kolben zu Ende. Wer derselben gefolgt 
ist, wird zugeben müssen, dass wir es in ihnen mit höchst 
eigenthümlichen Gebilden zu thun haben. Und dass dieselben 
in der Epidermis liegen, deren Elementen man im Allge- 
meinen und mit Recht wenig Abwechselung in Betreff ihrer 
physiologischen Bedeutung zuschreibt, erhöht ihr Interesse. 
Die Aufmerksamkeit der Histologen ist zwar gerade in Betreff 
der Haut der Fische, zuerst durch Leydig’s Angaben, auf 
mancherlei abweichende Zellenformen gelenkt worden (ich er- 
innere an die Schleimzellen Leydig’s); solche wie die be- 
schriebenen Structurverhältnisse waren aber bis dahin unbe- 
kannt. Um die Hauptsachen noch einmal kurz zu recapitu- 
liren, so haben wir es also zu thun mit einer besonderen Art 
von Epidermiszellen, welche zu kolbenförmigen Gebilden 
ausgewachsen sind, in regelmässiger Vertheilung über die 
ganze Haut selbst die der Flossen sich finden, und 
sämmtlich mit dem unteren Ende des Halses dicht auf der 
Lederhaut aufstehen, während der angeschwollene, abgerundete 
Theil bis unter die oberflächlichste Lage der Epidermiszellen 
reicht, von diesen aber stets noch bedeckt wird. So unterscheiden 
sie sich durch Form und Grösse ganzscharfvon den benachbarten 
Zellen. Noch mehr verschieden sind sie aber von ihnen durch die 
eigenthümliche Umwandlung ihres Inhaltes oder besser der 
ganzen Zellsubstanz, denn eine Trennung von Membran 
und Inhalt ist an ihnen nicht ausführbar. Die Zellsubstanz ist 
zu einer homogenen, .stark lichtbrechenden und doppelt bre- 
chenden Masse umgewandelt, von zäher, teigiger, im lebenden 
Zustande vielleicht halbflüssiger Consistenz. Nur ein kleiner 
Rest des körnigen Protoplasma ist übrig geblieben, schliesst 
am bauchig abgeschlossenen oberen Ende zwei Kerne ein, und 
setzt sich von da manchmal als feiner und öfter unterbrochener 
Strang durch die Mitte des Kolbenhalses nach abwärts fort, 
ohne aber das der Lederhaut aufgesetzte Ende zu erreichen. 
Um das obere Protoplasmaklümpchen herum sind in ‘dieser 
verdichteten Masse, namentlich an Spirituspräparaten, sehr 
deutlich unregelmässige concentrische Schichtstreifen zu sehen, 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon u. s, w. 245 


im Halse sieht man dagegen besonders deutlich nach Erhärtung in 
Lösungen von Kali bichromicum in der homogenen Eiweisssub- 
stanz sehr regelmässige Querstreifen, welche ein Ausdruck 
sind einer Differenzirung der Substanz in Scheiben abwechselnd 
verschiedener Art. In Betreff der Consistenz, der chemischen 
und der optischen Beschaffenheit ist die Aehnlichkeit im Ge- 
webe des Kolbenhalses mit dem der quergestreiften Muskeln 
sehr gross. Unsere Beobachtungen geben. geradezu den Be- 
weis, dass die eigenthümliche Umwandlung des Protoplasma, 
welchem die contractile Substanz der Muskeln ihre Entstehung 
verdankt,!) auch in Zellen vorkommen könne, welche mit Mus- 
keln und der ganzen skelettbildenden Schicht nichts zu thun 
haben — wie hier in der Epidermis. Ich will nicht wieder- 
holen, was ich am angeführten Orte über die Entstehung 
der Muskelfasern gesagt habe, aber eines Punktes möchte ich 
hier noch Erwähnung thun. Verdankt, wie ich für nicht zwei- 
felhaft halte, die contractile Substanz des Muskelprimitivbün- 
dels ihre Entstehung einer allmählig von aussen nach innen 
fortschreitenden Verdichtung des Protoplasma der embryonalen 
Muskelzelle, so könnte man den Vorgang in gewisser Hinsicht 
an die Seite stellen der durch innere Ablagerung von Verdic- 
kungsschichten allmählig von aussen nach innen fortschreitenden 
Erhärtung der Bastzellen der Pflanzen. Aus einer langgestreck- 
ten, cylindrischen, fadenförmigen, ursprünglich dünnwandigen 
Zelle wird nach und nach eine solide oder fastsolide Cellulosefaser, 
deren Axencanal, wenn ein solcher vorhanden, einen kleinen 
Rest des ursprünglichen, nach und nach fast vollständig in 
Cellulose umgewandelten Protoplasma enthält. Allerdings ist 
die chemische Verschiedenheit zwischen Cellulose und eiweiss- 
artigem Protoplasma grösser als zwischen contractiler Muskel- 


| substanz und Protoplasma. Aber doch wird zugegeben wer- 


den müssen, dass in dem Gange der allmähligen Veränderungen 
anscheinend eine grosse Aehnlichkeit bestehe. Dennoch haben 
wir, ganz abgesehen vom chemischen, auch in dem rein mor- 


 phologischen Vorgange bedeutende Verschiedenheiten zu 


1) Vergl. meinen Aufsatz im vorigen Hefte dieses Archivs. 


346 Max Schultze: Bas) F 


constatiren. Die Untersuchung mit dem polarisirten Lichte 
hilft uns dieselben erkennen. Der Querschnitt des Muskelpri- 
mitivbündels, eine planparallele, rechtwinklig auf die Längsaxe 
geschnittene Platte desselben, zeigt unter dem Polarisations- 
mikroskop keinerlei Spuren doppelter Brechung. Wir schlies- 
sen daraus, dass die Längsaxe zugleich eine optische Axe sei.!) 
Eine ähnliche Platte aus einem Cellulosefaden geschnitten, 
z. B. aus den fast soliden Bastzellen des Lorbeer oder man- 
cher Euphorbien zeigt dagegen im Polarisationsmikroskope ein 
regelmässiges Kreuz, dessen Kreuzungspunkt das Oentrum der 
Schichtung ist. Hieraus folgt, dass in der Längsrichtung, wie 
beim Muskelprimitivbündel, auch eine optische Axe liegt. 
Worin beruht nun aber die Verschiedenheit beider Schnitte? 
Offenbar darin, dass bei der Bastfaser Alles genau concentrisch 
um die Längsaxe angeordnet, die moleculäre Structur eine 
solche geworden ist, dass in der Richtung der Radien jeder 
beliebigen ikreisförmig begrenzten Querebene Linien gleicher 
moleculärer Anordnung, optische Axen, existiren, wie wir ' 
deren Vorhandensein oben bereits bewiesen haben: während 
die Muskelfaser von solcher gleichmässig concentrischen | 
Schichtung Nichts besitzt, daher auch keine optischen Axen | 
in der radialen Richtung des Querschnittee angenommen wer- 
den können. Wie schon Brücke hervorhob, kann die Dop- 
pelbrechung der Muskelfaser abgeleitet werden von ihrer Zu- 
sammensetzung aus kleinen doppeltbrechenden Körperchen, die‘ 
-er mit dem Namen der Disdiaklasten belegte, welche aller 
im Muskelprimitivbündel der Art angeordnet sind, dass sie ihre‘ 
optischen Axen der Faserrichtung parallel richten, oder doch! 
eine solche Lage haben, dass sie in ihrer optischen Gesammt-" 
wirkung die Muskelfaser zu einem einaxigen positiven Körperi 
machen. In dieser Beziehung gleicht die Muskelfaser einemi 
Krystalle, den man sich aus unendlich vielen Einzelkrystallen' 
zusammengesetzt denken muss, deren jeder die optischen Ei- 
genschaften des Ganzen theilt, und die alle eine solche Lage| 
haben, dass die optische Gesammtwirkung die gleiche wie diei 


1) Vergl. Brücke’s eitirten Aufsatz. 


mann a 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon u. s. w. 247 


des einzelnen unendlich kleinen Krystalles ist. Etwas solcher 
Struetur Aehnliches können wir an der Bastfase,r nicht an- 
nehmen. Hier ist durchaus nicht jedes Theilchen dem Gan- 
zen gleich, vielmehr sind alle unter einander verschieden, und 
nur durch ihre eigenthümliche Gruppirung wird das Ganze 
hervorgebracht. Der Unterschied ist ganz derselbe wie zwi- 
schen einem Krystall und zwischen den ungleich erwärmten 
Glaskugeln, von denen eben die Rede war, oder Glascylin- 
dern, Scheiben u. s. w. Letztere sind, wie oben schon hinrei- 
chend betont worden, die Analoga, auf deren Erscheinungen 
wir zurückgehen müssen, wenn wir die Polarisationsbilder einer 
Bastfaser oder anderer ähnlich geschichteter Theile des 
Thier- oder Pflanzenkörpers erklären wollen. Auf das Mus- 
kelprimitivbündel aber können die Gesetze, welche dort gelten, 
nicht in Anwendung gezogen werden. 

Der Querschnitt des Muskelprimitivbündels würde, wenn 
wir das Licht hinreichend divergirend könnten durchfallen 
lassen, natürlich auch ein Kreuz zeigen, wie bei einem senk- 
recht auf die optische Axe geschnittenen positiven einaxigen 
Krystall. Unser Polarisationsmikroskop eignet sich nicht zu 
solcher Anordnung, weshalb wir mit demselben auch das Kreuz 
auf dem Querschnitte eines kleinen Kalkspath- oder Bergkıy- 
stalles nicht sehen können, während dasselbe im Amici’schen 
Polarisationsmikroskope sehr deutlich hervortritt, welches aber 
eine zu schwache Vergrösserung bietet, als dass es zu histiolo- 
gischen Untersuchungen dienen könnte. Dagegen ist der An- 
blick geschichteter Körper, wie Amylon, Krystalllinsenschliff 
u. Ss. w. unter dem Amici’schen Polarisationsmikroskop nicht 
verschieden von dem, welches unser stark vergrösserndes Po- 
larisationsmikroskop bietet, ein Beweis, dass es für die ange- 
führten geschichteten Körper des stark divergirenden Lichtes 
nicht bedarf, um die Eigenschaften der Doppelbrechung in vol- 
lem Glanze hervortreten zu lassen. 

. (Fortsetzung folgt.) 


248 ©: >E. Weber: 


Dritte Erwiederung auf Volkmann’s dritte Ab- 
handlung über Muskelirritabilität. 


Von 


EDUARD WEBER. 


Unter dem Namen b-Methode hat Volkmann eine von 
ihm angegebene Beobachtungsmethode beschrieben, auf die er 
zuerst darum einen besonderen Werth legte, weil er dadurch 
im Muskel, wenn er thätig wäre, eine Contractionskraft 
unter Verhältnissen nachweisen zu können vermeinte, unter 
welchen die elastische Kraft des Muskels Null sein müsse. 
Er behauptete nämlich, man müsse sich die Elasticität des 
Muskels als eine unveränderliche von seiner Thätigkeit oder 
Unthätigkeit unabhängige Eigenschaft denken, wonach die 
elastische Kraft des Muskels bei einer gewissen Länge des- 
selben immer Null sein müsse. Träfe man daher eine Ein- 
richtung, bei welcher der Muskel in dem Augenblick, wo er 
gereizt werden soll, diese Länge wirklich besässe, aber keine 
Verminderung dieser Länge erleiden könnte, ohne ein gewisses 
kleineres oder grösseres Gewicht zu haben, so könne unter 
diesen Verhältnissen die Hebung des Gewichtes, wenn sie be- 
obachtet würde, nur einer von der Elasticität des Muskels ganz 
unabhängige Kraft (jene Contractionskraft nämlich) zugeschrie- 
ben werden, weil die elastische Kraft Null wäre. 

Eine solche Hebung des Gewichts hat nun Volkmann 
durch die b-Methode bei Reizung des Muskels wirklich nach- 
gewiesen: es leuchtet aber ein, dass der darauf gegründete Be- 
weis einer von der Elasticität des Muskels unabhängigen Con- 
tractionskraft mit der Behauptung steht und fällt, dass die 
Elasticität des Muskels als eine unveränderliche, von seiner 
Thätigkeit oder Unthätigkeit unabhängige Eigenschaft gedacht 
werden müsste, wozu kein Grund vorhanden. 


Erwiederung auf Volkmann’s Abhandlung über Muskelirritabilität. 249 


Volkmann hat nun aber diese von ihm angegebene b-Me- 
thode weiter verfolgt und zur Ausführung von Messungsreihen 
benutzt, indem er durch denselben gereizten Muskel ver- 
schiedene kleinere und grössere Gewichte heben liess und 
jedesmal die Hebungshöhe bestimmte (und hat ferner ge- 
zeigt, dass, wenn man die von mir aufgestellten Ela- 
stieitätsgesetze auf diese Messungen in Anwendung bringen 
wollte, die Resultate mit den aus meinen (oder nach meiner 
Methode ausgeführten) Messungen abgeleiteten Resultaten in 
Widerspruch gerathen würden, woraus also, die Richtigkeit der 
Messungen vorausgesetzt, die Mangelhaftigkeit der von mir auf- 
gestellten Gesetze folgen würde, 

Die Rechtfertigung meiner hierdurch angefochtenen Gesetze 
egte mir also die Nothwendigkeit einer Prüfung der Volk- 

ann’schen Messungen auf, namentlich einer genauen Prüfung 
er von ihm angewandten b-Methode und aller dabei wesent- 
ichen und in Rechnung zu bringenden Umstände und Ver- 
nältnisse, die in der Ausführung übersehen worden sein könnten. 
Einen solchen von Volkmann übersehenen und nicht in 
Rechnung gebrachten Umstand fand ich sogleich darin, dass 
bei Anwendung der Volkmann’schen b-Methode die Dauer 
ler Belastung des Muskels viel kürzer ist als bei Anwendung 
einer a-Methode, der Muskel also weniger angestrengt und 
»rmüdet wird. Die Nichtbeachtung des verschiedenen Grades 
ler Ermüdung des Muskels bei den nach der a- und b-Methode 
usgeführten Messungen musste aber nothwendig, wie man 
ww einsieht, zu solchen Widersprüchen führen, wie Volk- 
ann gefunden hatte. 


une 


Volkmann hatte nämlich bei seinen a- und b-Messungen, 
lie er, um die Resultate der a- und b-Methode unmittelbar ver- 
leichen zu können, an demselben Muskel abwechselnd ausge- 
ührt hatte, das von mir zur Ausgleichung der Ermüdungsein- 
‚üsse gebrauchte Verfahren in Anwendung gebracht, ungeachtet 
jasselbe die Bedingung voraussetzt, dass die Ermüdung gleich 
1äs sig, wie in meinen Versuchsreihen, von Versuch zu Ver- 
ıch fortschreite, und es demnach auf Reihen wechselnder Ver- 


che übertragen, die sich gerade eben dadurch von einander 
Reichert's u, du Bois-Reymond’s Archiv. 1861, 17 


N ns SE 
° 


250 | Eduard Weber: For j 


unterscheiden, dass sie den Muskel ungleich ermüden, ohne 
zu erwägen, ob dies auch erlaubt sei, d. h. ob unter so ver- | 
änderten Verhältnissen die Ermüdungseinflüsse in seinen Mes- 
Sungen sich dadurch ebenso wie in den meinigen ausgleichen 
lassen; dass dies aber nicht der Fall sei, wird jeder Mathe 
matikverständige sogleich unmittelbar erkennen, dass folglich” 
die sich entsprechen sollenden a- und b-Messungen nicht den- 
selben Ermüdungsgraden angehören, folglich differiren und dem- 
nach, wenn sie gleichwohl, wie von Volkmann, als auf 
gleichem Ermüdungsgrade stehend betrachtet werden, schein 


bar einen Widerspruch ergeben müssen.!) | 

Die Richtigkeit dieser von mir mündlich mitgetheilten Be 
merkung hat Volkmann, wenn auch nicht sogleich, doch 
später factisch dadurch anerkannt, dass er bei Herausgabe sei 4 
ner ersten Abhandlung über diesen Gegenstand die Verminde- 
rung der Muskelanstrengung nun als Hauptzweck seiner b-Me= 
thode aufstellte und zu gleichem Zwecke noch andere Methor 
den angab, nämlich seine c- und d-Methode. Die früheren oben 
angeführten Einwendungen gegen die von mir aufgestellten 
Pe a, er nun zwar ganz Be bellEipteke aber, 


a) 
> 


gefundenen Resultaten den schädlichen Einfluss, welchen | 
Ermüdung der Muskeln bei meiner Methode ausübe, 3 
also die gänzliche Unbrauchbarkeit meiner Methode beweise,” ai 
Gegen diese, wenngleich unerwiesene Anschuldigung meinen 
Methode konnte ich nur bemerken, dass die aus jener Um! 
gleichheit der Ermüdung abgeleiteten Differenzen, so weit man ı 
dies controliren könne, weit kleiner ausfallen müssten, und dass | 
daher so grosse Differenzen in den Resultaten, wie Volk-' 
mann gefunden, unmöglich ihren Grund in der Methode selbst # 
haben könnten. Ich fand mich zugleich dadurch veranlasst, I 
einige vergleichende Messungsreihen, nämlich nach meiner 
Methode und nach Volkmann’s b-Methode in der von.ihm! 
angegebenen Combination selbst auszuführen, um mich selbst 
von der Grösse jener Differenzen näher zu überzeugen. Diese; 
"38° 


i) Siehe Archiv 1858 S. 509 und S. 543-544. ae 
RN 


Erwiederung auf Volkmann’s Abhandlung über Muskelirritabilität. 251 


von mir mit grösster Sorgfalt nach beiden Methoden ausge- 
führten Messungsreihen!') haben nun aber keineswegs zu so 
grossen Differenzen in den Messungsresultaten geführt, sondern 
zu viel kleineren, von der Grösse, wie sie nach den über den 
Einfluss der Ermüdung vorliegenden Controlen erwartet wer- 
den mussten, die demnach ihre vollständige Erklärung in der 
erwähnten, von Volkmann nicht beachteten unvollkommenen 
Ausgleichbarkeit des verschiedenen Grades der Ermüdung des 
 Muskels bei den nach dera - und b-Methode ausgeführten Mes- 
sungen finden. Ich hätte mich hierbei beruhigen können, doch 
war es mir erwünscht, dass ich von Volkmann selbst zu- 
fällig einige nähere Verhältnisse, die bei seinen Versuchen 
stattgefunden hatten, erfuhr, die mich in den Stand setzten, 
wenigstens eine Fehlerquelle. in den Volkmann’schen Beob- 
achtungen wirklich nachzuweisen. Volkmann hat nämlich 
‚ durch Anbindung des Federhalters an der Zungenspitze die 
| Froschzunge in das zur Messung dienende Muskelstück mit 
| eingeschlossen, die natürlich davon ausgeschlossen bleiben 
| muss, und wirklich fand ich,?) dass ich ebenfalls viel grössere 
| Differenzen erhielt, wenn ich, so wie Volkmann, Zeiger und 
| Gewicht an der Zungenspitze befestigte. | 
| Auch Volkmann hat darauf die Versuche wiederholt?) 
| und in seiner zweiten Abhandlung mitgetheilt, wonach zwischen 
| den nach der a- und b-Methode gefundenen Resultaten bei Be- 
| festigung des Federhalters und Gewichtes an der Zungenspitze 
\(V) 4 Mal grössere Differenzen vorkommen, als bei der Be- 
| festigung des Federhalters und Gewichtes über der Zungen- 
| wurzel (W). Aber das Alles reicht noch nicht hin zur voll- 
| ständigen Erklärung der grossen Volkmann ’schen Differenzen, 
was Volkmann ausdrücken zu wollen scheint, wenn er 8. 
271 sagt: „die vorwiegende Länge des a-Muskels wird durch 
| die Befestigung am unteren Zungenende begünstigt: aber sie 
| wird keineswegs durch dieselbe hervorgebracht,“ was wohl 


2) Archiv 1858. S, 532. 


3) Archiv 1858. S.269 u. 271. Siehe auch S. 549 meiner Erwie- 
derung. 


| 1) Archiv 1858. S. 521 und 525. 
| 


37° 


252 Eduard Weber: 


heissen sollte, sie wird zwar nicht ganz, aber jedenfalls doch 
theilweise dadurch hervorgebracht. 

Nachdem meine Messungen keine solche grossen Differenzen 
ergeben und nachdem der Grund der von Volkmann gefun- 
denen, theilweis wenigstens, in einem von Volkmann bei 
Befestigung des Federhalters und Gewichts begangenen Ver- 
sehen nachgewiesen worden war, durfte wohl für den noch un- 
erklärten Rest jener grossen Volkmann’schen Differenzen 
ein anderer ähnlicher Grund vermuthet werden. Freilich Volk- 
mann sieht die Sache anders an und meint, weil aus dem ihm 
nachgewiesenen und von ihm zugegebenen Fehler nur 
ein Theil seiner grossen Differenzen erklärt werden könne, so 
müsse der nach Ausscheidung dieses Theils übrig bleibende 
Rest jener groben Differenzen nun als reell betrachtet und 
auf Rechnung meiner a-Methode geschrieben werden. Selt- 
- samer Weise bekennt aber Volkmann in demselben Satze, 
in dem er die Schuld meiner a-Methode zuschreibt, einen zwei- 
ten mir noch unbekannten, von ihm selbst begangenen Fehler, 
von dem ich freilich vorher keine Ahnung haben konnte, durch 
den aber nun die vollständigste Aufklärung über jene grossen 
Volkmann’schen Differenzen und über den Grund, warum 
ich sie bei sorgfältigster Wiederholung nicht hatte beobachten 
können, gewonnen wird. Volkmann sagt nämlich 8. 277: 
„Indess kann ich nachweisen, dass die von Weber benutzte 
Experimentalmethode in der That die Werthe jener Längen- 
unterschiede ausserordentlich herabdrückte.e Weber hat die 
Muskeln tetanisirt, während ich sie durch Inductions- 
schläge reizte, und nur hierin liegt es, dass seine Resultate 
von den meinigen abweichen.“ 

Es handelt sich hier also um zwei ganz verschiedene Dinge, 
nämlich erstens um die Beobachtungsmethode, zweitens um 
die Wahl der Objecte, die damit beobachtet werden. Ein an- 
deres Object ist ein tetanisirter Muskel, ein anderes Object 
wieder ein durch einzelne Inductionsschläge nur mo- 
mentan gereizter Muskel. Offenbar darf man Uebereinstim- 
mung der Resultate nur fordern und erwarten, wenn man zwei 
verschiedene Beobachtungsmethoden auf das nämliche Ob- 


Erwiederung auf V ol kmann’s Abhandlung über Muskelirritabilität. 253 


jeet in Anwendung bringt, nicht aber, wenn man zwei ver- 
schiedene Beobachtungsmethoden auf zwei verschiedene Beob- 
achtungsobjecte in Anwendung bringt, wie Volkmann ge- 
than hat. 

Und warum hat Volkmann das Beobachtungsobject ge- 
wechselt? warum hat er diese Verwechselung bis jetzt ver- 
schwiegen? Volkmann hat doch gewusst, dass ich tetanisirte 
Muskeln gebrauche, denn er sagt es ja selbst, ganz abgesehen, 
dass dies in der Beschreibung meiner Versuche ausdrücklich 
gesagt und hervorgehoben worden ist, sogar mit Angabe der 
Gründe dieser meiner Wahl. Hat Volkmann diesen Unter- 
schied vielleicht früher ganz übersehen, oder hat ihn früher für 
bedeutungslos gehalten? In beiden Fällen liegt die Schuld an 
ihm, wie er selbst zugiebt, wenn er jetzt sagt: „nur hierin 
liegt es, dass seine Resultate von den meinigen abweichen.“ 
Meine Methode kommt dabei unmittelbar gar nicht in Betracht, 
und wenn Volkmann dennoch in demselben Satze ihr die 
Schuld zuschiebt, so fühle ich mich ausser Stande, den Sinn 
und Zusammenhang seiner Gedanken dabei zu fassen. 

Also Volkmann greift meine Untersuchungen an, weil er 
grosse Differenzen zwischen seinen und meinen Messungsresul- 
taten findet, verschweigt dabei aber, dass seine Messungen sich 
auf ein ganz anderes Beobachtungsobject beziehen. Es könnte 
nun allerdings auch bei verschiedenen Beobachtungsobjecten 
doch der Fall vorkommen, dass diese Verschiedenheiten keinen 
oder doch nur einen geringen Einfluss auf die Messungsresul- 
tate haben und letztere daher doch mit einander mehr oder we- 
niger übereinstimmen sollten. Wir wollen daher auch diese 
auf die beiden verschiedenen Beobachtungsobjecte sich bezie- 
henden Messungsresultate selbst noch etwas näher betrachten. 

Ist der tetanisirte Muskel das Beobachtungsobject, so 
bestehen die Messungsresultate in der gleichzeitigen Bestim- 
mung der Belastungen und Länge des Muskels. Ist dage- 
gen der durch einen einzelnen Inductionsstoss ge- 
reizte Muskel das Beobachtungsobject, so bestehen die Mes- 
sungsresultate in den zusammengehörigen Bestimmungen von 
der Grösse derin Wurfbewegung gesetzten Gewichte 


954 Eduard Weber: 


und der Wurfhöhen. Es leuchtet nämlich ein, dass im Mo«= 
mente des Inductionsstosses dem Gewichte eine ‚blosse Ge- 
schwindigkeit, die selbst nicht Gegenstand der Beobachtung 
ist, mitgetheilt wird; dass aber das Gewicht in Folge dieser 
Geschwindigkeit, wie ein 'geworfener Körper, die: Bewegung 
fortsetzt, bis sie nach den Fallgesetzen aufgehoben ist, und dass 
es nur diese W urfhöhe ist, welche wirklich beobachtet wird. 
Hierbei ist noch zu bemerken, dass zwar die von dem mo- 
mentan gereizten Muskel dem Gewichte ertheilte Geschwindig- 
keit, wenn auch nicht direct beobachtet, doch aus der beob- 
achteten Wurfhöhe leicht bestimmt werden kann; dass aber — 
falls der Inductionsstoss bei noch so kurzer eigener Dauer doch 
in dem von ihm gereizten Muskel Nachwirkungen von län- 
gerer Dauer hinterliesse, vermöge deren der Muskel nach ver- 
schwundenem Inductionsstosse während der ganzen Wurfbewe- 
gung auf das Gewicht zu wirken fortführe, — die Fallgesetze 
keine unmittelbare Anwendung finden, und dass überhaupt 
dann bei der unbekannten Grösse der Veränderlichkeit dieser 
Nachwirkung von der beobachteten Wurfhöhe allein kein 
sicherer Rückschluss auf die vom gereizten Muskel ausgeübten 
Kräfte möglich ist. Die Verschiedenartigkeit der Messungsresul- 
tate leuchtet hiernach von selbst ein, auch findet, wie man 
leicht übersieht, zwischen den Gesetzen der Abhängigkeit von 
Belastung und Länge während des Gleichgewichts des 
Muskels und zwischen den Gesetzen der Abhängigkeit von Ge- 
wicht und Wurfhöhe nach dem durch einen Inductions- 
stoss gestörten Gleichgewichte gar keine unmittelbare 
Beziehung statt. Dort ist Gleichgewicht und die unbe- 
kannte Kraft wird unmittelbar durch das bekannte Gewicht, 
welches sie aufhebt, bestimmt; hier ist Bewegung, deren 
Geschwindigkeit erst aus der Wurfhöhe berechnet werden 
müsste, und auch diese würde aus dieser von ihr hervorge- 
brachten Bewegung nur bestimmbar sein, wenn die Dauer 
ihrer Wirksamkeit bekannt wäre, auf die sich aber die Volk- 
mann ’schen Messungen gar nicht erstrecken, welche nicht ein- 
mal. Bürgschaft geben, dass diese Dauer bei allen: Versuchen 
gleich ist. — Uebrigens hat Volkmann gar nieht eine solche 


Erwiederung auf Volkmann’s Abhandlung über Muskelirritabilität. 255 


mittelbare Bestimmung der unbekannten Kraft versucht, son- 
dern hat sich blos an die unmittelbar beobachtete W urfhöhe 
gehalten, die zwar als eine Wirkung der unbekannten Kraft 
betrachtet werden mag, wenn auch während einer unbekannten 
Zeit, keinenfalls aber das Maass dieser Kraft ist, noch einen 
Maassstab derselben bildet. 

Ich kann nicht umhin, hier einer begütigenden Bemerkung 
des Herrn Professor Meissner zu erwähnen, die sonst leicht 
missverstanden werden könnte. Herr Prof. Meissner sagt:!) 
„Es scheine das Verfahren Volkmann’s bei dem ganzen 
Zwecke der Untersuchung desselben wohl zulässig und möchte 
nicht so gerade als zweckwidrig zurückzuweisen sein.* War 
Volkmann’s Zweck die Untersuchung momentan gereizter 
Muskeln, so musste er natürlich zur Darstellung solcher mo- 
mentan gereizter Muskeln ein anderes Verfahren anwenden als 
ich zur Darstellung tetanisirter Muskeln, und es kann ihm die 
Anwendung einzelner Inductionsstösse dabei nicht zum 
Vorwurf gemacht werden. Nicht dieses Verfahren aber, wel- 
ches Meissner vertheidigt, sondern die Confundirung der Un- 
tersuchungen (momentan gereizter und tetanisirter Muskeln) mit 
einander ist ihm zum: Vorwurf zu machen, und gegen diesen 
Vorwurf wird ihn Meissner gewiss nicht in Schutz nehmen 
wollen. Diese Confusion hat ihn ja verleitet, Widersprüche 
zu finden, wo keine waren und mir Irrthümer und Fehler vor- 
zuwerfen, wozu er kein Recht hatte. 

So verschieden nun aber momentan gereizte und tetanisirte 
Muskeln als Untersuchungsobjecte sind, so versteht sich doch, 
dass eine tiefer eindringende vergleichende Untersuchung 
dieser beiden Objecte‘zu sehr wichtigen und interessanten Re- 
sultaten führen kann. Es würde hier aber zu weit führen, 
darauf näher einzugehen, zumal da alle bisherigen von V olk- 
mann gemachten Zusammenstellungen, bei welchen die Ver 
schiedenheit der Objecte nicht bloss nicht berücksichtigt, son- 
dern gänzlich ignorirt worden, ganz unbrauchbar sind, oder 
wenigstens einer ganz neuen durchgreifenden Prüfung bedürfen, 


1) Jahresbericht 1858. S. 473. 


- 


256 Eduard Weber: 


um alle Widersprüche, die blos auf jener Confusion beruhen, 
sorgfältig zu entfernen. Das Detail der Volkmann’schen 
Versuche kann für solche weitergehende Untersuchungen sehr 
brauchbar und nützlich sein, worin ich gern den von Meiss- 
ner und Fick!) gemachten Andeutungen beistimme; nur zur 
Prüfung meiner Untersuchungen tetanisirter Muskeln sind 
Volkmann’s Untersuchungen momentan gereizter Mus- 
keln absolut nicht geeignet; denn das hiesse etwas unmittelbar 
und sicher Bestimmtes durch sehr unsichere und verwickelte 
Combinationen und Üonjecturen modificiren und corrigiren 
wollen. 

Nach dieser kurzen und bündigen Darlegung meiner An- 
schauung des Sachverhältnisses des Streitobjectes wollen wir 
sehen, zu welchen Schlüssen dagegen Volkmann aus seinen 
Beobachtungen des durch einzelne Inductionsstösse momentan 
gereizten Muskels mittelst der a- und b-Methode gelangt. — 
Nachdem er durch Wiederholung meiner Versuche von dem 
störenden Einflusse der Befestigung des Federhalters an der 
Zungenspitze überzeugt worden war, aber erkannt hatte, dass 
hiervon nur ein Theil der von ihm beobachteten grossen Dif- 
ferenzen der a- und b-Messungen herrühre, so wünschte er we- 
nigstens den dadurch noch unerklärt gebliebenen grösseren Rest 
derselben als reell zu erweisen, und auf die von mir gebrauchte 
a-Methode zu schieben. Er führte nun mit Vermeidung des 
obigen Fehlers a- und b-Messungen, ersteren Theils bei mo- 
mentaner Reizung, zweiten Theils bei Tetanisirung des- 
selben Muskels aus (vierzehnte Versuchsreihe)?) und schloss, 
da er gleichwohl im ersteren Theile ausserordentlich stark dif- 
ferirende Resultate der a- und b-Messungen, im zweiten Theile 
nur sehr wenig differirende Resultate der a- und b-Messungen 
erhalten hatte, nicht, dass der gefundene Widerspruch der a- 
und b-Resultate im ersten Theile der Messungen vom unstatt- 
haften Gebrauche momentan gereizter statt tetanisirter Muskeln 
abhänge, sondern vielmehr, dass der ungehörige Mangel des 


1) Canstatt’s Jahresbericht. 1859. S. 3—4. 
2) Archiv 1858. S. 279. 


Erwiederung auf Volkmann’s Abhandlung über Muskelirritabilität. 257 


Widerspruchs der a- und b-Resultate im zweiten Theile der 
Messungen vom unstatthaften Gebrauche tetanisirter statt mo- 
mentan gereizter Muskeln herrühre: indem nämlich die, wie er 
meint, durch die a-Methode an sich bedingte fehlerhafte Diffe- 
renz der Resultate der a- und b-Versuche (welche durch seine 
an momentan gereizten Muskeln ausgeführten Messungen ausser 
Zweifel gestellt seien) durch einen zweiten im Gebrauche te- 
tanisirter Muskeln gelegenen Fehler wieder grösstentheils be- 
seitigt oder „ausserordentlich herabgedrückt“* werde.‘ 

Die Anstrengung, welche der Muskel in den combinirten 
a- un db-Versuchen erfährt, zerfällt in zwei Theile, in einen in 
den a- und b-Versuchen differenten Theil, welcher die Dif- 
ferenz beiderlei Messungen erzeugt, und in einen in den a- und 
b-Versuchen nicht differenten Theil, der also in beiderlei 
Versuchen gleich gross ist und daher keine Differenzen erzeugt. 
Von diesen letzteren nimmt nun Volkmann an, dass er, un- 
geachtet er selbst keine Differenzen erzeuge, doch die durch 
den ersteren Theil erzeugten Differenzen verkleinere oder un- 
wahrnehmbar mache, so dass also, wenn derselbe, wie bei An- 
wendung momentan erregter Muskelzuckungen, sehr klein ist, 
die a—b-Differenzen sehr gross ausfallen, wenn derselbe da- 
gegen, wie bei Anwendunganhaltender Muskelcontractionen, sehr 
gross ist, die a—b-Differenzen sehr klein ausfallen müssten. ?) 
Diese schwer begreifliche Hypothese suchte er durch folgendesBild 
begreiflich zu machen: „Der Fall,“ sagte er, „verhält sich 


r).8:7278: 

2) Er sagt nämlich S. 278: „Ich behaupte, dass die Grösse der 
Längendifferenzen, welche von den Anstrengungen der Versuchsme- 
thode a und b abhängen, in einem reciproken Verhältnisse zu einer 
zweiten Anstrengung stehen, welche ihrerseits unabhängig von diesen 
Versuchsmethoden ist. Ganz unabhängig von dem Experimentalver- 
fahren a und b ist nämlich die Anstrengung, welche vom Reize aus- 
geht. Reizt man den Muskel durch Inductionsschläge, so ist diese An- 
strengung sehr klein und folglich machen sich die Versuchsmethoden 
nebst ihren Folgen sehr geltend; reizt man dagegen durch Tetani- 
sirung, so ist die Anstrengung des Muskels sehr gross, demnach 
werden die vom Experimentalverfahren a und b abhängigen Anstren- 
gungsdifferenzen in den Hintergrund treten.“ 


258 | Eduard Weber: 


ganz ähnlich wie folgender: Wenn man in ein: Zimmer, 
welches von einer Kerze beleuchtet wird, eine zweite bringt, 
so ist der Unterschied der Helligkeit in beiden. Fällen sehr 
gross. Ob man aber in ein Zimmer, welches von 100 Ker- 
zen beleuchtet wird, noch eine oder zwei andere bringt, wird 
kaum bemerkt werden, Ist also meine Lehre von dem Ein- 
flusse der Arbeit auf die Länge der thätigen Muskeln in der 
Natur begründet, so versteht sich von selbst, dass der Längen- 
unterschied der a- und b-Muskeln beim Tetanisiren dieser ab- 
nehmen und bei heftigster Reizung unmerklich werden müsse.“ 

Dieses Bild, in welchem, wie jeder gleich übersieht, die 
Grösse der Muskelanstrengung durch die Zahl der Kerzen, 
die Längendifferenzen durch die Stärke des Lichtes, das 
sie, wenn sie angesteckt sind, verbreiten, repräsentirt ist, passt 
aber nicht auf den in der Volkmann’schen Hypothese ge- 
gebenen Fall, weil hier nur der eine Theil der durch die Ker- 
zen repräsentirten Muskelanstrengung Differenzen erzeugt, der 
andere aber nicht. Da nun die Differenzen durch das Licht, 
das die Kerzen, wenn sie angesteckt sind, verbreiten, reprä- 
sentirt werden sollen, so kann, wenn das Bild der Volk- 
mann’schen Hypothese gerecht werden soll, nur der Diffe- 
renzen erzeugende Theil der Muskelanstrengung durch eine 
brennende Kerze repräsentirt werden, der andere keine 
Differenzen erzeugende Theil der Muskelanstrengung da- 
gegen muss durch Kerzen, die nicht brennen, repräsentirt 
werden. Das Lichtverhältniss eines durch eine brennende 
Kerze beleuchteten Zimmers wird aber nicht geändert, wenn 
man in dasselbe hundert andere Kerzen unangesteckt dazu 
stell. Was aber von dem Bilde gilt, gilt auch von der Hy- 
pothese, der es zur Erleuchtung dienen soll, und ich glaube 
daher wohl, dass Volkmann, wenn er nicht sich selbst durch 
das qui pro quo seines Bildes hätte täuschen lassen, die rein 
willkürliche Hypothese ganz unterlassen hätte. 

Dass aber die Messungen an momentan gereizten Muskeln 
so differente Resultate, wie Volkmann erhalten hat, geben 
müssen, je nachdem die a-, b-,.c- oder d-Methode gebraucht wird, 
folgt ohne alle Hypothese einfach daraus, dass die in einer. 


Erwiederung auf Volkmann’s Abhandlung über Muskelirritabilität. 259 


Muskelzuckung gegebene Kraft ein Gewicht zu einem um 
80, 'höheren Punkte heben müsse, je weniger sie vorher 
durch die andauernde Wirkung desselben bereits aufgehoben 
und  consumirt worden ist, je kürzere Zeit daher vor dem 
Eintritte des Endpunktes der Bewegung das Belastungsge- 
wicht zur Einwirkung gelangt, oder je höher das Gewicht 
schon steht, wenn es vom Muskel ergriffen wird, und je weni- 
ger es folglich von ihm noch gehoben zu werden braucht. 
Eine solehe Abkürzung der Wirkungsdauer des Gewichts hat 
nun. Volkmann dadurch herbeigeführt, dass er das Belastungs- 
gewicht, welches in den a-Versuchen durch den Muskel von 
unten aufgehoben werden muss, in den b- und c-Versuchen im- 
mer höher und in den d-Versuchen endlich so hoch gestellt 
hat, dass es vom Muskel fast gar nicht mehr gehoben, sondern 
nur zum Schweben: gebracht zu werden brauchte, wodurch die 
Dauer der Einwirkung des Gewichtes in den b- und c-Versu- 
chen immer mehr abgekürzt, zuletzt in den d-Versuchen fast 
Null werden, die dadurch immer vollkommener erhaltene Mus- 
kelkraft dagegen, das Gewicht in den b- und c-Versuchen im- 
mer höher, nämlich in den d-Versuchen fast zum Maximum, 
welches überhaupt möglich war, heben musste. Es leuchtet 
demnach ein, dass die sich nothwendig hieraus ergebenden Dif- 
ferenzen der Resultate, welche Volkmann aus seinen a-, b-, 
c-, d-Messungen an momentan gereizten Muskeln erhielt und zu 
deren Erklärung er jene „sehr schnell fortschreitende und sehr 
beträchtliche Ermüdung, eine Ermüdung, die in dem nächst 
folgenden Versuche nur darum nicht mehr merklich ist, weil 
die zwischen je zwei Contractionen stattfindende Ruhe eine fast 
eben so vollständige als merkwürdig rasche Wiederherstellung 
vermittelt*,!) hypothetisch annehmen zu müssen geglaubt hat, 
gar nicht mit der Natur des Muskels zusammenhänge, sondern 
lediglich von dem Einflusse herrühre, den beim Gebrauche 
der a-, b-, c-, d-Methode die willkürliche Abkürzung der 
Dauer der Wirkung des Belastungsgewichts auf den nur 
momentan gereizten Muskel ausüben musste, da dessen ein 


1) Archiv 1857. S. 40. 


260 Eduard Weber: 


für alle Mal erzeugte Kraft durch das Gewicht proportional 
der Dauer seiner Wirkung theilweise aufgehoben wird, schon 
ehe sie das Maximum ihrer Wirkung erreicht hat, so dass die 
Höhe, in welcher sie das Gewicht noch gehoben halten kann, 
der Dauer der vorausgegangenen Einwirkung des Gewichts 
proportional kleiner oder der Höhe des aufgestellten Gewichtes 
proportional grösser ausfallen muss, was Volkmann in seiner 
bekannten, die geometrische Darstellung von Gesetzen imitiren- 
den linearen Figur!) dem Auge anschaulich gemacht hat. 
Diese grossen Differenzen der Resultate, welche Volkmann 
aus seinen a-, b-, c-, d-Messungen an momentan gereizten 
Muskeln erhalten hat, sind daher auch ja nicht zu verwechseln 
und zu vermengen (wie Volkmann gern möchte) mit den 
kleinen Differenzen, welche, wie ich theoretisch und experi- 
mentell dargethan habe, a- und b-Messungen an tetanisirten 
. Muskeln, wegen der Unmöglichkeit völliger Ausgleichung der 
Ermüdungseinflüsse zwischen so verschiedenartigen Messungen 
ergeben müssen. 

Auf diese Beweise, welche schon in meiner vorhergehenden 
Erwiederung vorliegen und die ich hier nur theilweise ausführ- 
licher zu expliciren genöthigt worden bin, erklärt Volkmann 
am’ Eingange seiner neuesten Abhandlung S. 146, „dass er auf 
meine Einwürfe kurz antworten (respective ihnen widersprechen) 
auf die Gründe, welche ich gegen seine bisherigen Versuche 
erhoben, nicht zurückkommen wolle“. Ich glaube mich bei 
dieser Erklärung beruhigen zu können, da Volkmann zu- 
gleich factisch seine mit momentan gereizten Muskeln aus- 
geführten Versuche, die seiner ersten Abhandlung zu Grunde 
gelegt waren, sammt ihren grossen Differenzen, über die sich 
der Streit entsponnen, nun fallen gelassen hat, und ich den 
blossen Widerspruch doch schliesslich nicht verhindern kann. 

Somit schiene dieser Streit abgemacht zu sein. Allein 
Volkmann will nun die Unbrauchbarkeit meiner a-Versuche, 
nachdem er seine Versuche hat fallen lassen müssen, jetzt aus 
den Differenzen ableiten, welche, wie ich theoretisch und ex- 


1) Archiv 1857. 8. 37. 


Erwiederung auf Volkmann’s Abhandlung über Muskelirritabilität. 261 


perimentell nachgewiesen habe, die Resultate der an tetanisir- 
ten Muskeln ausgeführten a- und b-Messungen zeigen, welche 
aber nur die nothwendige Folge der Unausgleichbarkeit der 
Ermüdungseinflüsse in den mit ungleich ermüdenden Methoden 
(wie die a- und b-Methode) ausgeführten Messungen sind und 
die daher nur bei Nichtbeachtung dieser Unausgleich- 
barkeit für einen Widerspruch der Resultate beiderlei Mes- 
sungen gehalten werden können, während sie vielmehr eine 
nothwendige Oonsequenz der Elasticitätsgesetze der Muskeln 
selbst sind und daher, sofern sie experimentell nachgewiesen 
sind, denselben vielmehr zur Bestätigung dienen. Ich habe um 
so weniger erwartet, dass Volkmann diese völlig erklärten 
Differenzen zum Stützpunkt neuer Angriffe machen könnte, da 
er die von mir in der ungleichen Ermüdung des Muskels durch 
die a- und b-Methode nachgewiesene Ursache derselben (siehe 
oben 8. 250) als solche anerkannt hat, freilich, wie sich jetzt 
herausstellt, ohne den Gruud, warum sie es ist. 

Zum Zwecke dieser neuen Angriffe sucht nun Volkmann 
in seiner neuesten Abhandlung 1) diesen Differenzen, aus de- 
ren Kleinheit er zuvor die Unbrauchbarkeit meiner a-Methode 
beweisen wollte, jetzt durch ein paar neue Versuchsreihen !) 


1) Zur Berichtigung der Ausstellungen, welche Volkmann bei 
Gelegenheit dieser Versuche (siehe die Note S. 151) gegen den Ge- 
brauch des Hakens zur Befestigung der Gewichte am Froschmuskel 
macht, muss ich bemerken, dass es allerdings von selbst einleuchtet, 
dass dieser Haken „zwischen den zwei nur lose befestigten Bäuchen 
des Muskels“ nur unsicher ruhe und daher jedesmal durch die Bela- 
stung in dem nachgiebigen Bindegewebe herabgezogen werden müsse, 
und zwar sehr ungleichmässig, bald mehr, bald weniger, je nachdem 
ein grösseres oder kleineres Gewicht gebraucht wird, oder je nachdem 
dasselbe Gewicht lange Zeit oder nur momentan einwirkte, und dass 
demnach, wenn der Federhalter, wie in Volkmann’s Versuchen, an 
deu Gewichtshaken gebunden, mit ihm also solidarisch zu allen Be- 
wegungen vereinigt ist, die Messungen nicht blos im Allgemeinen, was 
Volkmann beobachtet hat, sondern auch im Einzelnen abgeändert 
werden müssen, dass es aber auch eben so bestimmt einleuchtet, dass, 
da ich, um diese grobe Fehlerquelle zu vermeiden, bekanntlich den als 
Zeiger dienenden Coconfaden isolirt vom Gewichtshaken etwas höher 
zwischen den beiden Bäuchen des Muskels hindurchgeführt habe, wo- 


4 


262 | Eduard Weber: re 


En 


(S. 147 und 149) grössere Dimensionen, als sie nach meinen 
Versuchen und seiner eigenen vierzehnten Versuchsreihe haben, 
zu verschaffen, was übrigens nicht sehr schwer hält, da ich 
gezeigt habe, dass diese Differenzen bei kraftloseren und er- 
müdeten Muskeln grösser ausfallen. 2) schiebt er mir (8.152 
und 154, natürlich ohne Citat) die Behauptung unter, dass die 
an tetanisirten Muskeln ausgeführten a- und b-Messungen gar 
nicht differirten, um mich schliesslich durch den Beweis des 
Vorhandenseins dieser Differenzen widerlegt zu haben (siehe 
S. 161). — Da ich im Gegentheil Volkmann selbst erst auf 
die Nothwendigkeit dieser (allerdings im Vergleich zu den 
grossen von ihm irrthümlich beobachteten nur sehr kleinen) 
Differenzen aufmerksam gemacht und sie sogar auch experi- 
mentell zuerst nachgewiesen und gemessen habe,!) so brauche 
ich nicht erst auf die Widerlegung dieser aus der Luft gegrif- 
fenen Behauptung einzugehen. 3) bemüht er sich, meine a-Me- 
thode, nachdem er sie als Fehlerquelle experimentell zu 
. erweisen vergeblich versucht hatte, nun als Fehlerquelle da- 
durch wenigstens probabel zu machen, dass er durch teleo- 
logische Gründe (deren Schwäche freilich die Stärke der ge- 
brauchten Ausdrücke compensiren muss) darzuthun sucht, dass 
die Muskeln durch den Gebrauch der a-Methode gemisshandelt 
würden. Er geht nämlich von der Behauptung aus, dass die 
Muskeln am Körper vor jeder Ausdehnung über ihre natürliche 
Länge im Ruhezustande geschützt seien, und sagt daher (Ar- 
chiv 1857 Seite 32): „Weber reizte den Muskel, nachdem 
er ihn belastet, und durch die Belastung über sein normales 
Maass verlängert hatte: die an unserem Skelete ange- 
brachten Muskeln werden aber durch die Art ihrer 
Befestigung vor jeder Ausdehnung über ihr norma- 
les Maass geschützt; die Länge des ruhenden Muskels ist 
also, gleichviel ob er belastet oder unbelastet!) ist, constant 
=1.* Auf diese Behauptung gründet er nun die Hypothese, 
dass die Muskeln das Gewicht, das sie im thätigen Zustande 
heben, im ruhenden Zustande nicht einmal tragen könnten, 
sondern durch die Dehnung, die sie durch dasselbe erfahren, 


durch die Messung streng auf den über dem Coconfaden befindlichen 
Theil des Muskels beschränkt, dagegen von dem Einflusse seines un- 
terhalb gelegenen Theiles ganz isolirt wird, in alien meinen Ver- 
suchen weder die Zunge noch der Gewichtshaken, sie mochten sich 
bewegen wie sie wollten, auf die Messung einwirken konnten, so’dass 
es gar keiner Gegenversuche erst bedarf, um meine Messungen: vor 
Folgerungen aus obigen Erfahrungen Volkmann’s sicher zu stellen. 
1) Archiv 1858. S. 548, 8. 525 und 8. 509. 


Erwiederung auf Volkmann’s Abhandlung über Muskelirritabilität. 263 


so litten, dass sie zu den Versuchen unbrauchbar würden. Er 
sagt nämlich Archiv 1858 Seite 230: „... dass Weber in 
Unbekanntschaft mit diesem Unterschiede“ (der a- und b-Mes- 
sungen) „aus seinen Versuchen an gezerrten (!) Muskeln 
Folgerungen ableitet, die auf nicht gezerrte keine Anwendung 
gestatten“ und schliesst seine letzte Abhandlung Archiv 1860. 
S. 161 mit den Worten: „Nach allem Mitgetheilten bleibt es 
dabei, dass die mit a und b bezeichneten Versuchsmethoden 
nicht zu gleichen Resultaten führen. Indem nun Weber in 
seinen Versuchen ausschliesslich die erste Methode benutzte, 
d.h. den Muskel vor der Reizung einer gewaltsamen 
Reckung (!) aussetzte, so sind die Resultate, zu welchen er 
gelangte, nicht geeignet, über die Dehnbarkeit und die elasti- 
schen Kräfte solcher Muskeln, welche, wie die in ihren natür- 
lichen Verhältnissen befindlichen, keine Reckung erfahren, Auf- 
schlüsse zu geben.“ 

Die völlige Nichtigkeit dieser Deduction, die schon an sich 
nicht die geringste Beweiskraft enthält (indem zwar die Be- 
nutzung, der Ausdehnbarkeit der Muskeln im Mechanismus des 
Körpers ihre Unschädlichkeit, die Nichtbenutzung derselben 
aber noch keineswegs ihre Schädlichkeit voraussetzen lässt), 
stellt sich dadurch heraus, dass die an ihre Spitze gestellte 
Behauptung, auf welche die ganze Beweisführung gegründet ist, 
das wahre Sachverhältniss geradezu umkehrt, da, wie allge- 
mein bekannt ist, die an unserem Skelete angebrachten Mus- 
keln durch die Art ihrer Befestigung nicht nur nicht vor jeder 
Ausdehnung über ihr normales Maass geschützt sind, sondern 
im ‚Gegentheil fortwährend beträchtlich ausgedehnt er- 
halten und daher vielmehr ihr normales Maass im Ruhezu- 
stande anzunehmen verhindert werden. Ich habe in meiner 
Abhandlung über Muskelbewegung nachgewiesen, dass sogar 
in der halbgebogenen Lage der Glieder, wenn alle Muskeln 
ruhen, diese sich wegen ihrer Kürze doch noch wechselseitig 
beträchtlich ausgedehnt erhalten, so dass sie sich nach Durch- 
schneidung ihrer Flechsen vermöge ihrer Elastieität auf ihre 
natürliche Form im Ruhezustande zurückziehen und dadurch 
nicht unbeträchtlich verkürzen. In der der Richtung ihrer 
Wirkung entgegengesetzten Lage der Glieder aber sind die ru- 
henden Skeletmuskeln meist sogar äusserst gewaltsam ausge- 
dehnt, so dass sie wie eisenharte Stränge anzufühlen sind. 
Die Musculi semitendinosus, semimembranosus und der lange 
Kopf des Biceps z. B. werden bei der Bewegung des Hüftge- 
lenkes und gleichzeitiger Streckung des Kniegelenkes durch die 


1) Die Worte „gleichviel ob belastet oder unbelastet“ müssen na- 
türlich wegfallen, da sie mit der Behauptung des Vordersatzes, dass 
die Muskeln im Ruhezustande gar nicht belastet werden könnten, im 
Widerspruch stehen. 


264 Eduard Weber: 


Musculi psoas, iliacus, pectineus, Tensor fasciae, Rectus femo- 
ris, eruralis und die beiden Vasti so gewaltsam ausgedehnt, 
dass sie durch ihre passive Spannung der vereinten Kraft dieser 
Muskelmassen Widerstand leisten und ihnen dadurch beide Be- 
wegungen gleichzeitig zu vollenden unmöglich machen. Gleich- 
wohl gedeiht diese Ausdehnung den Muskeln sehr wohl und 
ist daher eine beliebte Turnübung. Die Dehnung der Muskeln 
wird auch vielfach benutzt, um die Kraft derselben beim Ge- 
brauche zu erhöhen, z. B. da die Museculi interossei interni in 
gestreckter Lage die Adduction der Finger gegen einander nur 
mit geringer Kraft ausführen, so dehnen wir sie durch Beu- 
gung des zweiten und dritten Fingergliedes, in welcher Lage 
sie dann diese Adduction mit grosser Kraft ausführen. Nicht 
die Dehnung, sondern umgekehrt die Contraction der Muskeln 
ist bekanntlich durch ihre Befestigung am Skelete sehr einge- 
schränkt. Alle grösseren Verkürzungen des Muskels würden 
sonach in Volkmann’s Sinne widernatürlich sein. Gleich- 
wohl gebraucht er in allen Messungsreihen die äusserste Ver- 
kürzung bei Null Belastung, ungeachtet ich schon S. 532 
bemerkt habe, dass sie nicht aus teleologischen Gründen, son- 
dern aus physikalischen Ursachen nothwendig eine falsche Mes- 
sung veranlassen müsse, weil der Widerstand der comprimirten 
Zwischengewebe immer mehr zunimmt, während die Muskel- 
kraft immer mehr abnimmt, und erstere daher die letztere, 
lange bevor sie ihren Nullpunkt erreicht, aufheben muss, wor- 
auf aber Volkmann nicht hat eingehen wollen. 

Da nun aber Volkmrann, wie der Schluss seiner letzten 
Abhandlung zeigt, immer noch nicht zu begreifen scheint, 
warum Messungen, die mit verschiedenen Methoden, welche, 
wie die a-und b-Methode, den Muskel ungleich ermüden, aus- 
geführt sind, unbeschadet der Richtigkeit ihrer Ausführung und 
unbeschadet der Richtigkeit der dazu gebrauchten Methoden, 
differente Resultate ergeben müssen, so will ich hier den Be- 
weis?) noch von einem allgemeineren Gesichtspunkte aus führen. 
Vielleicht dass er sich dadurch von der Nothwendigkeit dieser 
Differenzen überzeugen lässt. 

Da die Grösse der Dehnung eines thätigen Muskels von 
zwei Verhältnissen abhängt, nämlich von der Belastung und 
von seiner Elasticität, welche durch die Ermüdung geändert 
wird, und ich in meiner Untersuchung demnach die Anordnung, 
welche die Dehnung desselben 1) bei zunehmender Belastung 
und welche dieselbe 2) bei zunehmender Ermüdung erfährt, 
gleichzeitig, aber unabhängig von einander, zu untersuchen 
wünschte, so musste ich, um meine Messungen sowohl bei 
gleicher Ermüdung nach der Zunahme der Belastung, als auch 
bei gleicher Belastung nach der Zunahme der Ermüdung ord- 
nen zu können, denselben für jedes der beiden Grössenver- 


1) S. oben $. 250. 


Erwiederung auf Volkmann’s Abhandlung über Muskelirritabilität. 265 


hältnisse ein Maass zu Grunde legen: ich benutzte daher für 
die Ermüdung in Ermangelung eines absoluten Maasses die 
Reihe der aus der Compensation sich ergebenden Ermü- 
dungsstufen als relatives (nur für die jedesmalige Messungs- 
reihe gültiges) Maass, dessen Grösse also von der Ermüdung, 
die der Muskel durch die dabei benutzte Versuchsmethode er- 
fährt, abhängt. 

So gleichgültig es nun ist, ob man das Grammgewicht oder 
das Grangewicht als Maass der Belastung in den Versuchen 
gebraucht, eben so gleichgültig ist es auch an sich, ob man 
grössere oder kleinere Ermüdungsstufen als Ermüdungsmaass 
benutzt, d. h. ob man eine dem Muskel mehr oder weniger 
ermüdende Methode anwendet, wenn man nur das einmal ge- 
wählte Ermüdungsmaass (also die einmal in Anwendung ge- 
brachte Versuchsmethode) in derselben Versuchsreihe nicht 
wechselt, da sonst beide Maasse, als relative, nicht eines auf 
das andere redueirbar sind. 

Denken wir uns nun zunächst zwei Versuchsreihen an voll- 
kommen gleichen Muskeln mit gleicher Methode und auch übri- 
gens völlig gleich ausgeführt, nur dassinder einen öGrm,, 
10.Grm., 15 Grm. u. s. w., in der anderen 5Gran, 10 
Gran, 15 Gran u. s. w. als Belastungsgewichte ge- 
braucht worden seien, so liegt klar am Tage, dass unge- 
achtet der in Folge der Verschiedenheit der Belastung statt- 
findenden Differenz der in beiden Reihen gemessenen Muskel- 
längen schliesslich doch beide Reihen ein völlig identisches 
Resultat d. h. genau dieselbe gesetzmässige Abhängigkeit der 
Dehnung von der Belastung des Muskels ergeben müssen. Da 
nun das Grammgewicht und das Grangewicht absolute Maasse 
sind, die eines auf das andere oder beide auf ein drittes redu- 
eirt werden können, so kann man auch, wenn man diese Re- 
duction ausführt, die Muskellängen beider Reihen, ungeachtet 
ihrer Differenz, unmittelbar mit einander vergleichen. Man 
kaun z. B. die auf dasselbe Maass reducirten Gewichtsgrössen 
beider Reihen auf ein und dieselbe. Linie als Abscissen und 
auf diese wieder die zugehörigen Muskellängen als Ordinaten 
abtragen, wo dann die Messungen beider Reihen genau ein und 
dieselbe Curve ergeben, nur dass die Endpunkte beiderlei Or- 
dinaten nicht auf einander, sondern zwischen einander in diese 
Curven fallen. 

Denken wir uns nun zwei andere Versuchsreihen an voll- 
kommen gleichen Muskeln mit gleicher Belastung und auch 
übrigens völlig gleich ausgeführt, nur dass zur einen eine 
mehr ermüdende, zur anderen eine weniger ermü- 
dende Methode gebraucht, also zur einen ein grös- 
seres Maass, zur anderen ein kleineres Maass der 
Ermüdung gedient hatte, so liegt eben so klar am Tage, 
dass, ungeachtet der in Folge der Verschiedenheit der Ermü- 
dung stattfindenden Differenz der in beiden Reihen gemessenen 

Reichert's n, da Bois-Reymond’s Archiv. 1861. 18 


966 Eduard Weber: 


Muskellängen schliesslich doch beide Reihen ein völlig identi- 
sches Resultat d. h. genau dieselbe gesetzmässige Abhängigkeit 
der Dehnung von der Ermüdung des Muskels ergeben müssen. 
Hätten wir nun ein absolutes Maass der Ermüdung (so wie 
wir ein absolutes Maass der Belastung haben), auf welches 
wir die relativen Ermüdungsmaasse beider Reihen reduciren 
könnten, so könnte man, wie oben, die Muskellängen auch 
dieser beiden Reihen, ungeachtet ihrer Differenz, unmittelbar 
unter einander vergleichen. Man könnte z.B. die auf dasselbe 
Maass reducirten Ermüdungsstufen beider Reihen auf eine und 
dieselbe Linie als Abseissen und auf diesen wieder die zuge- 
hörigen Muskellängen als Ordinaten abtragen, wo dann die 
Messungen beider Reihen genau ein und dieselbe Curva erge- 
ben würden, nur dass die Endpunkte beiderlei Ordinaten nicht 
auf einander, sondern zwischen einander in diese Curven fallen 
würden. Da wir aber nun kein absolutes Maass der Er- 
müdung haben, auch das Verhältniss der als relative Maasse 
gebrauchten Ermüdungsstufen beider Reihen zu einander nicht 
kennen, sie daher auch nicht. auf ein gemeinschaftliches Maass 
reduciren können, so können wir auch Messungsreihen, die mit 
in verschiedenem Grade ermüdenden Methoden ausgeführt sind, 
auch wenn sie übrigens vollkommen gleich hergestellt sind und 
daher genau dieselbe gesetzmässige Abhängigkeit der Dehnung 
von der Ermüdung des Muskels ergeben müssen, dennoch nicht 
mit einandar vergleichen und vermischen. 

Der Zweck nun, warum Volkmann die a- und b-Methode 
zugleich in derselben Versuchsreihe abwechselnd in Anwendung 
gebracht hat, ist kein anderer, als den von mir supponirten 
Fall zweier Messungsreihen, die, in allem Uebrigen vollkom- 
men gleich, sich nur dadurch unterscheiden, dass sie mit un- 
gleich ermüdenden Methoden ausgeführt sind, experimentell zu 
verwirklichen, wenn er auch dadurch nur unvollkommen er- 
reicht wird. Man kann demnach von diesen combinirten Ver- 
suchsreihen wenigstens nicht mehr erwarten, als obige Versuchs- 
reihen leisten, bei denen der genannte Zweck wirklich als voll- 
kommen erreicht vorausgesetzt ist. Es folgt daraus, dass 
die Volkmann’schen in derselben Versuchsreihe combinirten 
a- und b-Messungen gleichfalls nicht auf dasselbe Ermüdungs- 
maass reducirbar sind, daher auch nicht verglichen werden 
können, und, wenn sie dennoch, wie es von Volkmann ge- 
schehen, verglichen werden, da sie in Wahrheit nicht auf gleiche 
Ermüdungsstufen redueirt sind, Differenzen der Resultate er- 
geben müssen, wie Volkmann sie erhalten hat, dass demnach 
der in diesen Differenzen gesuchte Widerspruch der Resultate 
der a- und b-Messungen nur ein scheinbarer ist, d. h. nicht in 
Fehlern der Messungen oder der dazu gebrauchten Methoden, 
sondern nur in der Ungehörigkeit ihrer Zusammenstellung und 
Vergleichung liege, welche, weil die Ermüdungsgrade des Mus- 
kels, unter denen die einen und anderen Messungen ausgeführt 


Erwiederung auf Volkmann’s Abhandlung über Muskelirritabilität. 267 


sind, als auf gleichen Ermüdungsstufen reducirt angenommen 
werden, ungeachtet die Reduction gar nicht möglich ist, zu 
Widersinn führen muss, der seinen Maassstab in der Grösse der Dif- 
ferenzen hat. Es sagt aber dieses Resultat dasselbe aus, was ich 
schon in meiner vorigen Erwiederung S. 543 ausgesprochen habe. 

Schliesslich will ich noch ein paar Anmerkungen zur Auf- 
klärung und Berichtigung der Ausstellungen beifügen, welche 
Volkmann gegen den (sebrauch, den ich von seiner vierzehn- 
ten Versuchsreihe mache, erhebt. 

1. Ich hatte auf Seite 552 meiner letzten Erwiederung ge- 
gen eine der neueren Versuchsreihen Volkmann’s (No. IV.), 
in.der, wie in der zweiten Abtheilung der vierzehnten Ver- 
suchsreihe anhaltende Oontractionen statt einzelner Muskel- 
zuckungen gebraucht, und auch der früher gerügte Fehler der 
Befestigung des Federhalters und Gewichts an der Zungen- 
spitze vermieden worden war, noch Bedenken wegen des zur 
Befestigung, des Gewichts gebrauchten schnürenden Fadens er- 
hoben, indem ich mich auf die zweite Abtheilung seiner vier- 
zehnten Versuchsreihe stützte, die unter gleichen Verhältnissen 
ausgeführt, aber (dem Zusammenhange nach zu urtheilen) auch 
diese Art der Befestigung vermieden, und, wie es schien, aus 
diesem Grunde kleinere Differenzen ergeben hatte. — Da nun 
Volkmann 8. 457 erklärt, dass er auch in der vierzehnten 
Versuchsreihe den Federhalter und das Gewicht mit einem Fa- 
den an den Muskel befestigt habe, so fällt also jenes Beden- 
ken gegen erstere Versuchsreihe als nicht genügend einfach 
hinweg, was, sehr gleichgültig ist, da ich darauf als einer Ne- 
bensache gar nichts gebaut hatte, während die vierzehnte Ver- 
suchsreihe beweist, dass eine Befestigung, vorsichtig ange- 
wandt, keinen in Betracht kommenden Nachtheil bringe. Ich 
kann daher die Logik nicht begreifen, nach welcher Volk- 
mann daraus den Schluss zieht, dass „dadurch das Ge- 
wicht. der Weber’schen ‚Betrachtungen (überhaupt) in 
Nichts zusammenfalle.“ 

2. Volkmann hatte in seiner vierzehnten Versuchsreihe 
wie auch in anderen neben den Columnen der b-Längen und 
a-Längen unter der Rubrik a:b die berechneten Quotienten 
der a- und b-Längen gestellt, sich‘ aber im unmittelbar nach- 
folgenden Texte, wo er die Resultate dieser Reihe ‚bespricht, 
sich auf diese Quotienten als Differenzen der a- und b-Längen 
bezogen. Er sagt nämlich daselbst S. 281: „die Längen- 
differenzen der a- und b-Muskeln sind in der Abtheilung 
(dieser Tabelle), wo wir tetanisirten, ohne Ausnahme viel klei- 
ner als in. der Abtheilung, wo wir durch Induetionsschläge 
reizten, ja es kommt sogar ein Fall vor, wo die Differenz 
ganz schwindet (Ermüdungsstufe 40) u. s. w. Da ich dies für 
ein zufälliges Versehen gehalten habe, z. B. dass obige Quo-. 
tienten von einer älteren Bearbeitung der Tabelle unabsichtlich 
stehen geblieben seien), so hatte ich, ohne es weiter als Fehler 

18* 


968 ‘Eduard Weber: Ueber Muskelirritabilität. 


zu urgiren, beim Wiederabdruck der Tabelle, ') statt der von 
Volkmann berechneten Quotienten die Differenzen der a- und 
b-Längen, von denen Volkmann spricht, und von denen über- 
haupt nur die Rede sein kann, berechnet und substituirt, und 
diese Abänderung nur pflichtgemäss in einer Note einfach an- 
gezeigt. Darüber macht mir nun Volkmann (Seite 155 seiner 
letzten Abhandlung) schwere Vorwürfe, indem er sagt: „Die 
Art und Weise, wie Weber die vierzehnte Versuchsreihe zu 
seinen Gunsten ausbeutet, ist die, dass er die kleinen Längen 
der b-Muskeln von den grösseren der a-Muskeln subtrahirt“ 
(!das nennt man aber doch eben die Differenzen der a- und 
b-Längen, von denen er oben spricht) „und auf die Kleinheit 
der absoluten Unterschiede aufmerksam macht,“ worauf er 
weiter erklärt, absichtlich die Verhältnisszahlen der a- 
und b-Längen berechnet zu haben. Ich gestehe, dass ich nicht 
fasse, was Volkmann mit obigen Vorwürfen sagen will: denn 
er kann doch unmöglich Quotienten und Differenzen zweier 
Zahlenreihen für so gleichbedeutend halten wollen, um sie be- 
liebig die einen den anderen substituiren, in die Tabellen die 
Quotienten hinstellen und sich doch auf sie im Texte als Dif- 
ferenzen beziehen zu können. 

3. Volkmann sagt Seite 155 seiner letzten Abhandlung 
in der Note in Beziehung auf den oben erwähnten Wiederab- 
druck, den ich auf Seite 547 meiner vorgehenden Erweiderung 
von seiner vierzehnten Versuchsreihe gegeben habe: „In der 
Tabelle, welche Weber S. 547 vorlegt, ist dies Verhältniss 
(der a- und b-Messungen) höchst sinnstörend umgekehrt 
worden, indem unter der Rubrik der a-Muskeln die kleinen 
Längen statt der grossen eingetragen worden sind.“ — Da aus 
dieser.-Abfassung der Rüge Jeder, der sich nicht selbst von 
dem wahren Sachverhalt unterrichtet, schliessen wird, es sei 
das erwähnte Verhältniss von mir zu Volkmann’s Nach- 
theile im umgekehrten Sinne gebraucht worden, so bemerke 
ich, dass die genannte Volkmann’sche vierzehnte Tabelle 
Seite 554 völlig richtig abgedruckt worden ist, während 
Seite 547 allerdings die Buchstaben b und a an den Köpfen 
beider Columnen verwechselt worden sind (wohl auf die Ver- 
anlassung, dass Volkmann ungebräuchlichermaassen die b- 
Columne der a-Columne vorgestellt hat) dass aber nirgends 
dieser Fehler in den Text Eingang gefunden hat. Einen sol- 
chen Fehler, er mag im Satze selbst oder in der letzten Re- 
vision des Manuscripts zu demselben seine Entstehung haben, 
nennt man einen Druckfehler; das Prädicat höchst sinn- 
störend kommt aber diesem Druckfehler nicht zu, da es 
wohl vorkommt, dass man den Text ohne die Tabellen, kein 
Mensch aber die Tabellen ohne den Text liest. 


1) Archiv 1858, S. 547. 


Franz Obernier: Ueber das Ausbleiben u. s. w. 269 


Ueber das Ausbleiben der Oeffnungszuckung bei 
starkem absteigenden Strome. 
Von 
FRANZ ÖBERNIER, stud. med. in Bonn. 


m Das yon Pflüger festgestellte Gesetz der Zuckung lautet 
ur den absteigenden Strom wie folgt: 


Schliessung Zuckung, 
Oeffnung Ruhe, 
Schliessung Zuckung, 
Oeffnung Zuckung. 
Schliessung Zuckung, 
Oeffnung Ruhe. 


Dies Verhalten des Nerven lässt sich aus der von demsel- 
ben Autor aufgestellten Theorie des Zuckungsgesetzes einfach 
und leicht ableiten. Der Hauptsatz dieser Theorie (S. Pflü- 
ger’s Untersuchungen über die Physiol. des Elektrotonus. Ver- 
lag von Hirschwald 1859. S. 456 ff.) lautet: „Erregt wird 
eine gegebene Nervenstrecke durch das Entstehen des Katelek- 
trotonus und das Verschwinden des Anelektrotonus, nicht aber 
durch das Verschwinden des Katelektrotonus und das Entste- 
hen des Anelektrotonus.“ Hiernach muss die Schliessung des 
absteigenden Stromes Zuckung geben, weil der bei der Schlies- 
sung erregende Katelektrotonus an den Muskel grenzt, also in 
diesem ohne Hinderniss eine Zuckung auszulösen im Stande 
ist. Bei der Oeffnung erregt das Verschwinden des Anelektro- 
tonus den Nerven, allein diese Erregung hat, weil der Strom 
absteigend, die intrapolare Strecke und die früher vom Kat- 
elektrotonus jetzt von der negativen Modification d. h. dem Zu- 
stande herabgesetzter Erregbarkeit beherrschte Nervenstrecke 
zu durchsetzen. Deshalb gelangt dieselbe nur bei schwächeren 
Strömen, wo die negative Modification nicht schon die Leitungs- 
fähigkeit des Nerven beeinträchtigt, zum Muskel; bei starken 
Strömen dagegen, wo die Leitungsfähigkeit der von der nega- 
tiven Modification beherrschten Strecke verloren geht, kann 
selbstredend die durch das Verschwinden des Anelektrotonus 


Schwacher Strom | 
Mittelstarker Strom | 


Starker Strom! 


> 


270 "Franz Obernier: 


Fig. 1. 


entstehende Erregung keine Zuckung auslösen, weil sie eben 
nicht zum Muskel gelangen kann. . Das Vorhandensein: dieser 


Ueber das Ausbleiben der Oeffnungszuckung n. s. w. 271 


negativen Modification gleich nach dem Verschwinden des 
Katelektrotonus hat Pflüger für den schwachen Strom durch 
den Versuch nachgewiesen, für den starken Strom aus seiner 
Theorie gefolgert (S. Pflüger a. a. O. S. 272 fl. u. S. 349 
ff., ebenso Pflüger Disquisitiones de sensu electrico. Bonnae 
1860. S. 10.),: Dieser Fingerzeig, durch eine Theorie gegeben, 
aus der sich alle bekannten Thatsachen so einfach und natur- 
gemäss ableiten, veranlasste den Verfasser, den experimentellen 
Nachweis der negativen Modification nach der Oeffnung des 
starken Stromes zu unternehmen. Es gelang mir dieses mit 
Hülfe folgender Methode (s. Fig. 1.). 

Von dem positiven Endpole e’‘ einer aus 5—10 Grove- 
schen Elementen bestehenden Stromkette führt ein Leitungs- 
draht zu der Klemmschraube (k) des Pflüger’schen elektro- 
magnetischen Fallapparates. Von k kann der Strom zur Wippe 
w, von w durch Contact f zum Messingklötzchen m gelangen. 
Ein in m eingeklemmter Draht endet ın einer Zinkelektrode 
a, die auf ein Holzklötzchen mit Siegellack befestigt ist. Ne- 
ben dieser ist eine zweite Zinkelektrode b auf dieselbe Weise 
angebracht, die mit dem negativen Endpole e’ der erwähnten 
Stromkette in leitender Verbindung ist. Auf demselben Holz- 
klötzchen befindet sich ein anderes Elektrodenpaar, c, d, das 
die beiden Enden der secundären Spirale eines Magnetelektro- 
motors darstellt. Das eine Ende der primären Spirale dieses 
Magnetelektromotors ist mit dem negativen Pole i’ eines Da- 
niell’schen Elementes, das andere mit der am Hammer des 
Fallapparates befindlichen Metallspitze g in Verbindung. g ist 
vom Hammer isolirt und mithin niemals mit w in leitender 
- Verbindung; ferner taucht g beim Herabfallen des Hammers in 
das Quecksilbernäpfchen z. In z endet gleichfalls der von dem 
positiven Pole i,, jenes Elementes kommende Draht, so dass 
also, wenn die Metallspitze g in z eintaucht, die primäre Spi- 
rale von einem Strome durchflossen wird, der, in dem Momente 
seiner Entstehung einen zweiten in der secundären Spirale er- 
zeugt. Der Nerv des zu untersuchenden Nerven-Muskelprä- 
parates wurde auf die Elektroden so angelegt, dass das Elek- 
trodenpaar a, b, das den elektrotonisirenden Strom zuführen 
soll, nach oben, das den Inductionsschlag zuleitende c, d dem 
Muskel näher liegt. In die Sehne des Gastroknemius wurde 
der schreibende Hebel des einfachen Pflüger’schen Myogra- 
phions eingehakt, während der Oberschenkel von einer beson- 
deren Klemme gehalten ward. Der Erfolg dieser Anordnung 
ist nun folgender. Schliesst man den elektrotonisirenden Strom, 
so durchfliesst derselbe bei aufgehobenem Hammer auf dem be- 
schriebenen Wege die Nervenstrecke ab. Lässt man jetzt den 
Hammer des Fallapparates herunterfallen, so wird der polari- 
sirende Strom durch Aufhebung des Contactes f unterbrochen, 
und einen Augenblick später taucht beim weiteren Fallen des 
Hammers die Spitze g in z, wodurch in der primären Spirale 


272 Franz Obernier:; 


ein Strom entsteht, der sofort in der secundären einen die Ner- 
venstrecke ed durchsetzenden Inductionsschlag auslöst. 

Die Zeit zwischen der Oeffnung des polarisirenden und der 
Schliessung des inducirenden Stromes oder der Reizung des 
Nerven betrug etwa 0,01 Sec. Dieser Werth wurde also ge- 
funden. Der Abstand der unteren scharfen Kante des aufge- 
hobenen Hammers von der oberen Fläche der Wippe betrug 
25 Mm., der Abstand der Spitze g von dem Spiegel des Queck- 
silbers in z, wenn der Hammer eben w berührt, 7,5 Mm. 
Hieraus ergab sich die Zeit, in der der Hammer die ganze 
Strecke, also 23 Mm. + 7,5 Mm. durchfiel = 0,083 See.;' der Zeit- 
raum, in dem der Hammer die Strecke von 23 Mm. durchfiel, 
oder die Zeit zwischen dem Anfange des Fallens und dem Auf- 
schlagen des Hammers auf die Wippe w = 0,073 Sec. Die 
Subtraction des Werthes 0,073 von 0,083 ergiebt die Zeit, in 
der der Hammer die Strecke von 7,5 Mm. durchfiel, oder die 
Zeit zwischen der Unterbrechung des polarisirenden. Stromes 
und der Reizung des Nerven durch den Inductionsschlag = 
0,01 Sec. Um nun die negative Modification mit Hülfe der 
angegebenen Methode zur Anschauung zu bringen, liess ich 
immer zuerst einen Inductionsschliessungsschlag den Nerven 
durchsetzen und die Zuckung durch das Myographion  auf- 
zeichnen; dann wurde der starke polarisirende Strom ge- 
schlossen, durch Herabfallen des Hammers wieder geöffnet, 
gleich darauf der Nerv durch denselben Inductionsschliessungs- 
schlag gereizt und die Zuckung am Myographion aufgezeichnet. 

Die mikroskopische Messung der Grösse der 'Zuckungen 
ergab dieselbe wie folgt: Ä 


Versuch I. Die polarisirende Stromkette bestand aus 6 
Grove’schen Elementen. 


Grösse der Zuckung Grösse der Zuckung 
ohne polarisirenden Strom mit polarisirendem Strom 
4,6 Mm. 0,3Mm, 

48 „ 01 „ 
9,2105 0,2 7% 
4,9 ” 0,2 ” 
350 5 0,2,» 
an 0,3: , 
4,7 b>] 0,2 a 
4,6 „ 0,28, 
4,7 52) 0,3 $>] 
4,6 b>] 0,2 3 
4,6 „ 0,2: 5, 
4,4 04 
Au 0,2... 
4,3. 5 Da. 
4,3 >) 0,2 9; 
42,0, 0, 
4,1 „ Nee 
B,7 73 B;210 
3,9, 0,5, 
3,9 84: , 


S 


Ueber das Ausbleiben der Oeffnungszuckung u. s. w. 273 


Versuch 1I.. Die polarisirende Stromkette besteht aus 8 
Grove’schen Elementen. 


Grösse der Zuekung Grösse der Zuckung 
ohne polarisirenden Strom mit polarisirendem Strom 
6,2Mm, 0,2 Mm. 
BR» 0,2 „ 
3,8 „ 0,2 ” 
49 „ 3% 
=> % 01 „ 
2,91, ou 
DH „ GER 5 
52 » 02 „ 
tm O,b, 
2,8. ', 02 „ 
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6,4 » 1,5 » 
5,9 3 2,4 b>} 
5,0 2 23At, 
5,201, 22. 
45 2 14 u 
er 22:5 
4,6 „ 14 „ 
3,846, 2.0.6, 
4,4 „ DER 


Versuch Ill. Die polarisirende Stromkette besteht aus 
10 Grove’schen Elementen, 


Grösse der Zuckung Grösse der Zuckung 
ohne polarisirenden Strom mit polarisirendem Strom 
5,6 Mm. 0,2Mm., 
7,4 ” 0,2 » 
62 „ 150. 54 
78» 0,9, 
8,6» 0,9» 
6,4 » 0,9 » 
3,0 9» 0,8 ” 
44 „ 0,8 „ 
32 0,7, 
” 11 „ 


43 , 10 „ 

Verfassser glaubte die Anstellung des Versuches mit noch 
stärkeren Strömen unterlassen zu dürfen, weil einerseits von 
dem Nerven wohl kein anderes Verhalten zu erwarten war, 
andererseits der Nerv schon bei Anwendung von 10 Grove’schen 
Elementen bald durch die Einwirkung des Stromes zerstört ist. 

Um mich zu vergewissern, dass die negative Modification 
nicht durch Stromschleifen u. s. w. veranlasst sei, wurde der 
Nerv zwischen dem den polarisirenden Strom und dem den In- 
ductionsschlag zuführenden Elektrodenpaar durchschnitten. Jetzt 
war die Zuckung, die der Inductionsschlag hervorrief, gleich 
gross, ob nun der polarisirende Strom vorher den Nerven 
durchflossen hatte, oder nicht. Unipolare Inductionswirkungen 
konnten keinen störenden Einfluss ausüben, weil diese, wie 
Pflüger nachgewiesen, nur beim Inductionsöffnungsschlage 
vorhanden sind, nicht aber beim Inductionsschliessungsschlage, 


274 Franz Obernier: 


den ich zum Reizen anwandte.‘) Eben so wenig wirkten die 
vom Elektrotonus selbst herrührenden elektromotorischen Kräfte 
störend ein, weil diese ja, nach du Bois, nur während der 
Schliessung des polarisirenden Stromes wirksam sind, die Rei- 
zung aber nach der Oefinung desselben erfolgte Wollte man 
indessen wegen der Schnelligkeit, mit der die Reizung nach 
der Oeffnung des polarisirenden Stromes erfolgte, annehmen, 
dass diese Kräfte noch wirksam wären bei der Reizung, so 
könnten diese einen mit der Richtung des Inductionsschlages 
gleichgerichteten Strom erzeugen oder einen der Richtung des- 
selben entgegengesetzten. Dieser Umstand könnte also mög- 
licherweise negative Modificationen hervorbringen. Allein dass 
dem nicht so ist, geht daraus mit Bestimmtheit hervor, dass, 
bei Umkehr der Richtung des Inductionsschlages die negative 
Modification eben so deutlich, wie bei der früheren Richtung 
desselben sich zeigt. 

Wenn man einen galvanischen Strom eine lange Nerven- 
strecke durchfliessen lässt, so tritt ein stärkerer Elektrotonus 
auf, als wenn ein Strom von derselben Stärke eine kürzere 
Nervenstrecke durchströmt (S. Pflüger, Untersuchungen über 
die Physiologie des Elektrotonus. 1859. S. 249 ff.). Da nun 
das Auftreten der negativen Modification durch das Verschwin- 
den des Katelektrotonus bedingt ist, so durfte man wohl er- 
warten, dass einem stärkeren Katelektrotonus auch eine stär- 
kere negative Modification folgen werde, und dass mithin nach 
der Elektrotonisirung' einer langen Nervenstrecke eine stärkere 
negative Modification zurückbleibe, als nach der einer kurzen. 
Um dieses durch den Versuch bestätigen zu können, musste 
der Strom abwechselnd bald eine lange, bald eine kurze Ner- 
venstrecke durchfliessen und, jedesmal nach der Oeffnung des- 
selben die auftretende negative Modification untersucht werden. 
Dies wurde durch folgende Anordnung des Versuches erreicht. 
(S. Fig. 2.) Zwischen das Elektrodenpaar a b, das bei der vo- 
rigen Versuchsreihe den polarisirenden Strom zuführte, wurde 
eine dritte Zinkelektrode o angebracht. Letztere ist durch 
einen angelötheten Draht bei £, die äusserste Elektrode a bei 
ö, die Elektrode b endlich bei + mit einem Commutator ohne 
Kreuz in Verbindung. Der von dem Messingklötzchen m 
des Fallapparates kommende Draht tritt bei e'‘ zum Commu- 
tator, während der bei e’ befestigte zu dem negativen Endpole 
e‘' der elektrotonisirenden Stromkette zurückführt. « ist mit y 
durch einen starken Kupferdraht in leitender Verbindung. Da 
der Nerv ein schlechter Leiter der Elektrieität ist, der Strom 
aber auf seinem Wege durch die lange Strecke an seiner 
Stärke nicht zu viel verlieren durfte, so wurde ausser dem 
Nerven in den Stromkreis noch ein grosser Leitungswiderstand 
eingeschaltet. Dieser grosse Leitungswiderstand bestand darin, 
dass der Strom eine nach Belieben lange oder kurze Strecke 


1) Vergl. Archiv 1860. S. 857. [E. d. B.-R.] 


Ueber das Ausbleiben der Oeffnungszuckung u. s, w. 275 


Fig. 2. 


concentrirter Kupfervitriollösung durchfliessen musste. Zu die- 
sem Behufe wurde eine 2,5 Mm. weite und 30 Om. lange mit 


276 Franz Obernier: 


Fliesspapier unten verstopfte Glasröhre r mit concentrirter 
Kupfervitriollösung gefüllt und in einem Stativ so eingeklemmt, 
dass das untere Ende derselben in ein mit derselben Lösung 
gefülltes Gefäss e tauchte. In die Glasröhre wurde nun von 
oben das eine Ende des durchschnittenen kupfernen Zuleitungs- 
drahtes hineingesteckt, in das untere Gefäss das andere. 

Betrachten wir nun den Erfolg dieser Anordnung. Liegt 
die Wippe so, dass die Bügel derselben in das bei « und £ den 
Contact vermittelnde Quecksilber tauchen, so geht der von dem 
positiven Pole e‘ der Stromkette kommende Strom durch die mit 
concentrirter Kupfervitriollösung gefüllte Glasröhre r zur Achse 
der Wippe w am Fallapparat, von w bei gehobenem Hammer 
durch Oontaet f zum Messingklötzchen m, von m endlich "bei 
s'' zum Commutator. Diesen verlässt derselbe bei £, durch- 
strömt von o bis b den aufgelegten Nerven, fliesst durch b zu 
y, von hier durch den verbindenden Kupferdraht nach «, von 
«a nach e' und endlich von e’ nach e". Der Strom durchfliesst 
also bei der beschriebenen Lage der Wippe die Nervenstrecke 
ob. Legen wir nun die Wippe um, so geht der Strom bis 
'‘ denselben Weg wie vorhin, geht nun aber nach d, von hier 
über a durch den aufgelegten Nerven nach b, von b über y 
nach e' und e“. Jetzt geht also der Strom durch die lange 
Nervenstrecke ab; auf diese Weise kann der Strom durch Um- 
legen der Wippe bald der langen, bald der kurzen Strecke zu- 
geführt werden. Der Versuch selbst wurde nun folgender- 
maassen angestellt. Nachdem ein passend starker Inductions- 
schlag gefunden, wurde dieser gleich nach der Unterbrechung 
des die kurze Nervenstrecke durchströmenden polarisirenden 
Stromes dem Nerven zugeführt, und die dann erfolgende Zuckung 
am Myographion aufgezeichnet, hiernach ohne Verzug dasselbe 
Verfahren bei der langen Strecke angewandt. Die mikrosko- 
pische Messung der beiden Zuckungen ergab deren Grösse 
wie folgt. Noch sei bemerkt, dass die lange Nervenstrecke- 
21 Mm., die kurze 2,5 Mm. und die Entfernung der Drahtspitze, 
die in die mit concentrirter Kupfervitriollösung angefüllte Glas- 
röhre taucht, von dem Ende der letzteren 23,5 Om. betrug. 

Versuch I. Die polarisirende Stromkette besteht aus 3 
Grove’schen Elementen. 


Kurze Strecke Lange Strecke 
4,8 Mm. 0,8 Mm. 
1,2 , 08 „ 

1,2 » 0,9 » 
1,8 » ei ‚8 » 
Die polaris. Stromkette wird auf 7 Elemente vermehrt. 
4,6 Mm. 3,0 Mm. 
4,6 3,6 
4,2 » 3,6 » 
45, 28 5 
ABER 33» 
Fi rat EM 
ae an 


Ueber das Ausbleiben der Oeffnungszuckung u s. w. 977 


Auch bei Vermehrung der Stromkette auf 10 Grove’sche 
Elemente bleibt die Grösse beider Zuckungen ganz gleich. 

Versuch Il. Die polarisirende Stromkette besteht gleich 
anfangs aus 6 Grove’schen Elementen; im Uebrigen sind die 
Bedingungen dieselben wie vorhin. 


Kurze Strecke Lange Strecke 

5,1 Mm. 4,4 Mm. 
5,2 „ 3,2 n 
51 „ 3,2 , 
4,6, 2 
4,1 2 
Fl un in 
4,59... 0,6, 
2,9 „ 1,2 ” 
20', gg, 
Bibi, 0,6 „ 
239.0, DEN, 
PX BR Du 
Die Stromkette wird auf 10 Elemente. vermehrt. 
4,5 Mm. 4,0 Mm. 
46 „ 4,2 


” 


» 48 „ 
Versuch IH. Die lange Nervenstrecke beträgt 11 Mm., 
die kurze 2,5 Mm. Die Stromkette besteht aus 8Grove’sehen 
Elementen. 


Kurze Strecke Lange Strecke 

0,9Mm. 0,2 Mm. 
1 ka 05 
Hat, 2,2 a 
DR: a 
BE & 2,04, 
2,9 » 2,6 = 
Dr, 2, 


Die Stromkette wird auf 10 Elemente vermehrt. 
5,6 Mm. 5,4Mm. 
Versuch IV. Die Stromkette besteht aus 5 Elementen. 
Die sonstigen Bedingungen wie bei Versuch III. 


Kurze Strecke Lange Strecke 
1,6 Mm. 0,9Mm. 
N5#:, 7 a 
2,07, 1,7. 5 
sr 3,6 
2,3 IE 
Die Stromkette wird auf 7 Elemente vermehrt. 
2,5 Mm. 2,2 Mm. 
25 ä 2.4 E 
Die Stromkette wird auf 10 Elemente vermehrt. 
3,2 Mm. 3,2 Mm. 
Sr mE 2,0 » 
20:78 2,0 


Hieraus geht also hervor, dass, wie nach der Pflüger- 
schen Theorie zu erwarten war, nach der Elektrotonisirung 
einer langen Nervenstrecke eine stärkere negative Modification 
auftritt, als nach der einer kurzen. 


278 C, B. Reichert: 


Um zur bestimmten Ueberzeugung zu gelangen, dass das 
negative Verhalten nicht Folge von Stromschleifen u. s. w. sei, 
wurde der Nerv zwischen den Elektroden e und d durch- 
schnitten, und nun, während der geschlossene polarisirende 
Strom bald die lange, bald die kurze Nervenstrecke durchfloss, 
der Inductionsschlag durch den Nerven gesandt, in Folge des- 
sen der Muskel jetzt ganz gleiche Zuckungen aufzeichnete, ob 
nun die lange oder die kurze Strecke vom polarisirenden 
Strom durchflossen war. Was unipolare Inductionswirkungen, 
die vom Elektrotonus herrührenden elektromotorischen Kräfte 
u. s. w. betrifft, so beziehe ich mich auf das oben hierüber 
Gesagte. 

Indem ich mir vorbehalte, über die Abhängigkeit der nega- 
tiven Modification nach starkem Strome von der Zeit noch 
Versuche anzustellen, glaube ich es hier nicht unterlassen zu 
dürfen, Herrn Prof. Pflüger für die grosse und zuvorkom- 
mende Bereitwilligkeit, mit der er mir seinen starken Beistand 
angedeihen liess, meinen Dank auszusprechen. 


Ueber einen bei gänzlicher oder theilweiser Ab- 
wesenheit des Amnios beständig vorkommenden 
Anhang der Cutis am Nabel der Vogelembryonen. 


Von 


C. B. REICHERT. 
(Hierzu Taf. VII.) 


Die Missbildungen der Vogelembryonen sind neuerdings von 
Panum zum Gegenstande ausführlicher Untersuchungen ge- 
macht. In seinem Werke (Untersuchungen über die Entstehung 
der Missbildungen u. s. w. Berlin: 1860. S. 43 seq.) werden 
auch mehrere Fälle von theils gänzlichem Mangel, theils rudi- 
mentärer Bildung des Amnios besprochen, wobei zugleich dar- 
auf hingewiesen wird, dass dieselben, namentlich bei Erkran- 
kung des oberen Blattes des Embryo’s, in Folge von Verbindung 
und Verklebung desselben mit der Dotterhaut und anderen 
Blättern auftreten. 

Gänzliche oder theilweise Abwesenheit des Amnios ist mir 
bei Säugethieren bisher noch nicht vorgekommen; bei künst- 
licher Bebrütung der Vogeleier gehört sie nicht zu den ganz sel- 
tenen Erscheinungen. Erst in neuerer Zeit jedoch entdeckte 
ich bei einem Embryo, bei welchem. keine Spur des Amnios 
vorhanden war, und der Fig. 1. Taf. VII. dargestellt ist, ein 
ganz eigenthümliches Verhalten der Cutis in der Umgebung 


Ueber einen bei gänzlicher oder theilweiser Abwesenheit n. s. w. 279 


des mehr oder weniger geschlossenen Hautnabels. Die Cutis 
setzt sich nämlich, gedeckt von der Umhüllungshaut, mehrere 
Linien weit auf dem Dottersack fort und endigt daselbst un- 
gefähr mit einer kreisförmigen Begrenzung. Man erkennt dies 
leicht bei der Flächenansicht des Embryo’s in obiger Figur, bei 
welcher am hinteren Ende desselben die unter der Umhüllungs- 
haut sich ausbreitende, kreisförmig begrenzte Allantois, in der 
Gegend des Nabels dagegen, die in Rede stehende kreisförmig 
begrenzte Dependenz der Cutis sichtbar ist. Ich habe gleich- 
zeitig zwei Querschnitte von Embryonen ohne Amnios aus der 
Hautnabelgegend hinzugefügt; an ihnen erkennt man das La- 
geverhältniss der einzelnen Anlagen des Embryo’s und der im 
Gefässhof sich ausbreitenden peripherischen Theile desselben. 
Der Durchschnitt Fig. 2 gehört zum Embryo in Fig.1, der in 
Fig. 5 zu einem Embryo, bei welchem die Abschnürung des 
Hautnabels noch nicht stattgefunden hatte. An einem feinen 
Schnittehen der bezeichneten Dependenz am Hautnabel ver- 
mochte ich ganz deutlich den Uebergang derselben in den für 
die Abschliessung der Rumpfhöhle bestimmten Theil der Cutis 
und darüber, als Decke, die epitheliumartige Umhüllungshaut 
mit Hülfe des Mikroskopes zu unterscheiden und sogar beide 
Bestandtheile theilweise von einander zu trennen. 

Ich habe die beschriebene Erscheinung später bei jedem 
Embryo wiedergefunden, dem das Amnios ganz oder zum Theil 
fehlt. So war in einem Falle nur die Kopfscheide des Amnios 
vorhanden, Schwanzscheiden und Seitenplatten desselben fan- 
den sich nicht vor. Hier war auch nur die hintere Hälfte obi- 
ger Dependenz der Outis im Hautnabel sichtbar; sie setzte sich 
ın die Kopfscheide so fort, dass der peripherische Rand nach 
vorn in den concaven Rand der Kopfscheide auslief. Der er- 
wähnte Anhang der Outis ist ganz gewöhnlich durch Runzeln 
und Falten ausgezeichnet. Von anderen Erscheinungen an 
Embryonen obne Amnios will ich hervorheben, dass gewöhn- 
lich eine leichtere oder stärkere Verkrümmung des Rückgrats 
sich zeigte, und dass regelmässig eine reichliche Ansammlung 
von Flüssigkeit, die ich nicht näher untersuchen konnte, in der 
Bauchhöhle sich vorfand, die sich hier zwischen der Dependenz 
der Cutis am Nabel und dem Stratum intermedium auf dem 
Dottersack erweiterte (Fig 2 und 3; r). Sollte diese Flüssig- 
keit vielleicht die Stelle des Liquor amnii vertreten? 

Die Erläuterung dieser Missbildung ist einfach, sobald man 
sich daran hält, was ich über die Bildung des Amnios in mei- 
ner Schrift (das Entwickelungsleben u. s. w. S. 164 ff.) mitgetheilt 
habe. Ich zeigte nämlich, dass das Amnios eine Dependenz 
desjenigen Theils der Cutisanlage darstelle, die nach Abschnü- 
rung der Foyea cardiaca Wolff’s (Kopfabtheilung der Visce- 
ralröhre) zur Abschnürung und Abschliessung der Rumpfabthei- 
lung der Visceralröhre vorschreite. Bevor aber Letzteres ein- 
trete, entwickele die für die Visceral- oder Bauchröhre des 


280 €. B. Reichert: Ueber einen bei gänzlicher u. s. w. 


Rumpfes bestimmte Cutisanlage eine Dependenz, die, gedeckt 
von der Umhüllungshaut, vorn als Kopfscheide, hinten als 
Schwanzscheide, von den Seiten als Seitenplatten des Amnios 
auf den Rücken des Embryo’s heraufwachse und zur Amnios- 
hülle sich schliesse. Dieser letztere Bildungsprozess kann nun, 
wie die besprochenen Missbildungen lehren, entweder gar nicht 
oder nur theilweise erfolgen; so entsteht Mangel oder rudimen- 
täre Ausbildung der Amnioshülle. Gleichwohl erhält sich in 
der Cutisanlage, die zur Bauchröhre am Rumpfe sich abschlies- 
sen soll, die Neigung zur Entwickelung jener Dependenz, die 
in normalen Fällen zur Amnioshülle auf den Rücken des Em- 
bryo’s heraufwächst. Es bildet sich der oben beschriebene 
Anhang am Hautnabel, der sich mehr oder weniger weit auf 
den Dottersack hinzieht und in gewissem Sinne als das miss- 
gebildete Aequivalent der Amnioshülle anzusehen ist. 


Erklärung der Abbildungen. 


Fig. 1. Flächenansicht eines des Amnios entbehrenden Embryo 
der Gans nach T7tägiger Bebrütung. a. Grosshirnbläschen, b. erstes, 
c. zweites, d. drittes Hirnbläschen; o. Auge; m. Öberkieferfortsatz ; 
e. Ohrlabyrinthbläschen; f. zweiter Visceralbogen mit der Kiemen- 
deckelwulst; h. Herz; g. vordere, g‘ hintere Extremität; i. Hautnabel; 
A. mit kreisföormigem Rande aufhörerder, stark gefalteter Anhang der 
Cutis am Hautnabel, — das missgebildete Aequivalent des Amnios; 
k. Allantois;- 1. peripherischer Theil des Stratum intermedium in der 
Area vasculosa mit seinen Gefässen. Ueber A, k, | zieht die Umhül- 
lungshaut hinweg. 

Fig. 2. Querdurchschnitt von demselben Embryo aus der Haut- 
nabelgegend; es liegt die Schnittfläche des hinteren Stückes mit den 
hinteren Extremitäten vor. p. Rücken des Embryo; z. Bauchfortsatz; 
z' Rückenfortsatz des Wirbelsystems; m. Rückenmark; ch. Chorda dor- 
sualis; n. Aorta; n' Lumina der Cardinalvenen; y. Wolff’sche Kör- 
per; v. Bauchfortsatz der Cutis mit den Lumina der Umbilicalvenen; 
ji. Hautnabelgegend. A. Durchschnitt des gefalteten von der Umhül- 
lungshaut bekleideten Anhangs der Cutis; A’ der auf der linken Seite 
des Bildes entfernter vom Hautnabel gelegene peripherische Rand des- 
‚selben; u. Umhüllungshaut in der Area vasculosa, den peripherischen 
Theil des Stratum intermedium überzieflend; r. zwischen dem Anhange 
der Cutis und dem peripherischen Theil des Stratum intermedium ge- 
legener und mit Flüssigkeit gefüllter Hohlraum, der sich in die Bauch- 
höhle fortsetzt; s. abgeschnittenes vorderes Randstück der Allantois; 
t. Durchschnitt des Darmes, t‘ Darmgekröse; x’ peripherischer Theil 
des Stratum intermedium durch den Ductus omphalomesaraicus mit 
dem Darm in Verbindung stehend. 

Fig. 3. Durchschnitt eines Embryo vom Hühnchen, bei welchem 
die Abschliessung der Bauchhöhle durch die Cutis noch nicht stattge- 
funden hatte. A. Anhang des Bauchfortsatzes der Outis, gedeckt von 
der Umhüllungshaut, die sich linkerseits im Bilde, in der Gegend des 
Hautnabels, eine kleine Strecke weit von demselben abgelöst hat; w. 
Ausführungsgang der Wolff’schen Körper; x. centraler Theil des 
Stratum intermedium in der Abschnürung begriffen; alle übrigen Buch- 
staben bedeuten dasselbe wie in Fig. 2. 


Max Schultze: Die kolbenförmigen Gebilde u. s. w., 281 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Pe- 
tromyzon und ıhr Verhalten im polarisirten Lichte. 


Von 


Prof. Max SCHULTZE in Bonn. 
(Hierzu Taf. V. und VI.) 
(Fortsetzung.) 


Die Verschiedenheiten nun, welche in Betreff der Polari- 
sationsverhältnisse zwischen einem geschichteten Oellulosekörper 
"und einem Muskelprimitivbündel herrschen, finden wir beide 
neben einander an unseren Kolben der Neunaugen- 
haut. Der angeschwollene obere Theil zeigt schon bei ge- 
wöhnlichem Lichte deutliche Schichtung, und verhält sich wie 
eine: Cellulosekugel, der Hals dagegen hat keine Spuren einer 
regelmässigen, um die Längsaxe angeordneten Schichtung und 
verhält sich wie eine Muskelfaser. Er zeigt im natürlichen 
oder künstlichen Querschnitt (ersterer ist die auf die Lederhaut 
aufstossende abgeplattete Fläche) kein Kreuz, während am 
oberen Ende dies von allen Seiten her zu sehen ist. 

‚So .eigenthümliche Gebilde wie die beschriebenen werden 
nicht ohne eine eigenthümliche Function sein, und es kommt 
nun darauf an, diese zu ergründen. Dass ihre flaschenförmige 
Gestalt Veranlassung gab, sie für secernirende Organe, einzel- 
lige Drüsen oder dergleichen zu ‚halten, ist verzeihlich, wenn 
man bedenkt, dass ihre Lage verkannt worden. Der Hals 
sollte nach Kölliker an der Oberfläche der Epidermis stehen, 
und. da sich an diesem öfter Spuren eines Canales oder strang- 
förmige Reste unveränderten Protoplasma’s zeigten, so konnte 
die angeführte Ansicht einigermaassen gestützt erscheinen. In 
der That ist nun ‚aber die Lage die umgekehrte, so dass jeder 


Gedanke an ein drüsiges Organ ausgeschlossen werden muss, 
Reichert's u, du Bois-Reymond's Archiv. 1561. 19 


282 Max Schultze: 


Was, so fragt man sich, könnten denn die Kolben in der Epi- 
dermis bedeuten? Aus homogener, ich möchte sagen fester 
Eiweisssubstanz gebildet, jedenfalls consistenter als gewöhnli- 
ches Protoplasma, in mehrfacher Beziehung mit der contrac- 
tilen Substanz quergestreifter Muskelfasern übereinstimmend, 
passen sie so wenig zu den übrigen Epidermiszellen, dass man 
sie vielmehr mit tieferen Schichten der Gewebe in Verbindung 
zu bringen versucht wird. Die Kolben ruhen auf der Leder- 
haut auf und würden wir diese Verbindung, so wie die Ele- 
mente der Lederhaut selbst, namentlich an den Verbindungs- 
stellen, näher in’s Auge zu fassen haben, Jedenfalls ist auf- 
fallend, wie Jeder zugeben wird, dass während das Verhält- 
niss der Kolben zu der Oberfläche der Epidermis je nach 
ihrer Länge sehr variirt, ihr Verhältniss zur Lederhaut 
stets dasselbe bleibt, und deutet dies in wohl zu beach- 
tender Weise auf eine gewisse Verbindung und Beziehung 
beider. 

Die Undurchsichtigkeit der Epidermis und der Lederhaut 
schon im frischen Zustande, und die Schwierigkeit bei der 
Weichheit der hier in Betracht kommenden Gewebe hinreichend 
dünne Schnitte anzufertigen, macht vor Allem eine künstliche 
Erhärtung der Gewebe nothwendig. Diese habe ich auf dreierlei 
Weise erreicht, mit starkem Spiritus oder absolutem Alkohol, 
mit starken Chromsäurelösungen von 2—3 Gran auf die Unze 
Wasser und endlich mit Holzessig. In diesen Flüssigkeiten 
wird die Epidermis zusammen mit der Lederhaut so fest, dass 
man bequem durch alle beide feine Schnitte legen kann, wo- 
bei die Elemente ersterer ihre Lage unverändert beibehalten. 
Die feinen Schnitte der Chromsäure- und Alkoholpräparate 
macht man mit sehr verdünnter Essigsäure oder Lauge durch- 
sichtiger, was bei Holzessigpräparaten nicht nöthig ist. An 
letzteren ist die Lederhaut ein wenig angequollen, an ersteren 
wird sie es durch den Zusatz von Säuren oder Alkalien. Dieses 
Aufquellen darf nicht stürmisch geschehen, sondern muss in 
ganz allmähliger Weise während der Beobachtung von Statten 
gehen. Auch kann man gut erhärtete Spirituspräparate in 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon u. s. w. 283 


ganzen Stücken und vor dem Schneiden in Holzessig durch- 
sichtig machen. | 

An solehen rechtwinklig auf die Oberfläche angelegten fei- 
nen Schnitten bemerkt man, wie in Fig. 4 gezeichnet ist, zu- 
nächst, dass die Lederhaut aus ziemlich gleichbreiten Bündeln 
oder Platten zusammengesetzt ist, zwischen denen dunklere Li- 
nien die Grenzen bezeichnen. Die Richtung der Fasern und 
Faserbündel ist in verschiedenen Lagen verschieden, und zwar 
meist so, dass wenn in der einen Schicht die Fasern parallel 
der Längsaxe des Fisches verlaufen, sie in der folgenden eine 
Richtung rechtwinklig auf die erste haben, also ringförmig den 
Fisch umkreisen. Wie in der ersten, so verlaufen sie auch in 
der dritten, und wie in der zweiten so in der vierten Schicht 
u.s. f. Dies Verhältniss ist an schiefen Schnitten d. h. sol- 
chen, welche z. B. die Längsaxe des Fisches in einen Winkel 
von 45° treffen, gut zu sehen. Die untere Grenze der Leder- 
haut wird überall durch eine sehr undurchsichtige Pigment- 
schicht bezeichnet, unter welcher dann ein dickes Fett- 
lager folgt. 

Weiter bemerkt man an solchen Schnitten, dass die Leder- 
haut von zahlreichen feinen Fasern durchsetzt wird, welche 
bald durch die ganze Dicke, bald nur durch einen Theil der- 
selben rechtwinklig zur Oberfläche aufsteigen, an der Grenze 
von Epidermis und Lederhaut endigen, und hier zum Theil 
in eine deutliche Verbindung mit den Kolben der 
Epidermis treten. Die Fasern bestehen in ihrem Haupt- 
theile aus Bindegewebe. Sie entstehen an den Grenzen der 
die Lederhaut bildenden Platten aus Theilen dieser letzteren, 
indem sich die Oberfläche derselben trichterförmig erhebt und 
zu einem feinen vielleicht hohlen Faden gestaltet, welcher die 
folgenden Schichten entweder einfach durchsetzt oder auch von 
Ihnen neuen Zuwachs durch ähnliches Ablösen neuer Oberflä- 
chenschichten erhält. So lässt sich der Faden je nach der 
Dieke und Richtung des Schnittes auf längere oder kürzere 
Strecken verfolgen. Viele sah ich die ganze Dicke der 
Lederhaut durchsetzen, und wie sie dreieckig aus den tiefen 
Schichten anfingen, so auch dreieckig an der Oberfläche wieder 

19* 


284 Max Schultze: 


endigen. Es sind sicher eine Art von Stützfasern, welche 
eine innige Verbindung der einzelnen Biudesubstanzplatten 
unter einander vermitteln. Sie scheinen nach dem, was ich bei 
anderen Fischen gesehen habe, eine grosse Verbreitung zu be- 
sitzen und dürften auch in anderen geschichteten Pe 
häuten in ähnlicher Weise vorkommen. 

Wenn bei diesen Fasern die Zusammensetzung aus röhren- 
förmig in einander steckenden Bindegewebsscheiden keinem 
Zweifel unterliegen kann, so fällt bei aufmerksamer Betrach- 
tung derselben doch noch eins auf, was eine neue Complication 
der Bildung andeutet. Es ist ein im Centrum der in einander 
steckenden Bindesubstanzröhren verlaufender feiner Faden, wel- 
cher nicht bindegewebiger Natur zu sein scheint, indem seine 
Entstehung sich auf keine der Bindesubstanzlamellen der Le- 
derhaut zurückführen lässt. Der Faden ist verschwindend fein 
und bietet somit keine besonders bemerkenswerthen Structur- 
verhältnisse. Ich sah ihn an solchen radiären Fasern, die durch 
die ganze Dicke der Lederhaut verfolgt werden konnten, schon 
in den tiefsten Schichten derselben, und schien es, als ob er 
schon unter der Lederhaut als solcher existire, folglich als 
etwas derselben Fremdartiges in sie eintrete. Unter der Le- 
derhaut befindet sich bei Peiromyzon, wie schon erwähnt, eine 
Lage sehr dunklen Pigmentes, auf welches sogleich eine dicke 
Lage von Fettgewebe folgt. Leider ist es unmöglich, des dun- 
keln Pigmentes wegen, irgend etwas in diesem Unterhautge- 
webe mit Deutlichkeit zu erkennen, und so hätte auch auf eine 
Entscheidung über die Herkunft der erwähnten feinen Fasern 
Verzicht geleistet werden müssen, hätte sich nicht glücklicher- 
weise an einer bestimmten Körperstelle eine günstigere Anord- 
nung der Theile gefunden. 

Indem ich verschiedene Körpergegenden von Petiromyzon 
durchforschte, kam ich auf die am Kopfe angebrachten reihen- 
weis stehenden Grübehen der Haut, deren feineren Bau zu stu- 
diren mir in mehrfacher Beziehung lockend erscheinen musste. 
Schnitte durch dieselben lehrten, dass an ihnen, wie in ihrer 
unmittelbaren Umgebung die Pigmentschicht unter der Leder- 
"haut viel durchsichtiger sei, als an anderen Stellen. So- 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon u. 8. w. 285 


gleich stellte sich denn auch heraus, dass in diesem nur schwach 
pigmentirten Unterhautgewebe, welches aus lockerem Bindege- 
webe besteht, einzelne sehr scharf conturirte, ziemlich dicke 
Fasern aufsteigen, welche sich dicht unter oder erst in der 
Lederhaut in feinste Fäserchen theilen, welche zu Axenfasern 
solcher radiären Bindegewebsfasern werden, wie wir sie be- 
schrieben haben. Eben solche Fasern, wie sie in der pigmen- 
tirten Unterhaut aufsteigen, verlaufen auch in grosser Zahl zu 
den Epidermisgrübchen, auf deren Untersuchung ich ausging, 
um hier an einer eigenthümlichen sehr dünnen Stelle der Ober- 
haut zu endigen. Der Bau dieser Stellen ist der Art, dass, 
was nach der Analogie mit ähnlichen Bildungen bei anderen 
Fischen zu vermuthen war, wir in ihnen eine Art von Sinnes- 
organen erblicken dürfen. Das Epithel im Grunde der Epider- 
misgrübchen ist ein ganz anderes als in der Umgebung, aus 
sehr schwer isolirbaren, langgestreckten, schmalen Zellen ge- 
bildet, zu denen wie zu directer Verbindung mit ihnen Fasern 
aus der: Tiefe aufsteigen, welcher aller Wahrscheinlichkeit nach 
Nervenfasern sind. Eben solche Fasern nun sind es, welche 
seitlich von diesen Kopfgruben überall in der pigmentirten 
Unterhaut, und auch tiefer, oft deutlich auf weite Strecken in 
dem Fettgewebe aufsteigend verfolgt werden konnten, um nach 
feiner Verästelung im Inneren solcher aus Bindegewebsröhren 
zusammengesetzter radiären Fasern durch die Lederhaut bis an 
die Epidermis zu treten. 

Bekanntlich fehlen, nach Stannius’ Entdeckung, den Petro- 
myzon markhaltige Nervenfasern. Hirn, Rückenmark und pe- 
ripherische Nerven sind im frischen Zustande grau und halb 
durchscheinend, die weisse Farbe, welche die Nerven anderer 
Thiere und des Menschen auszeichnet, fehlt hier durchaus und 
beruht dieser Umstand auf der gänzlichen Abwesenheit einer 
dem sogenannten Nervenmark vergleichbaren Substanz. Die 
Nerven bestehen aus blossen Axencylindern, welche mit 
Ausnahme der Fasern der Centralorgane und der äussersten 
peripherischen Enden von einer kernhaltigen Bindegewebsscheide 
(Schwann’schen Scheide) umhüllt sind. Reissner') glaubt 


1) Dieses Archiv 1860, S. 569. 


286 Max Schultze: 


neuerdings wieder sich überzeugt zu haben, dass die Fasern 
des Rückenmarkes von Petromyzon, sowohl die dünnen als die 
dicken sogenannten J. Müller’schen, in zwei Bestandtheile 
zerfallen, eine peripherische ganz wasserklare Rindensubstanz, 
der Markscheide entsprechend, und einen Axencylinder, wel- 
cher bald mehr, bald weniger Raum in der Faser einnehme, 
bald dicker, bald dünner, halbmondförmig im Querschnitt oder 
sternförmig oder cylindrisch sei. Die Abbildung a. a.0. Taf. 
XIV. Fig. 1 giebt eine sehr klare Darstellung eines Präpa- 
rates, an welchem eine solche Scheidung der Bestandtheile der 
Rückenmarksfasern zu sehen ist. Solche Präparate sind leicht 
zu gewinnen durch Erhärtung des Rückenmarkes in stärkeren 
Lösungen der Chromsäure oder chromsauren Kali’s. Sie ent- 
sprechen aber nicht dem natürlichen Zustande, in welchem die 
Axencylinder einen kreisrunden Querschnitt darbieten. Sie 
füllen im frischen Zustande den Raum in der Grundsubstanz 
des Rückenmarkes, welcher in der Reissner’schen Zeichnung 
nur unvollständig von den Axencylindern ausgefüllt wird, voll- 
ständig aus, so dass kein Zwischenraum für eine dem Nerven- 
marke analoge Substanz übrig bleibt. Ich habe das schon in 
meiner Schrift: „Observationes de retinae structura penitiori* 
pag. 5 betont und muss dabei beharren. Reissner würde 
eine richtigere Ansicht von der Natur der Petromyzon.Nerven 
gewonnen haben, wenn er, was für alle Untersuchungen mit 
Chromsäure und chromsaurem Kali so wichtig ist, verschiedene 
genau bestimmte Concentrationsgrade der Flüssigkeiten zur 
Erhärtung angewandt, und dann noch die Zeitdauer der Ein- 
wirkung mit berücksichtigt hätte. Ich habe immer und immer 
wieder in meinen Publicationen über Nervenendigungen darauf 
aufmerksam gemacht, wie wichtig für alle mit den genannten 
Flüssigkeiten vorzunehmende Untersuchungen diese Punkte sind. 
Doch scheut man sich, wie es scheint, die schärferen Metho- 
der zu benutzen und geht lieber den alten Schlendrian fort. 
Man wirft ein Präparat in eine beliebige etwa nach der 
Farbe als weingelb oder Madeira-gelb bestimmte Lösung, und 
glaubt nun, was man hier nach Tagen oder Wochen findet, sei 
im frischen Zustande auch so'gewesen. Diese Unsitte, gegen 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon u. s, w. 287 


welche ich schon im Jahre 1856 angekämpft (Ueber die Endi- 
gungsweise des Geruchsnerven in den Monatsber. der Berliner 
Akademie) und welche ich zunächst für die Untersuchung der 
Nasenschleimhaut durch ganz bestimmte Vorschriften zu ver- 
drängen versucht habe, ist Ursache vieler trauriger Meinungs- 
verschiedenheiten der Histiologen. Und vollkommen unbegreif- 
lich muss es erscheinen, wenn Beobachter, wie Hoyer in 
Warschau, indem sie über einen Gegenstand arbeiten, für den 
die Methoden genau angegeben sind,. ohne sich dieser 
Methoden bedient zu haben, sich in absprechender Weise 
hören lassen. Es ist ein Beweis, wie tief das Vertrauen der 
Histiologen zu einander gesunken, wenn so etwas vorkommen 
kann, wie Hoyer es ausgesprochen hat, dass die Riechzellen 
zwischen den Epithelialzellen der Nasenschleimhaut. nur von 
der Kante gesehene und pfropfenzieherförmiggedrehte 
glatte Epithelialzellen seien. Einen schlagenderen Be- 
weis für die Oberflächlichkeit seiner Untersuckungen, als in 
diesem Ausspruche enthalten, konnte Hoyer nicht geben. 
Doch will ich ihm denselben zu Gute halten, da er in seiner 
Inaugural-Dissertation enthalten und er die Vertretung dessel- 
ben vielleicht nicht allein übernehmen mag. Jedenfalls hoffe 
ich von der Wahrheitsliebe des Genannten, nachdem er die 
Riechzellen zweimal geläugnet, dass er nun auch anzeigen 
wird, wenn es ihm gelungen sein wird, mit Hülfe der besseren, 
von mir als durchaus unentbehrlich bezeichneten Methoden, die- 
selben zu sehen. 

Wie es bei der Untersuchung peripherischer Nervenenden 
so wiehtig ist, wenn man die Axencylinder in natürlichen 
- Diekendimensionen beobachten will, sich der dünnen Chrom- 
säurelösungen von !/,—!/, Gran auf die Unze Wasser (= !/3000 
—!/yooo Chrsre) oder Lösungen von Kali bichromicum 1—4 Gran 
auf die Unze Wasser zu bedienen, so ist es auchbei den Axencylin- 
dern der Centralorgane des Nervensystems. Mit solchen Lö- 
sungen behandeltes Rückenmark von Peiromyzon, vorausgesetzt 
dass es nicht länger als einige Tage in den Flüssigkeiten lag, 
zeigt die Axencylinder in einem Aussehen annähernd wie im 
frischen Zustande, den man natürlich stets zu vergleichen hat, 


288 Max Schultze, 


Man kann dieselben aber durch Zerzupfen viel besser isoliren 
als im frischen Zustande, wegen Maceration der Zwischensub- 
stanz, und kann bei allmählig eintretender Erhärtung, die bei 
so dünnen Lösungen freilich erst nach einigen Wochen ganz 
genügend erfolgt, dünne Querschnitte gewinnen. Zum Erhär- 
ten ist Kali bichrom. besser, da das Präparat in den dünnen 
Chromsäurelösungen meist bald verschimmelt. Durch Anferti- 
gung solcher Präparate wird man sich von der Richtigkeit des 
eben über die Rückenmarkfasern von Petromyzon Gesagten 
überzeugen. Andererseits ist es ein Leichtes, durch verschie- 
dene stärkere Uoncentrationsgrade alle Uebergänge bis zu dem 
Verhalten in der Reissner’schen Abbildung zu erhalten. In 
den breiten Axeneylindern selbst ist eine gewisse Verschieden- 
heit von mehr homogener, sehr feinkörniger Rindensubstanz 
und etwas grobkörnigerer Axensubstanz zu unterscheiden, doch 
ist das etwas ganz anderes, als was Reissner meint, ist viel- 
mehr eine Wiederholung der bei so vielen Zellen auftretenden 
Verschiedenheit von Rindenschicht und Marksubstanz des Pro- 
toplasma, Ueberwiegen der homogenen Grundsubstanz des Pro- 
toplasma in dem einen, Ueberwiegen der Körnchen des Proto- 
plasma in dem anderen Falle. 

Wenn nun also, wie hiernach festzuhalten ist, die Petromy- 
zon-Nervenfasern nur aus Axencylindern bestehen, wie soll 
man sie von anderen Fasern z. B. vom Bindegewebe unter- 
scheiden? So lange sie in Bündeln beisammen liegen, wie in 
den Stämmcehen, und jeder Axencylinder seine kernhaltige 
Schwann’sche Scheide hat, ist die Unterscheidung nicht so 
schwer, aber an der Peripherie, wo die Scheide verloren geht, 


wächst die Schwierigkeit ausserordentlich, Ein ganz charak- - 


teristisches Kennzeichen weiss ich nicht anzuführen. Varico- 
sitäten, wie ich sie für die Erkennung peripherischer Axeney- 
linder mancher Körpergegenden vieler Thiere und des Menschen 
als sehr wichtig beschrieben habe, sind bei Petromyzon bisher 
durch kein Mittel hervorzurufen gewesen, und wäre überhaupt 
an der Haut, wo es sich immer um dünne Schnitte 'stark er- 
härteter Präparate handelt, auf solche nicht zu hoffen. Wie 
wichtig wäre es für uns, beweisen zu können, dass die in 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon u, s.w. 289 


der Unterhaut und Lederhaut bis zur Epidermis aufsteigenden 


Fasern wirklich Nervenfasern seien. In genügender Strenge 
können wir den Beweis nicht liefern. Was mich veranlasst, 
die an den Kopfgruben und in deren Nähe beobachteten auf- 
steigenden Fasern, die ich, wie ich hier bemerke, nur an Ohrom- 
säurepräparaten studiren konnte, für Nervenfasern zu halten, 
ist ihre Selbständigkeit, dem umgebenden Bindegewebe ge- 
genüber, ihre homogene, der Axencylindersubstanz gleichende 
Beschaffenheit und die Art der Verästelung. Derartige Fasern 
können, wie ich meine, kaum etwas anderes als Nervenfasern 
sein. In hohem Grade bedauere ich, die Kopfgruben nicht an 
Holzessigpräparaten studirt zu haben. Ich habe hier in 
Bonn überhaupt nur ein einziges Mal Petromyzon fluviatilis 
auftreiben können, und das Mal war nur ein einziges Exemplar 
lebend, dessen Kopf in Chromsäure gelegt wurde. So empfehle 
ich Anderen, denen die Gelegenheit geboten ist, die Untersu- 
chung an Holzessigpräparaten nachzuholen. An solchen müs- 
sen die diekeren Axencylinder der Unterhaut sich von dem 
aufquellenden und durchsichtig werdenden Bindegewebe sehr 
deutlich unterscheiden, 

Ich erwähnte oben, dass ein Theil der radiären Fasern der 
Lederhaut sich mit dem unteren Ende der Kolben der 
Epidermis verbinde. Diese Verbindung konnte ich am 
deutlichsten an Präparaten sehen, die in absolutem Alkohol 
erhärtet und nachher durch Holzessig oder Essigsäure durch- 
sichtig gemacht wurden, Sie kommt so zu Stande, dass die 
obere dreieckige Anschwellung der radiären Faser sich dem 
unteren Ende des Kolben genau anschmiest. Dabei zeigt sich 
das letztere oft in eine nach abwärts gerichtete kurze, kegelför- 
mige Spitze ausgezogen, welche in die Mitte des verbreiterten 
Endes der Radialfaser hinabragt. Auch zwei solcher Spitz- 
chen kommen am unteren Ende eines Kolben vor, und treten 
mit solchen auch zwei Radialfasern in Verbindung. Sollte es 
sich weiter bestätigen, dass in diesen Radialfasern eine feine 
Nervenfaser eingeschlossen liege, so würde, da die Axenfaser 
in unmittelbare Berührung mit den Kolben tritt, letzterer als 
Endgebilde einer Hautnervenfaser aufzufassen sein, 


390 Max Schultze: 


Wir wollen uns weiteren Betrachtungen über diesen noch 
zweifelhaften Punkt nicht hingeben. Ich bemerke nur soviel, 
dass die chemische Beschaffenheit der Kolben der Ansicht, dass 
wir es hier mit Nervenendgebilden zu thun haben, nicht 
ungünstig ist. Als solche würden sie am natürlichsten, als 
Endgebilde von Empfindungsnerven, als Tastkörperchen gelten. 
Es wäre aber auch möglich, dass wie in der feineren Structur, 
so auch in der Function eine Aehnlichkeit mit Muskelfasern 
vorhanden sei, dass wir es mit contractilen Elementen der Epi- 
dermis zu thun haben. Versuche auf diesen Punkt hin wäür- 
den sich an ganz frisch von lebenden Thieren abgenommener 
Epidermis ausführen lassen. Möglich, dass man bei Reizung 
mittelst des Inductionsapparates gewisse Veränderungen an den 
Kolben wahrnimmt. Auch der Polarisationsapparat wäre zur 
Constatirung solcher Veränderungen zu benutzen. Andererseits 
dürfte es uns aber auch nicht Wunder nehmen, in Nervenend- 
gebilden, welche nicht musculöser Natur sind, doch eine Dif- 
ferenzirung der Substanz in Schichten verschiedener Natur 
zu finden. Ich erinnere an die Nervenendplatten der so- 
genannten pseudoälektrischen Organe des Rochen- 
schwanzes und von Mormyrus. Dieselben sind ihrer Structur 
nach mit dem Gewebe quergestreifter Muskeln verglichen wor- 
den, und bieten in der That manche Aehnlichkeit mit densel- 
ben, obgleich sie, wie aus sicheren Versuchen hervorgeht, nicht 
contractil sind. Jedenfalls ist es für die Auffassung des Mus- 
kelgewebes und die Frage nach dessen Verwandtschaft mit der 
Axencylindersubstanz nicht uninteressant, wenn nachgewiesen 
wird, dass eine dem Muskelgewebe ähnliche Struetur auch bei 
nicht contractilen Nervenenden vorkommen kann, und wird da- 
durch die auch durch die neueren histiologischen Untersuchun- 
gen mehr und mehr bestätigte Ansicht von einem allmähligen 
Uebergange zwischen Axencylindersubstanz und contractiler 
Muskelsubstanz, nach welcher die Muskeln geradezu als Ner- 
venendgebilde aufgefasst werden können, nicht übel gestützt. 

Vor allen Dingen muss ich nun aber noch erwähnen, -dass 
durchaus nicht von allen Radialfasern der Lederhaut der Zu- 
sammenhang mit Epidermiskolben nachweisbar ist. Vielmehr 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon u, s. w. 29] 


glaube ich mich sicher überzeugt zu haben, dass viele der Ra- 
dialfasern zwischen den Kolben an anderen Stellen der Epi- 
dermis endigen. Ob diese letzteren nun etwa der Axenfaser 
entbehren, welche wir für nervös halten, hat nicht mit voll- 
kommener Sicherheit ermittelt werden können. In der That 
halte ich, wie oben schon angeführt worden, die Radialfasern 
an sich für etwas ursprünglich bindegewebiges, und meine, dass 
nur zu gewissen derartigen Fasern eine Nervenfaser hinzutritt. 
Aber über diese Punkte sind weitere Versuche nöthig, die ich 
angestellt haben würde, wenn mir mehr Material zu Gebote ge- 
standen hätte. _ Zunächst stand mir solches nicht einmal in 
Aussicht und musste die Lücke unausgefüllt bleiben. 
Kölliker beschreibt neben den Kolben der Neunaugenhaut, 
die er Schleimzellen nennt, noch andere eigenthümliche von 
gewöhnlichen Epidermiszellen unterscheidbare zellige Gebilde, 
Körnerzellen. Es sind das rundliche, kuglige oder ovale, 
mit stark lichtbrechenden Körnern bis zur Undurchsichtigkeit 
ausgefüllte Zellen, von denen ein oder zwei fadige Ausläu- 
fer von homogener Beschaffenheit ausgehen. Kölliker hat 
ein eigenthümliches Unglück bei Anstellung seiner Untersu- 
chungen über die Haut der Neunaugen gehabt. Wir sahen 
schon, dass er die Lage der von ihm sogenannten Schleim- 
zellen vollkommen verkannte, dasselbe gilt von seinen Körner- 
zellen. Ihre Ausläufer sind sämmtlich nicht, wie Kölliker 
angiebt, gegen die Oberfläche der Epidermis, sondern gegen 
die Lederhaut gerichtet. Die Körnerzellen,. mit Fetttröpf- 
chen ähnlichen stark lichtbrechenden Körnchen gefüllte Zellen, 
liegen, wie jeder Querschnitt zeigt, der Oberfläche der Epider-. 
mis sehr nahe, und zum Theil viel zu nahe, als dass die im 
isolirten Zustande an ihnen zu beobachtenden langen Ausläufer 
nicht weit aus der Epidermis hervorragen müssten, wenn sie 
nach der Peripherie verliefen. In der That überzeugt man sich 
an geeigneten Präparaten sehr leicht, dass die Ausläufer, seien 
sie an den Zellen einfach oder doppelt, in die Tiefe laufen, 
und hier gewöhnlich, vielleicht immer, die Oberfläche der. Le- 
derhaut erreichen, auf welcher sie mit einem auch von Köl- 
liker erwähnten, an den isolirten Zellen meist sehr deutlichen 


292 “ Max Schultze: 


abgestutzten Ende aufsitzen. Die Ausläufer scheinen homogen 
und solide, ohne körniges Protoplasma. Das Licht brechen sie 
nicht doppelt, so wenig wie die Körper der Körnerzellen. 
Stehen die Ausläufer auch mit Radialfasern der Lederhaut in 
Verbindung? Wir konnten darüber keine Gewissheit erhalten. 
Die Funetion derselben bleibt zunächst ganz dunkel. Die ver- 
schiedenen Möglichkeiten, die Kölliker in dieser Beziehung 
aufführt, sind als unglückliche Versuche zu bezeichnen. Denn 
da die Ausläufer nicht nach der Peripherie verlaufen, kann von 
einem Vergleich mit einzelligen Drüsen, deren Secret sich nach 
aussen ergiesst, nicht die Rede sein. Aus demselben Grunde 
fällt auch der Vergleich mit Nesselzellen oder den J. Müller- 
schen Körperchen der Myxinoiden, aus deren Innerem sich ein 
Faden entwickelt, der nach Kölliker’s Vermuthung durch 
die peripherisch laufenden Fortsätze nach aussen "gelangen 
könne. Für diese Möglichkeit fehlt Alles, wie an einem Messer 
ohne Heft und Klinge. Denn erstens enthalten die Zellen 
keinen Faden, dann sind die Fortsätze nicht hohl, dass der 
Faden austreten könnte, und drittens gehen die Fortsätze nach 
der Lederhaut und nicht nach der freien Fläche der Epidermis. 

Kölliker hat seine Untersuchungen über die Haut der 
Neunaugen begonnen, um gewisse bei den Myxinoiden 
(bei Myzine glutinosa) gemachte Beobachtungen zu erweitern. 
In der That finden sich in der Haut beider Fischarten wie 
es scheint verwandte und vergleichbare Bildungen. Aber ein 
Irrthum hat hier, wie so oft, viele nach sich gezogen. 'Kölli- 
ker meint, die von Retzius und J. Müller beschriebenen Kör- 
perchen der Schleimsäcke der Myzine, welche aus einem auf- 
&ewundenen Faden bestehen, entständen im Epithel der 
Schleimsäcke, zwischen den gewöhnlichen und als Fort- 
setzung der Epidermiszellen anzusehenden Epithelzellen der 
Schleimsäcke. Das ist nicht der Fall. Die Schleimsäcke 
von Hyzine sind mit gar keinem Epithel ansgekleidet, 
und die Körperchen entstehen nicht in der Wand der Säcke, 
sondern im Inneren. Die Schleimsäcke von Myzine sind, wie 
ich an einem in Chromsäure erhärteten Exemplare von Myzine 
glutinosa sehe, das ich der Güte der Herren Dr. Key und Prof, 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon u.s. w. 293 


von Düben in Stockholm verdanke, dicht ausgefüllt von einer 
dem Gewebe der Chorda dorsalis im feineren Baue wiein der 
Consistenz ähnlichen, grosszelligen Masse. Diese nimmt den 
ganzen inneren Raum jedes Säckchens in überall gleicher 
Weise ein und grenzt unmittelbar an die bindegewebige Wand 
desselben, so dass von einem besonderen. Epithel nirgends 
die Rede ist. Der enge Canal, welcher von aussen in das 
Säckchen führt, besitzt eine dünne epitheliale Auskleidung als 
Fortsetzung der Epidermis, diese hört aber im Säckchen selbst 
auf. Der Canal stösst, so viel ich sah, unmittelbar auf die 
Chorda-ähnliche zellige Ausfüllungsmasse des Säckchens, welche 
denn bei weichen, weniger gut conservirten Exemplaren, viel- 
leicht auch im frischen Zustande, zu der Mündung hervorge- 
presst werden kann. Die grossen dünnwandigen und mit fast 
wasserklarem Inhalte gefüllten Zellen, in deren Innerem nur 
wenig feinkörniges Protoplasma den kleinen runden Kern um- 
hüllt, und manchmal wie in Strahlen von demselben aus sich 
in der Zellenhöhle vertheilt, sind aber nicht die einzigen im 
Inneren der Schleimsäcke gebildeten, sondern zwischen ihnen 
entstehen die bekannten aus einem .aufgewickelten Faden ge- 
bildeten Körper, deren: Grundform, wie Kölliker richtig er- 
kannt hat, auch eine Zelle ist. Wie wenn in das Gewebe der 
Chorda zwischen je drei oder vier mit ihren Kanten und Flä- 
chen aneinanderstossende Zellen eine kleinere ovale oder birn- 
förmige eingeschoben ‚wäre, so liegen .die dunkeln Fadenzellen 
zwischen den grossen wasserklaren, die die Hauptmasse des 
Inhaltes ausmachen, eingestreut und unbeweglich befestigt. 
Sollen sie heraustreten, so muss das, wie es scheint, leicht ver- 
gängliche grosszellige Gewebe erweicht und partiell aufgelöst 
werden, damit die Verbindungen sich lockern. _An dem Inhalte 
der Schleimsäckchen ziemlich schlecht conservirter Spiritus- 
exemplare konnte ich an der. Oberfläche der Fadenzellen die 
Reste des ursprünglich sie umgebenden grosszelligen Gewebes 
deutlich nachweisen (es sind das offenbar die „Faserfragmente“, 
die Leydig hier sah!)), so. dass es scheint, als wenn ein 


1) Lehrbuch der Histologie S. 198. 


294 Max Schultze: 


ziemlich hoher Grad von Maceration dazu gehöre, sie ganz zu 
isoliren. 

Es ist somit auch die Art der Entstehung der merkwürdi- 
gen Fadenkörper, von denen schon J. Müller sagte, dass sie 
bei Wirbelthieren einzig in ihrer Art wären, eine ganz eigen- 
thümliche und höchst merkwürdige. Jedenfalls aber haben wir 
nach Obigem keine Veranlassung, sie, wie Kölliker will, als 
modificirte Epithelialzellen aufzufassen. 

Wie steht es nun aber mit der Epidermis von Myzine? 
Nach Kölliker kommen in derselben ähnliche Fadenzellen, 
wie in den Schleimsäcken in grosser Zahl vor. 

Das Bild, welches die Epidermis von Myzine glutinosa in 
dünnen Querschnitten bietet, beschreibt Kölliker richtig, wenn 
er Sagt, zwischen den gewöhnlichen und dick geschichteten 
kleinen Epidermiszellen seien zwei besondere Arten grösserer 
zu unterscheiden, helle, fast kuglige, sehr durchsichtige Zellen, 
welche in ziemlich gleichen geringen Abständen in den tieferen 
Schichten gefunden werden (Kölliker nennt sie Schleimzellen) 
und ovale oder birnförmige, dunklere, sehr zahlreich in die 
höheren Lagen der Epidermiszellen eingebettet. An letz- 
teren nun, welche in Lage und Ansehn mit den „Körner- 
zellen“ der Haut von Petromyzon übereinstimmen, behauptet 
Kölliker gesehen zu haben, dass das körnige Ansehn 
nur ein scheinbares sei, indem dasselbe vielmehr von einem 
dicht aufgerollten Faden herrühre, welcher das Innere der 
Zelle erfülle.. Unter Anwendung von Reagentien, Glycerin, 
‚Natronlauge u. A. sei der Faden abgewickelt worden, wovon 
sich auch H. Müller überzeugt habe. Kölliker untersuchte 
Spiritusexemplare, ich bezüglich der Epidermis nur ein Chrom- 
säure-Exemplar. Das ist ein Unterschied, welcher in Anschlag 
zu bringen, wenn ich sage, mir ist es nie gelungen, an den 
Körnerzellen der Epidermis deutliche Anhaltspunkte dafür 
zu gewinnen, dass das körnige Ansehn von einem aufge- 
rollten Faden herrühre. Möglich dass die stärkere Erhär- 
tung durch die Chromsäure das Abwickeln des Fadens hin- 
derte — möglich aber auch, dass an den weicheren Spiritus- 
exemplaren von Kölliker einzelne echte Fadenzellen aus den 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon u. s. w. 295 


Schleimsäcken hervorgetreten und an der Epidermis hängen ge- 
blieben waren, welche Kölliker täuschten. Kurz gesagt, ich 
habe in der Epidermis von Myazine glutinosa solche Faser- 
zellen nicht gefunden, wie sie in den Schleimsäcken vor- 
kommen. 

Was die Erhaltung der in Rede stehenden Zellen an dem 
mir zu Gebote stehenden Exemplare betrifft, so ist dieselbe wie 
die aller Gewebe vortrefflich. Die Haut ist allerdings so hart, 
dass die Zellen sich schwer isoliren lassen. Das gelingt aber 
nach tagelangem Einweichen in Glycerin, oder nach viertel- 
stündiger Aufbewahrung der Haut in Kalilauge von 35 pCt., 
einer Flüssigkeit, die Moleschott und neuerdings auch 
Weismann mit Recht sehr für mancherlei Macerationsversuche 
empfehlen, vortrefflich. Gerade nach solchen Reagentien söllte 
nach Kölliker der Faden deutlich werden. Mir ist keiner 
deutlich geworden, nirgends kam eine Spur von auf- oder gar 
abgewickelten Fäden zu Gesichte, die Zellen behielten ihr kör- 
niges Ansehn nach wie vor, ganz entsprechend den vergleich- 
baren Körnerzellen von Peiromyzon. Einen Unterschied muss ich 
jedoch constatiren. Abgesehen von der etwas abweichenden 
Form der Zellen, die bei Myzine mehr langgestreckt, eiförmig 
und etwas grösser sind als bei Petromyzon, sah ich bei ersteren 
nie einen längeren Fortsatz, wie deren die Peiromyzon-Zellen 
einen oder zwei besitzen. Möglich, dass solche vorhanden wa- 
ren und nur des hohen Härtegrades der Haut wegen, welche 
ein Zerzupfen nicht gestattete, nicht zur Beobachtung kamen, 
beim Zerzupfen mit Hülfe der angewandten Reagentien »abbra- 
chen oder sich auflösten. 

Was mir aber weiter die von Kölliker behauptete Iden- 
tität der Körperchen der Schleimsäcke und der der Epi- 
dermis unwahrscheinlich macht, ist, abgesehen von der 
durchaus verschiedenen Art der Entstehung, noch 
das Verhalten im polarisirten Lichte. Die Körperchen 
der Schleimsäcke brechen das Licht deutlich doppelt, die 
der Epidermis nicht, eben so wenig wie die Körnerzellen der 
Haut von Petromyzon. Die Körperchen der Schleimsäcke zei- 
gen im Polarisationsapparate bei gekreuzten Nicols ein Kreuz. 


296 | Max Schultze: 


Dasselbe ist um. so regelmässiger, je vollkommenere Kreis- 
touren der aufgewickelte Faden beschreibt, wird aber meist 
sehr unregelmässig, ähnlich wie bei den langgestreckten Stärke- 
mehlkörnern z. B. von der Galangawurzel, deren Schichtungs- 
centrum ganz an das eine Ende der eiförmigen Körper rückt. 
Jain vielen Fällen ist nur eine Andeutung eines Kreuzes zu sehen; 
immer ist aber die Doppelbrechung sehr auffallend und leicht 
zu constatiren. Die Doppelbrechung rührt von der doppelt 
 brechenden Eigenschaft des Fadens her. Derselbe zeigt sich 
im abgewickelten Zustande, vorausgesetzt dass er einaxig ist und 
seine optische Axe in der Längsrichtung liegt, positiv. Wickelte 
man von einem solchen Faden eine Kreisscheibe, wie ein Planor- 
bisgehäuse, so würde diese zwischen gekreuzten Nicols ein sehr 
regelmässiges Kreuz zeigen und zwar wie von einem Körper 
mit negativer Axe doppelter Brechung. So ist denn auch 
das Kreuz, welches die Körperchen der Schleimsäcke ‚zeigen, 
ein negatives, wenn auch, wie erwähnt, meist sehr verzogen 
und unregelmässig. Einen ebensolchen doppeltbreehenden 
Körper würde man erhalten, wenn man einen Muskelfaden zu 
einem kugligen Knäuel aufwickelte. 

Auch die jüngsten und feinsten Fadenkörper .der Schleim- 
säcke, die nur den vierten Theil des Durchmessers der gröss- 
ten zeigen, brechen das Licht deutlich doppelt und lassen bei 
aufmerksamer Betrachtung den Faden im Inneren erkennen. 
Ich führe das gegen Kölliker an, welcher sagt, die jüngeren 
Formen dieser Gebilde seien von rein körnigem Ansehn, und 
bildeten Uebergänge zu den ebenfalls körnigen Zellen der Epi- 
dermis. Solche Uebergänge existiren nach meinen Beobach- 
tungen durchaus nicht. 

Es wird nicht uninteressant sein zu erfahren, in dere Bezie- 
hung die oben erwähnten grossen hellen Zellen der Haut 
von. Myzine zu den Kolben der Epidermis von Petromyzon 
stehen. Kölliker hat sie beide Schleimzellen genannt, und 
dürfte es auch wohl kaum einem Zweifel unterliegen, dass sie 
analoge Bildungen sind. Daraus folgt denn, dass, da die Kol- 
ben der Epidermis von Peiromyzon den Namen Schleimzellen 
nicht führen können, wie von mir nachgewiesen wurde, auch 
die analogen Gebilde bei Myzine umgetauft werden müssen. 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon u, s. w. 297 


Die Analogieen zwischen den genannten Gebilden beziehen 
sich allerdings mehr auf die Lage als auf die feinere Structur. 
Es sind, wie Kölliker richtig beschreibt, nahezu kuglige, 
grosse helle Zellen, zahlreich und in ziemlich gleichen Abstän- 
den von einander in die tieferen Schichten der Epidermis von 
Myzine eingelagert. Ihr Inhalt ist eine das Licht nicht stark 
brechende wasserhelle Substanz, in der sich der Kern, von 
wenig feinkörnigem 'Protoplasma umgeben, leicht erkennen 
lässt. Ob sie vom Inhalte verschiedene Membranen haben, 
wage ich nicht zu entscheiden, eben so wenig ob die helle 
Hauptmasse im frischen Zustande eine Flüssigkeit darstelle oder 
eine mehr homogene dickliche Masse etwa vergleichbar derje- 
nigen der organischen Muskelfasern. Nach dem Vorkommen 
bei anderen Fischen, z. B. bei der Schleie (Tinca chrysitis), 
welche ähnliche Gebilde in der Epidermis birgt, möchte ich 
das letztere vermuthen. Danach würde die Analogie mit den 
Kolben von Peiromyzon, die nach der Lage der Gebilde sehr 
gross ist, auch in Betreff der feineren Structur nicht zu ver- 
kennen sein, und bliebe nur noch der Unterschied, dass die 
Masse der Petromyzon-Kolben deutlich geschichtet, die der ana- 
logen Myzine-Zellen ungeschichtet ist, durch und durch ho- 
mogen, demnach selbstverständlich auch der Eigerthümlichkeit, 
das Licht doppelt zu brechen, entbehrt. 

In Betreff des Verhältnisses derselben zur Lederhaut habe 
ich nur so viel ausmitteln können, dass sie dieser letzteren 
meist unmittelbar anliegen, oder doch ganz in ihre Nähe rücken. 
Ob sie aber zu derselben in so nahe Beziehung treten, wie die 
Kolben bei Petromyzon, ob in der Lederhaut radiäre Fasern 
aufsteigen, welche eine Beziehung zu Nervenfasern haben, 
bleibt zunächst unermittelt. :- Eigenthümlich ist an diesen gros- 
sen Epidermiszellen noch die Vertheilung der Protoplasmareste, 
die den Kern umgeben, nämlich in Sternform durch die ho- 
mogene Zellsubstanz. Eine grössere oder geringere Zahl von 
Strahlen feinkörnigen Protoplasmas gehen von dem centralen 
Protoplasmaklümpchen aus, und reichen mehr oder minder weit 
in die wasserklare helle Hauptmasse der Zelle hinein, ohne 


jedoch die Peripherie der Zelle vollständig zu erreichen. Es 
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv. 1861, 20 


298 Max Schultze: 


ist das ein Zustand in der Vertheilung des Protoplasma, der 
uns. bei den analogen Bildungen in der Haut vom Cyprinus 
iinca wiederbegegnet, und, wie ich finde, manchen grossen hel- 
len Zellen im Thierkörper zukommt, wie z. B. den die Faden- 
körper in den Schleimsäcken von Hyzine umgebenden, ferner 
den Zellen der Chorda dorsalis von Petromyzon. Wahrscheinlich 
kann hier im lebenden Zustande der Zellen Körnchenbewegung 
in den Protoplasmafäden wahrgenommen werden. 

Ich beabsichtige in diesem  Aufsatze nicht weiter auf die 
Elemente der Epidermis anderer Fische einzugehen. Es genügt 
mir, darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass hier Verhält- 
nisse der feineren Structur vorkommen, welche die Ansicht von 
dem mehr gleichförmigen und einförmigen Baue der Epidermis 
in hohem Grade erschüttern, welche auch die Epidermis in die 
Reihe derjenigen Epithelien stellen, deren Elemente zum Theil 
mit tiefer gelegenen in Verbindung und functioneller Beziehung 
stehen können. Die seit Jahren von mir ausgesprochene und 
durch Beispiele gestützte Behauptung, dass Epithelien gemischt 
sein können aus mindestens zwei Arten von Zellen, gemeinen 
Epithelzellen und anderen, die mit Nervenfasern in Verbindung 
stehen, wie solches von mir in der Regio olfactoria der Nase, 
in den Säckchen des Gehörorganes, und nach den Beobachtun- 
gen des Dr. Key nun auch sicher an Zungenpapillen nachge- 
wiesen ist, erhält durch obige Mittheilungen eine neue Stütze. 
Möchte es vorurtheilsfreier Prüfung gelingen, hier bald weitere 
Fortschritte zu machen. Nur einige wenige Worte noch über 
gelegentlich in. dieser Beziehung an anderen Fischen gemachte 
Beobachtungen. 

Wie schon Kölliker in. seinem Eingangs eitirten Aufsatze 
angegeben hat, ist die Haut der drei’ einheimischen Petromyson- 
Species wesentlich gleich gebildet. Die Kolben haben bei 
allen die gleiche Lage, stehen also wie bei Peiromyzon fluvia- 
tilis mit dem halsartig verlängerten, abgestutzten Ende auf der 
Lederhaut auf, während der bauchige, keulenförmig, ange- 
schwollene Theil der peripherische ist, aber nie bis’ an die 
Oberfläche der Epidermis reicht, sondern mindestens noch von 
einer Schicht Epidermiszellen bedeckt liegt. Petromyzon ma- 
rinus untersuchte ich an einem wohlerhaltenen, von Hrn. Prof. 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon n. s. w. 2099 


Troschel mir gütigst zu Gebote gestellten Spiritus-Exemplare, 
welches eine unversehrte Epidermis hatte. Pelromyzon Planeri 
konnte ich mir frisch verschaffen. Bei allen drei Arten sind 
die Kolben geschichtet und brechen sie das Licht in ganz 
gleicher Weise und sehr stark doppelt. Die Schichtung tritt 
namentlich an Spirituspräparaten. deutlich hervor. Eine Diffe- 
renzirung der Substanz des Kolbenhalses in einfach und dop- 
pelt brechende Scheiben, wie sie bei Petromyzon fluviatilis 
nachgewiesen wurde, habe ich bei den anderen nicht beob- 
achtet. Die Gebilde lassen sich auf ihre Vertheilung am besten 
an Flächenansichten studiren, wo sie in frischem Zustande 
als helle runde Flecke hervortreten und bei Anwendung des 
Polarisationsapparates und Betrachtung von oben her das ne- 
gative Kreuz vortrefflich erkennen lassen. Eigenthümlich fand 
ich die Gestalt der Kolben bei einem Exemplare von Petro- 
myzon Pluneri, insofern dieselben hier mehr oval oder in der 
Form einer unten abgestutzten Glasglocke erschienen. Das 
Protoplasma setzte sich bei diesen von der Mitte in einen bis 
an das untere Ende reichenden Canal fort, welcher so weit 
war, dass oft einer von den beiden runden Kernen, die stets im 
Protoplasma gefunden werden, in diesem Canal ganz nahe am 
unteren Ende lag. Ich habe solche Zellen in Fig. 6a und b 
abgebildet. Sie gleichen offenbar den von Kölliker früher 
bei: Ammocoetes beschriebenen Gebilden (vergl. Würzburger 
Verhandlungen 1856, Ba. VIII. Taf. III. Fig. 31), deren Lage 
aber schon damals von Kölliker verkannt worden; es soll- 
ten einzellige Schleimdrüsen sein, und mussten also das ver- 
schmälerte, mit offener Ausmündung des inneren Canales ver- 
sehene Ende der Peripherie zukehren. In der That aber steht 
dieses Ende der Lederhaut auf. Wir dürfen diese Form 
wohl. als Jugendform der von Petromyzon fluviatilis gezeich- 
neten Kolben ansehen. Auch sah ich bei einem zweiten Exem_ 
plare desselben Thieres Kolben, welche denen von P. fluvia- 
tilis mehr glichen. 

Auch die Körnerzellen richten ihre Fortsätze bei allen 
Petromyzonten nach innen, gegen die Lederhaut. 

Mehrere andere Fische, welche ich untersuchte, zeigten ana- 

20* 


300 Max Schultze: 


loge Gebilde in der Epidermis. . ‚Ich führe nur den Aal und 
die Schleie an. Bei ersterem Fisch sind es kolbenförmige 
Zellen, welche in ausserordentlicher Menge, viel zahlreicher 
noch als bei Peiromyzon, in die Epidermis eingebettet sind, 
die gleiche Lage wie bei den Neunaugen haben, aber mehr 
fadenförmig gestaltet sind. Sie: scheinen aus einer ziemlich 
homogenen aus umgewandeltem Protoplasma hervorgegangenen 
Eiweisssubstanz zu bestehen, brechen das Licht aber nicht oder 
nur sehr schwach doppelt. Bei Tinca finden sich in der Epi- 
dermis sehr zahlreiche grosse Zellen, die nach der homogenen 
Beschaffenheit ihrer Substanz, welche keinen Unterschied von 
Membran und Inhalt unterscheiden lässt, und danach, dass der 
Kern nur noch von einem kleinen Reste körnigen Protoplasma’s 
umgeben ist, sich als den Petromyzon-Kolben analoge Bildun- 
gen documentiren. Ihr Verhältniss zur Lederhaut habe ich 
nicht ausgemittelt. Merkwürdig ist an diesen Zellen unter An- 
derem, dass das Protoplasma vom Kern aus in zahlreichen 
sternförmig, divergirenden Fädchen und Ausläufern in der ho- 
mogenen übrigen Zellsubstanz vertheilt ist. Wir werden in einer 
späteren Arbeitaufdieseinhistiogenetischer Beziehunginteressante 
Bildung zurückkommen. Essind dieseZellen wahrscheinlich die- 
selben, welche Leydig!) bei der Schleie, der Aalraupe, beim 
Hecht und anderen Fischen als die den Schleim der Oberhaut 
secernirenden Zellen bezeichnet hat. Sie sollten temporär 
platzen und ihren zähflüssigen Inhalt auf die freie Fläche der 
Epidermis. ergiessen. _ Ich kann hier meine Zweifel an der 
Richtigkeit dieser Ansicht nicht unterdrücken. Soweit meine 
Beobachtungen reichen, haben‘ die. hier besprochenen Zel- 
len keinen flüssigen Inhalt, sondern: bestehen aus einer zwar 
sehr weichen, aber compacten, homogenen Eiweisssubstanz, 
besitzen keine Membran, sondern sind etwa analog der orga- 
nischen . Muskelfaserzelle, aus einer Metamorphose des ur- 
sprünglich körnigen ‚Protoplasma in eine homogene Substanz 
hervorgegangen, wobei eine besondere Membran vom Inhalte 
nicht. differenzirt ist. ‚Platzen können sie nicht, sie können 
nur aufquellen und sich im Ganzen erweichen: und endlich auf- 


}) Zeitschrift £. wissenschaftl. Zoologie Bd. III. S. 2. 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon u. s. w. 301 


lösen. Dass ein solcher Prozess nach der freien Fläche der 
Epidermis hin stattfinde, ist sehr unwahrscheinlich. Denn die 
Zellen finden sich gerade vorzugsweise in den tiefsten Lagen 
der Epidermis, in der unmittelbaren Nähe der Lederhaut. Ein 
Canal in der Zellsubstanz, durch welchen der übrig gebliebene 
Protoplasmarest nach aussen communicirte, wodurch das An- 
sehn eines Gebildes, wie man sich einzellige Drüsen zu den- 
ken und zu construiren pflegt, entstände, ist nicht vorhanden. 
Ist ein solcher da, wie bei jungen Petromyzonten, so steht der 
offene Theil der Zelle gegen die Lederhaut und nicht gegen 
die Peripherie der Epidermis. Sind die Zellen birnförmig, in 
welchem Falle Leydig einen Canal im Halse der Zelle ver- 
muthet, der das Secret ausleeren soll, so steht, wie ich beim 
Aal bestimmt sehe, der Hals nicht nach aussen, sondern, wie 
schon erwähnt, auch wieder gegen die Lederhaut. Was bleibt 
also von den einzelligen Drüsen übrig? . Es erhellt, dass die 
Lehre von den Schleimzellen der Haut der Fische einer gründ- 
lichen Revision bedarf. 

Dass es ferner von dem liöchsten Interesse sein muss, nach- 
dem wir Beziehungen zwischen Nervenfasern und den Epider- 
miskolben vom Neunauge wahrscheinlich gemacht haben, die 
Frage nach der Endigung der Hautnervenfasern der Fische 
weiter gefördert zu sehen, bedarf keiner weiteren Ausführung. 
Wer denkt nicht bei unseren Angaben an die Verhältnisse der 
Nervenendigung in der Haut von Amphiorus, wie sie Quatre- 
fages!) beschrieben hat. Da der genannte Forscher nicht an- 
giebt, ob die Endkolben der Hautnerven, welche er sah, in der 
Lederhaut oder in der Epidermis liegen, so war ich sehr be- 
gierig, ein Exemplar von Amphiozus zu untersuchen, welches 
eine noch unversehrte Epidermis besitz. R. Leuckart hatte 
die Güte, mir ein solches aus seiner Sammlung zu überlassen. 
An diesen überzeugte ich mich, dass die Epidermis, wie Qua- 
trefages auch zeichnet, aus einem dünnen Lager kleiner viel- 
eckiger Zellen zusammengesetzt ist, und dass zwischen diesen 
durchaus Nichts liegt, was mit den Kolben der Petromyzon- 
Epidermis verglichen werden könnte. Somit müssen hier die 


1) Annales des Sciences natur. Tom. IV. 3 serie. 1846. p. 228. 


302 Max Schultze: 
Nerven-Endkolben, wenn sie wirklich in der von Quaätre- 
fages gezeichneten Weise existiren, in der Lederhaut liegen. 


Späterer Zusatz. 

Ich freue mich hier noch anfügen zu können, dass ich mitt- 
lerweile bei Kölliker in Würzburg Präparate gesehen habe, 
welche beweisen, dass gegen meine oben ausgesprochene Ver- 
muthung in der Epidermis von Hyzine glutinosa doch Zellen 
vorkommen, welche sich wenigstens theilweise in einen feinen 
Faden abwickeln lassen. Die Annahme, dass mein Chrom- 
säureexemplar, dessen Gewebe im Allgemeinen vorzüglich er- 
halten sind, gerade für die Erkennung des in Rede stehenden 
Fadens weniger günstig sei als die von Kölliker untersuch- 
ten Spiritusexemplare, hat sich somit bewahrheitet; ich habe 
auch jetzt durch neue Versuche an meinem Exemplare Nichts 
von dem Faden zu sehen bekommen. Derselbe ist übrigens, 
wie ich für solche, die die Sache nachuntersuchen wollen, 
anführen muss, viel feiner als der Faden der Körperchen aus 
den Schleimsäcken und viel blasser. Die beiden Arten von 
Fadenkörperchen unterscheiden sich dadurch immer noch we- 
sentlich von einander, was Kölliker anzugeben vergessen hat. 


Erklärung der Abbildungen. 
Tafel V. 

Fig. 1. Kolben aus der Epidermis von Petromyzon fluviatilis von 
einem in Kali bichrom. (2 Gran auf die Unze Wasser) längere Zeit 
aufbewahrten Präparate. Vergr. 500. 

Fig. 2. Eben solches Gebilde, einem in Spiritus aufbewahrten 
Präparate entnommen. 

Fig. 3. Ein etwas anders geformter Kolben der Epidermis von 
P. fluviatilis in einer Lösung von Kali bichromieum aufbewahrt. 

Fig. 4 Durchschnitt der Epidermis und Lederhaut von P. fluvia- 
tlıs, der Mitte des Körpers entnommen. Das Präparat war in abso- 
lutem Alkohol erhärtet und wurde zu dem feinen Schnitte verdünnte 
Essigsäure zugesetzt. | 

a. Oberste Lage der Epidermiszellen mit den sogenannten Po- 
rencanälen. 
b. Körnerzelle mit gegen die Lederhaut gerichtetem Fortsatze. 
c. Kolben, 
dd. Lederhaut mit aufsteigenden radiären Fasern. 
e. Pigmentirtes Bindegewebe unter derselben. 
Vergr. 300. 


Die kolbenförmigen Gebilde in der Haut von Petromyzon u. s. w. 303 


Fig. 5. Durchschnitt durch eine der sogenannten Kopfgruben von 
Petromyzon fluviatilis bei schwacher circa 70facher Vergrösserung. In 
der Mitte der Figur ist in der Epidermis a eine kleine Vertiefung, zu 
welcher hin sich die Epidermis allmählig verdünnt und an deren Grunde 
ein aus sehr feinen, diehtgedrängten, langfadenförmigen Zellen gebil- 
detes Epithel steht. Zu diesem streben durch die Lederhaut b, durch 
die hier nur blass pigmentirte Pigmentschicht ce und das Fettgewebe d 
leicht zu verfolgende Fasern, welche für Nervenfasern gelten kön- 
nen, die bei Petromyzon bekanntlich des Markes entbehren und an der 
Peripherie auch keine Schwann'sche Scheide haben, also nackte 
Axencylinder sind. Eben solche Fasern treten zu beiden Seiten dieser 
Kopfgruben durch Fett- und Pigmentschicht aufwärts in die Lederhaut, 
um hier in den radiären Fasern bis zu den Kolben der Epidermis zu 
verlaufen. 


Taf. VI. 


Fig. 6a und b. Den Kolben entsprechende Gebilde aus der Haut 
eines kleinen Exemplares von Petromyzon Planeri. Schon im frischen 
Zustande waren die unregelmässig concentrischen Streifen zu sehen, 
die denen von Fig. 2 entsprechen, und in Spiritus deutlicher hervor- 
treten. Die Doppelbrechung des Lichtes ist an diesen Zellen ähnlich 
wie an denen von P. fluviatilis zu beobachten. 

Fig. 7. Darstellung einiger durch den Polarisationsapparat er- 
zeugter optischer Erscheinungen an den Kolben der Haut von FPetro- 
nıyzon fluvialilis. Die Polarisationsebenen der Nicols sind gekreuzt, 
das Gesichtsfeld ist. entweder dunkel, wie in der linken oberen Ecke 
der Figur, oder roth durch Einschaltung einer Glimmerplatte, die das 
Roth'erster Ordnung giebt und so orientirt ist, wie bei den Darstel- 
lungen von E. Brücke über das Verhalten der Muskelfasern im po- 
‘ larisirten Lichte. Auf solchem rothen Grunde erscheinen die Kolben- 
hälse wie in a und a’ blau oder gelb, wenn ihre in der Längsrichtung 
liegende optische Axe mit den Polarisationsebenen der Prismen Winkel 
von 45° bildet. Bei starker 800mal. Vergrösserung kann mar wie. in 
b.die Schiehtung aus abwechselnden Scheiben einfach und doppeltbre- 
chender Substanz sehen. Die Scheiben der einfach brechenden Substanz 
sind im Kupferstich etwas zu breit ausgefallen. Die Keulenenden der Kol- 
ben bieten complieirtere Farbenerscheinungen, welche leicht verständlich 
sind, wenn man den Keulen von oben her auf den Kopf sieht, wie in d. Es 
stellt diese Figur ein Stückchen abgehobene Epidermis von Petromyzon dar, 
welches seine äussere Fläche dem Beobachter zuwendet. Ohne Glim- 
merplatte erscheint ein Kolbenende wie in c, mit Glimmerplatte wie 
in d. Die durch ein rothes Kreuz geschiedenen Quadranten erscheinen 
abwechselnd blau und gelb. Das Kreuz und die Farbenstellung in 
den Quadranten ist wie bei einem Körper mit negativer Axe doppel- 
ter Brechung. 


304 Heinrich Jacobson: 


Zur Einleitung in die Haeınodynamık. 


Von 
Dr. HEINRICH JaCOBsoN in Königsbere.') 


Eine scharfe und leicht ausführbare Methode, die innere 
Reibung tropfbarer Flüssigkeiten zu bestimmen, bietet die Be- 
obachtung ihres Ausflusses äus ceylindrischen Röhren. Helm- 
holtz und Piotrowski?) haben gegen dieselbe das Bedenken 
erhoben, dass „jede Ungleichförmigkeit an der Röhrenwand — 
namentlich jede Oeffnung, die zur Einsetzung eines Druckmes- 
sers dient — nach Ludwig’s und Stefan’s Versuchen be- 
deutende Störungen der: Bewegung hervorbringe.“ _Bei einem 
Druckmesser, der mit seinem — wenn auch noch so dünnen — 
Ende in die Flüssigkeit hineinragt, ist dies allerdings unver- 
meidlich; communieirt derselbe aber mit ihr durch eine kleine 
Oeffnung in der Wand mit möglichst glatten Rändern, so ist 
er ohne jeden merkbaren Einfluss auf die Strömung. 

Der Annahme, es seien mit der Theorie vergleichbare Ver- 
suche an anderen als capillaren Röhren unausführbar,, weil ihre 
Länge in weit grösserem Verhältniss zunehmen müsse als der 
Durchmesser, wenn die lineare Bewegung nicht aufhören soll, 
widersprechen meine früheren Beobachtungen, bei denen die 
Durchmesser zwischen 1,7 und 2,9 Millim., die entsprechenden 
Längen zwischen 518 und 620 Mm. lagen. - 

Unter der Voraussetzung, dass die Geschwindigkeit der 
Flüssigkeitstheilchen der Röhrenaxe parallel und nur "Function 
ihrer Entfernung von derselben, mithin der Druck an allen 
Punkten eines Querschnittes gleich sei, dass ferner die Reibung 
zweier Flüssigkeitsschichten an einander proportional dem Un- 
terschied ihrer Geschwindigkeiten , dass endlich die der Wand 
anliegende Schicht in Ruhe sei, folgt aus der von Neumann 
entwickelten, in Reichert’s und du Bois-Reymond’s Ar- 
chiv, Januarheft 1860 an 89 und 90), von mir veröffentlichten 
Theorie: 


Sel 
wenn n der Coefficient der inneren Reibung der Flüssigkeit, 


1) Mitgetheilt auf der Naturforscher- Versammlung in Königsberg. 
September 1860. 
2) Abhandlungen der Wiener Akademie. April 1860. 


Zur Einleitung in die Haemodynamik. 305 


p° der innerhalb des ersten Querschnitts der Röhre wirkende 
Druck, » der Radius, / die Länge, c die mittlere Ausflussge- 
schwindigkeit; 

oder — da der Druck (p) an einem beliebigen Querschnitt 
eine lineare Function der Entfernung (x) desselben vom An- 
fang der Röhre ist 
PP 
IT le) 

Wird p durch eine Flüssigkeitssäule, deren Höhe H, deren 
a D ausgedrückt, so ist 

_gDH 
"= ge) 

Aus Poiseuille’s Beobachtungen an Capillaren lässt sich 
der Werth von n für Wasser zwischen Temperaturen von 0 — 
45° C. auf 4 Decimalen genau berechnen. Es folgt aus seiner 
Interpolationsformel, auf Wasserdruck, Millimeter und Cente- 
simalgrade (7) bezogen: 


ID ht a a7 

17 5511,3 1 + 0,0336797 + 0,00022091? 
Um n — wenn auch nicht mit so ausserordentlicher Ge- 
nauigkeit — zu bestimmen, genügen weit einfachere Mittel als 


die von Poiseuille angewandten. Man lässt aus einem Ge- 
‘ fäss, in dem die Flüssigkeit in constantem Niveau erhalten wird, 
dieselbe in eine horizontal liegende Röhre einströmen, bestimmt 
p mittelst eines senkrecht auf derselben befestigten Manometers 
und c aus der Ausflussquantität. Hagenbach?) empfiehlt, 
eine so lange und enge Röhre zu wählen, dass für die Ni- 
veauhöhe (A) der Flüssigkeit im Gefäss über der Mitte der 
Ausflussöffnung Poiseuille’s Formel als richtig betrachtet 
werden könne, und (4) zu messen: ein, wie mir scheint, unzu- 
lässiges Verfahren. Denn wird auch die Differenz zwischen 
dem Druck (p°) innerhalb des ersten Querschnitts der Röhre 
und dem im angrenzenden Querschnitt. des Reservoirs wirken- 
den (A) um so geringer, je länger und enger die Röhre, so 
müsste doch immer erst im speciellen Fall (nicht nur für be- 
stimmte Dimensionen derselben, sondern auch für verschiedene 
Werthe von (h) und Temperaturen der Flüssigkeit) durch den 
Versuch ermittelt werden, wann jene Differenz vernachlässigt 
werden dürfe. Aus demselben Grunde ist auch Hagenbachs 
Schluss, dass zwischen dem vierten und fünften seiner Versuche 
(S. 399) die Grenze von Poiseuille‘ S Gesetz gelegen habe, 
nicht gerechtfertigt. 

An polirten und vergoldeten Metalloberflächen haben Helm- 
holtz und Piotrowski eine erhebliche Gleitung der angren- 
zenden Wasserschicht gefunden; sie vermuthen, dass die auf- 


1) Memoires presentes par divers savants, T. IX  (1846.) 
2) Poggendorff’s Annalen. 1860. . 


306 Heinrich Jacobson: 


fallende. Differenz zwischen Girard’s!) Versuchen an. einer 
Glas- und Kupferröhre von nahe gleichem Durchmesser hierin 
begründet sein könne. 

Es müsste demnach in Metallröhren die Geschwindigkeit 
eines Flüssigkeitstheilchens | Ä 


er ( =) _n: 
u=P.1e ke a 


sein, wenn r seine Entfernung der Axe, e der Coefficient. der 
äusseren Reibung zwischen Wand und Flüssigkeit, während 
für Glas e= & wird. 

Meine nachstehenden Beobachtungen ergeben, dass dies nicht 
der Fall ist. Wie am Glase haftet hier an der polirten Me- 
tallwand die äusserste Schicht unbeweglich, wenn auch nicht — 
wie Hagen?) annahm — bis zu einem Abstande. von etwa 
!/sa Linie von der Wand. Bei der Beurtheilung der. Versuche 
Girard’s hat Helmholtz den Unterschied zwischen A und 
p° unbeachtet gelassen. Für die Berechnung der beiden ersten 
Beispiele nach Poiseuille’s Formel mag derselbe unwesent- 
lich sein; für die kupferne Röhre von. 2,96 Mill. Durchmesser 
dürfte es aber wohl die Abweichung der Rechnung eher er- 
klären, als die Annahme einer Oxydation der inneren Ober- 
fläche derselben. Da bei Girard’s?) Versuchen an der kup- . 
fernen Röhre (d= 1,83 Mill., 3=100 Mill., = 0,5—6° C.) — 
wie aus Hagen’s und meinen Beobachtungen folgt — nicht 
anzunehmen ist, dass (selbst für die geringeren der angewand- 
ten Längen) die Grenze der linearen Bewegung überschritten 
war, so. scheinen mir seine auffallenden Angaben, dass bei 
2=1790 Mm. die Geschwindigkeit grösser als bei 2=1590 und 
beinahe gleich der bei = 992 Mm. vorhandenen gewesen, nicht 
anders als durch erhebliche Ungleichheiten des Durchmessers 
erklärt werden zu können. | 

Es ist von Interesse, den Druck in unmittelbarer Nähe der 
Eintrittsstelle der Flüssigkeit aus dem Gefäss in die Röhre zu 
bestimmen und. mit dem an entfernteren Querschnitten zu ver- 
gleichen. In der Physiologie sind über denselben ausführliche 
Discussionen von Volkmann*) und Donders?°) geführt wor- 
den, denen jedoch irrthümliche Vorstellungen über die Bewe- 
gung der Flüssigkeiten zu Grunde lagen. Beobachtungen exi- 
stiren, so viel mir bekannt, hierüber nicht;. p° wurde bisher 
nur aus einem im Verlauf der Röhre gemessenen » unter der 
Voraussetzung, dass p eine lineare Function von x, berechnet. 


1) Memoires de Y’Institut. 1813—1815 und 1816. 

2) Abhandlungen der Berliner Akademie d. Wissensch. 1854, 

3) Memoires de l’Institut. 1813—15. p. 279. 

4) Haemodynamik. S. 30—40. | 

5) Müller’s Archiv 1856 und Archiv für holländische Beiträge 
von Donders in Berlin. 1857. 


Zur Einleitung in die Haemodynamik. 307 


Ob diese Voraussetzung bis an die Einflussöffnung hinan, an 
der bekanntlich ein Verlust an lebendiger Kraft stattfindet, ob 
sie nur für die der Axe parallele Bewegung gelte, sind unent- 
schiedene Fragen. 

Um mir hierüber — gleichzeitig mit den oben angeregten 
Fragen — Aufschluss zu verschaffen, habe ich an meinem frü- 
her beschriebenen Apparat folgende Einrichtung getroffen: 

In der Mitte der Messingplatte, durch welche die Röhren 
mit dem Reservoir vereinigt waren, befand sich eine etwa einen 
Zoll lange Hülse, deren obere Wand in einer Entfernung von 
17,5 Mm. von der Einflussstelle durchbohrt war und hier eine 
c. 3/, Zoll weite, je nach dem anzuwendenden Druck 1 bis 3-Fuss 
lange, senkrecht aufgesetzte Glasröhre trug, die als Manometer 
diente. Um den Fehler bei Messung der capillaren Steighöhe 
zu vermeiden, hatte ich dieselbe so weit gewählt. 

In die Hülse war ein Oonus eingeschliffen, in dessen Mitte 
die Röhre eingefügt war; zu derselben führten an 3 Stellen 
(in einem Abstande von 1,5 Mm., 10,1 und 17,5 Mm. von ihrem 
Ende) Bohrcanäle durch die Masse des Oonus. Der entfern- 
teste fiel mit dem in der Hülse befindlichen zusammen, mün- 
dete also direct in das Manometer. Um auch die beiden er- 
steren mit diesem zu verbinden, wurde der Conus bis zu den- 
selben horizontal durchbohrt, die so entstandenen Canäle vorn 
wieder geschlossen und gleichfalls mittelst senkrechter Durch- 
bohrung der Zwischenwand des Conus mit dem Canal in der 
Hülse vereinigt. Es liess sich demnach durch Drehung des 
Conus mit demselben Mänometer der Druck nach einander 
an drei verschiedenen Querschnitten, von denen einer in grösst- 
möglichster Nähe der Einflussöffnung, messen. Eine noch 
srössere Annäherung war nicht zu bewerkstelligen; denn die 
Glasröhren, die ich in Gebrauch ziehen wollte, platzten — bis 


auf zwei — während der Bohrung der 1!/, Mm. von ihrem 
Ende entfernten Oeffnung. 
Die Messingröhre, die ich benutzte (die — mit Bezug auf 


meine früheren Versuche —- D bezeichnet werden soll) bestand 
aus mehreren Stücken. Sie waren von Herrn Mechanicus Re- 
coss über einen polirten Stahldorn gezogen und mittelst ein- 
geschliffener, conischer Ansatzstücke, die durch bewegliche 
Schraubenmuttern angezogen werden konnten, so aneinander 
gefügt, dass an ihren Verbindungsstellen keine Ungleichförmig- 
keit der Oberfläche sich zeigte. Ihre Gesammtlänge betrug 
2518,9 Mm., ihr Durchmesser im Mittel 5,090 Mm., während der 
grösste der früher von mir betrachteten 2,8656 Mm. war. Sie 
wurde in einer Rinne einer möglichst ebenen, ‚horizontal ge- 
richteten, mit Ausschnitten zum Auffangen des ausfliessenden 
Strahls versehenen Leiste, fixirt. 

Hagen hat darauf aufmerksam, gemacht, dass die Ausfluss- 
geschwindigkeit des Wassers, die bei wachsender Temperatur 
bekanntlich bedeutend zunimmt, bei einem gewissen Wärme- 


308 Heinrich Jacobson: 


grade ein Maximum erreicht, dass dasselbe von den Dimen- 
sionen der Röhre und der Druckhöhe (h) abhängt, dass bei 
stärkerer Erwärmung Schwankungen des Strahls eintreten, die 
da am stärksten sind, wo die Geschwindigkeit mit steigender 
Temperatur fällt. Bei Versuchen an engeren Röhren hatte sich 
die letztere Erscheinung mir nicht regelmässig gezeigt; bei (D) 
aber und grösseren Durchmessern trat sie so constant ein, — 
sobald Poiseuille’s Gesetz zu gelten aufhörte — dass ich 
aus dem äusseren Ansehn des Strahls mit Sicherheit schliessen 
konnte, ob die Grenze überschritten war. Sobald man näm- 
lich durch Steigerung des Drucks oder der Temperatur oder 
durch Verkürzung der Röhre u. s. w. sich derselben nähert, 
sieht man, etwa 4 bis 6 Mal in der Minute) in unregelmässi- 
gen Zwischenräumen ein vorübergehendes Zucken des sonst 
noch continuirlich fliessenden Strahls. Ausflussversuche, in 
dieser Periode angestellt, geben sehr nahe dieselben Werthe 
der Reibungs-Constante wie die vorhergehenden. Der Ueber- 
gang ist demnach kein plötzlicher. Rückt man allmählig weiter 
vor, so werden jene Schwankungen intensiver und zahlreicher; 
die Bewegung folgt nun einem anderen Gesetz. $ie 
gehen dann bei noch weiterer Entfernung von der Grenze in 
sehr häufige und heftige Stösse und zuletzt in eine ununter- 
brochene Vibration des Strahls über. 

Die Beobachtungen in den beiden folgenden Tabellen sind 
bei vollkommen continuirlichem Ausfluss gemacht. Der 1,5 Mm. 
von der Einflussöffnung gemessene Druck ist p° genannt: der 
Reibungs-Ooefficient n, anzusehn als der Druck einer Wasser- 
säule auf ein Quadratmillimeter. In Tab. II. ist noch die Ni- 
veauhöhe (h) angegeben, deren Beziehung zu c später ent- 
wickelt werden soll. Die Werthe von p° liegen häufig nahe 
bei einander, weil bei der Weite der Röhre das Maximum von 
p° diesseits der Grenze bald erreicht war und für p° unter 
50 Mm. die Beobachtungsfehler zu gross gewesen wären. 


Tab. 1. 
T | p° c | I 3 
0,8° 0. | 137,4Mm. | 352,6 Min. | 1731,5Mm. | 0,0001821 Min: g. 

120° 302,2 0,0001855 - 

Esel lt 0,0001813 

7° 9244 481,6 2518,9 0,0001498 

184,1 394,6 0,0001499 

11,90 160 433,6 2123,4 0,0001378 

148,1 402,1 0,0001375 

136,5 371 - 0,0001373 

12,5° 103 466,6 1338,5 0,0001308 
98,8 446,4 0.0001312 

34,4 378,1 0,0001323 


173,9 332,4 0,0001318 


Zur Einleitung in die Haemodynamik. 309 


ı p° c | I n 

12,5° C. | 83,6 Mm. | 454Mm. | 1104,8 Mm. |0,0001320 Mm. g. 
79,8 427,3 0,0001339 
68,6 368,6 0,0001334 

16,5° 97,8 371,9 | 1731,5 0,0001204 
94,4 357,7 0,0001209 
89,55 338,9 | 0,0001209 
76,9 292,7 0,0001203 

| 53,9 1250,6 | 0,0001211 

19° 54,3 364,6 | 1006,8 0,0001173 
60 398,3 - 0,0001187 

20° 53,5 282,8 1338,5 0,0001121 
71,5 376,4 ' 0,0001124 

20,5° 86,3 | 358,4 1731,5 0,0001102 
80,3 331,5 0,0001108 

21° 74,8 321,9 0,0001065 
86,4 | 368,2 | 0,0001074 

Tab, II: 

:% h p? c I N 
Grad C. Mm, Mm. Mm. Mm. Mm ge. 
1).0,75° | 1484 | 129 4943 |. 1338,5.. | 0,0001839 

128,3 114,2 374,1 1847 
| re 50 266 2 1831 
2) 0,74° | 155,6 | 653,6 '711,8 
126 91,9 554,6 | 1883 
91,3 69,6 430,3 1838 
3):4° 105,2 72,5 512° 711,8 1613 
84,2 61,5 431,8 1623 
1.66 49,9 354,6. 1603 
4) 4,79 267,8 233,2 556,9 2123,4 1596 : 
224,2 202,5 475,7 net 1623 
199 98T, | "azel 1608 
133 125,1 294,5 1619 
82,2 77,4 183,6 1608 
5): 5,5° 172,5 119,5 613,2 | . 1006,8 1566° 
131 98 502,6 1566 
98,7 74,1 395,6 1505 
81,7 65,6 334,9, 1573 
65,6 54 282,9 1533 
6) 12,5° 100 78,8 | 478,5 1006,8 1326 
96,9 75,4 459,5 1321 
89,1 71,2 428,5 1338 
7) 124° | 206,1 185,5 | 464,9 2418,4 1336 
171,9 158 395,2 1338 
132,9 125,1 311,5 1345 
38,8 233,7 
8) 12,4° 189,8 164,3 |: 478,1 21234 1338 
1207 152,7 |. 440,6 1322 
158,9 143,6 411,8 1330 
118,9 110,4 316,5 1330 


98,8 263,6 


310 Heinrich Jacobsen: 


Im Einklang mit der Theorie ergeben diese Beobachtungen, 
dass, — so lange die Bewegung der Axe parallel 
bleibt, — auch bei weiteren Röhren der Druck (p°) 
an der Einflussöffnung proportional der Länge und 
der mittleren Ausflussgeschwindigkeit, umgekehrt 
proportional dem Quadrat des Radiusist. Hagen’s 
Annahme einer ruhenden Wasserschicht von messbarer Dicke 
ist nach derselben eben so wenig gerechtfertigt als die entge- 
genstehende einer an der Wand stattfindenden Bewegung. Dass 
die Werthe von n sich nicht ganz so genau an die aus Poi- 
seuille’s Temperatur-Coefficienten berechneten anschliessen, 
wie meine früheren, mag wohl seinen Grund theils in einer 
bei so langen Röhren unvermeidlichen geringen Ungleichheit 
des Durchmessers, theils darin haben, dass zu genauerer Mes- 
sung vom p° und Verhütung von Temperaturschwankungen 
mein Apparat nicht ausreichte, Es dürfte für die Versuche 
zwischen O und 5°C. überdies in Betracht zu ziehen sein, dass 
Poiseuille’s Beobachtungen in diesem Temperatur-Intervall 
nicht so genau durch seine Interpolationsformel dargestellt wer- 
den, wie seine übrigen. Die Differenz der oben angegebenen 
Reibungsconstante beträgt c. !/,oo—'/so, während die nach 
Coulomb’s Methode von Emil Meier bestimmten Werthe 
etwa um !/,, abweichen, und die von Helmholtz und Pio- 
trowski gefundenen (in Folge des Einflusses der vergoldeten 
Oberfläche) zu denen Poiseuille’s sich wie 5:4 verhalten. 
— In Tab. I. und I]. ist n meist etwas zu gross; bei anderen 
Versuchen fand ich wieder eine gleiche Abweichung nach der 
anderen Seite. 

Vergleicht man p’ mit den (10,1 und 17,5 Mm. hinter der 
Einflussöffnung gemessenen) Drucken p’ und pP“; so findet man 
dieselben nahe gleich. Dafür /=2123 Mm. p° noch nicht über 
240 Mm. bei 4° C. gesteigert werden darf, wenn die lineare 
Bewegung erhalten bleiben soll, lässt sich kein anderes Re- 
sultat erwarten. — In der Nähe der Grenze habe ich häufig 
p° etwa 1—2 Mm. kleiner gesehn als es nach der Berechnung 
| hätte s sein müssen; z.B. 


1 | pP \ p' | p'' 


711,8| 49,9 | 50,2 50 
1006,8| 54,8 | 54 | 54 


1338,5| 94,61 94 | 94,4 
2123,4| 124,8 | 125 | 125,5 
148,5 1149 | 149 
160,6. 161 | 160,8 
174,8 175 |175,3 


Zur Einleitung in die Haemodynamik. 3li 


Sobald man aber die Grenze des Gesetzes überschreitet, 
die Continuität des Ausflusses bei weiteren Röhren also auf- 
hört, wird p° stets merklich kleiner als p‘, und die Dif- 
ferenz zwischen beiden: steigt, je weiter man sich von der 
Grenze entfernt. Ich konnte daher z. B. eine für /= 2123 Mm. 
und einen.:bestimmten Druck noch sehr geringe Differenz 
durch Verkürzung der. Röhren mehr ‘und mehr vergrössern 
und umgekehrt, 

Je grösser.der: Durchmesser im Verhältniss zur Länge, um 
so bedeutender sinkt der Druck an der Einflussöffnung. Die 
untere Grenze des Durchmessers, bei der diese Senkung nicht 
mehr bemerkbar ist, p''= oder > p' liegt näher als ich vermu- 
thet hatte. 

Von zwei 157 Mm. langen Röhren, von denen eine 2,86 - 
Mm., die andere 2,50 Mm. Durchmesser "hatte, in denen beiden 
keine lineare Strömung mehr statifand, zeigte nur die erste 
noch diese Erscheinung. Bei ‚der zweiten war bereits ebenso 
wie bei noch engeren Röhren p° erheblich grösser als p’. 

Die nachstehende Tabelle wird dies deutlicher hervortreten 
lassen. | 

Es sei hier nur noch bemerkt, dass in Tab. Ill. (a) die 
Reihe (= 280,7), wie später bewiesen werden soll, wahrschein- 
lich. innerhalb, dagegen die Reihe (2= 269,5) ausserhalb der 
Grenze gleich allen übrigen Versuchsreihen gelegen; dass fer- 
ner bei (6) bis A=211 7 keine Schwankungen des Strahls be- 
merkbar waren, dagegen. zwischen A=211,7 und A=256 der 
oben beschriebene stossweise Ausfluss und darüber hinaus eine 
ununterbrochene. wirbelförmige Bewegung mit milchiger Trü- 
bung des Strahls (wie bei Ansatzröhren) eintrat; dass endlich 
= (ec) eontinuirlicher Ausfluss bis = 112,7, stossweiser bis 

-186,5, dann wirbelförmiger vorhanden war. Es fällt also 
bei diesen engeren und kurzen Röhren das Aufhören des con- 
tinuirlichen Ausflusses nicht mit. der Grenze zusammen, ‚wäh- 
rend bei (D) und (E) dies constant ‚geschah. . 

‘In dem: Verhältniss zwischen p‘ und p‘' ist keine Boca. 
mässigkeit zu erkennen; nur bei der engsten Röhre (a) verhält 
sich diesseits und jenseits ‘der Grenze p':p‘ wie ihre resp. 
Abstände von dem. Anfang derselben, Zur Erklärung dieser 
eigenthümlichen Druckerscheinungen in der Nähe der Einfluss- 
öffnung reicht. die Theorie noch nicht aus; es müsste dazu das 
Gesetz.der Strömung bekannt sein, wenn ihre Richtung nicht 
mehr der Axe parallel, der Druck innerhalb desselben Quer- 
schnitts also nieht constant ist. Einer ähnlichen Erscheinung 
wie der vorliegenden begegnet man bei kurzen Ansatzröhren 
Bohrt man nämlich am Anfang derselben ein kleines Loch 
durch die Wand, so findet ein Ansaugen der Luft statt, weil 
der Druck an dieser Stelle in Folge der Contraction des Strahls 
negativ, niedriger als der Atmosphärendruck an der Ausfluss- 
öffnung ist. In unserem Falle, scheint mir, so lange die Be- 


h Jacobson: 


inrie 


He 


312 


Tab. IIL®) 
en 
(c) o=1,4328 Mm. (D) o= 2,554 Mm. (E) o= 4,0% Mm, 
!= 157,6 Mm. | I= 1006,8 Mm. 


ZESESFGERFIFZFANEFATERG 
er | 1) Z= 1006,8 Mm. | | | 


=. =: 7 Mm. 


(a) o = 0,8950 Mm. | (b) 0= 1,2516 Mm. 


SALE TV ICHS ZR 


1) = 280,7 Mm. | | 

363,3 [313,7 297,2 287,7 | 90,8| 65 | 65 | 54,2| 79,3 | 46,5| 485 45,7\106,6| 86. | 88 | 88,5 [115,8 | 50,7 | 79,6 | 78,9 
345,2 296,7 |281,7 [271,6 126,8 | 84,7| 78,7 | 71,7| 94,5| 51,5.| 52,7 | 50,3 115,6 | 90,3! 94,8] 94,3 137,3 | 67,2| 95.2 | 94,7 
316,7 276,2 1260,5 251,5 1141,6| 93,7| 86,2 | 79,5. 1112,7| 59,2| 63,7 | 61,5 1125,1| 97,2 1101. [101.4 160,8 | 80,7 117.2 115.3 
336,8 294,2 278 268,5|162,3 j106,4| 98,8 | 89,5 |121,5 | 63,8 70,5| 67,7 136,5 ]105,2 111,6 111. 192,8 | 95,7 [140.6 [136,7 
305,3 1267,11255 1245,5 182,7 1116 [109 | 99,2 130,7| 65 | 74,6| 71,3 1160 123,5 [130,7 |130,8 122,2 170,4 [169,2 
281,9 247,5 234,7 [226,4 911,7 1131,2|120,2 [112,5 |148,1| 70,5 | 82,7 | 80,2 |193,9 149 |159,5\159. |280,3.1141,7 1197 [195.4 
264,1 233,9 |221 213,4 [924 136 [126,2 1117,6 |186,5 | 85,9. 1106,8 100,5 1199 [152,2 163,5 1164 


2) 1=269,5 Mm, 1239,8 143,7 137,7 123,9 |216,2 | 93,6 124,5 117,8 279 213,3 232,7 232 
834,5 |652,2 636,2 |6o6 [256 |152,2 |147,7 [132,7 |239,91100,5 137,5 |129,2 1344,8 254,2 |288,7 283,2 
803,6 [624,3 81,1 [557,1 [275,2 1162 [161,2 |146,7 1256 |107,8 147,6 |135,2 372,6 [974,7 |312,2 [307,2 
640,8 505,2 art 458,7 325,3 194,2 [193,1 178,5 |274,8 115,2 154,5 1146,5| 2) 7=1338;5°Mm, 


612,1 484,2 455,7 434,1 9647 221,11219 |202,2 1286 122,6 152,9 1140,5 [117,6 |119,4 |119,6 
560,7 448,1 421,2 403,4 | 309,6 135,5 162 |162,6 133,2 |138,3 138 
533,4 428,5 1402 [384,3 335,3 139,9 175,7 177,5 143,7.|150.2 150,2 
512,3 [413,2 389,4 372.0 365,5 1149,5 190,8 1979,38 232,5 249,4 1243 
493,9 [399,5 [377,2 361.7 : 497,3 335,2 366 |365, 7 


471,3 368,7 1403,4 |402, 
515,8 ‚402 1444, L a 
3) 2= 2123,4 Mm. 
‚ | | 403,8 353,2 |369,2 |369,1 
ä | 456,7 399,2 417,1 415,2 
468,1 
| 488,8 


541 470, 3 [491,2 
1) Die Druckwerthe sind nicht auf Mm. reduecirt, sondern in dem Maass meiner Scala angegeben, auf welcher der Ab- 


Zur Einleitung in die Haemodynamik. 313 


wegung; linear, der an der Einflussöffnung entstehende Wirbel 
sich nicht 1,5 Mm. weit in die Röhre hinein zu erstrecken, bei 
engen Röhren auch ausserhalb der linearen Bewegung keine 
grösseren Dimensionen anzunehmen; je weiter und kürzer aber 
dieselben, um so tiefer in sie hinein zu reichen. 

So lange nicht die Relation zwischen Länge und Durch- 
messer, Druck und Temperatur festgestellt ist, welche die Grenze 
von Poiseuille’s Gesetz bestimmt, sind zur Ermittelung der 
inneren Reibungen der Flüssigkeiten nach der vorliegenden 
Methode einige — wenn auch leicht — ausführbare Controllver- 
suche darüber erforderlich, ob jene eingehalten sei. Man muss 
p einige Male variiren, um die Proportionalität zwischen p und 
c nachzuweisen. 

Es wäre daher — abgesehen von dem theoretischen Inter- 
esse — wichtig, jene Relation zu kennen. Poiseuille’s Be- 
obachtungen geben über dieselbe keinen Aufschluss; sie zeigen 
nur, dass das Verhältniss zwischen Länge und Durchmesser 
nicht constant ist. Bei gleichem Druck und Temperatur lag 
z. B. für d=0,0296 Mm. das Minimum der Länge unterhalb 
!=2,1 Mm., während für d= 0,65 oberhalb /=200. Daraus 
wäre zu schliessen, dass in Tabelle III. die Reihe (a) weit 
ausserhalb der Grenze liege. Nach den folgenden Beobachtun- 
gen ist dies nicht wahrscheinlich. Die aus p° berechneten 
Werthe von n sind etwa !/;, grösser, während die aus p’ und 
p” abgeleiteten genauer mit Poiseuille stimmen. Dem ent- 
sprechend zeigt aber die Reihe (a) p° stets etwas grösser, als 
es im Verhältniss zu p‘ und p‘' hätte sein sollen. Ob dies re- 
gelmässig bei engen Röhren der Fall ist, müssen weitere Ver- 
suche lehren. 


o=0,8950  1=280,7 


T p° 7 SUNGT h N 
| | e p € 

Grd.C. Mm. Mm.,g. |Grd.C. | Mm.g. 

10,8° | 231,5 | 600,8 \0,0001386| 12,5° | 195,2 | 577,8 '0,0001250 
220,8 | 576,6 1377 174,9 | 521,7 - 1241 
204,7 | 535,6 1375| 13° | 151,4 | 458,6 1222 
182,7 | 485,5 1353 142,4 | 435,5 1210 

11,2° | 171,7 | 460,5 1341 134: „4113 1209 
164,3 | 441,9 IE eye Se ae 
158,5 | 426,8 DIE ie pe ira | 

9,5° | 290,6 | 731,9 1428 | 
285 | 7172 1428) 11,8°! 208,1 | 614,7 |0,0001288 
264,5 | 675,9 1407 250,4 | 749 1272 
259,9 | 654,8 1430| 12,5° | 195,8 | 609,6 | 1222 


In dem vorstehenden Beispiel divergirt das für die Gültig- 
keit des Gesetzes ausreichende Verhältniss zwischen Länge und 
Durchmesser am auffallendsten von dem von Poiseuille’ge- 

Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv. 1861, 21 


314 "Heinrich Jacobson: 


forderten. Aber auch Hagen’s Beobachtungen weichen in 
dieser Beziehung — wie alle von mir angestellten — von dem- 
selben ab. So fand Hagen bei 12,5° C. und A=11,1 Zoll 
noch für d=0,11 Zoll und Z/=18,1 Zoll, das Maximum der Ge- 
schwindigkeit nicht erreicht. | 

Zur Erklärung dieses Maximum, das mit der Grenze von 
Poiseuille’s Gesetz zusammenfällt, ist Hagen von der Vor- 
stellung ausgegangen, „dass beim Eintritt desselben die Ge- 
schwindigkeit des Axenfadens der Flüssigkeit die Grenze er- 
reiche, welche die Druckhöhe (h) erzeugen würde, wenn keine 
Widerstände vorhanden wären“ und so zu einer Gleichung ge- 
langt, die zwar den Beobachtungen an seiner Röhre (B), nicht 
aber an seiner weiteren (C) und engeren (A) genügt. Die sehr 
bedeutenden Differenzen der beiden letzteren waren jedoch nahe 
constant. 

Die Geschwindigkeit (u) des centralen Strahles ist der 


Theorie gemäss: 
ir Pie? 
e 4m 
so lange die Voraussetzung der der Axe parallelen Bewegung 
erfüllt ist. Ist dies nicht der Fall und verhielte sich nun (nach 
jener Hypothese Hagen’s) der centrale Strahl wie ein frei 
ausfliessender, hätte er keine Reibung; mehr zu erleiden, so wäre 
seine Geschwindigkeit nach Toricelli’s Satz c=y 2gh; der 
Druck in ihm aber dann in jedem Abstand vom Anfang der 
Röhre derselbe, nämlich p = ga. 
Durch Einführung dieser Bedingungen ergiebt sich folgende 
Relation für die Grenze: 


ZIIC 


-_ V2gh 5 
Ii= 7 ) 

Um dieselbe zu prüfen, habe ich die Temperatur gesucht, 
bei der unter sonst gleichen Umständen einmal für gleich lange 
und verschieden weite Röhren und dann für eine gleich weite 
und verschieden lange die Geschwindigkeit ihr Maximum er- 
reicht; also in einer Versuchsreihe n und / variirt bei constan- 
tem h und o, in einer anderen n und p bei constantem Ah und 
I. Für die gefundene Temperatur wurde dann aus Poi- 
seuille’s Formel der entsprechende Werth von n berechnet. 

Der Apparat für die erste Versuchsreihe war folgender: 
Ein Gefäss von verzinntem Eisenblech war, durch eine Zwi- 
schenwand in zwei Kammern getheilt. In der einen befand 
sich — c. 6 Mm. von den Wänden derselben entfernt — das 
Druckgefäss, ein etwa 85—120 Mm.’ hoher, 80 Mm. weiter Cy- 
linder, in der anderen Kammer — gleichfalls 6 Mm. von ihren 
Wänden abstehend — ein’ ungefähr doppelt so weiter und ho- 
her Cylinder, aus welchem ersterer mittelst eines in der Höhe 
seines Randes die Zwischenwand durchbohrenden Krahns 'stets 


Zur Einleitung in die Haemodynamik, 315 


so viel Wasser erhielt, dass er übervoll blieb. Das überflies- 
sende Wasser lief durch eine Abzugsröhre in der Wand der 
ersten Kammer nach aussen ab. Der Zwischenraum zwischen 
dem äusseren Gefäss und den beiden inneren wurde mit Wasser 
gefüllt, das sehr allmählig erwärmt wurde. In dem mit Klap- 
pen verschliessbaren Deckel waren zwei Oeffnungen, die eine 
für das Thermometer, das mit seinem etwa 2!/, Zoll langen 
Cylinder tief in das Druckgefäss hineinragte, die andere für 
eine Handhabe zur Regulirung des Krahns. Die Röhren wur- 
den durch einen Kork in ein horizontales, blechernes Ansatz- 
stück eingefügt, das an den Wänden des äusseren und des 
Druckgefässes nahe über seinem Boden angelöthet war. 

Die Temperatur des ausfliessenden Wassers wurde ausser- 
dem mittelst einer ähulichen Vorrichtung, wie sie Hagen!) 
angewandt, vor der Ausflussöffnung gemessen. Sie schwankte 
während eines Versuches, der 80—120 Secunden währte, sehr 
unbedeutend. 

Für die zweite Versuchsreihe benutzte ich drei cylindrische 
Glasröhren von folgenden Dimensionen: 

(e) o=0,565 2= 166,5 
(f) 0= 0,697 1=167,3 
(9) 0=0,817 1=166,2 

Ich hatte bei einer Druckhöhe Aa=70—111 Mm. bis 70° C. 
kein Ausflussmaximum an denselben gefunden und vermuthete 
daher, wie es nach Poiseuille’s Angaben wahrscheinlich 
war, dass sein Gesetz auf sie keine Anwendung finde. Ich 
stellte darauf bei A=420 Mm. nach Hagen’s Methode (da der 
oben beschriebene Apparat keine Steigerung des Drucks ge- 
stattete), Beobachtungen an. Zwei hohe Glascylinder, von de- 
nen der eine als Zuflussreservoir und zur Erhaltung eines con- 
stanten Niveaus diente, wurden mit heissem Wasser gefüllt, 
und während der Abkühlung c gemessen. Ein Maximum zeigte 
sich hier sehr deutlich. Es lag demnach für A=111 Mm. die 
Grenze hinter 70°C. Wegen der Unsicherheit der Beobach- 
tungen bei sehr hohen Temperaturen in Folge der heftigen 
Dampfbildung habe ich sie bei diesem niederen Druck nicht zu 
erreichen gesucht. 

Die Dichtigkeit des Wassers ist nach Hagen’s Tabelle in 
Rechnung gebracht; Ausdehnung des Messings und Glases be- 
rücksichtigt. 


1) Abhandlungen der Akademie zu Berlin 1854: Ueber den Ein- 
fluss der Temperatur auf die Bewegung des Wassers in Röhren 
(S. 12). 


21° 


316 Heinrich Jacobson: 


Tab. IV. 
h="0,1 Mm. 
1) oe = 2,554 Mm. (D). 


1 = 670,3 Mm. | 1 = 964,2 Mm.|1= 1297 Mm. | I= 1690 Mm. | 1=2376,9 Mm. 


zul] bes], 'e ale una ine bb +, (abaneoictoH ce 


10,8°0404 |14,3° 0|356,9 |10,9° c/286,2 '25,8°C! 305,6 |30,8°C! 243,4 
14,1. 425,3 18,8. 381,9 115,5 315,5 30,4 \ 315,3. 1334 | 254,3 
16,2 [427,5 22,8 389,8 18,7 1327,1,32,8 |320,9 137,8 | 263,8 
18,7 424,7 243 |379,5 21,9 340,1 35,5: | 316,2 139,9 | 266.2 
21,5 124508 379,8 28,4 359,3 38,5 |313,3 42,2 | 268,5 
25 4176 32,9 376.1 130,8 35211405 | 304,3 46 | 269,9 
28,7 395,4 | 33,3 345,1 471 | 268,7 
| 35,9 837,8. 


2) h=111,6 e=1,4323Mm. 1=620,4 Mm. 


T c 


16,6°C. | 355,6 


24 385,9 
28,6 405,1 
33,4 421,6 
38,6 432,9 
42,1 438,3 
45,8 438,8 
49,8 434,9 
53,6 430,5 
56,3 425,1 
62,1 418,2 
Tab; :V. 
h= 420 Mm. 
(e) o= 0,565 Mm. (f) oe = 0,696 Mm. (9) e= 0,817 Mm 
T= 166,5 I = 167,3 = 166,2 
ne ao ai she 
70°C, 1059,5 71,9°C. 1086,3 63,9° C. 1185,2 
67,1 1058 67,5 1089... 59,8 1180,5 
65,1 1105,4 63,9 1087,2 56,1 1174,6 
61,9 1104,2 59,9 1085,2 52,4 1177,2 
58,3 1077 564. = IEBQ5B- or 4955 1184,2 
53,8 1051,3 54,9 1126,4 45,9 1183,3 
49,9 1010,8 50,8 1167,9 42,8 ...1174,2 
45,1 979,3 47,3 1209 40,4 1178,4 
41 965,7 46,1 1207,6 37,6 1199,5 
38,8 923,0 43,3 1180,2 34,8 1218,6 
36 905,1 39,6 1146,3 31,9 1238,1 
33,3 868 36,9 1110,2 29,1 1211 
28,4 811,3 33,9 1086,1 26 1176,4 
24,1 774,7 23,93 977,9 21,9 1154,5 


21,8 1371 | 19,6 937,3 


Zur Einleitung in die Haemodynamik. 317 


‚Bin Vergleich der beobachteten Temperaturen (Tab. IV.), 
bei denen das Maximum der Geschwindigkeit eintritt, mit den 
aus der Grenzrelation berechneten, zeigt, dass dieselbe nur in 
zwei Fällen den Beobachtungen annähernd genügte, dass un- 
terhalb der ihr entsprechenden Länge die berechnete Tempe- 
ratur niedriger war als die beobachtete, oberhalb höher. Es 
ist nämlich: 


| 


| berechnet beobachtet 
h I T T o 
111,6 I, 9202 | 2ec. | 42°C. | 1,4328 
70,1 670,3 Zub ale ieh 795 
964,2 21 | 24 
r 1297 34 | 28 
1690 48 | 33 


Für /=1690 Mm. lässt sich noch mit Wahrscheinlichkeit x 
aus Poiseuille’s Temperatur -Coefficienten entnehmen; für 
I= 2376,9, dem ein beobachtetes z = 44° entspricht, ist dies nicht 
mehr möglich, da es zu weit von der Temperatur (45°) ent- 
fernt liegt, bis zu der jener Coefficient festgestellt ist. 

Die genaueste Uebereinstimmung mit der Formel fand ich 
bei einer etwas weiteren Röhre als (D), deren Radius = 2,649 
Mm.; während sie der obigen gleich lang (!= 963,3) gemacht 
war. Bei Az70,1 war hier das beobachtete <= 18,5°C., das 
berechnete 18°. 

Die Beziehung zwischen n und 0 für die Grenze, lässt sich 
nur aus Tab. V. (f) und (g) ableiten; denn für (e) lag das 
Ausflussmaximum bei 65°C. Aus (g) und (f) aber ist wahr- 
scheinlich, dass der Grenzwerth von 7 proportional dem 
Quadrat des Radius, Es ist nämlich: 

33°C) n = 0,00008873 Mm. g. 


@ 
48° C.) n=0,00005705 Mm. g. 
€) 


also 
= 2 o? 
= 1,352, während -@°’ = 1,373, 
(N N 


Da ich für die Hypothese eines ohne Reibung fliessenden, 
centralen Strahls in den Beobachtungen keine genügende Be- 
gründung fand, habe ich Versuche, um eine Relation zwischen 
p° (statt h), 0, Z und n zu ermitteln, begonnen und zuvörderst 
das Verhältniss zwischen p° und / für die Grenze festzustellen 
gesucht. 

Bei derselben Temperatur machte ich an der Röhre (D), 
deren einzelne "Theile uach einander abgeschroben wurden, in- 


318 ‚Heinrich Jacobson: 


nerhalb .des Intervalls, in dem die ersten Zuckungen:des Strahls, 
eintreten, für jede Länge etwa 6 Ausflussversuche, indem ich 
h von 6 zu. 6 Mm. steigerte: die beiden ersten Versuche bei 
gleichmässiger Strömung, die beiden folgenden in der Ueber- 
gangsperiode, die letzten schon bei heftigen Schwankungen. 
Es wurden h, p° und c gemessen und die Werthe derselben 
berechnet, zwischen denen die Gültigkeit von Poiseuille’s 
Gesetz aufhört. Sehr häufige Wiederholung dieser Versuche 
ergab genau dieselben Resultate; Tremperatur-Verschiedenheiten 
von 1° markirten sich schon deutlich, indem bei Erhöhung der- 
selben die Grenze in das unterhalb des vorher gefundenen lie- 
gende Intervall hinabrückte und umgekehrt. 

Es ergab sich, dass die Drucke an der Einflussöff- 
nung, bei denen sich das Gesetz der Bewegung än- 
dert, proportional sind der Länge der Röhre. So 
genau, als es bei diesen Versuchen möglich ist, werden die fol- 
genden Beispiele dies beweisen; die durch einen Strich ge- 
trennten Beobachtungen sind bei verschiedenen Temperaturen 
gemacht; die ersten bei 14° C., die zweiten bei 15,8° C. 


1 Grenzwerthe 
von p° 

1006,8 78,8 
1104,8 86,6 
1338,59 101 
21234 | 163,8 « 
24184 | 194,6 

ige Geis 
1338,5 110,1 
1731,5 143 
9123,4 174 


Die Resultate meiner Versuche über die Beziehung zwischen 
p’, e und 7, die noch:'nieht geschlossen werden konnten, be- 
halte ich einer späteren Mittheilung vor. 

Wir haben gesehn, dass es sich bei der Bestimmung des 
Reibungs-Coefficienten nur um die Messung des Drucks in- 
nerhalb der Röhre, nicht um die der Niveauhöhe (h) im 
Druckgefäss handelt. Es ist aber von Interesse, auch die Re- 
lation zwischen h und c zu kennen, welche der zwischen p 
und: e geltenden entspricht. Das umfangreiche, experimentelle 
Detail, das über dieselbe existirt, ist mit Ausnahme der exacten 
Untersuchungen Hagen’s deshalb nicht zu verwerthen, weil 
bei Anstellung der Versuche auf die Grenze der der Axe pa- 
rallelen Bewegung keine Rücksicht genommen ist. Es sind. 
daher Beobachtungen diesseits und jenseits derselben mit ein- 
ander. verglichen und so. die unrichtigen Formeln abgeleitet, 


# 


Zur Einleitung in die Haemodynamik. 319 


die aus den Handbüchern der Hydraulik wie aus Gerstner’s 
und Girard’s Arbeiten in die Haemodynamik übergegan- 


gen sind. 
Hagen stellte folgende Gleichung auf: 
er TE 108 
(0o-«)* (0—a)* 


darin bedeutet A‘ die um den Gegendruck der capillaren Ober- 
fläche des ausfliessenden Strahls verminderte Druckhöhe (Rh), « 
die Dicke der ruhenden Wandschicht, also o—.« den Halb- 
messer des bewegten Flüssigkeits-Cylinders; ?, «' und #' Con- 
stanten. 3 

Einige Versuche, die ich früher mitgetheilt,!) bestätigten 
diese Formel zwar im Wesentlichen, divergirten aber in eini- 
gen Beziehungen, zu deren weiterer Verfolgung ich damals 
keine Gelegenheit hatte. Es blieb nämlich experimentell zu 
entscheiden: 

1). ob durch das Glied, das die erste Potenz der Geschwin- 
digkeit enthält, der Druck (p°) an der Einflussöffnung darge- 
stellt werde. Hagen hatte p’ nicht direet bestimmt; 

2) welche Bedeutung der Coefficient des Quadrats der Ge- 
' schwindigkeit habe; ob er eine Function der Temperatur der 
Flüssigkeit und der Länge der Röhre sei, wie Hagen ange- 
nommen ; 

3) ob während der Strömung ein capillarer Gegendruck 
von der Ausflussöffnung her wirke. 

Die Feststellung dieser Punkte erschien mir nicht unwe- 
sentlich, zumal jene Gleichung nicht die Bedeutung einer In- 
terpolationsformel, sondern eine theoretische Begründung hat. 
Es wird dies aus der nachstehenden Entwickelung klar wer- 
den, die.ich Herrn Prof. Neumann’s Vorträgeu über Hydro- 
dynamik verdanke, und die bisher nicht veröffentlicht ist. 
Ohne dieselbe — auf rein experimentellem Wege — scheint 
mir eine richtige Würdigung der Relation zwischen A und ce ı 
nicht möglich. 

An ein mit Flüssigkeit gefülltes Gefäss von grossem Quer- 
schnitt sei eine cylindrische Röhre (deren Länge /, Radius R) 
angesetzt. Auf das, Niveau (AB) der Flüssigkeit, das in con- 
stanter Höhe (Ah) über der Ausflussöffnung («#) der Röhre er- 
halten bleibe, wirke der Druck P°; auf «8 der Druck P und 
an der Einmündungsstelle.der Röhre in das Gefäss, also an 
der Einflussöffnung der Druck p°. 

Das Prinzip der Erhaltung der lebendigen Kraft ist ausge- 
drückt durch die Gleichung: 


1) Reichert's und du Bois-Reymond’s Archiv Januarheft 
1860. Ich habe hier angegeben, dass Hagen den Coefficienten von 
c? als unabhängig von der Temperatur betrachtet, und übersehen, dass 
sich diese Annahme nur auf die Constante «’ bezieht, während er den 
Einfluss der Temperatur auf $° für unzweifelhaft hält. (S. 48.) 


320 Heinrich Jacobson: 
i+di 


d 
| Zmw-u=2Ezm [ / | R cos (R,ds) 74) 


wenn a die Geschwindigkeit des Theilchen m zur Zeit + dt, 
u° zur Zeit ft, R eine in dem Zeitelement auf m wirkende Kraft, 
ds das Element der Bahn. — Die Summe / bezieht sich auf 
die Kräfte, die auf m wirken; = auf die Massentheilchen des 
Systems. 

Die wirkenden Kräfte sind: 

1) Die Schwerkraft: Wenn M die zwischen AB und «g 
befindliche Flüssigkeitsmasse, Z die Ordinate ihres Schwer- 
punktes, so ist der von ihr herrührende Theil der Kräftefune- 
tion =MgdZ; oder wenn u die Masse derim Zeitelement durch 
AB, sowie durch «® strömenden Flüssigkeit, die durch ihre 
Ortsveränderung die Lage des Schwerpunktes geändert hat, 

2) Die Druckkräfte: Der Druck auf ne Niveau im 
Gefäss, dessen Querschnitt 0°, ist = poovodı= I #, derDruck 

R 


auf die Ausflussöffnung («ß)=—2ndtP fe erde 


RB 
da u=DO°’U’dt=2rD frdrudt; also dieser Theil der. Kräfte- 
0 


= pP 
« (1.) 
3) Die innere ke Se der m Aerigkpllen Da ihr Ele- 


function: 


ment nach der früher entwickelten Theorie 


du 
d(r 7) 


=2nndrde ——_— udt, 50 ist (für die ganze Röhre) der dritte 
Theil der Kräftefunction 


Rt: R 
as ar) > ar) 
Ne r 
Arndt pa dr de u wergsre =2rnldi / u Ir dr 
R R s 
Re a dr «r ( I )! 
= at re GER 2 [al .r en (III.) 


4) Die Reibung an der Wand der Röhre: nach dem 
Früheren | 


=2rRl ew—-W—-n ee udt (IV.) 
Die Geschwindigkeit der Wand v»=0 gesetzt, giebt 


. Zur Einleitung in die Haemodynamik. 321 


R 
2 9 
(IT +IV.)— aanıdı f drr(Ge) — IrelRu” 
0) 


Die Differenz der lebendigen Kräfte ist für unseren Fall: 


R 
S wrdr 
a DR)=u) gr —— U” 
JS urdr 
o 
oder da nach der Relation für « 
R R RB 2 
f af urdr i Mi S uPrdr et) 
U= Ta u@@=-UN)=u 7 as og 
S urdr 
i 0 
Wir erhalten also: 
R BR 2 
Su’rdr ( af ei 
0 [) 
SR Se 
Jurdr dr 
(U £ 
BR 
vo ar 2 
= 2gh +2 pP Pa 4rrelRdi a Arınldi a = 
and u u dr 
0 
D 2 0 2c 
D an | >( | D nn 
a nun u 2 R 14 r2‘ und N Au 
el 
eh 
2€ 2 
also u en | ( a)-"! 
u Ge R hp Tr 
eR 


so erhält man durch Substitution dieses Werthes und Aus- 
führung der Integrale 


2n\? 2n\? 
+) nme 


2 (14) E 00% 
eR 
N I 
Saga pP Snle 
D o(14)® 
eR 


Ist nun die Flüssigkeit auf beiden Seiten nur unter 
dem Druck der Atmosphäre, d. h. ?=P°, benetzt sie ferner 
die Wand, d. h. ist eo gegen n, ist endlich Q° sehr gross ge- 
gen den Querschnitt der Röhre (r?x), so geht dieser Ausdruck 
in folgenden über: 

Bm 


2gh = 242 Dm° 


322 Heinrich Jacobson: 


Die Voraussetzungen, unter denen die vorstehende Relation 
gilt, sind denen gleich, die für Poiseuille’s Gesetz erfüllt 
sein mussten; es ist in dem vorliegenden Fall nur noch eine 
hervorzuheben, dass nämlich an der Einflussöffnung 
kein Verlust an lebendiger Kraft stattfindet. Ist ein 
solcher vorhanden (und die Erfahrung lehrt, dass dies gewöhn- 
lich der Fall ist), so muss er noch in Rechnung gebracht, zu 
2c? hinzugefügt werden. 

Ohne Berücksichtigung der Reibung der Flüssigkeit wäre 
bekanntlich 29h = c?; in Folge derselben tritt also ein der Ge- 
schwindigkeit (c) proportionales Glied hinzu, und das von c? 
abhängende verdoppelt sich. 

Meine Beobachtungen über A und c (Tab. II.) lassen sich 
genau durch einen Ausdruck von der Form 

h=sc-+te®. 
darstellen; sie ergeben folgende Werthe der Constanten: 
Tab. II. 1) s= 0,30958 it = 0,00009266 


2) =:0,16306 = 0,00011497 
3) = 0,14276 =0 -00012203 
4) - 0,42124 — 00010543 
5) = 0,1926 =) "00014248 
6 = 0,16415 =0 00009869 
7 = 0,40191 =0 00008637: 
8) = 0,3424 0 ‚0001101 
R . 8nl 
Die Theorie fordert: sc= De —p" 


Soweit es irgend von der angewandten Methode zu erwarten, 
wird sie durch die Beobachtung bestätigt. Vergleichen wir das 
an der Einflussöffnung beobachtete p° mit dem berechneten se: 


beobachtet | berechnet beobachtet | Pere 
p° | sc p’ sc 
1) 129 131,2 5) 119,5 118,1 
114,2 115,8 98 96,8 
80,5 82,3 ° 74,1 76,2 
2) 91,9 90,4 Nas " 768,6 64,5 
69,6 Ining 702 ja m ot 54,5 
3) - 72,85) 73,1° 6) 71,2. 70,3 
61,5 - 61,6 75,4 75,4 
4,9 | 50,6 78,8 | 78,5 
4) 233,2 234,6 7): 185,5 186,8 
202,5 200,4 158 158,9 
158,7 1584  lu...n1251 |, „125,2 
125,1 124,1 8) 110,4 108,4 
77,4 77,3 143,6 140,3 
152,7 150,9 


164,3 163,7 


323 


Zur Einleitung in die Haemodynamik. 


* 


Bu 

en 

m 

iz 

5 8C0T000°0 908 
TEOTOOO‘O o8T 
9E0T000°0 evt 
080T000°0 08 01 
ZTECTLOOO'O lol 
9G0OTO0O'O D or 

1 | D 


ung TeLI=] umge =d 


r0201| ZEer 


Tab. VI. im Widerspruch mit Hagen’s An- 


eratur und der Länge der Röhre, 


Der Coefficient von c? ferner ist unabh 


IcoL| 2'eg# 
"S’wmWz6ertLooo‘o =&| T'I6OL| F'%2F 
TFITO00°0 = 3 | EEZIL| T'I6F 
; £608°0 = 5 | g*LITT| Y’ITG 
Oo [4 [4 3 
= “g9T=r 9698 =1 ‘00680 = 0 (£ 
ED =| 
No (4 lu 2 [4 [4 
2oS,20 "Sum T28T0000= 4. 1'281 | gez 
sm 9TFCI0000 =} ) 8095 | FE 
Sn 2 & Forssoo=steiıse | T'se 
BE |». | 
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uopIoMm I]UBMOF dossamydıng wnz oduerg Iop SsIuyjgydoA Sep any aoIy os orM °y UoA uayyIoM UBIOPaLU 
os ı0q !oymmmsoq anyerodwe], 9soIp any 9suos sep spe “1ossga1s 0os/; 8449 SIyoYy uasEjToM Aosaıp ur Ist 4 (r 


80821000°0| 2TZLITO00°0 


IF21000°0 


FFFLO00°0 


T&IT000°0 


8E3T000°0 


1783T000°0 


8631000°0 


"2-WME8LTO00‘0 


u 


19987: JoST 
6eIr | 2'981 
908880 I6'8Iez | L'88F | 6'983 | "DO SL 
6EeIlg | <H9 
SITE 9'86 
3,6H7 6.8FT 
Eon | FT ; 
6C8FL000°0 | 9EC98‘0 9rr | LO9T| I 088 
8 FıE | s'ger 
rt Fl 
6ISFLO00°0 | FOKogo g‘aıe G’861 ok 
9.08% v8 
e182 | 8Co1 
LOTOL000°0 | G69FEO |G’IEZI E'6H8 SCET 8 0HoF 
coLF | 621 
LOEE | 6°38 
ESIFLOOO'O 17020 2'998 L79 | 'D oFsL 
Tır| Fe 
9197 6'871 
6ı1er| FT 
SE0IL000°0 | 273080 |C’SEEL Gele u 9 0881 
s’89Fr | C'0L 
FılcH | 8'86 
| es v8 | 
gIzE| 199. 
G8TELOO0°0 | ZEI9ET‘O |8°900T ‚182 6’ag 9.881 
g‘orr | 2’T8 
[4 [4 
En , 6rer| 88 
0663T000°0 | 915110 |s'rız | Fiese #79 0 061 
9 s | 1 | 9 | Y | 1 


un 799% =09 (1) 


Meer — ——— seen iR ————— een ve SS Ser nt 1 


324 Heinrich Jacobson: 


Statt des theoretischen Werthes gt=1 hatte ich früher an 
der Röhre C (s. Reichert’s und du Bois-Reymond’s Ar- 
chiv) bei nahe gleichem Druck gt=1,2 bis 1,5_ gefunden; hier 
schwankte er in den meisten Versuchen zwischen 1,1 und 1,6 
und war dreimal sogar kleiner als 1. Ziehe ich noch meine 
übrigen Beobachtungen in Betracht, die hier nicht angeführt | 
worden, so liegt gi in der überwiegenden Mehrzahl zwischen. 
1,2 und 1 ‚6. Es liegt nahe, eine Beziehung desselben zum 
Geschwindiekeits-Coefficienten beim Ausfluss durch eylindrische 
Ansatzröhren zu vermuthen, der je nach der Druckhöhe, der 
Weite der Röhre, der Abrundune der scharfen Kanten an der 
Einmündungsstelle etwa zwischen 0,72 und 0,95 variiren soll: 
Aber aus den obigen Werthen lässt sich darüber noch nichts 
feststellen; auch sind die Angaben über den Geschwindigkeits- 
Coefficienten zu widersprechend, um benutzt werden zu können. 
So sah ihn Hagen mit abnehmender Druckhöhe sehr steigen, 
Donders fallen; Weissbach ihn mit wachsendem Durch- 
messer fallen, Donders steigen. Vergleichende Bestimmungen 
beider Coeffieieten an Ansatz- und langen Röhren von glei- 
chem Durchmesser dürften die vorliegende Frage am ersten 
entscheiden. Dass eine Uebertragung der Resultate von den 
einen auf die anderen, wie Donders!) sie versucht hat, nicht 
gerechtfertigt ist, geht sowohl aus den von Hagen beobach- 
teten Werthen (gt= 1,355—1,65) wie aus den meinigen hervor. 

Ein capillarer Gegendruck, von dem cylindrischen 
Mantel des ausfliessenden Strahls her gegen Ah ge- 
richtet, ist nicht vorhanden. Dies folgt .schon. daraus, 
dass h sich stets so genau, als es die Messung zuliess, bei 
weiten und engen Röhren durch den obigen Ausdruck ohne 
constantes, von der Geschwindigkeit unabhängiges Glied, dar- 
stellen liess, 

Die ganz unregelmässigen Differenzen des beobachteten und 
berechneten h betrugen meist nur !/o—!/aoo DO war 2. B. 
bei der Röhre (e=.0,895) Tab. V. (3). 


h 
beobachtet | berechnet 
439,2 434,1 
453,7 451,1 
‚472,4 473,3 
491, 1 491,4 
516, 6% - 516,9 


Einen directen Beweis dafür gaben Versuche, bei denen ich 
den Strahl abwechselnd in die Luft und unter Wasser austreten 
liess. Letzteres liess sich schell dadurch bewerkstelligen, dass 


1) Archiv für holländische Beiträge von Donders. 1857. 


Zur Einleitung in die Haemodynamik. 325 


ich über das Ende der Röhre einen durch eine Zwischenwand 
(deren Rand etwa 1 Mm. die Ausflussöffnung der Röhre über- 
ragte) getheilten Blechkasten schob. Die geringe Niveauhöhe 
in letzterem, die von h abgezogen wurde, ist mittelst einer 
Stahlspitze gemessen worden, die an einem genau getheilten 
und mit Nonius versehenen Messingstab verschiebbar war. 

Die Geschwindigkeit war dieselbe beim Ausfluss 
unter Wasser wie in Luft. - 

Hagenbach betrachtet in ähnlicher Weise, wie es schon 
Fick gethan, Poiseuille’s Relation als einen speciellen Fall 
der zwischen h und c bestehenden. Er geht von der in der 
Hydraulik gebräuchlichen Zerlegung der Druckhöhe Ah in eine 
Geschwindigkeitshöhe (k') und Widerstandshöhe (h‘') aus und 


gelangt — unter der Voraussetzung, dass Y2gh’=c — zu fol- 
gendem Ausdruck für enge und glatte Röhren: 
Snl 
h= De c+0,000080865c? 


worin das erste Glied =h'', das zweite = h‘ sein soll. 

Wenn Ah’ verschwindend klein gegen A", so werde h=h" 
d. h. es gelte das Gesetz Poiseuille’s. Bei denjenigen unter 
seinen Versuchen, die sich demselben nicht fügten, sei die Ge- 
schwindigkeitshöhe A‘ nicht mehr zu vernachlässigen gewesen; 
deshalb gelte für sie die obige Relation. Hagenbach findet, 
indem er nach derselben aus einer grösseren Anzahl von Poi- 
seuille’s Beobachtungen ausserhalb der Grenze n berechnet, 
es häufig ziemlich genau mit dem aus den Versuchen inner- 
halb der letzteren ermittelten n übereinstimmen; wo es nicht 
der Fall war, nimmt er noch einen Erschütterungswiderstand 
an, der bei weiten Röhren mit rauhen Wänden vorherrschend 
sei, bei engen sich jedoch schwächer bemerkbar mache. 

Eine speciellere Widerlegung dieser Auffassung dürfte nach 
dem Vorhergehenden unnöthig sein. Es bleibt nur zu bewei- 
sen übrig, dass sie in Poiseuille’s Beobachtungen keine Stütze 
findet, wie es nach Hagenbach’s Tabellen den Anschein hat. 

Ich habe zu diesem Zweck dieselben unter der Form: | 

h=sc-+te 
darzustellen gesucht und mich überzeugt, dass dies nur theil- 
weise möglich, dass der Coefficient # nicht constant und fast 
immer erheblich grösser ist, als Hagenbach ihn angenommen. 

Die folgende Zusammenstellung wird dies zeigen. Die Werthe 
von k sind überall nahe dieselben gewesen; nämlich 

h= 661 Mm. Wasser 
1321,8 
1981,7 
2626,6 
5210,3 
10459,1 
Die Temperatur war = 10° C. 


ıesen war na- 


Tabellen nicht selten Beobach- 


h Jacobson 


inrie 
in. seine 


He 
Die Versuchsreihen, die sich dem obigen Ausdruck nicht 


fügen, habe ich + bezeichnet und nur zum Vergleich mit Ha- 


Hagenbach hat 


tungen innerhalb der Grenze aufgenommen; bei 
genbach’s Angaben die aus ihnen abgeleiteten Constanten 


wenn die Geschwindigkeit sehr gering, also ic? sehr klein war. 
beigefügt. 


türlich die Uebereinstimmung mit seiner Formel am grössten, 


326 


l 0 5 L N 
N) 
moi ösentes 8. iv. | 15.75 Mm. | 0,07085 Mm. 3,3966 | 0,0001081 |"”0001354 Mm.g. 
ESS ern.. = ie Ar. 9,55 2.1030 | 0,0001154 1382 
S. 467 AV. | ‚6,755 1,4907 | 0,0001112 1381 
HB. 407 Ama Eee 0,3340 | 0,00009506 2098 
8.479 Bw. | 9 0,05675 2,8864 | 0,0001237 1291 
S. 473 BY 3,9 1,2029 | 0,0001052 1942 
S. 477 CV. 6,025 0,04275 3,2286 | 0,0001921 1224 
S. 481 DW: | 3,35 0,02175 7,4442 | 0,00008037 1314 
+S.485 Fl 200 0,3267 1,9521 | 0,0001291 1302 
+S. 486 Fi | 99,72 0,9617 | 0,0001440 1287 
+8, 486 FU. | 50,45 0,3269 0,5196 | 0,0001178 - 1378 
+8. 487 FiV: | 236 0,3273 | 0,2899 | 0,0001048 1493 


Zur Einleitung in die Haemodynamik. 327 


' Die Uebereinstimmung von 7 ist auch da, wo sich die Be- 
obachtungen durch jene Interpolationsformel darstellen lassen, 
durchaus nicht der bei Poiseuille’s Methode erreichbaren 
entsprechend. Sie differiren schon in.der zweiten Decimale, 
während die übrigen auf 4 Ziffern genau sind. Der sogenannte 
„Erschütterungswiderstand“, der dies erklären soll (abgesehen 
davon, ober überhaupt annehmbar ist), dürfte doch, so lange 


die Bewegung der Axe parallel, — und diese Voraussetzung 
macht ja Hagenbach gerade für die vorliegenden Versuche 
geltend — nicht zu statuiren sein. 


Die Form des: Ausdrucks allein ist ferner durchaus nicht 
massgebend. Es lassen sich häufig, namentlich bei engeren 
Röhren, Beobachtungen ausserhalb der Grenze des Gesetzes 
unter derselben Form darstellen. , Nachstehende Beispiele, de- 
nen ich viele andere hinzufügen könnte, bei denen directe Mes- 
sungen des Drucks mich gelehrt hatten, dass dasselbe nicht 
mehr gelte, mögen dies beweisen: 


) o=1,2516 Mm. 2) o= 1,4328 Mm. 
!=197,7. Mm. 7 =25,5° C. i=3576 Mm.st=25NC. 
beobachtet berechnet | beobachtet berechnet 
h € h Sa; c h 
195,2 983,3 195,3 69,7 519,4 69,4 
168,5 892,9 168,7 86,1 596,2 86,8 
149,6 ‚821,2 148,8 93,8 623,9 93,6 
130,6 751,1 130,5 112,6 696,2 112,4- 
116,9 698,8 117,5 207,5 1001,3 209,5 
el 225,1 1036,3 222,6 
3 253,5 1116,8 254,1 
72695 @=117,5°,C. 286,6 1193,1 285,8 
289,8 972,4 291 317,6 1263,5 316,7 
274,6 933,7 273,4 
257,8 895,1 255,9 
238,6 860,4 240,7 


Es scheint mir gerade aus Poiseuille’s Versuchen das 
Gegentheil von dem hervorzugehen, was Hagenbach ge- 
schlossen: dass nämlich die Vorstellung einer Widerstandshöhe, 
welche die Reibung überwinden, und einer Geschwindigkeits- 
höhe, welche die Bewegung erzeugen soll, nicht nur theore- 
tisch unzulässig, sondern auch mit der Erfahrung im Wider- 
spruch ist. Man darf nur seine Versuche bei hohem Druck 
innerhalb der Grenze durchsehn, um zu erkennen, dass 
die Ausflussgeschwindigkeiten bei denselben so beträchtlich 
sind, dass eine Vernachlässigung der sogenannten „Geschwin- 
digkeitshöhe* auch hier nicht erlaubt wäre. 

Für die Periode der Bewegung, in der Poiseuille’s Ge- 


328 Heinrich Jacobson: Zur Einleitung in die Haemodynamik. 


setz nicht mehr gilt, hat sich aus meinen Beobachtungen! er- 

eben: 

a dass an der Einflussöffnung der Druck » ee 
sinkt, in den nächst gelegenen Querschnitten der 
Flüssigkeit ansteigt und darauf ein Maximum er- 
reicht, das um so näher der Einflussöffnung liegt, 
je enger die Röhre; dass ferner von diesem Punkte 
an die an der Peripherie gemessenen Drucke sich 
verhalten wie innerhalb des Gesetzes, d.h. wie die 
Ordinaten einer geraden Linie. 

Vergleicht man die bei derselben Temperatur und mittleren 
Ausflussgeschwindigkeit an verschiedenen Längen .der Röhre 
bestimmten Werthe des Drucks neben der Einflussöffnung (p ), 
so findet man, dass sie — wie die dem Maximum entsprechen- 
den (p‘') — den Längen proportional sind; der Quotient beider 
also unabhängig von der Länge ist. 


z=992 ©: 
1=1731,5 | 1= 2418,4 
[rennt [engen | 8 
I 

284,3 | 638,3 406,1 | 638 
274.2 623,6 392 624,5 
259,5. | 604,8 367,6 604,1 
253,4 594 3598  |...595 
2402 | 582 344,5 582 
227,1 | 559 321,5 559,5 
199,8 523 282,2 523.2 
142,5 | 461,2 | 197,5 480,8 


u 


Pe N: FOR 


Ernst Axel Key: Ueber die Endigungsweise u. s, w, 329 


Ueber die Endigungsweise der Geschmacksnerven 
in der Zunge des Frosches. 


\ Von 


Dr. ERNST AxeL Key aus Stockholm. 
(Hierzu Taf. VIII.) 


Unsere Kenntniss von der Endigungsweise der Nerven in 
den höheren Sinnesorganen hat in den letzien Zeiten, vorzugsweise 
durchMax Schultze’s ebenso gründliche wie umfassende Un- 
tersuchungen so bedeutende Fortschritte gemacht, dass man 
diese Endigungsweise als prineipiell bekannt betrachten darf, 
wenn‘ auch ınehrere Einzelheiten für die weitere Forschung 
übrig geblieben sind. 

Dass man in der Retina wenigstens die Stäbchen als ner- 
vöse Endigungen aufzufassen habe, wenn auch die Natur der 
Zapfen als noch nicht völlig erklärt zu betrachten ist (Schultze 
de retinae structura penitiori. Bonn 1859 p. 24), darüber kann 
man wohl keinen Zweifel hegen, wenn man die feinen Fäden 
gesehen hat, welche, oft mit regelmässigen Varicositäten ver- 
sehen einwärts von den Stäbchenkörnern fortlaufen, und völlig 
mit den feinsten Opticusfasern übereinstimmen. Von diesen 
unterscheiden sich die eigentlichen Müller’schen Fasern, 
die gröber sind und sich sowohl in der Membr. limitans in- 
terna und in der von M. Schultze entdeckten, völlig deutli- 
chen und bestimmten Membr. lim. externa, als auch in der 
zwischen diesen beiden Membranen befindlichen Zwischensub- 
stanz, in welcher alle die nervösen Elemente eingebettet liegen, 
auflösen, wie M. Schultze es beschrieben hat (op. cit. p. 8). 

Nachdem zuerst Eckhard (Beiträge zur Anatomie und Phy- 
siologie Heft I. 1858 S. 77) die Vermuthung aufgestellt hatte, 


dass die Epithelialzellen in der Regio olfactoria in Verbindung 
Reichert’s u, du Bois-Reymond’s Archiv. 1861. 22 


330 | Ernst Axel Key: 


mit den Nervenfasern des Olfactorius stehen, und dieselbe Ver- 
muthung auch von Ecker (Berichte über die Verhandlungen 
der Gesellschaft für Beförderung der Naturwissenschaft zu Frei- 
burg i. B. 1855. No. 12, Zeitschrift für wissenschaftliche Zoo- _ 
logie. Bd. 8. 1856. S. 303.) ausgesprochen wurde, gelang es 
M. Schultze, wie Kölliker sagt, diese Angelegenheit nahezu 
zum Abschluss zu bringen. M. Schultze (über die Endigungs- 
weise der Geruchsnerven und die Epithelialgebilde der Nasen- 
schleimhaut, Monatsberichte der Akademie der Wissenschaften 
zu Berlin. 1856. S. 504) fand nämlich constant in der Regio 
olfactoria in allen Wirbelthierelassen zwei verschiedene, zum 
Theil schon von Eckhard und Ecker gesehene, aber nicht 
völlig richtig aufgefasste und beschriebene Arten von Zellen, 
nämlich: modifieirte eilienlose Epithelialzellen, deren Fortsätze 
durch seitliche Ausläufer öfter mit einander in Zusammenhang 
treten und gegen die bindegewebige Unterlage sich verzweig- 
ten, aber nicht in Verbindung mit den Nerven standen, und 
„zwischen diesen in grosser Zahl andere Zellen von abwei- 
chender Gestalt und eigenthümlicher chemischer Beschaffenheit“, 
welche bestanden „aus einem rundlichen Zellenkörper und zwei 
in entgegengesetzter Richtung abgehenden feinen Fortsätzen, 
von welchen der eine, nach der Peripherie strebende, in :glei- 
cher Höhe mit der freien Fläche der Epithelialzellen endigte, 
der andere nach der bindegewebigen Grundlage der Schleim- 
haut verlief.“ Der letztere war äusserst fein mit regelmässigen 
Varicositäten versehen, und stimmte sowohl im Aussehen als 
in der chemischen Beschaffenheit, soweit sich diese ausmitteln 
liess, überein mit den feinen varicösen Fäden, in welche der 
Nervus olfactorius sich in der Nasenschleimhaut auflöste. Die 
peripherischen Fortsätze dieser eigenthümlichen Zellen (vari- 
cöse Faserzellen, Riechzellen Sch.) reichten bis an die 
freie Oberfläche des Epithels und trugen bei manchen Thieren 
haarähnliche, in das Freie hinausragende Aufsätze. Die Unter- 
suchungen M. Schultze’s, wenn auch von mehreren Seiten 
bekämpft, sind doch in der Hauptsache von Ecker (Henle’s 
Jahresbericht 1856 S. 117) und Kölliker (Handbuch der Ge- 
webelehre, dritte Auflage, S. 679 ff.) bestätigt worden, und in 


Ueber die Endigungsweise der Geschmacksnerven u. s. w. 331 


der Nasenschleimhaut des Frosches sind sie wirklich so leicht 
zu constatiren, dass ein Jeder, der nach den von M. Schultze 
angegebenen Methoden untersucht, ohne Mühe und ohne viel 
Zeitverlust sich von ihrer Richtigkeit überzeugen dürfte. 

Später fand M. Schultze (Ueber die Endigungsweise der 
Hörnerven im Labyrinth, Müller’s Archiv 1858, S. 343), dass 
der Hörnerv im Vorhof und den Ampullen auf eine völlig 
analoge Weise endigte. Er fand nämlich, dass die Nerven in 
den Ampullen und den Otolithensäcken mehrerer Fische, nach- 
dem sie ihre Markscheiden verloren hatten, als nackte Axen- 
eylinder aus der bindegewebigen Grundlage heraustraten, und 
sich zwischen den epithelialen Elementen in feine Fäden ver- 
zweigten.. Zwischen den modifieirten Epithelialzellen standen 
mit den Riechzellen analoge celluläre Bildungen (Hörzellen 
Sch.), deren centrale Ausläufer völlig mit den feinen Fasern, 
in welche die Nervenfasern durch Theilung übergingen, über- 
einstimmten. Ueber die freie Fläche des Epithels auf der Crista 
acustica ragten in die Endolympha lange feine, steife Haare 
hinein, dieM.Schultze jedoch nicht in Verbindung mit Zellen 
sehen konnte. Verschiedene Beobachtungen sprechen dafür, 
dass die Endigungsweise der Hörnerven im Vestibulum und 
den Ampullen der übrigen Wirbelthiere eine ähnliche sei, und 
ist Kölliker u. A. in Betreff der Endigungsweise der Nerven 
in den Ampullen des Ochsen zu Resultaten gekommen (Ge- 
webelehre III. Aufl. 5. 663), welche mit denen von M. Schultze 
übereinstimmen. 

Kurz nachdem Schultze die Endigungsweise der Nerven 
in der Regio olfactoria gefunden hatte, nahm Billroth die 
Zunge des Frosches zur Untersuchung vor, um die Endi- 
gungsweise der Geschmacksnerven aufzusuchen. Die in meh- 
reren Beziehungen interessanten Resultate, welche aus diesen 
Untersuchungen hervorgingen, hat Billroth in zwei Aufsätzen 
veröffentlicht: „Ueber die Epithelialzellen und die Endigungen 
der Muskel- und Nervenfasern in der Zunge, Deutsche Klinik 
Mai 1857. S. 191“ und „Ueber die Epithelialzellen der Frosch- 
zunge, sowie über den Bau der Oylinder- und Flimmerepi- 


22* 


332 Ernst Axel Key: 


thelien und ihr Verhältniss zum Bindegewebe, Müller’s Ar- 
chiv 1858. S. 159.“ 

Leydig (Lehrbuch der Histologie S. 307) hatte gesehen, 
dass die Zellen, welche die Enden der Papillae fungiformes 
der Froschzunge überzogen, von einer anderen Natur waren, 
als die übrigen Zellen der Zunge, indem die Zellen am Rande 
der Papillen ihre Cilien und ihr helles Aussehen verloren und 
einen feinkörnigen Inhalt mit einem Stich in’s Gelbliche be- 
kamen. 

Billroth fand, dass Nerven nur in die Papillae fun- 
giformes aufstiegen, und dass die Nervenfasern dicht unter 
dem Epithel sich zuspitzten, ohne dass er eine Fortsetzung 
von diesem ihrem scheinbaren Ende sehen konnte. Beim Ab- 
heben des Epithels sah er doch einzelne blasse Fibrillen auf 
der Papillenoberfläche, und glaubte er, dass diese Fibrillen die 
Ausgangsenden der Muskel- und Nervenfasern wären. Die 
Zellen der oberen Enden der Papillen fand Billroth durch 
einen dunkleren Inhalt und dadurch von den übrigen deutlich 
unterschieden, dass sie fest sowohl an der Papille als an ein- 
ander adhärirten, weshalb sie auch gewöhnlich im Znsammen- 
hang sich ablösten und schwer zu isoliren waren. Billroth 
glaubte, dass diese Zellen in Zusammenhang mit den Nerven 
ständen. Er sagt: „bringt man diese Zellen aus einander, so 
erkennt man, dass die mittleren die kleinsten sind, und an. dem 
unteren Ende eines gedrungenen Zellenkörpers einen etwas län- 
geren Fortsatz tragen, der in ein kleines Knöpfchen auszugehen 
pflegt. Diese mittleren Zellen halte ich für die Endzellen der 
Nervenfasern, für terminale Ganglienzellen, die man jedoch 
nicht in Zusammenhang, mit den Nervenfasern sehen kann, weil 
die übrigen Epithelialzellen nicht isolirt entfernt werden kön- 
nen, was eben so für die Riechzellen gilt.“ 

Wenn auch die von Billroth ausgesprochene Vermuthung, 
dass diese Zellen in Verbindung mit den Nerven ständen, als 
wahrscheinlich betrachtet werden konnte, so waren dochBill- 
roth’s Beobachtungen zu wenig beweisend, um überzeugend 
sein zu können, und eine Analogie mit den Bildungen in der 
Regio olfactoria hatte Billroth nicht gefunden. In seiner 


Ueber die Endigungsweise der Geschmacksnerven u. s, w. 333 


späteren Abhandlung spricht er sich auch selbst höchst zwei- 
felnd über diesen Zusammenhang aus, den er blos als wahr- 
scheinlich betrachtete, wenn sich die Beobachtungen über die 
Endigungen der Geruchsnerven weiter bestätigen sollten. In 
seinem letzten Aufsatze beschreibt jedoch Billroth die Epithe- 
lialzellen zum Theil richtiger. „Die Zellen hatten eine läng- 
liche Gestalt und einen den Zellenkörper fast ausfüllenden 
Kern. Nach der freien Oberfläche hatten sie theils verästelte, 
an ihren Enden leicht geknöpfte Fäden, theils stäbchenförmige 
Körper, theils trichterförmige membranöse Aufsätze. Nach den 
Papillen zu hatten sie einen Fortsatz, der in ein verästeltes, 
wurzelähnliches Gewebe ausging, durch welches die Zellen 
unter einander in Verbindung standen.“ Die verschiedenen 
Formen, glaubte Billroth, wären durch das Reagens bedingte 
Derivate einer Grundform, die er nicht bestimmen konnte. 

Die interessanten Beobachtungen Billroth’s sowohl über 
die Endigungen der Nerven, als über den Zusammenhang der 
Epithelialzellen mit der bindegewebigen Grundlage, so wie 
auch über die Endigung der verzweigten Muskeln in Bindege- 
webskörpern, waren in hohem Grade geeignet, zu weiteren For- 
schungen anregend zu wirken. 

Fixsen, der durch dieselben zur Untersuchung der Frosch- 
zunge veranlasst wurde, verneint jede Verbindung zwischen den 
Nerven und dem Epithel (De linguae raninae textura. Dorpat 
1857, p. 25). Nach ihm endigen die Nerven entweder stumpf 
oder stumpfspitzig, oder ein wenig kolbenförmig angeschwollen. 
Die Zellen der Papillenenden trennten sich von den übrigen 
nur durch kürzere Fortsätze, und die gelbliche Färbung rührte 
von den in den unterliegenden Gefässen durchschimmernden 
Blutkörperchen her. 

Hoyer (Mikroskopische Untersuchungen über die Zunge 
des Frosches. Müller’s Archiv 1859. S. 481), der die sämmt- 
lichen Beobachtungen Billroth’s sammt den daraus gezogenen 
Consequenzen angegriffen hat, glaubt mit so völliger Sicherheit 
die Endigungsweise der Nerven in den Papillen der Frosch- 
zunge festgestellt zu haben, dass davon Consequenzen für die 
Endigungsweise anderer Nerven zu ziehen wären. Nach ihm 


334 Ernst Axel Key: 


endigt der in eine Papille aufsteigende Nervenast in kurzem 
Abstand vom Epithel, davon getrennt durch eine Lage Binde- 
gewebe, „mit einem etwas gewölbten, scharf begrenzten Ende, 
in welchem die cylindrischen Enden der Nervenfasern dicht 
neben einander liegen, und sich wie eine aus rundlichen Kör- 
perchen gebildete Platte darstellen.“ 

Andere Beobachter haben gesehen, dass die Nervenfasern 
vor ihrer Endigung sich ausbreiten, aber dies Verhältniss er- 
klärt Hoyer als ein Kunstproduct, erzeugt durch den Druck 
des Deckgläsehens. Dass Hoyer, wie er sagt, nach immer 
und immer wiederholten Beobachtungen zu diesen Resultaten 
gekommen ist, scheint mir sehr auffallend. Seine Beschreibung 
wie seine Abbildung stellen nämlich einen optischen Querschnitt 
des Nerven dar, wie man solchen so leicht an jedem feineren 
Nerven bekommt bei fast jeder Biegung desselben, und der ge- 
rade hier so leicht entsteht durch das Auseinanderweichen oder 
die Biegung der Fasern. Hat man ein günstiges Object vor 
sich, so braucht man im Allgemeinen nur den Focus abzuän- 
dern, um zu sehen, dass die Nervenfasern weiter gehen, und 
um die von Hoyer festgestellte Endigung als eine grobe Täu- 
schung darzustellen. Wie oberflächlich Hoyer’s Untersuchun- 
gen gewesen sein müssen, geht ohnedem daraus hervor, dass 
er.sagt, dass die Nervenfasern in den Papillenästen einfach 
conturirt sind, während sie in der That, wie alle anderen Be- 
obachter es gesehen haben, sehr deutlich doppelt conturirt sind, 
und zum grossen Theil ihre doppelten Conturen noch über die 
Stelle hinaus behalten, wo Hoyer glaubt, dass sie endigen. 
Uebrigens sind gerade optische wie mechanische Querschnitte 
gut geeignet, ihre doppelten Conturen zu zeigen. Was das 
Epithelium auf dem Papillenende betrifft, so lässt Hoyer es 
nur aus einem einfachen Lager von Cylinderzellen bestehen, 
welche sich in ihrer Form von den übrigen nur dadurch un- 
terscheiden sollen, dass sie bedeutend schmäler und mit einem 
längeren und schmäleren Fortsatz, der nicht verzweigt ist, 
versehen sind. Die von Billroth beschriebenen Formen 
hatte er wohl gesehen, aber er meint, sie seien theils durch 


Ueber die Endigungsweise der Geschmacksnerven u, s. w. ‚335 


Schrumpfung, theils durch Uebereinanderliegen der Zellen her- 
vorgebracht. !) & 

In der letzten Zeit hat Krause (Anatom. Untersuchungen. 
Hannover 1861. 8. 55) die Nervenendigungen in den Papillen 
der Froschzunge zu verfolgen gesucht, und hat dabei zuweilen 
eine feine Fortsetzung der Nervenfibrille über das scheinbar 
abgestumpfte Ende wahrnehmen können, aber er glaubt, die 
Froschzunge sei kein geeignetes Object, um die zu vermuthen- 
den Endapparate vom Geschmacksnerven aufzusuchen. ' 

Max Schultze, der sich von den Eigenthümlichkeiten des 
Epithels über den Nervenenden in den Papillen überzeugt hatte, 
und der in dem Aussehen und den allgemeinen Verhältnissen 
dieses Epithels viele Aehnlichkeiten mit den Verhältnissen in 
der Regio olfactoria sah, schlug mir vor, während ich bei ihm 


1) Obgleich es nicht meine Absicht ist, in diesem kleinen Auf- 
satze auf die Verhältnisse des Epithels zum Bindegewebe in der Frosch- 
zunge näher einzugehen, kann ich im Interesse der Sache, daHoyer’s 
Angriffe gegen Billroth noch nicht zurückgewiesen worden sind, es 
doch nicht unterlassen, meine Verwunderung darüber zu äussern, dass 
Hoyer nicht wenigstens an den Enden der Papillae filiformes, die in 
das Substrat hineingehenden Zellenfortsätze hat sehen können, und 
dass er sich nicht vom Vorhandensein von Spindelzellen zwischen den 
völlig ausgebildeten Epithelialzellen hat überzeugen können, Verhält- 
nisse, von welchen ein Jeder sich überzeugen dürfte, der denselben 
specielle Studien widmet. 

Was die Endigung der Muskeln in Bindegewebskörpern betrifft, 
so scheint Hoyer diese wirklich gesehen zu haben, da er sagt, dass 
er sich von der Richtigkeit der Behauptung Billroth’s überzeugt 
hätte, dass die Muskelfasern schliesslich in feinste faserige Aeste zer- 
fallen, in welche den Bindegewebskörpern ähnliche Zellen enthalten 
sind“ (op. cit. p. 494) und soweit ich es sehen kann, hat er auch in 
seiner Fig, I. auf einigen Stellen den Uebergang von diesen Fasern 
in Körper abgebildet, die in Aussehen und Feinheit ihrer Ausläufer 
mit den übrigen von ihm abgebildeten Bindegewebskörpern überein- 
stimmen, aber er sucht diese Beobachtung weg zu raisonniren, und 
sagt gefunden zu haben, dass auch die feinsten Aeste contractile Mus- 
kelsubstanz enthalten. 

Von der Richtigkeit der auf diesen Punkt bezüglichen Angaben Bill- 
roth’s habe ich mich wiederholte Male überzeugt. 


336. von Ernst Axel Key: 


in’ dem letzten Sommer arbeitete, eine nähere Untersuchung 
dieser Bildungen vorzunehmen. Da ich fortwährend unter 
Schultze’s Leitung arbeitete, er mir dabei seine Unter- 
suchungsmethoden angab und die Güte hatte, meine Aufmerk- 
samkeit auf ähnliche Bildungen in anderen Organen zu len- 
ken und mir das Material für vergleichende Untersuchungen zu 
liefern, so ist unter solchen Umständen mein eigenes Verdienst 
um die gewonnenen Resultate höchstens das einiger Geduld 
und Ausdauer, welche so feine Untersuchungen immer in An- 
spruch nehmen. 

Das Epithel. Die Seiten und die oberen Ränder der 
eylindrischen, gegen ihre Enden anschwellenden Papillae fun- 
giformes werden von cilientragenden Cylinderzellen bekleidet, 
welche in ihrer Natur und ihrem Aussehen mit den übrigen 
Epithelialzellen der Oberfläche der Froschzunge übereinstim- 
men. «An den Basen und unteren Theilen der Papillen stehen 
diese Zellen in einem einfachen Lager und grenzen sich ziem- 
lich scharf gegen die Unterlage ab. Näher den Enden der 
Papillen dagegen liegen mehrere Spindelzellen zwischen die 
übrigen hineingeschoben und an dem Rande selbst sind diese 
Spindelzellen sehr zahlreich vorhanden, Die Zellen tragen hier 
auch im Allgemeinen lange Fortsätze, die in die bindegewebige 
Grundlage hineinlaufen. 

Rings um die wie quer abgeschnittenen Papillenenden bil- 
det dies Epithel einen Kranz von cilientragenden Zellen, gegen 
welche das mehrerwähnte eigenthümliche,  cilienlose Epithel, 
welches von diesem Kranz eingefasst wird, und den übrigen 
Theil des Papillenendes bekleidet, sich scharf abgrenzt (S. Fig. 
I u. 4). Untersucht man dies Epithel frisch in Humor aqueus, 
so zeichnet es sich, ausserdem dass es cilienlos ist, durch seine 
gelbliche Färbung und feinkörnigeren, eine geringere Durch- 
sichtigkeit bedingenden Zelleninhalt mit zerstreuten gröberen 
glänzenden Körnern aus, wozu noch kommt, dass die Grenzen 
seiner einzelnen Elemente weit undeutlicher und unvollständi- 
ger ‚hervortreten, als die der Elemente des umgebenden Epi- 
thels. Sieht man ‚dies Epithel dabei ‘von der Seite her, so 


Ueber die Endigungsweise der Geschmacksnerven u. s. w. 337 


findet man auch bei dieser Untersuchungsmethode, dass es 
gleichsam aus zwei Abtheilungen besteht, einer äusseren, worin 
eylindrischeZellenkörper, und einer inneren, worin mehrere kern- 
ähnliche Bildungen mehr oder minder deutlich hervortreten, 
Nachdem das Präparat einige Stunden in Humor aqueus gele- 
gen hat, treten im Allgemeinen die Zellenconturen deutlicher 
hervor, und man kann dann oft bei genauer Beobachtung Aus- 
läufer sehen, die von den Zellenkörpern verlaufen und an der 
Grenze der Unterlage in mehrere Aeste zerfallen (Fig. 1). 

Um dies Epithel näher studiren zu können, muss man es 
indessen von dem übrigen Epithel isoliren und es in seine ein- 
zelnen Elemente zerlegen, was viele Schwierigkeiten macht. 
Bei allen den Präparationsmethoden, bei welchen die Zunge 
erhärtet wird, um feine Schnitte davon machen zu können, 
werden die Elemente des Epithels so verändert, dass man über 
ihren wirklichen Bau kein sicheres Urtheil bekommen kann, 
so bei der Erhärtung in stärkeren Lösungen von Chromsäure, 
in Alkohol oder Holzessig, wie beim Trocknen der Zunge. 
Die einzigen von den von mir angewendeten Untersuchungsme- 
thoden, bei welchen die Elemente gut erhalten und auch leichter 
isolirbar werden, sind Macerationen in sehr dünnen Lösungen 
von Chromsäure (!/;—!/, Gran auf die Unze Wasser, wie M. 
Schultze sie braucht) oder in stärkeren Lösungen von Kali 
bichromieum, wovon ein Concentrationsgrad von 4 Gran auf 
die Unze am zweckmässigsten scheint. Bei Anwendung’ der 
Chromsäurelösungen muss man schon in den ersten Tagen un- 
tersuchen, bei Anwendung von Kali bichromicum kann man 
damit länger warten. 

Bereitet man sich von einer auf diese Weise behandelten 
Zunge Querschnitte mit einer Scheere und pinselt das Epithel 
ab, so löst sich das übrige Epithel ziemlich vollständig ab, 
wobei dessen einzelne Elemente auseinander fallen oder nur in 
kleineren Gruppen an einander haften bleiber, während das 
eigenthümliche Epithel der breiten Papillenenden im Allge- 
meinen fest sitzen bleibt, wie Billroth sagt wie „eine Krone 
den Papillen aufsitzend*, Ist es gelungen das übrige Epithel 


338 Ernst Axel Key: 


wegzuschaffen, so sieht man, dass diese Epithelialkrone auf 
einem erhöhten Plateau des Papillenendes sitzt.. Rings um 
dieses Plateau läuft in dem Rande der Papille eine Einschnü- 
rung oder eine Furche in der bindegewebigen Grundlage. In 
dieser Furche haben die cilientragenden Randzellen ihre ' Be- 
festigung, und gewöhnlich bleiben da nach. der Abpinselung 
noch mehrere Spindelzellen haften (Fig. 2 u. 5). 

Lässt man verdünnte Natronlauge auf eine ähnliche Potölii 
einwirken, so findet man, dass der central aufsteigende Ner- 
venast in einem kurzen Abstande von der Oberfläche: sieh mit 
seinem Neurilem schalenförmig erweitert, und dass diese scha- 
lenförmige Erweiterung des Nerven mit ihrem. oberen Theil 
dieselbe Ausdehnung hat, wie das eigenthümliche Epithel und 
gerade das Plateau bildet, auf welchem dies Epithelium, wur- 
zelt (Figg. 3 u. 4). Auf diese Weise hat das eigenthümliche 
Epithel der Papillenenden die erweiterte Nervenhülle selbst als 
Substrat und verdient wohl schon dadurch den Namen Nerven- 
epithel, während der rings umgebende Kranz von gewöhnlichen 
Epithelialzellen seine Befestigung in der umgebenden Furche 
hat, mit gewöhnlichem Bindegewebe als Substrat. 

Das Zerlegen des Epithels in dessen einzelne’ Elemente ist 
mir auf eine befriedigende Weise nur durch eine ziemlich müh- 
same Präparation mit feinen Nadeln. unter einem Dissections- 
mikroskop gelungen. Nachdem ich das übrige Epithel so voll- 
ständig, wie möglich weggeschafft hatte, sammelte ich dabei 
eine grössere Menge breiter Papillen für sich auf einem Ob- 
jectglas auf und zerzupfte dann weiter das Nervenepithel. 

Die cellulären Elemente in diesem Epithel sind, gleichwie 
in. der Regio olfactoria, von zwei verschiedenen Arten, nämlich 
modificirte Epithelialzellen, die nicht in Zusammenhang; mit den 
Nerven stehen, und dazwischen eingelagerte eigenthümliche 
celluläre Bildungen, die nervöse Endbildungen sind. Die mo- 
dificirten Epithelialzellen stehen in einer einfachen Lage und 
bestehen aus cylindrischen Zellenkörpern, die fast in gleicher 
Höhe mit einander in verschmälerte Fortsätze übergehen, welche 
nach der von der Nervenschale gebildeten Grundlage fortlaufen, 
und hier oder schon etwas früher in mehrere Zweige -sich ver- 


Ueber die Endigungsweise der: Geschmacksnerven u. s. w. 339 


ästeln, die mit einander anastomosiren, hie und da deutliche 
Kerne enthalten, und über der ganzen Oberfläche des Sub- 
strates ein zusammenhängendes Netzwerk bilden (Fig. 9). 
Durch quere Verbindungsfäden stehen die Fortsätze oft mit 
einander in Verbindung, schon bevor sie sich in ihre Endzweige 
auflösen. Unmittelbar bevor der Zeilenkörper in seinen Fort- 
satz übergeht, hat er oft eine kleine Erweiterung, und enthält 
da einen runden, homogen aussehenden Kern mit einem glän- 
zenden Kernkörper. Der Zelleninhalt selbst zeigt sich, wie 
vorher bemerkt wurde, frisch in Humor aqueus, schwach gelb- 
lich ‘gefärbt und sehr feinkörnig mit zerstreuten grösseren Kör- 
nern, Nach Einwirkung von Chromsäure oder Kali bichromi- 
cum zeigen sich die Körner oft wie in Reihen angeordnet, mit 
etwas helleren Zwischenreihen. An ihrem oberen Ende be- 
sitzen diese Zellen nicht, wie Cylinderzellen im Allgemeinen, 
einen breiten hellen Begrenzungssaum, sondern scheinen, 
wie es M. Schultze auch an den Zellen in der Regio olfac- 
toria beobachtet hat, nur von einer äusserst dünnen Membran 
abgegrenzt zu sein, wenn überhaupt irgend eine Membran hier 
vorhanden ist. Nach Behandlung mit Chromsäurelösungen 
scheint das obere Ende oft wie zusammengefallen, als ob der 
obere Theil des Zelleninhaltes herausgetreten wäre. Frisch in 
Humor aqueus untersucht und schräg von oben gesehen zeigen 
sich die Zellenenden etwas gewölbt und die Zellen selbst in 
ihrem oberen Theile sechseckig und von einer feinen hyalinen 
Zwischensubstanz zusammengehalten. Nach Einwirkung von 
Chromsäure sieht man nichts mehr von dieser . Zwischen- 
substauz. j 

Zwischen den Fortsätzen der Epithelialzellen liegen in ver- 
schiedener Höhe eine Menge von eigenthümlichen cellulären 
Bildungen, die in der Form wie im Aussehen und in ihren 
Verhältnissen zu Reagentien mit den Riechzellen in der Regio 
olfactoria und mit den Hörzellen in den Ampullen überein- 
stimmen. Sie bestehen aus einem rundlichen oder mehr ellip- 
tischen Zellenkörper mit einem peripherischen und einem cen- 
tralen Ausläufer. Der glänzende Zellenkörper selbst wird fast 
völlig von einem rundlichen Kern mit einem glänzenden Kern 


540 "Ernst Axel Key: 


körper eingenommen. Der peripherische Fortsatz ist stäbchen- 
förmig, glänzend und läuft zwischen den Körpern der Epithe- 
lialzellen gegen die freie Oberfläche des Epithels, welche ein 
grosser Theil von diesen Fortsätzen erreicht, während andere 
schon etwas früher aufzuhören scheinen. An ihren Enden sind 
die Fortsätze oft ein wenig knopfförmig angeschwollen, und nach 
Behandlung mit dünnen Lösungen von Chromsäure oder mit 
Kali bichromicum findet man oft auf dem Ende eine feine 
dunklere haarförmige Bildung, die wie aus dem Centrum 
des Fortsatzes herauszugehen scheint (Fig. 11). Dass diese 
Bildungen im frischen Zustande vorhanden sind, ist allerdings 
schwer bestimmt zu behaupten, so lange man nicht bei Unter- 
suchungen in Humor aqueus dieselben gesehen hat, und es 
wäre möglich, dass sie vom Reagens hervorgebracht wären 
entweder durch Schrumpfung des Endes des-Fortsatzes oder 
durch Hervorquellung aus dessen Inneren; aber in Betracht, 
dass diese Bildungen am häufigsten sich zeigten, wenn die 
feinsten Elemente im Allgemeinen am besten erhalten waren, 
so halte ich es für wahrscheinlich, dass sie normal vorkom- 
mende Bildungen seien. Dass sie aber nicht im frischen Zu- 
stande über die Oberfläche des Epithels hervorragen, davon 
glaube ich mich durch Untersuchungen in Humor aqueus völlig 
überzeugt zu haben. Dagegen scheint mir ihre Bedeutung 
darin zu liegen, dass sie Verlängerungen von den peri- 
pherischen Fortsätzen sind, welche in ganzer Dicke die 
Oberfläche nicht erreichen. Dafür spricht, dass ich sie am 
häufigsten an kürzeren Fortsätzen gesehen habe, und einmal 
habe ich einen Stäbchenfortsatz gesehen, der an der Mitte eines 
Epithelialzellenkörpers aufhörfe, von dessen Ende aber ein 
feines Haar bis an das obere Ende des Zellenkörpers fortlief 
(Fig. 7b). Ob diese haarähnlichen Bildungen Fortsetzungen 
von einer centralen Bildung in den Stäbchenfortsätzen seien, 
ist eine andere Frage, die von grossem Interesse ist, aber die 
ich nicht zu entscheiden vermag, da ich nicht eine centrale 
Bildung direct habe beobachten können. Einige Male habe 
ich wohl im Inneren dieser Fortsätze einen dunkleren, von 
helleren Zwischenräumen unterbrochenen Inhalt gesehen (Fig. 


Ueber die Endigungsweise der Geschmacksnerven u. s. w. 341 


11 g.), wie man es schon mehrfach in den Retinastäbehen be- 
obachtet hat, und wie ich es auch sowohl in den Stäbchen 
der Retina des Menschen und von Perca, als auch in den pe- 
ripherischen Fortsätzen der Riechzellen des Frosches gesehen 
habe, aber aufeinepraeexistirende centrale Bildung lassen diese Er- 
scheinungen nicht sicher schliessen, da sie durch das Reagens her- 
vorgerufene Coagulationserscheinungen sein können. Wenn sie 
aber hier auch nicht als Beweis für eine praeexistirende centrale 
Bildung gelten können, so zeigen sie doch eine gewisse Ueber- 
einstimmung im Bau und in der Zusammensetzung von den 
genannten verschiedenen Elementen, was von Interesse ist. 

Bildungen, welche mit den von M. Schultzein der Regio 
olfactoria des Frosches und auf der Crista acustica der Fische 
gefundenen langen steifen, aus dem Epithel weit hervorragenden 
Haaren völlig übereinstimmen sind nicht vorhanden. Nach Be- 
handlung der Zunge mit dünnen Chromsäurelösungen findet man 
oft die stäbehenförmigen Fortsätze mit ihren Enden selbst län- 
ger oder kürzer herausgeschoben, bisweilen auch mit varicösen 
Anschwellungen versehen, aber im frischen Zustande ragen sie 
nie über die Oberfläche des Epithels hinaus. 

An der Oberfläche des Epithels wird von den Epithelial- 
zellenenden und den Enden der stäbchenförmigen Fortsätze ein 
Mosaik gebildet, das noch schwerer aufzufassen ist, als an an- 
deren ähnlichen Organen. Um dieses Mosaik zu sehen, scheint 
mir die Untersuchung in Humor aqueus nicht so vortheilhaft, 
weil die tiefer liegenden Theile zu stark durchschimmern und 
die scharfe Auffassung der Oberfläche beeinträchtigen.  Be- 
stimmter tritt das Mosaik hervor nach Behandlung mit Kali 
bichromieum und besonders nach sehr kurzer Einwirkung von 
dünner Natronlauge. Die Enden der Stäbchenfortsätze treten 
zwischen den sechseckigen oder nach Quellung mehr rundlichen 
Zellenenden als sehr kleine Ringe hervor. Betrachtet man die 
Oberfläche schräg, so kann man oft von diesen Enden die Fä- 
den selbst länger oder kürzer einwärts verfolgen. Sie stehen 
zerstreut in einfachen Reihen zwischen den Zellen, nur hie und 
da in kleinen Gruppen zusammen, und in der Mitte etwas 
dichter als an der Peripherie (Fig. 6). 


EB | "Ernst Axel Key: 


Die Stäbehenfortsätze gehen entweder allmählig sich erwei- 
ternd in ihre Zellenkörper über, oder der Uebergang ist mehr 
plötzlich; auch, — was ich nur ein paar Mal gesehen habe, — 
verschmälert sich der Fortsatz zu einem sehr feinen Faden, 
der in den Zellenkörper übergeht. 

Der centrale Fortsatz des Zellenkörpers ist ein äusserst 
feiner Faden, der gegen die Nervenschale verläuft und mit re- 
gelmässigen Varieositäten versehen ist. Sowohl im Aussehen 
als in den Eigenschaften stimmen diese Fäden mit den cen- 
tralen Fortsätzen der Riechzellen oder mit feinsten varicösen 
Nervenfasern überein. Wie diese halten sie sich nur in be- 
stimmten Concentrationsgraden der Chromsäure oder, wie 'es 
scheint, fast noch besser in Lösungen von Kali bichromicum 
(4 Gr. auf die Unze am besten), und nur mit guten Linsen 
sind sie deutlich zu sehen. Ä 

Durch die Lagerung der geschilderten Elemente übereinan- 
der werden, wie vorher bemerkt wurde, zwei Abtheilungen in 
dem Epithel gebildet, nämlich eine äussere oberflächliche, worin 
die Körper der Epithelialzellen und die Stäbchenfortsätze der 
Faserzellen stehen, und eine innere, worin die Ausläufer der 
Epithelialzellen und die Zellenkörper der varicösen Faserzellen 
sich befinden. Die beiden Abtheilungen könnten versuchs- 
weise mit der Stäbchenschicht und der äusseren Körnerschicht 
in der Retina verglichen werden. 

Die Grenze zwischen den beiden Schichten ist wohl nicht 
durch eine bestimmte Membran bezeichet wiein der Retina durch 
die Membrana limitans externa, aber in der inneren Schicht 
liegen die Elemente in einer feinen Zwischensubstanz einge- 
bettet, welche nach Einwirkung von dünnen Chromsäurelösun- 
gen ein feinkörniges Aussehen mit helleren sich vielfach ver- 
zweigenden und mit einander sich verbindenden Fäden zeigt 
(Fig. 7 und 8). Seitliche Ausläufer von den Epithelialzellen- 
Fortsätzen gehen theils in diese Fäden über, theils lösen sie 
sich direct in die Zwischensubstanz auf. An der Grenze zwi- 
schen den beiden Schichten hört die Zwischensubstanz auf, 
ohne eine bestimmte Begrenzungsmembran zu haben. Jene 
kommt am besten zum Vorschein bei Zerzupfung nach Mace- 


Ueber die Endigungsweise der Geschmacksnerven u. s. w. 343 


ration in den dünnen Chromsäurelösungen, und Untersuchung 
ohne alle Reagentien, wie man im Allgemeinen bei der Unter- 
suchung des Epithels alle Reagentien zu vermeiden hat, und . 
am besten in derselben Flüssigkeit untersucht, worin die Zunge 
aufbewahrt gewesen ist. 

Die Nerven. Um Gewissheit darüber zu bekommen, dass 
die centralen varicösen Ausläufer der Stäbchenzellen in Verbin- 
dung mit den Nervenfasern stehen, war es nothwendig, wie 
viele Analogieen und andere Verhältnisse auch dafür sprachen, 
wenigstens den Uebergang der Nervenfasern selbst in ähnliche 
varicöse Fasern zu sehen und, wenn möglich, auch den Zu- 
sammenhang direct zu beobachten, 

Wie vorher bemerkt wurde, steigt in der Mitte von einer 
jeden der breiten Papillen ein Nervenstamm, von seinem Neu- 
rilem umgeben, in die Höhe, und geht an dem Ende der Pa- 
pillen in eine schalenförmige Erweiterung über, auf welcher 
das geschilderte Epithel wurzelt. Ein jeder von diesen Ner- 
venstämmen enthält ungefähr zehn doppelt conturirte Nerven- 
fasern. Das Neurilem ist äusserst durchsichtig und tritt erst 
nach Behandlung mit Säuren oder Alkalien deutlich hervor, 
und zeigt dann ein glänzendes Aussehen und in ziemlich 
grosser Zahl eingestreute Kerne. An optischen Querschnitten 
zeigt es oft sehr deutlich, besonders nach stärkerer Einwirkung 
von Essigsäure, eine doppelt conturirte membranähnliche Be- 
grenzung gegen das umgebende Bindegewebe. Das Neurilem 
bildet die Grundmasse der Nervenschale und es hat hier eine 
sehr schwache gelbliche Färbung, und nähert sich dadurch in 
seinem Aussehen der Zwischensubstauz in den Knorpeln. In 
seiner Widerstandsfähigkeit gegen Säuren und Alkalien nähert 
es sich dem elastischen Gewebe. Macerirt man ein Präparat 
stark in Essigsäure, so quillt die Nervenschale fast gar nicht auf, 
während das eigentliche Bindegewebe der Papillen oft so be- 
deutend aufquillt, dass die Papille im Ganzen nur eine conische 
Erhöhung bildet, an deren Spitze dann die wenig veränderte 
Nervenschale sitzt. Von Interesse ist in dieser Hinsicht, dass 
die Epithelialzellen selbst in dem Nervenepithel auch eine grös- 
sere Widerstandsfähigkeit gegen Essigsäure zeigen, und oft in 


344 a Ernst Axel Key: 


N 


mehr oder. minder veränderten Formen an der Nervenschale 
haften bleiben; lange nachdem die übrigen Epithelialzellen von 
, der Säure aufgelöst worden sind. 

Das Studium der feineren Verhältnisse der Nervenfasern.i in 
der Nervenschale wird in hohem Grade dadurch erschwert, 
dass 8 bis 12 Muskelfasern in jeder Papille rings um den Ner- 
venstamm aufsteigen, und nachdem sie im Allgemeinen unge- 
theilt bis in die Nähe des Endes verliefen, sich hier in mehrere 
feine Zweige theilen, die rings um die Nervenschale sich aus- 
breiten (Fig. 2). Auch durch die Gefässschlinge, welche in 
ihrer einfachsten Form einen. Kranz um die Nervenschale bil- 
det (Fig. 3d), wird die Deutlichkeit sehr beeinträchtigt. Die- 
ser Verhältnisse ungeachtet ist doch die Untersuchung der un- 
getheilten: Papillen in Humor aqueus lohnend. Man kann bei 
derselben bei günstigen Lagerungen der Papillen sehen, dass 
die Nervenfasern von einander divergiren, und dass da, wo die 
Nervenfasern sich zuspitzen und scheinbar enden, ein feiner 
heller Faden von dem scheinbaren Ende fortläuft als Fortsatz 
des Axeneylinders. Einen Theil der Fasern sieht man in queren 
oder schrägen Durchschnitten. In dem obersten Theil der 
Schale treten gewöhnlich eine Menge glänzender Körner her- 
vor, die bisweilen in Reihen angeordnet zu sein scheinen 
(Fig. 1.c.). 

Feine Längsschnitte der Papillen können wohl in vielen 
Beziehungen belehrend sein, besonders von in Alkohol oder in 
Kali bichromieum erhärteten Zungen, aber völlig überzeugende 
Präparate über die feineren Verhältnisse der Nervenenden habe 
ich nur durch Zerzupfung unter dem Mikroskop gewinnen kön- 
nen. Ich habe dabei erst so vollständig wie möglich das um- 
gebende Gewebe mit Muskeln und Gefässen weggeschafft, und 
nachdem ich so den Nervenstamm mit dessen schalenförmiger 
Erweiterung, und das darauf stehende Epithel isolirt hatte (was 
allerdings nicht vollständig gelingt, da besonders die Muskeln 
sehr schwer sich ganz entfernen lassen), habe ich mehrere 
solche Papillen gesammelt und das Nervenende im Zusammen- 
hang, mit dem Epithel weiter zerlegt. Präparate von mit Kali 
bichromicum behandelten Zungen haben sich als die besten ge- 


Ueber die Endigungsweise der Geschmacksnerven u. s. w. 345 


zeit. Nach kurzer Einwirkung von dünner Essigsäure treien 
die nervösen Elemente in der Nervenschale gewöhnlich deut- 
licher hervor. = | 

Einige von den doppelt conturirten Nervenfasern verlieren, 
sobald sie in die Nervenschale eintreten, ihre Markscheide und 
“Schwann’sche Scheide und setzen sich als nackte Axencylin- 
der fort. ‘Andere dagegen behalten ihre doppelten Conturen 
bis in die Nähe des Epithels, wo sie sich dann plötzlich zu- 
spitzen und in nackte Axencylinder übergehen. In dem aller- 
obersten Theil der Nervenschale sind keine doppelt conturirte 
Fasern mehr zu sehen. Die tiefer oder höher entstandenen 
Axencylinder verlaufen alle gerade oder schräg gegen das Epi- 
thel und dabei können sie sich ein- oder, wie ich es ein paar 
Mal gesehen zu haben glaube, auch zweimal theilen. Dass 
nicht alle Axencylinder schon in der Nervenschale sich theilen, 
davon habe ich mich, wie ich glaube, völlig überzeugt. Ein 
Theil von den Axencylindern zerfallen schon in der Nerven- 
schale in eine Zahl feinster varicöser Fäden, die völlig mit 
den centralen Ausläufern der Faserzellen übereinstimmen. In 
den Fällen, wo ich mit völliger Deuflichkeit diesen Uebergang 
in varicöse Fäden habe sehen können, hatten die Axencylinder 
unmittelbar vorher sich gabelförmig getheilt (Fig. 5). Die 
feinen varieösen Nervenfäden sowohl, wie die Axencylinder, 
welche nicht schon in der Nervenschale in solche Fäden sich 
getheilt haben, treten alle in die innere Abtheilung des Epi- 
thels hinein (Fig. 4). 

Dass ‘die varicösen Fäden mit den centralen Ausläufern der 
Faserzellen sich verbinden, daran kann man nicht zweifeln, 
wenn man sich von der völligen Uebereinstimmung im Aus- 
sehen und in den chemischen Eigenschaften dieser Bildungen 
überzeugt hat, und durch einen glücklichen Zufall konnte ich 
das erste Mal, als ich deutlich den Zerfall eines Axencylinders 
in varıcöse Fäden sah, auch direct beobachten, wie einer von 
diesen Fäden in eine varicöse Faserzelle überging (Fig. 5). 

Was die’ Axercylinder betrifft, die üngetheilt in das Epithel 
hineinlaufen, so ist es mir niemals auf eine völlig befriedigende 
Weise gelungen, ihren Uebergang in varieöse Fäden direct zu 

Reichert’s u, du Bois-Reymond’s Archiv. 1861. 23 


346 Ernst Axel Key: 


‚sehen, aber einmal habe ich eine Faserzelle gesehen, die direct 
auf dem Ende solch eines Axencylinders sass. Der Axency- 
linder sandte dabei zwei kurze Endzweige nach den Seiten, die 
vielleicht in varicöse Fäden übergingen (Fig. 7a). Bei vor- 
sichtigem Abtrennen des Epithels von der Grundlage sah ich 
öfter kurz abgerissene Enden von. Axencylindern . über die 
Oberfläche herausragen, aber immer erschienen diese wie quer 
abgerissen und ungetheilt (Fig. 3).. Einige Mal habe ich Fä- 
den gesehen, die wie aus der bindegewebigen Grundlage aus- 
gezogen an dem abgetrennten Epithel anhafteten und in ihrem 
Aussehen so sehr mit Axencylindern übereinstimmten, dass: sie 
dafür gehalten werden konnten, aber die mit ein oder auch 
mit zwei kernhaltigen Erweiterungen versehen waren, was ich 
doch nie an Axencylindern in der Nervenschale selbst habe 
sehen können. | 

Aus dem Mitgetheilten geht hervor, dass die Nerven 
in den breiten Papillen inder Froschzunge schliess- 
lich in feinste varicöse Fäden übergehen, die.als 
Endbildungen eigenthümliche celluläre Bildungen, 
die wohl den Namefi Geschmackszellen verdienen, 
zwischen den Epithelialzallen an ihrem Ende tra- 
gen, in schönster Analogie mit dem, was schon. vorher in. an- 
deren höheren Sinnesorganen nachgewiesen ist.. Die Ueberein- 
stimmung, die sich so ‘herausgestellt hat, darf wohl auch als 
eine Controlle für die Richtigkeit der Resultate gelten. 

Was die oben erwähnte eigenthümliche Bildung betrifft; 
dass das Nervenepithel an der oberen Fläche der breiten Zun- 
genpapillen des Frosches auf einem Bindegewebe ruht, welches 
als Ausbreitung des Neurilems der Papillennerven aufzufassen 
ist, so steht auch diese Bildung wohl nicht so ganz allein da. 
Wenn man einen Vergleich mit der Retina machen darf, so 
ist auch da das Substrat der peripherischen Nervenendbildun- 
gen, das Bindegewebe der Retina, eine unmittelbare Fortsetzung 
des Neurilems; aber von besonderem Interesse. ist das Verhält- 
niss der Chorioidea zu dem Neurilem des ‚Opticus., Löwig 
(Beiträge zur Morphologie des Auges, in. den Studien des Physio- 
logischen Instituts zu Breslau, herausgegeben von K: B. Rei- 


Ueber die Endigungsweise der Geschmacksnerven u. s. w. 347 


chert, Leipzig 1858. S. 127) giebt richtig an, dass Lamellen 
von dem Neurilem des Opticus zur Verbindung mit der Cho- 
rioidea abgegeben werden; aber im Allgemeinen scheint es mir, 
dass diese Verhältnisse bisher nicht völlig richtig aufgefasst 
seien. Ich habe mich an feinen Schnitten, ‘durch die Ein- 
trittsstelle des Optieus, davon überzeugt, dass das Grund- 
gewebe der Chorioidea eine unmittelbare Fortsetzung des 
eigentlichen Neurilems des Opticus ist. Hierdurch, wird das 
Verhältniss. der Chorioidea zu der. Retina als peripherischem 
Endapparat des Sehnerven ein sehr’ inniges, wie denn der ana- 
tomische Zusammenhang beider Häute aus mehreren Thatsachen 
sehr deutlich hervorgeht. ‘Ich erinnere nur an die Ora serrata 
und Pars ciliaris retinae und an das Pigmentepithel der Cho- 
rioidea, welches auch zur Retina gerechnet werden könnte. 
Eigenthümlich ist hier allerdings die umgekehrte Lage, in wel- 
cher die peripherischen Endbildungen, die Stäbchen und Zapfen, 
welche als Analogie der Epithelialbildungen in anderen Or- 
ganen betrachtet werden könnten, sich zu der Chorioidea be- 
finden, ein Verhältniss, worüber die Entwickelungsgeschichte 
wohl einige Aufklärung geben könnte. Dass bei den Cepha- 
lopoden (Heinr. Müller, Anatomisch-physiologische Untersu- 
chungen über die Retina, Leipzig 1856. S. 102) das Verhält- 
niss ein umgekehrtes ist, indem die Stäbchenschicht bei diesen 
Thieren nach innen liegt, und dass eine Pigmentlage. bei dem- 
selben in der Retina selbst auftritt, ist von Interesse, da die 
Analogieen zwischen den Retinabildungen und den Bildungen 
in den anderen höheren Sinnesorganen hier deutlicher hervor- 
zutreten scheinen. Eine nähere namentlich entwickelungsge- 
schichtliche Untersuchung über das Verhältniss von der Cho- 
rioidea zum Sehnerv und zur Kebna wäre hier sicherlich: sehr 
un. 


348 Ernst Axel Key: 


Erklärung der Abbildungen. 


Fig. 1. Optischer Längsschnitt des oberen Endes einer Papilla 
fungiformis bei Untersuchung in Humor aqueus. a. Das_ cilienlose 
Nervenepithel mit undeutlich hervortretenden Elementen, aber doch 
eine äussere Abtheilung mit langgestreckten Zellenkörpern und eine 
innere mit rundlichen Elementen zeigend. b. Der umgebende Kranz 
von gewöhnlichen cilientragenden Epithelialzellen. Zwischen den’ aus- 
gebildeten Zellen treten kleinere spindelförmige Zellen heryor. c. Die 
schalenförmige Erweiterung des oberen Endes des Nerven, worauf das 
Nervenepithel steht. Von den zugespitzten scheinbaren Enden der ein- 
zelnen Fasern sieht man die nackten Axencylinder gegen das re 
fortlaufen. Einige Fasern sieht man im Querschnitt. 

Fig. 2. Eine Papille nach Maceration in Kali bichromicum und 
vollständiger Abpinselung des Epithels und nach Färbung mit Karmin 
gezeichnet. Das Nervenepithel (a) ist vollständig haften geblieben, 
während die umgebenden cilientragenden Kranzzellen fast vollständig 
abgelöst sind. Nur bei (b) ist eine von diesen noch festsitzend. Die 
spindelförmigen Zwischenzellen oder Subepithelialzellen des Kranzepi- 
thels (c) sind zum grossen Theil zurückgeblieben und verhindern das 
deutliche Hervortreten von den nach innen befindlichen Bildungen. 
Central in der Papille steigt der Nervenstamm (d) mit seinem Neuri- 
lem empor und erweitert sich am oberen Ende der Papille in die von 
den Spindelzellen zum grössten Theil verdeckte Nervenschale.. Um 
den Nervenstamm stehen die Muskelfasern, die am oberen Ende der 
Papille in mehrere Zweige zerfallen, welche rings um die Nerven- 
schale sich ausbreiten. Die Gefässe u. s. w. sind in der Zeichnung 
weggelassen. 

_ Fig. 3. Oberer Theil einer Papille nach vollständiger Abpinse- 
lung des Epithels.. a. Das in Zusammenhang sich ablösende Nerven- 
epithel. b. Der Nerv mit seiner schalenförmigen Enderweiterung. Man 
sieht einzelne Axencylinder aus der Nervenschale heraustreten, aber 
alle sind ziemlich dicht an der Oberfläche abgerissen. Bei c die Ein- 
schnürung oder Furche am Rande der Papille, worin das Kranzepithel 
seine Befestigung hat und, wo einige Spindelzellen noch haften. d. Die 
Gefässschlinge, so wie sie in ihrer einfachsten Form, einen horizontalen 
Kranz um die Nervenschale a. sich zeigt. Die übrigen Details 
sind weggelassen. 

Fig. 4 Schematischer Längsschnitt einer Papille. Die Deutung 
der einzelnen Details geht aus den Erklärungen der übrigen Figuren 
hervor. 

Fig. 5. Nach einem Zerzupfungspräparat gezeichnet, ebenso alle 
die nachfolgenden Figuren, mit Ausnahme der Figur 6. (a) Zwei 
Epithelialzellen aus dem Nervenepithel mit Geschmackszellen (b) zwi- 
schen ihren verzweigten Fortsätzen. (ec) Der obere Theil einer Ner- 


Ueber die Endigungsweise der Geschmacksnerven u. s. w. 349 


venfaser, der sich nach Verlauf seiner Markscheide als nackter Axen- 
eylinder fortsetzt. Nach gabeliger Theilung zerfällt der Axencylinder 
in mehrere varicöse Fäden, von denen man einen in eine Geschmacks- 
zelle übergehen sieht. 

Fig. 6. Das Mosaik in der Mitte der Oberfläche des Nervenepi- 
thels nach Behandlung mit Kali bichromicum und nach kurzer Ein- 
wirkung von dünner Natronlauge. Zwischen den grösseren Ringen 
von den rundlich' aufgeschwollenen, im frischen Züstande sechseckigen 
Enden der Epithelialzellen treten die kleinen Ringe der Stäbchenfort- 
sätze der Geschmackszellen hervor. 

Fig. 7. Epithelialzelle mit anhaftenden Geschmiackszellen. Bei a 
sitzt eine Geschmackszelle direct auf einem Axencylinder an der Stelle, 
wo er sich gabelförmig theilt. b. Geschmackszelle, von dessen früh 
aufhörendem Stäbchenfortsatze sich ein feines Haar bis auf das obere 
Ende der Epitheliälzelle fortsetzt. Zwischen den Geschmackszellen 
tritt die körnig aussehende Zwischensubstanz hervor. | 

Fig. 8. Drei Epithelialzellen, zwischen deren Fortsätzen, die sich 
mit einander verbinden, die körnige Zwischensubstanz deutlich hervor- 
tritt, in welche die hier zum grössten Theil weggefallenen Geschmacks- 
zellen eingebettet liegen. 

Fig. 9. Eine kleine Gruppe von Epithelialzellen mit netzförmig 
sich mit einander verbindenden Fortsätzen.. Bei a liegt ein Kern in 
. einem von den Zweigen. 

Fig. 10. Epithelialzellen mit anhaftenden Geschmackszellen von 
verschiedenen Formen und in verschiedenen Stellungen. 

Fig. 11. Isolirte Geschmackszellen von verschiedenen Formen, 
nach Einwirkung von Kali bichromicum oder dünner Chromsäurelö- 
sung. Bei’a,b, ce tragen die kurzen Stäbchenfortsätze haarähnliche 
Verlängerungen; bei € ist der Stäbchenfortsatz varicös angeschwollen; 
bei f ist der Fortsatz durch einen feinen haarähnlichen Faden mit dem 
Zellenkörper verbunden; bei g sieht man in dem Stäbchenfortsatz einen 
dunkleren, von helleren Zwischenräumen unterbrochenen Inhalt. 

Die Figuren sind im Allgemeinen bei 350 fächer Vergrösserung, 
die Figuren 5 und 7 bei 420facher an 


3 5 ' Ludimar Hermann: 


Beitrag zur Erledigung. der Tonusfrage. 


Von an BEN 
' Dr. Lupımar HERMANN in Berlin. 


Im fünften Heft des Jahrgangs 1860 dieses Archivs sind im 
Auszug einige Beobachtungen von Brondgeest!) mitgetheilt, 
die den seit Heidenhain’s Versuchen?) aufgegebenen Tonus 
der willkürlichen Muskeln wieder in ‚seine alten Rechte ein- 
zusetzen scheinen. Die vorliegenden Beobachtungen sind durch 
vielfache Wiederholungen der Versuche vollkommen bestätigt 
worden. | - zn. 

Dennoch kann man, wie mir scheint, aus ihnen nicht auf 
ein Vorhandensein des Tonus schliessen, wenn man nicht: mit 
einem Worte, das seit Jahren in der Physiologie eine ganz be- 
stimmte Bedeutung angenommen hat, ein unberechtigtes Spie 
treiben will. Diese Bedeutung ist die namentlich durch Mül- 
ler und Henle festgestellte: „eine continuirliche, unwillkür- 
liche, :.vom ‚Rückenmark abhängige, schwache. Contraction 
sämmtlicher willkürlichen Muskeln.“ Im Nachfolgenden hoffe 
ich darzuthun, dass auf das von Brondgeest mitgetheilte 
Phänomen kaum ein einziges dieser Merkmale des „Tonus“ 
passt, dass also auch jetzt nichts zur Annahme einer Hypothese 
zwingt, die für durchgängig jetzt besser erklärte Erscheinungen 
aufgestellt wurde.?) iur | 


1) Onderzoekingen over den tonus der willekeurige spieren. 
(Dissert.) Utrecht 1860. 

2) Müller’s Archiv 1856. S. 200 und Physiol. Studien. Berlin 
1856. S. 1. 

3) Bei dieser Gelegenheit sei es mir gestattet, eine in meiner 
Dissertation (De tono ac motu musculorum nonnulla. Berolini 1859.) 
aufgestellte Erklärung der Gesichtsverzerrung bei Facialislähmung kurz 
zu erwähnen, die ja lange eine Hauptstütze der Toonuslehre war. Ich 
wies direct nach, dass ein schwach belasteter Muskel nach einer Con- 


Beitrag zur Erledigung der Tonusfrage. 351 


Brondgeest hat bereits seinem „Tonus“ einen Zusatz ge- 
geben, der die alte Vorstellung jedenfalls wesentlich modifieirt, 
indem er einen „reflectorischen Tonus* annahm, der an die 
Erhaltung der Sensibilität in dem betreffenden Körpertheil ge- 
bunder ist; denn die Durchschneidung der sensiblen Nerven- 
wurzeln genügt ihn aufzuheben. Diese Modification erklärt 
zugleich zur Genüge den Widerspruch zwischen Brondgeest’s 
und Heidenhain’s, von ersterem mit gleichem Erfolg wie- 
derholten Versuchen; denn Heidenhain experimentirte mit 
ganz isolirten, von der Haut entblössten Muskeln.') 

Auffallend war bei dieser „reflectorischen* Contraction das 
unverkennbare Uebergewicht der Beuger über die Strecker 
(beide Ausdrücke für den Fuss im vulgären Sinne verstanden), 
da sonst bekanntlich bei gleichzeitiger Contraction: sämmtlicher 
Muskeln des Froschschenkels die Strecker das Uebergewicht 
haben; bei Reizung des Plexus sacralis, sowie bei den Reflex- 
krämpfen durch Opium- oder Strychninvergiftung tritt stets 
Streckung ein. ‘Dieser bemerkenswerthe, wenn auch nicht allzu 


traction nicht völlig zur früheren Länge zurückkehrt, und dass, das 
Defieit noch grösser wird, wenn der Muskel von der Haut bedeckt 
ist. Contrahiren sich die Gesichtsmuskeln einer Seite allein (was übri- 
gens im gesunden Zustande sehr selten ist), so ist die blosse Elastici- 
tät der anderen Gesichtshälfte nicht ausreichend, um die contrahirt ge- 
wesenen Muskeln ganz zur früheren Länge wieder auszudehnen, der 
Mund bleibt daher etwas nach ihrer Seite hin verschoben, wenn nicht 
eine Contraction der Muskeln der anderen Seite zu Hülfe kommt. 
Da diese nun bei einseitiger Lähmung ausbleibt, so hinterlässt die 
erste mimische Bewegung nach der Paralyse eine leichte Verzerrung, 
die durch die folgenden immer mehr zunimmt, noch ehe Atrophie der 
gelähmten Muskeln durch Veränderung der Elasticitätsverhältnisse ihren 
Einfluss geltend machen kann, Versuche an Kranken bestätigen diese 
Ansicht. 

1) Mir scheint ausserdem ein Fehler in Heidenhain’s Versuchen 
in den zu stärken, freilich durch seine Methode gebotenen Belastungen 
zu liegen (10—20 Grm. bei Fröschen), denen gegenüber die schwache 
Contraction. eines etwaigen Tonus sehr wohl verschwinden konnte 
Dies, zeigt sich darin, dass die Anhängung von wenigen Grammes an 
jedes Bein eines Brondgeest’schen Präparates völlig genügt, den 
Unterschied zwischen beiden ganz aufzuheben. In der weiter unten 
angegebenen Methode ist der Fehler zu starker Belastung vermieden. 


352 aa Ludimar Hermann; 


bedeutende Umstand machte ‚mir. zuerst, die.Brondgieest‘sche 
Erklärung zweifelhaft und veranlasste mich, die Hacke nällen 
zu prüfen. Ä 

Der Brondgeest’ sche Versuch belehrt nicht ee (ob 
die Beuger wirklich ein. Uebergewicht über die gleichzeitig 
contrahirten Strecker haben, oder ob. jene ausschliesslich con- 
trahirt, sind, obwohl Brondgeest unbedenklich das; erstere an- 
nimmt, ohne des: zweiten auch nur zu erwähnen. Um: darüber 
in’s Klare zu kommen:, untersuchte ich einen Hauptstreekmus+ 
kel!) des Beins, nämlich den Gastroknemius, auf ‚seine Con- 
traction. Ein für eine andere demnächst zu veröffentlichende 
Arbeit bestimmter Apparat, der dort genauer beschrieben wer- 
den. wird, diente mit einer kleinen Abänderung, zu diesem. Ver- 
suche. Das Wesentliche ist, dass; der: Muskel das eine Ende 
eines sehr leicht beweglichen Hebels trägt; das. Gewicht dieses 
Hebelarmes ist mittelst des anderen fast äquilibrirt, so. dass.der! 
Muskel ‚nur mit; 4 Grm. belastet ist. Von oben her ist: gegen! 
den Muskelarm eine Platincontactschraube genau so eingestellt, 
dass die geringste Verlängerung des Muskels eine Kette öffnet; 
die Oeffnung lässt den Anker eines Elektromagneten losfahren 
und gegen eine Glocke schlagen. Der Plan des Versuches 
war, nach der Einstellung des Uontaets die Nervenverbindung 
des Muskels mit. dem Rückenmark. aufzuheben und zu: sehen; 
ob er sich dann verlängere, ob die Glocke ertöne. Da eine 
Verkürzung des Muskels durch die von oben her auf den Hebel 
wirkende Contactschraube unmöglich gemacht war, so musste 
jede Reizung des, Nerven vermieden werden; denn diese hätte 
natürlich eine gewaltsame Dehnung des Muskels herbeigeführt, 
auf diese Weise seine natürliche Länge vermehrt, und so nach- 
her eine Oeffnung des Oontacts bewirkt. Deshalb konnte nicht 
durch einfache Durchschneidung der Nerv vom Rückenmark 
getrennt werden, sondern es. bedurfte eines Mittels, den Nerven. 
ohne Zuckung schnell leitungsunfähig zu machen. Ein solches: 
Mittel wäre die Schliessung eines starken aufsteigenden con- 
stanten Stromes; allein da der Nerv oben und unten mit dem 


1) In diesem Aufsatz; stets in. vulgärem; Sinne, 


Beitrag zur Erledigung der Tonusfrage. 353 


Frosch in Verbindung steht, so ist wegen der dadurch beding- 
ten Strömessehleifen die’ Schliessungszuckung unvermeidlich; 
auch das sogenannte Hineinschleichen in den’ Kreis einer star- 
ken Kette mittelst des Rheochords konnte die Zuckung nicht 
sicher beseitigen. Es wurde deshalb Zerstörung des Nerven 
durch Ammoniak angewandt, die sehr schnell und ohne Zuckung 
vor sich‘ geht.!) Die Befestigung des Frosches geschah sehr 
sicher'an den 'Oberschenkelknochen auf folgende Art: Durch 
einen’ kleinen Hautschnitt an der vorderen Oberschenkelfläche 
wurde ‘durch Eingehen zwischen den Muskeln der Knochen an 
einer kleinen Stelle mit Leichtigkeit blosgelegt, ein schlingen- 
förmig eingefädelter starker Seidenfaden mit einer krummen 
Nadel um ihn herumgeführt, und die Schlinge zugezogen; dies 
“ geschah’ an beiden Schenkeln. Der Frosch wurde nun auf ein 
verticales Brettchen aufgebunden (der Bauch dem Brett zuge- 
wandt)' und die beiden Doppelfäden der Schlingen durch zwei 
Löcher gezogen, hinter dem Brett über einen Zapfen zusam- 
mengebunden, und mittels eines Knebelchens fest zusammen- 
gedreht. Die Oberschenkel werden so mit grosser Kraft un- 
verrückbar an das Brett angezogen. — Da die Haut aus leicht 
begreiflichen Gründen’ möglichst geschont werden musste, so 
wurde nur die Achillessehne durch einen kleinen Hautschnitt 
hervorgezogen und der Haken eingesenkt, durch den sie den 
Hebel tragen sollte. — Der Plexus wurde vorsichtig von hin- 
ten: her freigelegt, hervorgezogen, eine dünne Kautschukplatte 


1) Eine ganz’ hübsche Modification des Brondgeest'schen Ver- 
suches hat man, wenn man den einen Nerven des aufgehängten: ge- 
köpften. Frosches auf die hier anzugebende: Weise durch Ammoniak 
tödtet; man sieht dann das schwach gebeugte Bein ohne alle Zuckung 
allmählig zu der Stellung eines gelähmten herabsinken. — Allenfalls 
hätte ich meinen Zweck wohl durch Curare-Vergiftung erreichen kön- 
nen, doch‘ wirkt dies zw langsam. — Ein höchst sonderbares Verfahren 
schlägt Wundt ein, dem: es bei: der Wiederholung der Heidenhain- 
schen Versuche ebenfalls darum zu thun ist, den Nerven ohne Zuckung 
leitungsunfähig zu machen; er durchschneidet ihn nämlich, nachdem er 
ihn so lange tetanisirt hat, dass die Durchschneidung keine Zuckung 
mehr bewirkt (!) (Wundt, die Lehre von der Muskelbewegung. Braun- 
schweig 1858. S. 56 ft.). 


354 Ludimar Hermann: 


unter ihm hindurchgeführt; auf dieser 'ritt eine grössere unten 
aufgeschlitzte;: ihre beiden unteren Enden wurden in die: Höhe 
geschlagen und zu einem Trichter vereinigt, an Anssen ‚Wand 
die Nervenschlinge lag. IE ; el 

Unmittelbar vor dem Versuche überzeugte ich mich, die des 
Nerv durch die Präparation durchaus nicht gelitten hatte,. das 
Bein reagirte nämlich auf Reize in der gewöhnlichen Weise. 
Darauf wurde der Hebel eingehängt, der Contact genau ein- 
gestellt und das Ammoniak: mit, einer Pipette auf. den Nerven 
gebracht. Die Glocke ertönte auch nach längerem 
Warten nicht; also trat auch nicht. die geringste  Verlän- 
gerung des Muskels ein, denn schon eine äusserst kleine. hätte 
die Kette Öffnen müssen. Natürlich überzeugte ich mich, dass 
das Ammoniak das Nervenstück wirklich vollkommen. getödtet 
hatte. Der mit allen Vorsichtsmaassregeln angestellte Versuch 
gab stets dasselbe Resultat. , Uebrigens ist leicht einzusehen, 
dass jeder Fehler eher das Gegentheil, Oeffnung der Kette, 
Ertönen der Glocke hätte herbeiführen müssen. 

Der Gastroknemius hat also an dem Brondgeest’schen 
Tonus jedenfalls keinen Antheil. : Obgleich sich an anderen 
Muskeln des Beins. der Versuch gehäufter Schwierigkeiten we- 
gen nicht anstellen lässt, so glaube ich doch keinen sehr küh- 
nen Sprung zu thun, wenn ich obige Behauptung; auf. alle 
Streckmuskeln, oder besser gesagt, auf alle Nichtbeugemuskeln 
ausdehne. Abgesehen von der Unwahrscheinlichkeit, dass ge- 
rade der Gastroknemius von einem allgemeinen Zustande der 
Muskeln sollte ausgeschlossen sein, spricht vielleicht auch noch 
folgender Versuch zu Gunsten dieser Ansicht.. Rückt man 
nämlich mit dem Schnitt durch das Rückenmark immer weiter 
nach unten (hinten), bis man über die Engelhardt’ schen 
Beugungscentra hinweg in den Bereich der Streckcentra ge-. 
langt ist, so sieht man nicht etwa die leicht gebeugte Stellung, 
des Beins in eine gestreckte übergehen, sondern es hängt eben 
so schlaff herab, wie das gelähmte. 

Im Brondgeest’schen Versuch ist also die leicht gebeugte 
Stellung des Beines nicht das Resultat eines Ueberwiegens der 


Beitrag zur Erledigung. der ‚Tonusfrage. 355 


Beuger über die Strecker, sondern das einer ausschliessli- 
chen Contraction jener. 

Eine Hauptvorstellung, die man stets vom Tonus gehabt 
hat, nämlich‘ dass er ein gemeinsamer Zustand aller willkür- 
lichen: Muskeln sei, kommt also der Brondgeest’schen Con- 
traction nicht zu. | 

‚Bevor wir .nun ebenso die a Kennzeichen . eines 
„Tonus* an unserem Phänomen suchen, ‚wollen wir. des: eben 
Gewonnenen .eingedenk sehen, ob denn die Brondgeest’sche 
Entdeckung, die’ Contraction. der Beuger des Schenkels, wirk- 
lieh neu ist, Durch die senkrechte Aufhängung des Frosches 
hat Brondgeest eine Kraft, .die Schwere, in’s Spiel gebracht, 
welche. den Vortheil hat, durch ihre gleiehmässige Einwirkung 
auf beide, den gelähmten und den unversehrten Schenkel, den 
Unterschied in: beider Stellung präcis darzustellen,. da sie auf 
jenen ausschliesslich, auf diesen ausser ihr ‘noch andere Kräfte 
einwirken. ‚Daneben hat sie,aber die unvermeidliche Wirkung, 
dass sie. durch ‘Vermehrung der Belastung der contrabirten 
Muskeln ihre, Verkürzung, vermindert, dass also die Beugung 
des, unversehrten Schenkels weniger eclatant ausfällt, als. sie 
ohne. den: Einfluss der Schwere erscheinen würde. _Entziehen 
wir daher die Schenkel dem Einfluss der Schwere, indem wir. 
den Frosch in ' seine natürliche horizontale Lage bringen, so 
fällt das Brondgeest’sche Phänomen mit; der alten längst 
bekannten Erscheinung zusammen, dass der hirnberaubte Frosch 
seine Hinterbeine ebenso wie der unverletzte angezogen hält 
(der gelähmte Schenkel verharrt natürlich in jeder ihm gege- 
benen' Lage). Der Brondgeest’sche Fundamentalversuch ist 
daher nichts als diese bekannte Erscheinung, durch den Ein- 
fluss der Schwere weniger. eclatant dargestellt, und dies An- 
ziehen..der. Beine würde also ‚ebenfalls eine Wirkung des 
Brondgeest’schen „Tonus* sein. 

Wie verhält‘es sich nun mit dem zweiten Versuch, wo die 
Durehschneidung. der sensiblen Wurzeln allein schon den „To-. 
nus“ ‚aufhebt?. - Auch dies ist nichts. Neues. Wer einmal:den 
Bell’schen Versuch an einem sonst unversehrten Frosche an- 
gestellt: hat, wird. 'bemerkt haben, dass er das Bein, dessen hin- 


356 Ludimar Hermann: 


tere Nervenwurzeln durchschnitten' sind, dessen Bewegungen 
er also noch vollkommen beherrscht, meist wie ein gelähmtes 
in jeder Lage liegen lässt und beim Hüpfen nachschleppt, so 
dass man fast fürchtet, auch die vorderen Wurzeln verletzt zu 
haben, dass aber dann wieder plötzlich, namientlich bei Rei- 
zung des anderen noch sensiblen Beines, das unempfindliehe 
wie das andere angezögen wird. Offenbar geht ihm'in dem 
anästhetischen Schenkel das Gefühl der Unbequemlichkeit; kurz 
der beständige Trieb ab, der ihn sonst veranlasst, ihn anzu- 
ziehen; — er fühlt sein Bein nicht mehr und lässt es daher in 
Ruhe. Dieselbe Erseheinung tritt nun auch an dem’ hirnbe- 
raubten Frosche ein, und ganz entsprechend auch bei der 
Brondgeest’schen Aufhängung, also auch dies ist kaum als 
neu zu bezeichnen. 
Gehen wir jetzt in unserem Vorhaben weiter, auch’ die 
übrigen Merkmale des Tonus an der Bröndgeest”schen Con- 
traction aufzusuchen. Ist diese Contraction continuirlich, wie 
män es doch von jeder „tonischen* voraussetzt? Bei dem auf- 
gehängten Frosche sehen wir allerdings eine continuirliche 
Beugestellung des unversehrten Schenkels ; wie aber ist es mit 
dem horizontal liegenden, dessen Schenkelanziehung ja durch- 
aus nach Obigem der Beugung des aufgehängten entspricht? 
Sollen wir auch diese Anziehung als Tonus bezeichnen, so 
müssen natürlich die Beugemuskeln in beständiger Contraction 
gedacht werden; der Frosch muss seine Schenkel mit fortwäh- 
rend gespannten Muskeln gleichsam activ angezogen halten. 
Dass dem aber nicht so ist, dass der einmal angezogene 
Schenkel fortan’ ganz passiv mit erschläfften Muskeln liegen 
bleibt, wird wohl kaum Jemand bezweifeln. Abgesehen davon, 
dass jene Annahme etwas ganz Unnatürliches ist, kann man 
sich auch durch den’ Versuch vom Gegentheil überzeugen. 
Liegt der Frosch auf einer Porzellanplatte, so kann man'ihm, 
wenn man nur leise, gleichsam verstohlen, zu Werke geht, am 
besten mit einem’ Glasstabe den Schenkel ohne allen Wider- 
stand vollkommen abziehen, und er bleibt dann ruhig gestreckt: 
eine Zeit lang liegen; gewöhnlich‘ zieht ihn dann der' Frosch 
nach einer Weile schnell’ oder langsam wieder‘ an, und man: 


& 


Beitrag zur Erledigung der Tonusfrage. 357 


kann bei Vollendung dieser Bewegung den Schenkel wieder 
erschlaffen sehen. Wo bleibt der Tonus, während das Bein 
ruhig gestreckt liegt? Oder will man die geringe Reibung der 
glatten, Haut auf der glatten Platte beschuldigen? So lege 
man den Frosch auf Quecksilber, wo ganz dasselbe erfolgt; 
und übrigens widerspricht dem die Wiederanziehung trotz der 
Reibung. Wie dem gegenüber die continuirliche Beugung beim 
aufgehängten Frosche zu erklären ist, wird sich weiter unten 
ergeben. Gerade dieser Widerspruch spricht zu Gunsten einer 
anderen, demnächst darzulegenden Ansicht. | 

- Nach dem Vorhergehenden scheint es mir völlig ungerechtfer- 
tigt, eine Contraction einer gewissen Muskelgruppe für sich, die 
nur in ‚einer bestimmten (unnatürlichen) Stellung vorhanden 
ist, in der natürlichen aber gänzlich fehlt, „Tonus“ zu nennen; 
zumal wenn sich eine andere natürlichere Erklärung für die 
Erscheinung finden lässt, und diese andere Erklärung ist im 
Grunde schon längst für sie in Anspruch genommen, indem 
man das Anziehen der Beine eines hirnlosen Frosches für eine 
Aeusserung des Rückenmarksensoriums gehalten hat. 

Die Pflüger’sche Lehre vom Sensorium des Rückenmarks 
hat in neuester Zeit in der interessanten Arbeit von Goltz!) 
wiederum einen energischen Angriff erfahren. Da eine Erwie- 
derung auf diese Arbeit meines Wissens bisher nicht erschienen 
ist, so bedarf es der Rechtfertigung, wenn man trotz ihrer von 
einer Markseele spricht. Eine vollständige Kritik der darin 
niedergelegten Versuche liegt ausser dem Bereiche dieses Auf- 
satzes; ich beschränke mich daher auf einige Worte über den 
Standpunkt, den der Verfasser, wie die meisten anderen Gegner 
Pflüger’s, dessen Behauptung gegenüber einnimmt. Der Ver- 
fasser geht (S. 216) von dem Grundsatze aus, eine Markseele 
sei an und für sich a priori: etwas Unerhörtes und von jeher -» 
Negirtes, könne daher erst nach zwingenden. Beweisen, wenn 
jede andere Erklärung fehle, angenommen werden. Deshalb 
nimmt er lieber die gezwungensten Erklärungen für die Er- 

1) Dr. Fr. Goltz, Beitrag zur Lehre von den Functionen des 


Rückenmarks der Frösche. Königsberger med. Jahrb, Bd. II. Heft 2, 
S. 189. 


358 | "Ludimar Hermann: 


scheinungen an (präformirte Reflexmechanismen der complicir- 
testen Art für jede Körperstelle und jeden Reiz) oder lässt 
andere lieber ganz unerklärt (gerade die hier in Rede stehende, 
S. 194), um nur dieser unnatürlichen Annahme zu entgehen. 
Unnatürlich wird aber die Annahme, wie mir scheint, nur 
durch die falsche Auffassung, als ob Hirn: und Markseele zwei 
neben einander bestehende Organismen seien, jede mit beson- 
deren Eigenschaften ausgestattet;!) in dieser Form wird jeder 
instinetiv dagegen eingenommen sein. Bedenkt man aber, dass 
die allgemein als untheilbares Ganze betrachtete Hirnseele in 
Wahrheit mit dem Hirn theilbar ist, dass, wie Flourens ge- 
zeigt hat, eine schichtweise Abtragung des Hirns eine all- 
mählige Verminderung der sensorischen Functionen herbei- 
führt, dass mit jedem Stück Hirn gleichsam ein Stück Senso- 
rium entfernt wird, so klingt es gar nicht so unerhört, ja‘ es 
ist sogar natürlich anzunehmen, dass kein Theil des Cerebro- 
spinalorgans allen Antheils an den Seelenfunctionen 'entbebrt, 
und dass, wenn man gleichsam mit den Flourens’schen 
Schnitten so weit gekommen ist, dass’ das ganze Hirn entfernt 
ist, auch im Rückenmark noch ein schwacher Rest von Sen- 
sorium vorhanden ist, und ganz besonders bei niederen Thieren, 
wo ja die anatomische und functionelle Differenzirung zwischen 
Hirn und Mark überhaupt weniger ausgesprochen ist. Giebt 
man die Natürlichkeit einer solchen Annahme zu, so wird man 
sie zur Erklärung der Erscheinungen an enthirnten Fröschen 
jenen eomplieirten Annahmen vorziehen, die nicht einmal alle 
erklären (Goltz S. 194). Was ferner die Versuche in ‚der 
Goltz’schen Arbeit betrifft, die direct gegen eine Markseele 
sprechen sollen, so kann ich sie so durchaus nicht deuten; ein 
genaueres Eingehen würde aber hier zu weit führen. 

Ich glaube also trotz der Goltz’schen Arbeit einen gerin- 
gen Rest von Sensorium in dem vom Hirn getrennten Mark, 
der nur eben noch gross genug ist, um auf heftige Eingriffe 


1) An dieser Auffassung ist hauptsächlich Pflüger selbst Schuld, 
und seine Gegner beuten sie natürlich für sich aus. So sagt z. B. 
Goltz (S. 219): „die Hirnseele stirbt, das Regiment der nn im 
Rückenmark soll vielleicht beginnen“ u. s. w. 


Beitrag’ zur Erledigung der Tonusfrage. 35 


das Leben zu vertheidigen, und die gewohnte zusammenge- 
kauerte Lage, in der sich jedes Thier am sichersten fühlt, an- 
zunehmen und zu erhalten, ‘mit Recht annehmen zu müssen. 
Mit dessen Hülfe lassen sich nun auch die Brondgeest’schen 
Erscheinungen leicht und natürlich erklären, und zwar auf fol- 
gende Weise: 

Ein geköpfter Frosch nimmt alsbald, nachdem er sich er- 
holt, die gewohnte sitzende Stellung ein, in der er sich am 
behaglichsten oder am sichersten fühlt. Während er sitzt, sind 
die Muskeln seiner Schenkel erschlafft. Gelingt es, ibm 
ohne dass er es merkt einen Schenkel abzuziehen, so lässt er 
ihn in dieser Lage, bis er nach einiger Zeit das Unsichere oder 
Unbequeme derselben fühlt und den Schenkel wieder anzieht. 
Die Contraction der Beuger, die das Anziehen bewirkt, lässt 
nach vollendeter Bewegung sofort wieder nach. — Sind die 
sensiblen Wurzeln einer Seite durchschnitten, so verhielt sich 
der Schenkel ganz in der S. 356 besprochenen Weise. Für 
gewöhnlich bleibt er in jeder Lage liegen, da der Frosch das 
Bein nicht mehr fühlt, also kein Bedürfniss hat es zu schützen 
oder bequemer zu bergen. Erst auf heftige Reize, die das an- 
dere Bein treffen, zieht er beide zugleich an. 

Hängt man nun mit Brondgeest den geköpften (oder 
bloss enthirnten) Frosch auf, so wirkt die Schwere seiner Ab- 
sicht, den Schenkel anzuziehen, entgegen. Natürlich bleibt der 
gelähmte ihr allein überlassen, hängt also schlaff herab. Den 
anderen sucht..er eine Zeit, lang, lebhafte Thiere oft Viertel- 
stunden lang, angezogen zu halten. Aber endlich zwingt ihn 
die Ermüdung durch die Schwere, ihn sinken zu lassen. Den- 
noch giebt er noch nicht ohne Weiteres nach; das langsame 
Sinken des Schenkels wird fortwährend von kleinen reactio- 
nären Flexionsversuchen unterbrochen. Ganz giebt er jedoch 
die Beugung nie auf, sondern er erhält sie in einem Grade, 
wo sie ohne Ermüdung zu ertragen ist, und dieser Grad ist 
die leicht gebeugte Stellung im Brondgeest’schen Versuche. 
Uebrigens wiederholt sich. die eben geschilderte Scene, nur 
etwas weniger eclatant, wenn‘ mäan'die Schenkel durch Knei- 
pen oder einen anderen Reiz wieder zur vollständigen Anzie- 


360 Wilhelm Keferstein: 


hung bringt. — Sind die sensiblen Wurzeln des einen ‚Schen- 
kels durchschnitten, so verhält sich dieser, wie wiederholt aus- 
einandergesetzt, für gewöhnlich ganz wie ein gelähmter, und 
hängt schlaff herab. | 

Die in dieser Arbeit erwähnten Versuche sind im hehe 
physiologischen Laboratorium angestellt. Herrn ‚Professor du 
Bois-Reymond erlaube ich mir für die ausserordentliche 
Güte, mit der mir das Arbeiten daselbst und die Benutzung 
der Apparate gestattet, an dieser Stelle meinen innigen Dank 
auszusprechen. Ä 


Einige Bemerkungen über Tomopteris. 


Von 


Dr. WILHELM KEFERSTEIN, 
Privatdocenten in Göttingen. 
(Hierzu Taf. IX.) 


Der merkwürdige Wurm Tomopteris kam bei meinem Auf- 
enthalt in Messina von Januar bis April 1860 fast täglich in 
zahlreichen Exemplaren in’s Netz. Da aber schon eine ziem- 
liche, Anzahl Untersuchungen ') darüber erschienen waren, 


1) Ueber Tomopteris sind bisher folgende Arbeiten erschienen: 

Eschscholtz, Bericht: über die zoologische Ausbeute während 
meiner Reise von Kronstadt nach, St..Peter und Paul. Isis 
1825. I. S. 736. Taf, V. Fig. 5. 

Quoy et Gaimard, Observations faites a bord de V’Astrolabe « en 
mai 1826 dans e detroit de Gibraltar. Ann. des science. ‚nat. 
(1): RI827!p. 235237 PR VIL"Fig. 1-6: 7 

W. Busch, Einiges über Tomopteris onisciformis. '' Arch. f. Anat. 
u. Pbysiol. 1847. $S. 180—186. Taf. VII. Fig. 5. | 

E. Grube, Einige Bemerkungen über Tomopteris und die. na an 
“ dieser Gattung. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1848. S. 456 —468. 
Taf. XVI. Fig. 9-13. | Ä 

R. Leuckart und A. Pagenstecher, Untersuchungen über nie- 
dere, Seethiere. Tomopteris.: Arch. f. Anat.' u. Physiol: 1858.’ 8. 
588—593. Taf. XX. 


Einige Bemerkungen über Tomopteris. 361 


glaubte ich die Anatomie des Tomopteris hinreichend bekannt 
und wurde dadurch, wie es so oft geschieht, wenn man wie 
gewöhnlich die Meeresküste ohne ausreichende Literatur be- 
sucht, abgehalten, diesem Thiere eine besondere Aufmerksam- 
keit zu schenken. Manches liess sich jedoch zu Hause an den 
in Liquor conservativus') aufbewahrten Exemplaren, die kaum 
ein Aufhellen durch Glycerin nöthig hatten, noch nachholen. 

Die Körperwandung besteht bei dem erwachsenen Thiere 
nur aus der Musculatur und zwar aus inneren Längsfasern und 
äusseren Ringfasern. Die Längsfasern bilden auf der"Rücken- 
und Bauchfläche jederseits neben der Medianlinie besonders 
starke Züge und die Ringfasern schiessen in jeden Fussstum- 
mel auf der Rücken- und Bauchseite mit zwei an der Median- 
linie des Körpers beginnenden Faserzügen ein, die sich im 
Fussstummel fächerartig ausbreiten und sich unter einander und 
mit den dort noch vorhandenen in der Längsrichtung des Kör- 
pers laufenden Fasern mischen, so dass an den Fussstummeln 
die Musculatur nicht so einfach aus zwei Schichten besteht, 
wie am Körper. — Die Muskelfasern sind 0,005 Mm. breite, 
0,002 Mm. dicke Bänder, in frischem Zustande glashell, in 
Lig. cons. aufbewahrt innen feinkörnig. 

Am Kopf muss man drei Paar Anhänge unterscheiden: 
ganz vorn die beiden blattförmigen Kopflappen (Fig. 1t‘) 
(Stirnfühler-G rube), dann etwas mehr nach hinten und nach der 


W. Carperter, On Tomopteris onisciformis Esch. Transact. Linn, 
Soc. of London. Vol. XXII. Part. IV. London 1859. p. 353— 
362. Pl. 62. 

1) Diese Flüssigkeit, in welcher sich bisher noch alle von meinem 
Freunde E. Ehlers und mir in Messina gesammelten Quallen, Sal- 
pen, Heteropoden, Pteropoden u. s. w. sehr gut erhalten haben, ist 
nahezu so zusammengesetzt, wie die von M. Schultze (Arch. f. Anat. 
u. Physiol. 1858. S. 331 Note) empfohlene. Wir gebrauchten auf 2 
Quartier Wasser Kochsalz 3 IV., Alaun 3ij, Sublimat Gr. X. Die 
Thiere wurden ganz lebend, gleich nachdem sie gefangen, in eine ziem- 
lich grosse Menge dieser Flüssigkeit gebracht, nach ein paar Tagen 
wurde diese erneuert und nach ihrer Ankunft hier wurden sie aber- 
mals in frischen Lig. cons. gebracht, ohne dass wir einen Zusatz von 
Spiritus dazu für nöthig fanden. 

Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv. 1861. 94 


362 Wilhelm Keferstein: 


Bauchseite zu die beiden retractilen Fühler t‘, und end- 
lich am meisten nach hinten die beiden starren Fühler t“' 
(Fühlereirrhen-Grube), die mit jener langen (bis drei mal so lang 
wie der ganze Körper) Borste versehen sind. Busch,'!) Grube?) 
und Carpenter’) haben ebenso wie ich das retractile Fühler- 
paar gesehen, während Leuckart und Pagenstecher‘) das- 
selbe nicht bemerkten. Bei lebenden Exemplaren, waren diese 
Fühler sehr deutlich, während ich sie bei den in Lig. cons. 
aufbewahrten nicht wiederfinden konnte. Bisweilen schien es 
mir, als,ob sie in ihrer Spitze eine dünne und kurze Borste 
enthielten. 

Die Fussstummel tragen an ihrem Ende zwei senkrecht 
stehende blattförmige Flossen, in deren Basis sich die Körper- 
höhle fortsetzt, die dann aber solide und ganz blattartig wer- 
den. In diesem blattartigen Theile befinden sich die dendri- 
tischen Verzweigungen, die Grube am besten beschreibt und 
die nach C. Schmidt’) aus Chitin bestehen. Meistens ver- 
zweigen sich diese Stränge nach dem Rande zu, wo man sie 
öfter frei hervorragen sieht und dienen wohl zur Stütze der 
Flosse. Die eine dieser Flossen sitzt auf der Rückenseite des 
Fussstummels, die andere auf der Bauchseite. Die Bauchflosse 
(Fig. 9c') zeichnet sich wenigstens am mittleren und hinteren 
Körpertheil durch eine besondere Bildung aus: in der Mitte 
ihres blattförmigen Randes bemerkt man nämlich eine kreisför- 
mige, 0,12 Mm. grosse Figur (Fig. 5), wo das Balkenwerk der 
Flosse fehlt und statt dessen eckige etwa 0,003 Mm. grosse 
Körner x in Reihen angeorduet, öfter von grossen, länglichen, 
fettglänzenden Massen y unterbrochen liegen. Am äusseren 
Rande dieses scheibenförmigen Organs liegt ein 0,02— 
0,05 Mm. grosser dunkelrother Pigmentfleck p, und man kann 
sich des Gedankens nicht enthalten, dass dies Organ mit sei- 
nem Pigmentfleck irgend ein Sinnesorgan vorstellt. Bisweilen 


Iy’A. a. 0. S. 181° Taf, VI-Rig. 

2) A. a. O. S. 463. Taf. XVI. Fig. ab 
3) A. a. O. p. 354. P). 62. Fig. 1—A. 

4) A. a. O. S. 589. 


5) Bei Grube a. a. O. S. 461. 


Einige Bemerkungen über Tomopteris. 363 


findet man auch, ich weiss nicht ob schon bei lebenden Exem- 
plaren, statt dieser Scheibe an derselben Stelle ein blosses 
bogenarliges Zusammenlaufen der Fasern der Flosse nach jenem 
Punkte hin, wo sonst der Pigmentfleck liegt. Grube bildet 
dies a.a. ©. Taf. XVI. Fig 11x naturgetreu ab und es scheint 
mir am wahrscheinlichsten, dass hier das scheibenförmige Or- 
gan selbst ganz zerstört ist. 

Der Nahrungscanal ist ein einfacher vom Mund zum 
After verlaufender Schlauch, der aus Längs- und Ringfasern 
besteht, und innen mit Zellen ausgekleidet ist. Im Schlund 
ist die Musculatur besonders stark und er kann sich, wie das 
Leuckart und Pagenstecher!) genauer beschreiben, als 
Rüssel hervorstülpen (Fig. 1). 

Das Nervensystem beschreibt zuerst Grube?) genau, 
Leuckart und Pagenstecher°) und Carpenter) konnten 
blos das Hirnganglion, nicht den Bauchstrang auffinden. Man 
sieht den Bauchstrang oft deshalb schwer, weil der Darm ihn 
völlig verdeckt, leicht bemerkt man ihn aber bei jungen Indi- 
viduen (Fig. 1), wo er relativ viel breiter ist als bei den er- 
wachsenen, und am besten kann man seine Beschaffenheit und 
den Zusammenhang mit dem Hirnganglion studiren, wenn man 
so grosse Individuen gebraucht, dass man sie aufschneiden und 
den Darm herausnehmen, oder auch die Bauchwand mit sammt 
dem Bauchstrang herausschneiden kann. Das Gehirn (Fig. 
2) ist zweilappig und trägt an seiner Rückenseite die beiden 
Augen, die aus rother Chorioidea und darauf liegender Linse 
bestehen (Fig. 6). Leuckart und Pagenstecher’) beschrei- 
ben bei ihrem Tomopteris von Helgoland die Augen mit dop- 
pelten dicht an einander gedrängten Linsen: ich habe in Mes- 
sina $Stets nur eine Linse bemerkt. Vom Gehirn geht nach 
vorn in der Medianlinie ein breiter Nervenstrang n‘ ab, der an 
der Rückenfläche vorn auf dem Kopf zu enden scheint; in die 


1) A. a. O. S. 590, 591. Taf. XX. Fig. 5 6. 
2) A. a. ©. S. 457. Taf. XVI. Fig. 9n. 

3) A. a. O. S. 591. 

4) A. a. 0. p. 355. 

5) A. a. OÖ. S. 991., Taf. 20. Eios 2. 


24” 


364 Wilhelm Keferstein: 


Kopflappen sah ich keine Fasern davon eintreten. Jederseits 
giebt das Gehirn einen breiten Ast n'' ab zu der Basis der 
Borste in den starren hinteren Fühlern, und nach hinten end- 
lich tritt die Schlundcommissur ab, die den Schlund dicht um- 
kreisend den engen Schlundring bildet, der an der Bauch- 
seite in den Bauchstrang, ohne dort ein hervortretendes unteres 
Schlundganglion zu bilden, übergeht. 

Der Bauchstrang ist beim erwachsenen Thier etwa 0,12 
Mm. breit und besteht aus zwei dicht neben einander liegenden 
Strängen, die für jeden Fussstummel eine schwache Anschwel- 
lung bilden, so dass dort der Bauchstrang 0,16 Mm. breit wird. 
An jeder solchen Anschwellung entspringt ein Nerv, der bis in 
den Fussstummel hinein zu verfolgen ist. Der Bauchstrang 
besteht aus feinen Längsfasern mit zwischen liegenden Zellen, 
die namentlich in den Anschwellungen sich anhäufen und 0,012 
Mm. gross sind. Auch in den austretenden Nerven findet man 
solche 0,012 Mm. lange, 0,008 Mm. breite un Zellen, 
die ich für Ganglienzellen halten möchte. 

Die Eier entstehen bekanntlich an der Innenwand der 
Fussstummel, reissen sich dann los und schwimmen frei im 
Körper umher, wo sie ihre volle Grösse erreichen, Der Eier- 
haufen sitzt zuerst der Leibeswand fest an und liegt unter einer 
zarten Haut, die überall über ihn weggeht.!) Je näher an der 
Leibeswand, je kleiner sind die Eier, jedes zeigt deutlieh Keim- 
bläschen und Keimfleck. Da beim erwachsenen Thier die Lei- 
beshöhle innen nicht von einem Epithel ausgekleidet ist, so 
können die Eier nicht aus diesem entstehen; ich möchte aber 
doch glauben, dass an der Stelle, wo später ein Eierhaufen 
sich bildet, das Epithel persistirt und dass die den Eierhaufen 
überziehende Haut die Cuticula dieses Epithels ist. Der Bier- 
haufen entwickelt sich, während er in der Leibeshöhle herum- 
schwimmt, weiter, indem ein Ei nach dem anderen zur voll- 
ständigen Grösse (bis 0,6 Mm.) heranwächst. Bei einem Eier- 
haufen mit solchem reifen Ei erscheinen die übrigen Eier nur 
wie ein kleiner Anhang an diesem grossen (Fig. 5). 


1) Wie dies Gegenbaur in Grundzüge der vergl. Anatomie, 
Leipzig 1859. 8. S. 191. Fig. 49 richtig abbildet. 


Einige Bemerkungen über Tomopteris. 365 


Bisweilen findet man Individuen, die, obwohl sie eben so 
gross wie die eierenthaltenden sind und mit diesen zur selben 
Zeit: vorkommen, doch keine Eierhaufen zeigen. Dafür zeigen 
sie an der Stelle, wo sonst der Eierhaufen sitzt, kleine Grup- 
pen von 0,016—0,02 Mm. grossen Zellen. Ich möchte ver- 
muthen, dass dies Saamenzellen wären; da ich diese Exem- 
plare jedoch erst in aufbewahrtem Zustande untersuchte, konnte 
ich keine Gewissheit darüber erlangen. Huxley!) beschreibt 
ähnliche Individuen aus der Torres-Strasse; die Zellen in die- 
sem Zellenhaufen waren !/;ooo Zoll gross und Huxley hält 
diese Thiere ebenfalls für die Männchen. 

Schon Busch hat die rosettenförmigen Organe gesehen, 
die an der Bauchseite des Thieres jedesmal neben dem vorderen 
Winkel des Fussstummels sitzen. Jedes dieser Wimperor- 
gane (Fig. 4) besteht aus einer mit Cilien besetzten Rosette 
der Mündung a nach der Bauchhöhle zu und einem davon ab- 
gehenden nach hinten verlaufenden mit Cilien ausgekleideten 
Canal b, der etwa in. der Mittellinie der Fussstummel nach 
aussen auf der Bauchseite ausmündet. Es scheini, dass man 
meistens angenommen hat‘, die Rosette münde nach aussen, 
allein ich glaube mich davon überzeugt zu haben, dass sie in- 
nerhalb der Körperwand liegt. Man muss dies Organ für eine 
Art Wassergefässsystem halten, analog dem Schleifenorgan des 
Regenwurms. 

Auf welche Weise die Geschlechtsproducte aus der Leibes- 
höhle gelangen, kann ich nicht angeben, Leuckart und Pa- 
genstecher?) jedoch beschreiben zwei Paar Spaltöffnungen 
an der Bauchseite des Thieres, die sie wohl mit Recht für die 
Austrittsstellen der Eier halten. 

Dass Tomopteris zu den Anneliden gehört, ist jetzt wohl 
allgemein anerkannt: nachdem ich die prächtigen Alciope in 
Messina untersucht hatte, war es mir völlig klar, denn mit 
diesen schönen Würmern hat Tomopteris die grösste Aehnlich- 
keit. Wie bei Alciope ist der Ramus dorsalis und Ramus ven- 


1) Bei Carpenter a. a. O. p. 359. 
2) A. 2. O0. S. 592. Taf. XX. Fig. 1. 


366 Ä Wilhelm Keferstein: 


tralis des Fusses zu einem einzigen Fussstummel verwachsen, 
und die beiden Flossen bei Tomopteris sind nichts anderes als 
der Cirrhus dorsalis und Cirrhus ventralis der Alciope, die ja 
auch bei vielen anderen Anneliden so blattartig ausgebreitet 
sind. Bei Alciope setzt sich nur der Fussstummel noch jen- 
seits der Rücken- und Baucheirrhen fort und enthält Borsten, 
während er bei Tomopteris aufhört, wo diese Cirrhen abgehen 
und borstenlos ist. Van Beneden!) führt allerdings an, dass 
Leuckart und Pagenstecher auch bei Tomopteris gering ent- 
wickelte Borsten gefunden hätten, allein in der betreffenden Ab- 
handlung dieser Forscher kommt kein Wort davon vor. Gerade 
wie bei Tomopteris finden sich auchbei Alciope Wimperorgane, wie 
das Fig. 7 zeigt, und die füllhornförmige Mündung derselben, 
die mit grossen steifen Cilien besetzt ist, liegt in der Leibes- 
höhle. Auf den Bau von Alciope, der in sehr vieler Hinsicht 
interessant ist, gehe ich hier nicht weiter ein, weil ich in Mes- 
sina hörte, dass sich dort im Jahr vorher ein anderer und vor- 
züglicher Naturforscher mit dieser Wurmform gerade speciell 
beschäftigt hat. 

Die Speciesunterschiede der bisher beschriebenen Tomop- 
terisformen sind noch nicht klar gemacht. Auf die Zahl der 
Fussstummel scheint es nicht anzukommen, sie nehmen mit dem 
Alter zu, bei ganz erwachsenen Thieren zählte ich meistens 
13 Paar am eigentlichen Körper und oft noch 18 Paar an 
jenem wurmförmigen Schwanzanhang. Es scheint mir, dass 
dieser Anhang sich nicht allmählig zum grösseren vorderen 
Körperabschnitt umwandelt, sondern so wurmförmig mit seinen 
rudimentären Fussstummeln bleibt, so dass Tomopteris also zu 
jenen Anneliden gehört, bei denen der vordere und hintere 
Körper verschieden gebildet ist. Die grössten Exemplare, die 
ich sah, waren etwa 25Mm, lang, wovon 10 Mm. auf den 


1) In seinem Aufsatz über Crepina im Bulletin de l’Acad. roy, 
de Belgique (2). V.1858. p: 464 Note. „Le genre Tomopteris avait ete 
considere comme priv& aussi de soies, mais M.M. Leuckart et Pa- 
genstecher se sont assures qu’elles existent r&ellement, mais qu’elles 
sont moins developpees que dans des autres annelides. M. Pagen- 
stecher a eu la complaisance de me montrer des desseins. 


Einige Bemerkungen über T'omopteris, 367 


schwanzartigen Anhang kommen, die beiden steifen Borsten am 
Kopf waren dann 30— 40 Mm. lang. Busch, Leuckart und 
Pagenstecher und Carpenter nennen ihre Art aus der 
Nordsee T. onisciformis, unter welchem Namen Eschscholtz 
das 2!/, Lin. lange Exemplar, das er in der Südsee erhielt, 
aufführt. Eschscholtz Beschreibung ist aber viel zu kurz 
und seine Abbildung völlig ungenügend, um danach die Spe- 
cies bestimmen zu können. Quoy und Gaimard beschreiben 
ihr 4 Zoll grosses Exemplar von Giberaltar unter dem Namen 
Briaraea scolopendra und ich möchte, da ihre Beschreibung 
und Abbildung mit deu Exemplaren von Messina stimmt, mit 
Ausnahme der gewaltigen Grösse des Exemplars von Giberal- 
tar, den Tomopteris von Messina vorläufig Tomopteris scolo- 
pendra nennen. Einen durchgreifenden Unterschied von der 
aus der Nordsee beschriebenen Art sehe ich allerdings nicht, 
wenn es nicht vielleicht constant ist, dass bei den Tomopteris 
aus der Nordsee auf dem Rücken eine Längsreihe rother Pig- 
mentflecke vorkommt, die der Art von Messina fehlt. 


Erklärung der Abbildungen. 


Fig. 1. Junge. Tomopteris 1,3 Mm. lang von der Bauchseite. 
t‘ Siirnlappen. 
t'' Retractile Fühler. 
t‘'' Starre hintere Fühler, 
r. ‚Rüssel. 
i. Darmeanal. 
n. Bauchstrang. 
g. Hirnganglion. 
Vergr. ‚60. 
Fig. 2. Schlundring von einem erwachsenen Tomopteris. 
n. Bauchstrang. 
n‘ Vorderer unpaarer Nerv. 
n‘ Nerv zu dem hinteren Fühler. 


Vergr. 16. 
Fig. 3. Scheibenförmiges Organ aus dem DBauchflösschen von 
Tomopteris. 


p. Pigmentfleck. 
x. Körner. 


368 Wilhelm Keferstein: Einige Bemerkungen über Tomopteris. 


y. Längliche fettglänzende Massen. 
z. Contur der Flosse. 
Vergr. 300. 
Fig. 4. Wimperorgane von Tomopteris. 
a. Die Rosette, die Mündung in der Bauchhöhle. 
b. Der Wimpercanal mit darin umhertanzenden Körnchen. 
c. Aeussere Wand des Thieres, vorderer Winkel eines Fuss- 
stummels. 
Vergr. 260. 
Fig. 5. Ein frei in der Leibeshöhle umherschwimmender Eier- 
haufen von Tomopteris. Vergr. 120. 
Fig. 6. Ein Auge von Tomopteris. Vergr. 260. 
Fig. 7. Ein Theil von Alciope Regnauldii Aud. et Edw. von der 
Bauchseite. 
n. Bauchstrang. 
. Ein Bauchganglion. 
. Darmcanal. 
. Fussstummel. 
‘ Cirrhus ventralis. 

e” Cirrhus dorsalis. 

k. Körperwand, bestehend aus einer äusseren Cuticula und 
darunter liegender Zellenlage, die bei z gezeichnet ist, 
wie sie nach Behandlung mit Essigsäure deutlich wird. 
(Die Muskelhaut ist der Deutlichkeit wegen nicht mitge- 
zeichnet.) 

p. Gruppen von Zellen, die mit gelbem Pigment gefüllt sind. 

w. Wimperorgan. 

w‘ Die Mündung desselben in der Bauchhöhle. 

00. Frei in der Leibeshöhle schwimmende Eier. 
t. Samenzellen. 
Vergr. 150. 
Fig. 8. Fussstummel von Aleciope Regnauldi Aud. et Edw. 

s. Fussstummel. 

ce‘ Cirrhus ventralis. 

ec” Cirrhus dorsalis. 

Fig. 9. Fussstummel von Tomopteris. Bezeichnung wie in Fig. 8. 

p. Scheibenförmiges Organ. 


oO HM u. (9 


Ludimar Hermann: Ueber das Verhältniss u. s. w. 369 


Ueber das Verhältniss der Muskelleistungen zu der 
Stärke der Reize. 


Von 
Dr. LUDIMAR HERMANN in Berlin. 


Die Frage nach dem Verhältnisse zwischen Kraft und Ar- 
beit hat nur da Sinn, wo die?Arbeit nicht das direete Maass 
jener, sondern das einer anderen Kraft ist, welche durch jene 
erst aus dem Ruhezustande in den lebendigen verwandelt, d.h. 
ausgelöst worden ist. Es giebt ferner eine gewisse Art der 
Auslösung, bei der ebenfalls jene Frage nicht existirt, nämlich 
die Verhältnisse, wo die auslösende Kraft, mögen die Spann- 
kräfte gross oder klein sein, stets eine bestimmte unverän- 
derliche Grösse behält, und in jedem Falle den Gesammtvor- 
rath an Spannkraft in lebendige Kraft verwandelt; diesen Fall 
zeigt das oft gebrauchte Beispiel der auszulösenden Uhr, die- 
selbe kleine Bewegung des Sperrhakens reicht dazu hin, welche 
Grösse das Gewicht auch habe, und jedesmal wird durch diese 
Bewegung die ganze Summe der Spannkräfte des Uhrwerks 
ausgelöst. 

Wo aber jene Frage überhaupt zulässig ist, da verspricht 
ihre Beantwortung eine tiefere Einsicht in den Mechanismus 
des Auslösungsapparates, und jede dahin gerichtete Untersuchung 
ist dadurch gerechtfertigt. Es handelt sich hier, wie sich aus 
dem Obigen ergiebt, um die Fälle, wo nicht die gesammten 
Spannkräfte durch eine constante Kraft ausgelöst werden, son- 
dern wo die Menge der frei werdenden Kräfte in einem ge- 
wissen Verhältniss zu den auslösenden steht. Einen Fall, wo 
dies Verhältniss proportional ist, zeigt das von Pflüger!) ge- 


1) Untersuchungen über d. Physiologie des Elektrotonus. $. 477. 


370 Ludimar Hermann: 


brauchte Beispiel eines Bergsee’s, der durch eine Schleuse ver- 
schlossen ist; die durch Erhebung derselben frei werdenden 
Wassermassen (d. h. lebendigen Kräfte) sind den Erhebungen, 
oder den dazu nöthigen (auslösenden) Kräften proportional, 
jedoch nur wenn die Oefinung eine rechteckige Gestalt hat; 
wäre sie dreieckig oder rund, so treten statt der Proportiona- 
lität complieirtere Verhältnisse ein. i 

In dem Bewegungsapparat des thierischen Körpers, im Ner- 
ven- und Muskelmechanismus, haben wir offenbar ein derartiges 
Verhältniss, denn dass die Muskelarbeit kein directes Maass 
für den geringfügigen Reiz ist, der auf das centrale Ende des 
Nerven, oder auf irgend einen anderen Punkt des Systems 
wirkt, ist bekannt. Eben so wenig ist die Muskelarbeit von - 
der Stärke jenes Reizes unabhängig; stärkere Reize bewirken 
stärkere Leistungen. Es waltet also eine gewisse Beziehung 
zwischen beiden, die, wie man leicht aus gröberen Erfahrungen 
schliessen kann, keine einfach proportionale ist, und die Er- 
mittelung dieser Beziehung war der Zweck der vorliegenden 
Untersuchung. 

Doch die Frage liegt nicht so einfach, als es hiernach 
scheinen könnte. Statt eines einfachen Auslösungsapparates 
haben wir eine ganze Reihe. Die Muskelkräfte werden durch 
die auf der Nervenbahn anlangenden Nervenkräfte ausgelöst, 
die Nervenkräfte selbst an der gereizten Stelle durch den Reiz. 
Die Leitung von der gereizten Stelle bis zum Muskel scheint 
aber wiederum eine Reihe unendlich vieler Auslösungen zu 
sein, indem jedes Nervenmolecül die Spannkräfte des folgen- 
den frei macht. An allen diesen Auslösungsapparaten ist jenes 
Gesetz der Abhängigkeit völlig unbekannt; es handelt sich 
also nicht um Eine unbekannte Function, sondern um eine 
ganze Kette. Was hilft es also, wenn wir die Endglieder die- 
ser Kette, die Abhängigkeit der Muskelarbeit von dem auf eine 
Nervenstelle einwirkenden Reiz zu ergründen suchen, da wir 
die Zwischenglieder nicht kennen. Je complieirter jene Zwi- 
schenfunctionen sind, um so werthloser wird das erhaltene 
Resultat sein. 

Freilich lassen sich noch einige Lücken ausfüllen. Bringt 


Ueber das Verhältniss der Muskelleistungen zu der Stärke der Reize. 371 


man den Reiz direet auf den Muskel an, so fällt die ganze 
Reihe der unbekannten Functionen, die der Nerv mit sich bringt, 
hinweg. Denken wir uns nun das Gesetz der Abhängigkeit 
der Muskelleistungen von den direeten Muskelreizen gefunden, 
nehmen wir ferner an, dass dies Gesetz ebenfalls für den vom 
Nerven auf den Muskel übergehenden Reiz gelte, ferner, dass 
die Auslösungen zwischen je zwei Nervenmoleeülen überall dem- 
selben Gesetze folgen, so wäre die Sache schon bedeutend ver- 
einfacht. Eine Reihe von Untersuchungen, bei denen erst für 
direete, dann für indirecte Reizung an verschiedenen Stellen 
jene Abhängigkeit gesucht würde, könnte dann wohl einige 
Aufschlüsse über die verschiedenen unbekannten Functionen 
ergeben. 

Indess, wie dem auch sei, unsere Hoffnung, dass eine der- 
artige Untersuchung einen Einblick in den Mechanismus der 
Auslösungen gestatten würde, müssen wir schon a priori auf- 
geben. Trotzdem aber ist es wohl der Mühe werth, im Gro- 
ben, ohne Rücksicht auf die Theorie, die Abhängigkeit der 
Muskelkräfte von ihren Reizen zu studiren, oder mit anderen 
Worten, die Curve zu finden, die den auf die Reize als Ab- 
seissen aufgetragenen Arbeitsordinaten entspricht. 

Es existirt bis jetzt über diesen Gegenstand meines Wissens 
nur eine von Matteucci herrührende Arbeit.!) Dieselbe ist 
jedoch, prineipiell sowohl als methodisch, total verfehlt, wie 
du Bois-Reymond in seiner Kritik?) auf das Klarste nach- 
gewiesen hat. Matteucei sucht, um nur das Hauptsächlichste 
hervorzuheben, für die Muskelarbeit ein Aequivalent in dem 
Zinkverbrauch einer sie bewirkenden Kette; dass hierbei das 
Gesetz der Nervenerregung durch den Strom, so wie der Aus- 
lösungsvorgang bei der Muskelreizung gänzlich verkannt ist, 


1) Matteucci, Elektrophysiologische Untersuchungen, 7. Reihe, 
Ueber die Beziehung zwischen der Stärke des elektrischen Stromes 
und der der entsprechenden physiologischen Wirkung. Philosopbhical 
Transactions. 1847. 

2) E. duBois-Reymond in: Fortschritte der Physik im Jahre 
1847, dargestellt von der physikalischen Gesellschaft zu Berlin. Berlin 
1850. S. 412. 


372 Ludimar Hermann: 


bedarf kaum der Erwähnung. Jedes weitere Eingehen in die 
Details der Arbeit ist deshalb überflüssig. 

Zur experimentellen Ermittelung des fraglichen Verhält- 
nisses stehen uns verschiedene Wege offen. Die Arbeit eines 
Muskels ist bekanntlich das Product aus der gehobenen Last 
in die Hubhöhe; wir können also einfach einen Muskel be- 
lasten, dann verschieden starke Reize auf ihn einwirken lassen, 
und die ihnen entsprechenden Hubhöhen messen. Letztere als 
Ordinaten auf Abseissen, die den Reizen entsprechen, bezogen, 
würden offenbar eine Curve geben, die unsere Frage beant- 
wortet. Eben so gut aber kann man den umgekehrten Weg 
einschlagen; man kann nämlich dem Muskel gewisse Leistun- 
gen auftragen und die Reize suchen, welche zu ihrer Verwirk- 
lichung gerade genügen. Auch so erhält man eine Curve, 
welche der ersteren gerade reciprok ist, d. h. deren Abscissen 
den Ordinaten jener entsprechen. 

Oberflächlich betrachtet scheint die erste dieser beiden 
Methoden weit einfacher und leichter ausführbar, als die zweite; 
durch einen Kunstgriff aber lässt sich die zweite zu viel grös- 
serer Genauigkeit ausbilden. Es kommt bei ihr darauf an, ge- 
wisse Muskelarbeiten zu supponiren, und die zu ihrer Ausfüh- 
rung nöthigen Reize zu suchen. Man kann hier offenbar ent- 
weder den Muskel stets mit demselben Gewicht belasten, und 
so die Hubhöhen der Arbeit proportional setzen, also die Reiz- 
werthe bestimmen, die dieselbe Last zu verschiedenen Höhen 
zu erheben vermögen, oder die Hubhöhe constant lassen, und 
verschiedene Belastungen anwenden. Letzteres geschieht am 
leichtesten dadurch, dass man die Hubhöhe auf ein Minimum 
reducirt, die Arbeit ist dann einfach der gehobenen Last gleich- 
zusetzen. Letztere Methode ist die von mir angewandte; sie 
sucht also nach der Reihe die Reize, welche den Muskel be- 
fähigen, verschiedene Belastungen um ein Minimum zu heben. 
Die Methode der minimalen Zuckungen ist bekanntlich nicht 
neu in der Physiologie, zu genauen Messungen jedoch meines 
Wissens noch nicht verwandt. 

Der bei weitem schwierigste Theil ist jedoch die Bestim- 
mung jener Reizstärken ; offenbar muss man einen genauer Ab- 


Ueber das Verhältniss der Muskelleistungen zu der Stärke der Reize. 373 


stufung fähigen Reiz von dem geringsten Werth so weit steigen 
lassen, bis er endlich die minimale Zuckung auszulösen ver- 
mag. Wir kennen nur einen einzigen unter den Muskel- und 
Nervenreizen, der dies gestattet, nämlich den elektrischen. 
Stromesschwankungen von vergleichbarem Werthe, oder, was 
dasselbe ist, von vergleichbarer Steilheit, lassen sich leicht her- 
stellen, am besten in Form von Schliessungen oder Oeffnungen 
verschieden starker Ströme, stets durch genau denselben Vor- 
gang bewirkt. 

Um kurz zu sein, will ich gleich eine Beschreibung der 
angewandten Apparate liefern. Zur Beobachtung der mini- 
malen Zuckungen diente mir ein ursprünglich zu telegraphi- 
schen Zwecken construirter Apparat (Doppelrelais), den ich der 
Güte des Herrn Bernstein verdanke. Mit einigen Verände- 
rungen war er sehr gut zu benutzen. Zwei in Kegellagern 
a,a, (Fig. 1) sehr leicht drehbare Hebel ak und i,k, ruhen 
durch die Messingständer mm, auf dem Brette AA. Der eine 
i,k, wird an dem Ende i, durch die Feder x, deren Spannung 
mittelst der Schraube s regulirt wird, nieder gezogen, am an- 
deren Ende trägt er einen eisernen Anker h, an dem zugleich 
ein gegen die Glecke g spielender Hammer befestigt ist; senk- 
recht unter dem Hammer steht der Elektromagnet e, dessen 
Eisenkern ce eine aufgeschlitzte Hülse ist. Der andere Hebel 
hat keine Feder; am Ende k ist er nach unten und oben mit 
einem Haken versehen; der untere trägt eine Wagschale. 
Ausserdem trägt jeder Hebel in der Mitte zwischen Drehpunkt 
und Ende an der unteren Fläche eine Platinplatte n,n,, gegen 
die die Platinspitzen 0,0, zweier Schrauben mit engen Gängen 
spielen; die Muttern dieser Schrauben sind zwei gekrümmte 
Pfeiler ff, Nennen wir kurzweg die rechte Hälfte des Ap- 
parats den Hubapparat, die linke den Signalapparat. Zum letz- 
teren gehört die Kette B,, ein einziges Daniell’sches Ele- 
ment, in dessen Kreis der Elektromagnet e und der Platincon- 
tact no eingeschaltet ist. Ruht n auf o, so ist der Kern e 
magnetisch und hält den Anker h, wenn er durch die Hand 
niedergedrückt ist, fest; die leiseste Oeffnung bei no lässt so- 
gleich h zurückspringen und die Glocke ertönen. 


Fig. 1. 


yuluskun U tun 


r 
Z 


Ludimar Hermann: 


Ueber das Verhältniss der Muskelleistungen zu der Stärke der Reize. 375 


So lange h niedergehalten wird, ist der Contact n,o, des 
Signalapparates geschlossen; die Schraube ist so eingestellt, 
dass wenn n, auf o, ruht, der Anker h den Kern c nicht be- 
rührt, sondern nur unmittelbar darüber schwebt; so erreicht 
man einen sichreren Schluss bei n,o, und ein sichreres Ab- 
reissen, sobald bei no geöfinet wird. Schliesst sich no wieder 
durch Zurückfallen des Hebels ik, so kann dennoch h nicht 
auf c zurückgezogen werden, da es durch die Feder viel zu 
zu hoch emporgerissen ist; der Contact n,o, bleibt also offen, 
bis ihn ein Niederdrücken des Hebels mit der Hand wieder 
schliesst. 

Der Reizapparat besteht aus der starken Kette BB (meist 
6--9 Daniells!)), dem Metronom P, dem Rheochord Rh und 
dem Contact n,o,. Die Kette ist bei n,o,, so lange h auf k ruht, 
dauernd geschlossen, wird aber durch die am Pendel Im 
befestigte Platinspitze p, die in das (Quecksilbernäpfchen q') 
taucht, in regelmässigen Intervallen geschlossen und geöffnet. 
Da die Schliessungen durch eine regelmässige Fallbewegung, 
also stets mit derselben Geschwindigkeit geschehen, so kann 
man sie mindestens eben so gut als uniform betrachten, wie 
die des Pflüger’schen Fallapparates. — Das Rheochord ist 
eines der jetzt von Sauerwald nach Prof. du Bois-Rey- 
mond’s Angabe mit grosser Vollkommenheit construirten. 
Ausser den beiden feinen Rheochorddrähten aus Platin (dd, d,d,), 
die durch den Schieber s°) verbunden sind, enthält es noch im 
Inneren eine Reihe von Neusilberwiderständen (w), die man nach 
Belieben ganz oder zum Theil in den ungetheilten Hauptstrom 
oder in die Rheochordnebenschliessung oder auch in den Strom- 
arm für den Muskel einschalten kann, je nach der Anordnung 
der Verbindungen. In meinen Versuchen wurden sie stets für 
den ungetheilten Hauptstrom verwandt. — Der vom Rheochord 


1) Bei späteren Versuchen wurde die Kette bis auf zwei Daniells 
gebracht (s. unten). 

2) Dasselbe ist unmittelbar am Metronomkasten befestigt. 

3) Dieser besteht aus zwei einander berührenden stählernen mit 
Quecksilber gefüllten Cylindern, die von den Rheochorddrähten durch- 
bohrt sind, und bewegt sich sehr gut auf einer mit Millimetertheilung 
versehenen Schlittenbahn. 


376 | Ludimar Hermann: 


abgezweigte, zur Reizung des Nerven oder des Muskels be- 
stimmte Arm der Leitung ging zu einer Pohl’schen Wippe e, 
welche theils mit dem Kreuz zum Wechseln der Stromesrich- 
tung, theils ohne dasselbe zur Abwechselung zwischen directer 
und indirecter Reizung verwandt wurde. 

Der Muskel war an einem starken an zwei Säulen ver- 
schiebbaren Querbalken befestigt, und griff mittels mehrerer 
Zwischenstücke, worunter ein gläsernes, an dem oberen Haken 
bei k an. Der Nerv lag vor Vertrocknung geschützt in einer 
wohlverschlossenen Glasröhre, in der er auf zwei Platindraht- 
Elektroden ruhte; zur directen Reizung war der obere und der 
untere Befestigungshaken des Muskels, letzterer durch einen 
sehr feinen, spiralig gewundenen Draht mit der Wippe ver- 
bunden. 

Die Einrichtung des ne ist im Principe dieselbe, 
wie die des ersten Helmholtz’schen für den zeitlichen Ver- 
lauf der Muskelzuckung bestimmten. Er ist zu Versuchen mit 
Belastungen und mit Ueberlastungen (im Helmholtz’schen 
Sinne) gleich geeignet. — Im Beginne meiner Versuche war 
ich zweifelhaft, welche von beiden Methoden ich anwenden 
sollte, ob ich die (um ein Minimum) zu hebenden Gewichte 
einfach als Belastungen, oder nach einer bestimmten constanten 
Belastung als Ueberlastung anbringen sollte. — Der Unter- 
schied beider Methoden lässt sich genau so formuliren: Bei 
der Belastungsmethode suchen wir nacheinander die Reize, 
welche Spannkräfte, die Dehnungen von 10, 20, 50 u. s. w. 
Gramm entsprechen, um ein Minimum zu erhöhen vermögen, 
bei der Ueberlastungsmethode dagegen die Reize, welche eine 
bestimmte constante Spannung (etwa von 5Grm.) um 10 Grm. 
+ ein Min., 20 Grm. + 1 Min., 50 Grm. + 1 Min. u. s. w., 
erhöhen. A priori liess sich durchaus nicht absehen, welche 
Methode ein richtiges Bild des Fortschrittes der Leistungen 
mit den Reizen geben würde; ich beschloss daher beide nach 
einander anzuwenden, und begann mit der Belastungsmethode. 
Sie gab ein völlig unerwartetes aber sehr interessantes Resultat, 
welches zeigt, dass zur Lösung unserer Frage nur ar Ueber- 
lastungsmethode brauchbar ist. 


Ueber das Verhältniss der Muskelleistungen zu der Stärke der Reize. 377 


Als Präparat benutzte ich fast durchgängig den Gastro- 
knemius mit dem Ischiadieus des Frosches. Die obere Befesti- 
gung geschah entweder durch Einklemmung des Femur oder 
durch Einsenkung eines Hakens in den Stumpf desselben 
(Helmholtz). Der untere Haken wurde über dem Sesambein 
in die Achillessehne geheftet. 

Die Reizwerthe, die ich mittels des Rbeochords erhielt, 
konnten den Rheochordlängen proportional gesetzt werden, da 
der Widerstand der letzteren gegen den der Batterie BB und 
des Nerven, resp. Muskels, verschwindend klein war (vergl. 
du Bois-Reymond, Untersuchungen u. s. w. Bd. I. S. 273, 
Anm.), so lange ich mich in den ersten Decimetern des Rheo- 
chords hielt. Freilich bleibt dennoch ein kleiner Fehler unbe- 
seitigt; man kann nämlich wegen Unkenntniss der Curve des 
Stromansteigens bei der Schliessung, auch wenn dieselbe, wie 
bei uns, stets gleichförmig ist, nicht die Differenziale derselben 
den Stromstärken, zu welchen geschlossen wird, proportional 
setzen, denn geradlinig ist sie sicher nicht; die Schliessung eines 
doppelt so starken Stromes hat also nicht genau den doppelten 
Erregungswerth, wie die des einfachen. Indessen verschwindet die- 
ser Fehler gegenüber den anderen, ebenfalls unvermeidlichen. 

Für die Versuche wurden immer Schliessungszuckungen 
verwandt, da die Oeffnungen bekanntlich nicht gleichförmig zu 
bewerkstelligen sind; es wurden daher stets aufsteigende Ströme 
genommen, um die Schliessungszuckungen in allen Stadien der 
Erregbarkeit prädominirend zu machen (es handelt sich hier 
nur um schwache Ströme). 

Das Schema eines Versuches ist also korbriaeht Nachdem 
die Spitze o, so weit in die Höhe geschraubt ist, dass beim 
Andrücken des Hebels i,k, der Anker h sehr nahe über c 
schwebt, ohne es zu berühren, wird das Präparat befestigt, der 
Nerv durch seine Glasröhre, der Muskel durch eine umge- 
hängte mit feuchtem Fliesspapier ausgekleidete Drahthülse vor 
Vertrocknung geschützt; darauf wird die Spitze o möglichst 
herabgeschraubt, damit der Muskel frei belastet werden kann. 
Nachdem dies geschehen und die nachträgliche Dehnung abge- 


wartet ist, muss 0 gegen n sehr genau eingestellt werden. Dies 
Beichert’s u, du Bois-Reymond’s Archiv, 1861. 25 


373 | Ludimar Hermann: 


geschieht nach folgender ‚höchst genauen Methode. Nachdem 
o ungefähr bis an n geschraubt ist, wird die genauere Ein- 
stellung durch leichte Schläge mit dem Finger auf den Hebel 
ak über n bewerkstelligt; so lange man nämlich bei einem 
solchen Schlage noch ein Aufklappen von n auf o hört, ist der 
Contact noch nicht erreicht; wird dies Klappen nach fortwäh- 
rendem vorsichtigen Emporschrauben fast unhörbar, so. 'ge- 
schieht die feinste Einstellung mittels des Elektromagneten e. 
Jetzt drückt man nämlich den Hebel i,k, fast bis auf seinen 
Ruhepunkt nieder und schraubt o äusserst vorsichtig,.noch so 
lange weiter in die Höhe, bis, der Anker h in ‚schnurrende 
Schwingungen geräth; es ist dies nämlich der Moment, wo zwi- 
schen no ein ununterbrochener kleiner Funke sichtbar. ist. 
Schraubt man jetzt noch ein Minimum weiter, so hört das 
Schnurren plötzlich auf, und. der Anker bleibt über e schwe- 
bend. Diese Einstellung entspricht allen Anforderungen des 
Versuchs, und lässt sich nach einiger Uebung in wenig Se- 
cunden äusserst sicher ausführen. Natürlich steht der Apparat 
AA zur ‚Vermeidung jeder Erschütterung auf einem Console.!) 

Jetzt wird das Pendel des Metronoms in Bewegung gesetzt, 
so dass 30—40 Schliessungen in der Minute erfolgen. Nun 
schiebt man, so oft das Pendel nach der linken Seite hinüber- 
geht, d. h. zwischen je zwei Schliessungen, den Rheochordschie- 
ber s um eine bestimmte Länge, also um 1. Mm. z. B., vor, so: 
lange bis die Glocke ertönt; jetzt ist die minimale Zuckung 
erfolgt, und jede fernere Reizung hört auf, da die Kette bei 
n,o, dauernd geöffnet ist; der auf der Rheochordtheilung ‚.abge- 
lesene Werth giebt die Stromstärke an, deren Schliessung die 
minimale Zuckung bei der angewandten Belastung bewirkt hat. 

Die grobe Erfahrung lehrt, dass jeder Muskel bei steigenden 
Reizen eine gewisse Maximalarbeit erreicht, die er bei fernerer, 
Verstärkung der Reize nicht übersteigt, dass ferner diese Maxi- 


1) Ganz derselbe Apparat diente zu dem in diesem Bande S. 350 
mitgetheilten Tonusversuche, nur wurde dort statt der von unten wir- 
kenden Contactschraube o’ eine eben solche, aber von oben wirkende 
angebracht; die Einstellung geschah ebenso; dort musste 'also“eine mi-. 
nimale Verlängerung des Muskels die Glocke zum Tönen. bringen. 


Ueber das Verhältniss der Muskelleistungen zu der Stärke der Reize. 379 


malarbeit bei steigenden Reizen annähernd sehr schnell, 
vollkommen aber erst ziemlich spät erreicht wird. Hieraus 
musste man schliessen, dass die Curve der Muskelleistungen 
bezogen auf die Reizstärken anfangs ziemlich steil, dann aber 
gestreckter verlaufen, und endlich den Maximalwerth erreichen 
würde, oder dass bei unserer Methode die Werthe der Reize 
bei steigenden Belastungen zuletzt in's Unendliche wachsen 
würden. Ich war demnach auf ein anfangs langsames, dann 
aber immer schnelleres Ansteigen der Rheochordwerthe gefasst. 

Wie gross aber war mein Erstaunen, als ich, sobald die 
Unregelmässigkeiten der ersten Versuche überwunden waren, 
in den Rheochordwerthen eine von der Belastung ganz unab- 
hängige — Constanz wahrnahm! So steigerte ich z. B. in 
einem Versuche die Belastung von 5 auf 300 Gramm, und stets 
trat die’minimale Zuckung bei 12 Mm. Rheochordlänge ein, 
Allerdings kostete es erst viele vergebliche Anstrengungen, ehe 
dies Resultat erzielt wurde; denn der complieirte Apparat 
bringt bald an dieser, bald an jener Stelle Unregelmässigkeiten 
zu Wege. Die geringste Veränderung der Widerstände, die 
geringste Erschütterung oder Verunreinigung des Quecksilbers 
im Metronomnäpfchen (das daher auch nicht mit einem amal- 
gamirten, sondern mit einem eisernen Haken versehen wurde), 
vor Allem aber der geringste Fehler bei der Einstellung, na- 
mentlich wenn sie zu früh geschieht, ehe die Nachdehnung 
vollendet ist, oder ehe der vorher stärker belastete Muskel 
sich völlig wieder auf die dem geringeren Gewicht entspre- 
chende Länge verkürzt hat, jeder dieser Umstände bewirkt so- 
fort Schwankungen in den Resultaten. Ja man muss sogar 
die Anzahl und Stärke der der Zuckung vorhergehenden er- 
tolglosen Reize bei jedem einzelnen Versuch gleich machen, 
um den Einfluss der durch sie bewirkten kleinen Modificationen 
der Erregbarkeit zu eliminiren; daher wurde im Laufe eines 
Versuches bei jeder Belastung immer mit derselben Rheochord- 
stelle begonnen, und um gleiche Intervalle vorgeschritten (meist 
1—5 Mm.). Sobald aber alle diese Punkte berücksichtigt wur- 
den, erhielt ich stets jenes seltsame Resultat. In Versuchen, 
wo die Ermüdung grossen Einfluss hatte, und daher die Rheo- 

25” 


380 Ludimar Hermann: 


chordlängen mit den Belastungen etwas wuchsen, stellte sich 
dennoch jene Constanz auf das Schönste heraus, sobald ich 
mit den Belastungen nach der Weber’schen Methode wieder 
in derselben Weise zurückging, und aus je zwei gleichwerthi- 
gen Versuchen das Mittel nahm. 

Misstrauisch wegen des anscheinend paradoxen Resultates 
ging ich jetzt von den geringen Rheochordlängen, die ich aus 
den S. 377 angeführten Gründen gewählt hatte, zu grösseren 
über (indem ich die Batterie schwächte); hier mussten natür- 
lich etwaige Abweichungen von der Constanz deutlicher her- 
vortreten. Indess auch hier blieb das alte Resultat bestehen, 
wenn aueh nicht mehr in jener eclatanten Uebereinstimmung 
auf den Millimeter, doch so, dass die Resultate zwischen 5 und 
300 Gramm Belastung noch nicht um 1 Cm. von einander .ab- 
wichen.!) Man wird nicht einwenden, dass diese geringe Ab- 
weichung das Resultat umstosse, wenn man die launische Ver- 
gänglichkeit thierischer Gebilde bedenkt, und besonders, wenn 
man die unten mitgetheilten Resultate der Ueberlastungsme- 
thode vergleicht. 

Das Resultat blieb ferner dasselbe, mochte ich direete oder 
indirecte Reizung anwenden. Für die directe Reizung musste, 
da sich mit der Gestalt des Muskels bei der Dehnung Wider- 
stand und Dichtigkeit des reizenden Stromes änderte, ein hin- 
länglicher Widerstand eingeschaltet werden, um diesem Fehler 
seinen Einfluss zu nehmen; es wurde daher stets ein ziemlich 
bedeutender Waässerwiderstand W in den Kreis eingeführt. 
Uebrigens zeigten sich auch, wenn ich den Wasserwiderstand 
wegliess, keine bedeutenden Abweichungen, ein Zeichen, dass 
der grössere Widerstand durch das Länger- und Dünnerwerden 
des Muskels bei der Dehnung in der zugleich wachsenden 
Dichtigkeit: des Stromes fast compensirt wird. Der zum un- 
teren Ende ‘des Muskels geliende Draht bestand aus ‚einer 
äusserst dünnen und biegsamen Spirale. 

Erst wenn das Präparat durch stundenlanges Experimen- 
tiren erschöpft ist, bei 'wenig erregbaren und leicht vergängli- 


1) Siehe den hinten mitgetheilten Versuch, 


Ueber das Verhältniss der Muskelleistungen zu der Stärke der Reize, 38] 


chen Präparaten schon früher, hört die Constanz auf, die Rheo- 
chordwerthe wachsen schnell und regellos mit den Belastungen, 
und verhältnissmässig geringe UNS können gar nicht 
mehr gehoben werden. 

Suchen wir nun für das gewonnene überraschende Resultat 
eine Erklärung. Zuerst giebt es uns wiederum, wenn es dessen 
noch bedürfte, einen entschiedenen Beweis, dass die Muskel- 
arbeit kein Maass für den sie bewirkenden Reiz ist; denn die- 
selbe Kraft kann unmöglich verschiedene Arbeiten leisten, ver- 
schiedene Gewichte gleich hoch heben; wir haben uns also an 
die Auslösungstheorie zu halten. Auf den ersten Blick scheint 
unser Resultat auf ein Auslösungsprincip, wie das bei der !Uhr, 
hinzudeuten; wir sehen scheinbar gänzliche Unabhängigkeit der. 
frei werdenden Kräfte von den auslösenden. Die alltägliche 
Erfahrung jedoch, dass unter gewöhnlichen Umständen der 
stärkere Reiz eine stärkere Zuckung auslöst, stösst diese An- 
schauung sofort um, und zwingt uns, nach einer anderen Er- 
klärung zu suchen. 

Offenbar werden die eigenthümlichen Bedingungen, unter 
denen sich der Muskel befindet, sowie das „Minimale* der 
Zuckungsgrösse bei einer solchen hauptsächlich zu berücksich- 
tigen sein. Der mit 300 Gramm belastete Muskel ist ein an- 
derer Körper, als der nur 5 Gramm tragende; seine Spann- 
kräfte sind andere, und nur so ist es denkbar, dass dieselbe 
auslösende Kraft verschiedene Arbeiten bewirken kann. Ist 
ein Muskel durch eine Belastung gedehnt, und die sog. „ela- 
stische Nachdehnung* vorüber, so stehen jetzt die elastischen 
Kräfte mit den dehnenden völlig im Gleichgewicht; die geringste 
Vermehrung jener, und ebenso die geringste Verminderung dieser 
wird eine minimale Verkürzung herbeiführen. 

Ehe wir weiter gehen, bedarf es noch einer Verständigung 
über den Begriff des „Minimalen“, wie wir ihn hier gebrauchen. 
Die minimale Verkürzung ist bei den Verhältnissen unseres 
Apparates eine ganz bestimmte, durchaus nicht unendlich kleine 
Grösse, nämlich das Doppelte derjenigen Entfernung zwischen 
n und o, welche zur Entmagnetisirung des Elektromagneten e 


382 .oxi Ludimar Hermann: 


Li 


nöthig ist.!) Jede „minimale“ Zuckung ist also hier die He- 
bung eines Gewichts um diese ganz constante Hubhöhe, die 
wir der Kürze halber mit vo bezeichnen wollen; denn alle noch 
kleineren Zuckungen fallen aus der Beobachtung, weil sie 
die Kette nicht öffnen; stärkere aber kommen. gar nicht zu 
Stande, weil ihnen stets auf einer schwächeren Reizstufe die 
minimale hätte voraufgehen müssen, und diese schon die Glocke 
zum Tönen gebracht und jede weitere Reizung ' abgeschnitten 
hätte. | 

Das also, was zu erklären ist, ist kurz, dass, .eine be- 
stimmte Kraft in dem mit einem kleinen Gewicht (p) belaste- 
ten Muskel Kräfte auslöst, die eine Erhebung dieses Gewichts 
.um die Grösse v», also die Arbeit op bewirken, und dass die- 
selbe Kraft bei dem mit dem grösseren Gewichte '(P) bela- 
steten Muskel die zur Arbeit vo? nöthigen Kräfte frei macht, 
oder dass dieselbe Kraft bei verschieden belasteten Muskeln 
Kräfte auslöst, die den Belastungen proportional sind 
(unter der Bedingung zunächst, dass die..Hubhöhe v.,‚sehr 
klein ist). 

Wir haben oben gesehen, dass die belasteten Muskeln 
Vorräthe von Spannkräften (nämlich die elastischen) ‚haben, 
welche ganz demselben Gesetze folgen, nämlich den dehnen- 
den Kräften proportional sind. Was liegt also näher, als die 
Annahme, dass die ausgelösten Spannkräfte eben aus diesem 
Vorrathe genommen sind, dass der Reiz elastische Kräfte 
frei: macht. 

Man erkennt sofort, dass, wir auf streng empirischem Wege 
auf die Weber’sche Theorie der Muskelthätigkeit, gekommen 
sind, die in den Muskelcontraetionen überbaupt nur Aeusserun- 
gen der Blasticität sieht. | 9 | 

Um nun unsere Erscheinung auf exacte Weise mit e We- 
ber’schen Theorie in Einklang zu bringen, und einige daran 
sich knüpfende Fragen zu. erörtern, wird ein näheres Eingehen 


1) Freilich ist letztere Grösse ausserordentlich klein; eine ungefähre 
Bestimmung nach einer der Welker’schen ähnlichen Methode, mittels 
der Contactschraube, ergab, dass sie jedenfalls noch kleiner ist, als 
1/soo Mm, die minimale Verkürzung: also kleiner als !/aoo Mm. 


Ueber das Verhältniss der Muskelleistungen zu der Stärke der Reize. 383 


auf jene Theorie von Nutzen sein, die, weil sie von ihrem Ur- 
heber nur mit kurzen Worten hingestellt und mathematisch 
nicht weiter verfolgt ist, schon öfter auf Missverständnissen be- 
ruhende Angriffe erfahren hat. 

Nach Weber hat bekanntlich der Muskel sowohl für die 
Ruhe als für jeden Thätigkeitsgrad eine bestimmte natürliche 
Form, die er mit elastischen Kräften einzunehmen und zu be- 
haupten sucht; sein Elasticitätsmodulus ist im thätigen Zustande 
kleiner als im unthätigen; Weber hat dies zwar zunächst nur 
für das Maximum der Thätigkeit direct nachgewiesen; indessen 
unterliegt es keinem Zweifel, dass dasselbe auch von den nie- 
deren Thätigkeitsgraden gilt, und dass die Elastieitätsvermin- 
derung eine gewisse noch unbekannte Function der Längenab- 
nahme selbst ist. Zunächst wird sich aus der folgenden Ent- 
wicklung ergeben, dass unter diesen Voraussetzungen die Ar- 
beiten, welche derselbe Reiz auslöst, bei verschiedenen Bela- 
stungen durchaus verschieden sind. 

Bekamntlich folgt der Muskel, wie die organischen Körper 
überhaupt, in Bezug auf die Dehnungen durch Gewichte nicht 
dem für unorganische Körper gültigen Gesetze; denn während 
bei diesen die Dehnungen (innerhalb der Elasticitätsgrenzen) 
den Belastungen proportional sind, nehmen hier nach Wert- 
heim’s, Weber’s und Volkmann’s Untersuchungen !) mit 
steigenden Belastungen die durch gleiche Gewichtszuwächse be- 
wirkten Dehnungen stetig ab, so dass, während dort dieDehnungs- 
curve eine gerade Linie ist, sie hier eine hyperbolische Gestalt an- 
nimmt. Unsere Betrachtung wird sehrerleichtert werden, wenn wir 
vorläufig von diesem Verhalten absehen, oder die Eigenschaften 
des Muskels auf einen Körper von: gleichmässiger Dehnbarkeit, 
etwa eine Spiralfeder, übertragen. Es sei daher AB=L (Fig. 2) 
die natürliche Länge einer solchen Feder oder: eines gleich- 
mässig dehnbaren Muskels, und BD seine Dehnungslinie für 
die. auf BB, als Abseissen aufgetragenen Belastungen (p). 


1} Die Behauptung Wundt’s (über die Elasticität feuchter orga- 
nischer Gewebe, Müll. Arch. 1857. S. 298), dass innerhalb gewisser 
Grenzen auch hier Proportionalität herrsche, ist durch die Volk- 
mann’sche Untersuchung (dieses Archiv 1859. 8. 293) widerlegt. 


384 Ludimar Hermann; 


Fig. 2. 
@ 


2 EOBEIER 


KH=d ist dann beispielsweise die durch das Gewicht BK=p 
bewirkte Dehnung, wir können d=ap setzen, worin a eine 
Constante (die Tangente des Winkels B,BD) bezeichnet. Es 
wirke nun eine Kraft auf unseren künstlichen Muskel ein, der 
seine natürliche Länge L .auf die Grösse AC=/ vermindert. 
Bliebe seine Elastieität dieselbe, so müsste offenbar die Deh- 
nungslinie des neuen Zustandes CE mit BD nach rechts. diver- 
giren, da sich die Dehnungen bei gleicher Belastung wie die 
Längen Z und / verhalten müssten. Die Ordinatenabschnitte 
zwischen beiden Dehnungslinien, welche im Weber’schen 
Sinne den Verkürzungen entsprechen, müssten dann bei stei- 
sender Belastung zunehmen, die stärkeren Belastungen müssten 
bei gleichem Reiz höher gehoben werden, als die schwächeren. 
In der Wirklichkeit aber verhält es sich umgekehrt und eine 
Erklärung dafür finden wir in der zugleich mit der natürlichen 
Länge so bedeutend abnehmenden Elasticität, dass. die neue 
Dehnungslinie CF mit BD: convergirt, anstatt zu divergiren. 


Ueber das Verhältniss der Muskelleistungen zu der Stärke der Reize. 385 


Jetzt nehmen also die Verkürzungen mit zunehmenden Bela- 
stungen ab. Nennen wir jetzt die Dehnung IL (d.h. die Deh- 
nung des verkürzten Muskels ! durch die Belastung p) d, so 
ist dein gewisses Vielfaches von d, z. B. nd oder da d=ap 
ist, d=nap. DBezeichnen wir nun noch die Verkürzung der 
natürlichen Länge BÜ=L-! mit V, und die Verkürzung bei 
der Belastung p LH mit », so ist IK+KH=LH+IL, 


d. h. V+d=v+J, 
oder V+ap=v+4nap, 
also v=V -(n-]1)ap (1) 


Die Dehnungslinien BD und CF müssen sich offenbar, in einem 
Punkte M schneiden. Bezeichnet man die diesem Punkte ent- 
sprechende Absceisse BO mit P (d. h. die Belastung, bei wel- 
‚cher die Verkürzung vo=(0 wird), 


so ist 2 0=V-(n-1)a-P 
oder (n-1)a= ‚E 
Setzt man diesen Werth in die Gleichung (1), so erhält man: 
de 
en az (2) 


Schon diese Gleichung ergiebt, dass die bei den verschiedenen 
Belastungen geleisteten Arbeiten (vo - p) für denselben Reiz nicht 
gleich sein können, denn es müssten dann die Werthe von v 
den entsprechenden Werthen von p umgekehrt proportional 
sein. Noch klarer zeigt sich das Verhältniss, wenn man für 
die Arbeiten op=y eine Ourve auf die Belastungen als Ab- 
seissen bezogen entwirf. Die Gleichung dieser Curve findet 
.man sofort, wenn man (2) auf beiden Seiten mit p multiplicirt; 
es ist dann: 


V 
»p=y=5(Pp-P?) (3) 
Die Gestalt dieser Curve ist die in der Figur angegebene: 
RUS; sie besteht, wie die Rechnung ergiebt, aus zwei symme- 
trischen Hälften, und erreicht in der Mitte für p = = ein Maxi» 


mum TU = bi 


‚Für Belastungen, die, grösser sind als P, erreicht natürlich 


386 Ludimar Hermann: 


v einen negativen Werth, .d. h. es tritt statt der Verkürzung 
Verlängerung ein, wie die Gleichung (2) und schon die 
Betrachtung der Figur ergiebt. Die Arbeitseurve geht: daher 
jenseits S unter die Abseissenlinie, und zwar ‚ausserordent- 
lich steil. | 
Ehe wir zu den Verhältnissen bei minimalen Reizen über- 
gehen, müssen wir jetzt dem Dehnungsgesetze: des Muskels 
Rechnung tragen. Es sei (Fig. 3) AB= ZL die natürliche Länge 


Fig. 3. 
na @ var. 
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eines ruhenden Muskels und BD seine Dehnungscurve. Jetzt 
können wir die Dehnung KH mit d=F(p) bezeichnen, worin 
F (p) das noch nicht genau bekannte Dehnungsgesetz für den 
Muskel bezeichnet. Ist nun AC=/ die natürliche Länge des 
thätigen Muskels für einen gewissen Reiz, und CF die neue 
Dehnungscurve, so können wir mit grosser Wahrscheinlichkeit 
annehmen, dass das Gesetz der Dehnungen dasselbe bleibt, 
dass nur wegen des verringerten Elasticitätsmodulus jede Ordi- 
nate: ein‘ Vielfaches, also das nfache der entsprechenden 'Ordi- 


Ueber das Verhältniss der Muskelleistungen’zu der Stärke der Reize. 387 


nate der Curve BD ist; es ist dann also IL =d=nd=nF(p). 

Unter den alten Bezeichnungen haben wir jetzt also wieder: 
V+F(p)=0+n+F(p), 

also: v=V-(n-]1)F(p) (4) 

Unter den angenommenen Bedingungen müssen sich wieder die 

Curven in einem Punkte M schneiden, für dessen Abseisse 

BV=P die Gleichung gilt (vo =0 gesetzt): 


r 
lesen 

Es ist daher v=V- Sn (5) 
F(P)— F(p 

und op=y=Vp- u (6) 


die Gleichung der. Arbeitscurve. Da man die Function der 
Dehnungscurve nicht genau kennt, so lässt sich hieraus die 
Gestalt der Arbeitscurve nicht discutiren; indessen kann man, 
wenn man jene Function mit Wertheim als hyperbolisch an- 
nimmt, ungefähr auf den in der Figur gezeichneten Verlauf 
RUS, mit sehr weit nach vorn geschobenem Maximum schliessen.!) 

Bisher haben wir die Verkürzungen und die Arbeiten bei 
derselben Reizstärke unter verschiedenen Belastungen be- 
trachtet, d.h. wir haben die einem bestimmten Thätigkeitsgrade 
entsprechende natürliche Länge / und den ihr entsprechenden 
Elasticitätsmodulus, den wir m nennen wollen, unserer Betrach- 
tung zu Grunde gelegt,?) und so die verschiedenen Arbeits- 


1) Die hier berechnete Gestalt der Arbeitscurve ergiebt sich auch 
aus den Versuchen Weber’s, der („die Lehre von der Muskelbewe- 
gung“ in R. Wagner’s Handwörterbuch. III. 2. S. 96) bereits dar- 
auf aufmerksam gemacht hat, dass das Arbeitsmaximum bei einer ge- 
wissen mittleren Belastung eintritt (vgl. auch die Tabelle’ a. a. O.). 
Genaue Schlüsse darf man übrigens auch aus den Weber’schen Zah- 
len nicht ziehen, da alle Versuchsreihen mit maximalen (d. h. über- 
schüssig starken) Reizen angestellt sind, und man diese nicht als con- 
stante Reizstärke betrachten kann. 

: 2) Unser Factor n ist nämlich offenbar eine Zahl, die von den 
Veränderungen der natürlichen Länge und des Modulus abhängt; unter 


IM 
den oben angegebenen Bedeutungen ist, wie man leicht findet n= 


Lm 
(M ist der Modulus des unbelasteten ruhenden Muskels). 


388 zus Ludimar Hermann: 


kräfte ermittelt, welche dieselbe auslösende Kraft unter ver- 
schiedenen Bedingungen frei macht. Lassen wir jetzt den Reiz 
stärker oder schwächer werden, so verändert sich die natür- 
liche Länge des thätigen Muskels /, und mit ihr wächst oder 
vermindert sich auch der Elastieitätsmodulus m. Die Abhängig- 
keit zwischen / und m kennen wir noch nicht, da noch keine 
Versuche darüber existiren. Aber jedenfalls wissen wir, dass 
m eine mit / ansteigende Function von /, also m=f (!) ist, die 
für 2=L den Grenzwerth m=M erreicht (M ist der Elastici- 
tätsmodulus des unbelasteten ruhenden Muskels). Ferner lässt 
sich so viel voraussagen, dass m immer kleiner sein muss, als 
= denn wäre m= d.h. wären die Elastieitätsmoduli den 
natürlichen Längen proportional, so würden die Dehnungs- 
linien BD und OF (Fig. 2) nicht convergiren, sondern parallel 
sein, wie eine einfache Ueberlegung ergiebt. Dasselbe gilt 
von den Dehnungscurven BD und OF (Fig. 3).') 

Obgleich aber dies Gesetz der Abhängigkeit des Elastici- 
tätsmodulus von den den Thätigkeitsgraden entsprechenden na- 
türlichen Längen durch zukünftige Untersuchungen zu ermitteln 
ist, können wir doch für die uns hier zunächst interessirenden 
minimalen Verhältnisse ein sicheres Urtheil gewinnen. Wird 
nämlich der Reiz immer schwächer, / also immer grösser, so 
dass es zuletzt fast die Grösse L erreicht, so wird jedenfalls 
auch m fast genau den Werth von M erreicht haben; es wird 
also kaum noch ein Unterschied in den Elasticitäten von / und 
L existiren; die Dehnungslinie OF wird also, während der 
Punkt C immer näher an B rückt, zugleich immer mehr BD 


1) Der Elastieitätsmodulus des Muskels ändert sich schon im ruhen- 
den Zustande während der Dehnungen, und der Verlauf der Dehnungs- 
curve ist eben der Ausdruck dieses fortwährenden Ansteigens des Mo- 
dulus mit der Belastung. Man kann daher umgekehrt aus der Glei- 
chung der Dehnungscurve eine Gleichung für den Modulus ableiten; 
es ist nämlich, wenn d= F(p) ist, u (der Differenzialmodulus) = 

p 
und der Anfangswerth des Modulus, beim Beginn der Belastung 
IM I 
. . = — d en 2 . 
Auch hier ist »= N ren Fo) ist. 


L 
SZ 7751 


Ueber das Verhältniss der Muskelleistungen zu der Stärke der Reize. 389 


parallel verlaufen, so dass der Punkt M immer weiter in die 
Ferne rückt, bis zuletzt für den minimalen Reiz c,f, vollkom- 
men als BD parallel angesehen werden kann. Jetzt ist natür- 
lich die minimale Verkürzung o (l,‚H) bei allen Bela- 
stungen gleich, und die Arbeiten den Belastungen propor- 
tional. Letzteres zeigt auch die Arbeitscurve, welche bei 
schwächeren Reizen einen immer gestreckteren Verlauf nimmt, 
und endlich bei den minimalen nur noch in ihrer ersten Hälfte 
in Betracht kommt, die man jetzt als geradlinig ansteigend an- 
sehen kann (Ru,). Ganz dieselben Betrachtungen gelten für 
das Öurvenschema (Fig. 3). 

So sind wir denn durch mathematisch strenge Folgerungen 
aus den Grundsätzen Weber’s genau auf dasselbe Resultat 
gekommen, das die Beobachtungen ergeben haben und das zu- 
erst paradox erscheinen musste; gewiss eine gute Bekräftigung 
jener so heftig angegriffenen Theorie. Uebrigens ergiebt sich 
aus den eben dargelegten Betrachtungen noch eine andere 
scheinbar paradoxe Folgerung, die ich aber ebenfalls im Laufe 
meiner Untersuchungen öfter zu bestätigen Gelegenheit hatte. 
Da nämlich der Schneidepunkt M bei den schwächeren Reizen 
immer weiter in die Ferne rückt,!) so müssen Belastungen, 
die durch ‘einen gewissen Reiz nicht mehr gehoben wurden 
oder selbst Verlängerung bewirkten, durch schwächere Reize 
noch um sehr kleine Höhen gehoben werden. 

Aus dem Bisherigen ergiebt sich, dass die Methode der 
minimalen Zuckungen des belasteten Muskels für die Beant- 
wortung der uns vorliegenden Hauptfrage unbrauchbar ist, so- 
bald wir ein allgemein gültiges Gesetz für die Abhängigkeit der 
Arbeitskräfte von den auslösenden finden wollen. Wir sind 
aber jetzt in den Stand gesetzt, auch die übrigen uns zu Ge- 


1) Da nach Weber die Ermüdung sich wesentlich durch eine Zu- 
nahme der Elasticitätsverminderung bei der Thätigkeit charakterisirt 
(a. a. O. S. 116), so muss sie umgekehrt dem Punkt M immer näher 
rücken lassen. ‘So erklären sich leicht die Bedingungen, unter denen 
Weber besonders die Verlängerung bei der Reizung gesehen hat,. 
nämlich; Ermüdung, starke Reizung und starke Belastung (a. a. O, 
S. 81 (Muskel R), S. 99, 100, 116). 


390 9 ‘‘Ludimar Hermann: 


bote stehenden Methoden in dieser Beziehung zu beurtheilen 
und wir werden finden, dass keine von ihnen einen: theoreti- 
schen ‘Schluss erlaubt, so lange ein gewisses Gesetz noch nicht 
ermittelt ist, nämlich das der Abhängigkeit des Elastieitätsmo- 
dulus von‘den natürlichen Thätigkeitsläingen (w=/f(D; s.8: 
388.).?) 

Ein Beispiel‘ hierfür wird sich bei der Betrachtung der 
Ueberlastungsmethode zeigen, die ich ebenfalls angewandt 
habe. Ist ein Muskel mit einem Gewichte = so verbunden, 
dass er dadurch nicht gedehnt wird, sondern seine natürliche 
Länge L beibehält,?) und lassen wir einen Reiz auf ihn wir- 
ken, der gerade stark genug ist, dass die Ueberlastung um ein 
Minimum gehoben wird, so sind jetzt offenbar die Spannkräfte 
des Muskels mit den dehnenden im Gleichgewicht, und wir 
haben einen thätigen Muskel, der das Gewicht x trägt. Die 
Länge dieses thätigen mit » belasteten Muskels ist dieselbe 
wie die des unbelasteten unthätigen Muskels (genauer: 
um ein Minimum kürzer; dies Minimum kann aber offenbar 
vernachlässigt werden). In unseren Figuren entspricht die Or- 
dinate VY diesem Verhältnisse. Wenn BW=z ist, so hat der 
mit belastete thätige Muskel die Länge L (VW=AB). Der 
Reiz, der die minimale Hebung der Ueberlastung bewirkt hat, 
würde also offenbar, wenn die Ueberlastung Belastung gewesen 
wäre, das Gewicht = um die Höhe WX =» gehoben haben. 
'vist aber in diesem Falle (Fig. 2) =ax (die Dehnung durch 
das Gewicht z), oder in Fig. 3 =F(n). 

Wir tragen dem Muskel bei der Ueberlastungsmethode ver- 
schiedene Arbeiten auf und suchen den Reiz, der sie auszu- 
lösen im Stande ist; dieser Reiz, direct oder indirecet, bewirkt 


1) Da der wirkliche Modulus des Muskels sich mit den Belastun- 
gen ändert, so handelt es sich hier um die Anfangswerthe (vgl. S. 388 
Anm.), denn nach unserer Voraussetzung (S. 386) müssen sich die Mo- 
duluswerthe des thätigen und unthätigen Muskels für dieselbe Belastung: 
stets wie die Anfangswerthe verhalten. . 

2) Bei der Ausführung der Ueberlastungsmethode hat der Muskel 
nieht genau seine natürliche Länge, sondern er wird stets erst: durch 
eine. geringe Belastung gedehnt, ehe man die Ueberlastung auflegt; 
doch können wir dies hier unbeachtet lassen. ; 


Y 
Ueber das Verhältniss der Muskelleistungen zu der Stärke der Reize. 39] 


nach der Weber’schen Theorie eine gewisse Veränderung der 
natürlichen Form und Elasticität des Muskels, die so beschäffen 
ist, dass die Dehnung der neuen Form durch das Gewicht x 
gerade die alte Länge des ruhenden Muskels wiederherstellen 
würde. Wir suchen demnach für verschiedene Werthe von x 
‘die zugehörigen Werthe von V, oder was dasselbe ist, von /, 
und von m. Wir finden aber auch nicht diese direct, sondern 
die direeten ‚oder indirecten Reize, welche L in ! und # inm 
verwandeln. Könnten wir nun nach der Weber’schen Theorie 
aus der Grösse z die Grössen / oder Y und m berechnen, so 
wäre sehr viel gewonnen; wir hätten nämlich dann das Ver- 
hältniss der Reize zu den Umwandlungen der natürlichen Ge- 
stalt des Muskels ermittelt. Setzt man in die Gleichung (1) 
für p den Werth = und für v den Werth az, so erhält man: 
an=V-(n-1)ar, oder setzt man ferner für seinen 
aus den natürlichen Längen und den Modulis resultirenden 
Werth, nämlich na ‚und für V=L-1, so ist 

L-DLm 
en 
und ebenso aus Gleichung (4) abgeleitet: 

F (a) = (L- en 
IM 
Wie man sieht, scheitert die Berechnung, selbst wenn die Deh- 
nungen (F (z)) genau ermittelt sind, an der Unkenntniss der 
Abhängigkeit m=f(!). 

So haben denn also die Versuche mit Ueberlastungen kei- 
nen theoretischen Werth; sie haben nur den empirischen, dass 
man ungefähr die für verschiedene genau gemessene, dem Mus- 
kel aufgetragene Arbeiten nöthigen Reize vergleichen kann. 
Die dem Muskel aufgetragenen Arbeiten würden für unser 
geradliniges Schema = ax? zu setzen sein, für den Muskel selbst 
sind sie =7-F(r). Man sieht hieraus, dass die Arbeiten sich 
durchaus nicht wie die Ueberlastungen verhalten, sondern wie- 
die Producte aus diesen in die Dehnungen, die sie am ruhen- 
den Muskel bewirken würden, dass sie also viel schneller als 
jene wachsen. Schon hieraus lässt sich. erwarten, dass die 


[77 


392 Ludimar Hermann: Ueber das Verhältniss u. s. w. 


Reizstärken viel schneller als die Ueberlastungen ansteigen 
werden. | 

Dies zeigen auch die Versuche. Ueber die Ausführung ist 
wenig zu sagen; der Muskel wird zuerst schwach belastet, 
dann der Contact no in bekannter Weise eingestellt, dann die 
Ueberlastung aufgelegt, die natürlich keine Dehnung bewirken 
kann, weil der Hebel ik durch den Contact gestützt ist. 
Jetzt wird der Reizapparat in Gang gesetzt, und die Reize bis 
zum Ertönen der Glocke verstärkt. Auf die genaueren Zahlen 
ist wegen eines Uebelstandes kein grosser Werth zu legen, den 
ich nicht habe vermeiden können. Lange ehe die Ueberlastung 
gehoben, also der Contact geöffnet wird, sieht man nämlich 
trotz der genauesten Einstellung bei jeder Schliessung ein leich- 
tes Zucken des Muskels, das aber die Belastung nicht zu heben 
vermag. Die Ursache davon liegt wahrscheinlich in der un- 
gleichen Spannung der Fasern; die weniger gespannten können 
sich verkürzen, ohne dass der Contact geöffnet wird; !) natür- 
lich macht dies die Resultate ungenau. Dennoch tritt das oben 
besprochene schnelle Ansteigen der Reizstärken deutlich her- 
vor, sowohl bei directer als bei indirecter Reizung. Ich theile 
jener Ungenauigkeit wegen nur eine Versuchsreihe mit, und 
daneben einen zugleich angestellten Belastungsversuch. 


(Reizende Batterie: 2 Daniell’sche Elemente. Directe Reizung.) 


Belastungsversuch. Ueberlastungsversuch, 
Belastung Rheochordlänge Belastung Weberlast. Rheochordlänge 
5 Grm, 21,0 Cm. 5 Grm. — Grm. 21 Cm. 

1077, >10. , D% 10, , 2 

30 ,„ 29095, 9er SUR, ch) 

50 „ Ze es N 50 „ 40 , 

70 > 21,31, Se 0. Sn 
+09°,, 21,3%, De 100 „ 714 ,„ 
250 , BB, 5 DER, 250 ,„ 122,74 
300 „ 21,8 5 8, 300 „ wird nicht erreicht. 


Wie man sieht, lässt sich aus den Zahlen des Ueberlastungs- 
versuchs kein genaues Gesetz erkennen. 


1) Besonders giebt beim Gastroknemius der eigenthümliche Faser- 
verlauf zu diesem Verhalten Anlass; doch konnte ich keinen anderen 
Muskel statt seiner anwenden. 


Otto Deiters: Beitrag zur Histologie u. s. w. 393 


Die in dieser Arbeit mitgetheilten Versuche sind im Laufe 
des vorigen Jahres im hiesigen physiologischen Laboratorium 
angestellt. Herrn Prof. du Bois-Reymond, der mir. die 
Räumlichkeiten und Apparate desselben mit seiner bekannten 
Liberalität zur Verfügung stellte, sei hier auch öffentlich mein 
innigster Dank ausgesprochen. 


Beitrag zur Histologie der quergestreiften Muskeln.‘) 


Von 


Dr. OTTO DEITERS ın Bonn. 
„(Hierzu Taf. X.) 


Die Histologie der quergestreiften Muskeln ist in jüngster 
Zeit vielfach Gegenstand eingehender Untersuchungen gewesen. 
Dieselben haben von Neuem den Beweis geliefert, nach wie 
vielen Seiten hin der auf den ersten Blick einfach erscheinende 
Gegenstand eine Bearbeitung verlangt und wie verschiedener 
Auffassungen die Einzelheiten fähig sind; man darf wohl mit 
Recht sagen, dass jede Arbeit, welche wirklich zur Aufklärung 
beitrug, auch mehr Aufzuklärendes in den bisherigen Kreis der 
Anschauungen gebracht hat. | 

Seitdem die bedeutungsvollen Untersuchungen Brücke’s 
den verschiedenen Hypothesen über die terminalen Verhältnisse 
der contractilen Substanz ein einstweiliges Ziel gesetzt haben, 
mussten andere Fragen in den Vordergrund treten. Unter die- 
sen dürfte diejenige nach den genetischen Verhältnissen dieses 
Gewebes für den Augenblick eine hervorragende Bedeutung 


1) Die Aufmerksamkeit, welche dem quergestreiften Muskelgewebe 
in jüngster Zeit in vorwiegendem Maasse zugewendet wird, veranlasst 
mich zur Veröffentlichung; der nachfolgenden vor längerer Zeit zusam- 
mengestellten Notizen. Da die Resultate derselben durch die neuesten 
Arbeiten in diesem Gebiete nicht modificirt zu werden scheinen, so 
wird mir die Mittheilung auch ohne specielles Eingehen auf solche ge- 
stattet sein. 

Reichert's u, du Bois-Reymond’s Archiv. 1861. 26 


394 Otto Deiters: 


beanspruchen. Man hat zu der Ueberzeugung kommen müssen, 
dass, wie bei den übrigen Geweben des erwachsenen Organis- 
mus, auch hier das Verständniss des fertigen Gewebes nur an 
der Hand der Entwicklungsvorgänge möglich wird; man hat 
aber zugleich erkannt, dass das Verständniss der Entwicklungs- 
vorgänge, nicht nur den Aufbau des Gewebes aus embryonalem 
Bildungsmaterial, sondern ganz besonders auch die morpholo- 
gischen Veränderungen des fertigen Gewebes und den mögli- 
chen Aufbau dieses aus anderen, scheinbar nicht verwandten 
Geweben in sich zu begreifen hat. Im Einzelnen ist diesen 
Anforderungen mannichfach Rechnung zu tragen versucht wor- 
den. Eine Verständigung ist noch nicht erreicht. Die Haupt- 
aufgabe, die histogenetischen Ergebnisse mit dem Befunde des 
fertigen Muskels in Einklang; zu setzen, ist mit den bisherigen 
Resultaten nicht zu lösen. 

Ein Theil der Beobachter denkt sich die contractile Masse 
des Primitivbündels durchzogen von einem System anastomo- 
sirender zelliger Elemente, den längst bekannten Muskelkör- 
perchen, welche früher als Kerne einfach auf das Sarkolemma 
bezogen wurden. A. Böttcher und ©. OÖ. Weber vertreten 
diese Ansicht ganz besonders. Die Untersuchung, am fertigen 
Muskel angestellt, hat gewiss alles gethan, wenn sie diese so- 
genannten Kerne als durch das ganze Primitivbündel vertheilt 
nachwies, wenn sie um dieselben einen hellen, häufig körnigen 
Hof als leicht zu beobachten lehrte, der sich regelmässig in 
eine obere und eine untere Spitze auszieht und oft genug, be- 
sonders an Querdurchschnitten, seitliche mit benachbarten ana- 
stomosirende Ausläufer erkennen lässt, wenn sie diese Körper- 
chen unter glücklichen Verhältnissen zu isoliren lehrte, wenn 
sie dieselben mit flüssigen und sogar mit körnigen Massen er- 
füllte, wenn sie endlich in denselben den Ausgangspunkt pa- 
thologischer Producte (der fettigen Degeneration, der Eiterbil- 
dung u. s. w.) nachwies. Man sieht nicht ein, was von Seiten 
der directen Beobachtung, am fertigen Muskel angestellt, noch 
weiter geschehen kann, und als reines Beobachtungsergebniss 
ist daher diese Lehre einer Discussion einstweilen nicht wohl 
fähig. Die nachfolgenden Zeilen gehen im Allgemeinen von 


Beitrag zur Histologie der quergestreiften Muskeln. 395 


der Richtigkeit derselben aus und ohne alle Einzelheiten (z. B. die 
selbständige isolirt denkbare Zellmembran, die mannichfachen 
seitlichen Anastomosen u. s. w.) für allgemeingültig erwiesen 
zu erachten, suchen sie für das Princip den histogenetischen 
Beweis zu geben. Sie müssen damit. begreiflicher Weise mit 
den hauptsächliehsten gegenwärtig angenommenen histogeneti- 
schen Theorieen in dieser Sache in Widerspruch treten. Höch- 
sten$ die neuen Angaben von Margo, die ich später zu er- 
wähnen habe, würden mit der angegebenen Ansicht über die 
Struetur des Muskelprimitivbündels in Einklang zu bringen 
sein; den Widerspruch, den Margo selbst hier zu finden glaubt, 
kann ieh nicht finden. Denkt man sich aber in dem Primitiv- 
bündel ein anastomosirendes, indifferentes Zellennetz, umgeben 
von der contractilen Masse und abgeschlossen durch eine strue- 
turlose Membran (das Sarkolemma), so kann dasselbe unmög- 
lich einer einzigen Zelle oder einer Zellenreihe in der Art sei- 
nen Ursprung verdanken, dass die contractile (quergestreifte) 
Masse Zelleninhalt, das Sarkolem Zellmembran sei. 

Es bedarf also keiner weiteren Erörterung, wie viel hier 
noch zu einer Verständigung fehlt und wie es vor Allem auf 
eine Entwicklungstheorie ankommt, nach der sowohl die spä- 
tere Structur des Primitivbündels, -als die späteren Entwick- 
lungsvorgänge erklärt und verstanden werden können. Ich 
hatte deshalb schon vor einiger Zeit die histogenetischen Ver- 
hältnisse nach einer Riehtung hin untersucht, welche bis jetzt 
unberücksichtigt geblieben ist, und ich theile meine Ergebnisse, 
soweit sie abgeschlossen sind, mit, da ich in nächster Zeit nicht 
in der Lage bin, dieselben fortzusetzen und zu verallgemeinern. 
Es war nämlich die Möglichkeit des Entstehens von querge- 
streiftem Muskelgewebe aus anderen, nicht verwandten Gewe- 
ben, insbesondere aus dem Bindegewebe, welche ich mir zur 
Untersuchung vorgesetzt hatte uud von der ich hoffen musste, 
einen nicht unwesentlichen Beitrag zum Verständniss des Pri- 
mitivbündels zu erhalten. Da nach dieser Seite hin die Ge- 
schichte des fraglichen Gewebes noch nicht untersucht ist, 
so ‚dürfte die Mittheilung nachfolgender Ergebnisse gerechtfer- 
tigt sein, | 

26* 


396 Otto Deiters: 


Es mag; mir, ehe ich dazu übergehe, gestattet sein, die Be- 
ziehung dieser Frage zu einer anderen verwandten 'hervorzu- 
heben, welche mir zu dieser Untersuchung Veranlassung ge- 
geben hatte, die aber nach Beantwortung dieser Nebenfrage 
das Interesse mehr oder weniger verloren hat, ich meine die 
Lehre vom Wachsthum des Muskels im Ganzen. Die letztere 
ist zum Oefteren discutirt, und unter ‘Anderen auch von’ mir 
in meiner Dissertation (De ineremento musculorum, Bohnae 
1856) behandelt worden, deren Resultate wenig bekannt 'ge- 
worden sind. Die Frage war so gestellt worden: entstehen in 
nachembryonaler Zeit, also in dem wachsenden Muskel, noch 
neue Primitivbündel, oder ist die Zahl von Anfang an eine be- 
stimmte, und geschieht dann also das Wachsthum des ganzen 
Muskels nur durch eine Volumszunahme sämmtlicher Primitiv- 
bündel. In dieser Form hat eigentlich die Frage kein beson- 
deres Interesse; sie wird erst wichtig durch ihre histologische 
Seite, wenn nämlich nach Feststellung der Möglichkeit des spä- 
teren Entstehens der Modus eben dieser Entstehung klar er- 
kannt wird. Die Frage war daher folgendermassen zu stellen: 

Der wachsende Muskel besteht aus dichtgedrängt neben 
einander stehenden Primitivbündeln ‚ welche durch ein mehr oder 
weniger entwickeltes, lockeres Bindegewebe verbunden sind. 
Sollen also neue Bündel entstehen, so muss dies entweder von 
den schon vorhandenen aus durch Theilung ‘oder aber in dem 
zwischenliegenden Bindegewebe aus den Elementen eben dieses 
Gewebes heraus geschehen. Eine Theilung kommt nicht vor. 
Es fragt sich also: lässt sich die Entwicklung des querge- 
streiften Muskelgewebes direct aus Bindegewebe als möglich 
nachweisen und ist demgemäss vielleicht überhaupt die Kluft, 
welche Muskelgewebe und Bindegewebe histologisch trennt, 
so gross nicht, als dies gewöhnlich angenommen zu werden 
pflegt? 

Die Frage scheint von manchen Beobachtern ohne weiteres 
als eine zu bejahende angenommen worden zu sein, ohne dass 
aber der allgemeingültige Beweis in den betreffenden Arbeiten 
zu finden wäre, Die Wiederaufnahme war also motivirt. Die 
Entscheidung musste, wie begreiflich, solchen Fällen entnom- 


Beitrag zur Histologie der quergestreiften Muskeln, 397 


men werden, wo im fertigen Organismus neu entstehende Pri- 
mitivbündel mit Sicherheit zur Beobachtung gebracht werden 
können. 

Solcher Verhältnisse giebt es zwei: Die pathologische Neu- 
bildung und die Regeneration. 

Ueber die erstere stehen mir keine eigenen Beobachtungen 
zu Gebote; die zum Theil seit längerer Zeit in der Literatur 
verzeichneten Fälle scheinen mir eine Entscheidung vor der 
Hand nicht zu gestatten. Es versteht sich allerdings von selbst, 
dass in den Fällen von Entwicklung quergestreiften Muskelge- 
webes an Stellen, denen dieses normal fehlt, ein solches Ver- 
halten a priori angenommen werden musste. Rokitansky 
(Heschl), Virchow, Billroth, Senftleben haben solche 
Fälle mitgetheilt. In allen diesen blieb die Art der Entste- 
hung insofern unaufgeklärt, als das. neugebildete Gewebe nicht 
auf das ihm ‘den Ursprung gebende zurückgeführt werden 
konnte. Die meisten der mitgetheilten Formen zeigen schon 
das fertige Primitivbündel, die früheren schliessen weder hin- 
sichtlich der Beobachtung, noch hinsichtlich der Erklärung, jeden 
Zweifel 'aus. In allen wird die contractile Substanz als aus 
dem metamorphosirten Zelleninhalt hervorgegangen aufgefasst, 
aber zum Theil diese Auffassung durch Abbildungen erläutert, 
denen 'es vielleicht erlaubt sein dürfte, gerade die umgekehrte 
Deutung unterzulegen. Am genauesten und vorsichtigsten mit- 
getheilt ist der Fall von Virchow. „Die einzelnen Elemente 
waren hier lange, mässig breite und sich gegen die Enden hin 
verdünnende Faserzellen, gewöhnlich mit einem länglich-ovalen 
Kern und sehr deutlicher, mässig dichter Querstreifung  ver- 
sehen. : Die Kerne lagen immer dem Zelleninhalt peripherisch 
an, denn bei gewissen Stellungen sah man die Kerne in eine 
hyaline Membran, weiche sich vor und hinter ihnen etwas ab- 
hob, eingeschlossen an einer Wand hervorstehen, gleichsam in 
einer Hernie der Membran. An solchen Stellen liess sich die 
Querstreifung ‘gewöhnlich ‘nicht deutlich über den Kern herüber 
verfolgen. Hie und da legten sich diese Faserzellen mit ihren 
Enden aneinander, so jedoch, dass die hinter einander liegen- 
den Zellen sich dachziegelförmig in einander schoben. Eine 


398 Otto Deiters: 


wirkliche Verschmelzung der so gelagerten Zellen schien nieht 
vorzukommen. Eben so wenig liess sich mit Sicherheit fest- 
stellen, ob die quergestreiften Faserzellen aus einfachen glatten 
Faserzellen hervorgingen. Allerdings fanden sich solche zahl- 
reich genug vor, allein sie konnten eben so wohl als Entwick- 
lungsstufen von Bindegewebe aufgefasst werden.“ Virchow 
selbst fügt diesen Worten die Bemerkung hinzu, dass man oft 
einen Anschein von Querstreifung an Faserzellen findet, ohne 
dass man sie als musculöse betrachten kann. 

Die Angaben von Billroth und von Senftleben ent- 
halten im Ganzen diesen ähnliche Verhältnisse. In der Arbeit 
von Senftleben wird wohl die Möglichkeit, dass die quer- 
gestreifte Masse einfach als Intercellularsubstanz, speciell als 
Zellenausscheidung zu deuten sei, zuerst klar und bestimmt 
hingestellt, allerdings nur aus theoretischen Gründen erschlos- 
sen, welche eine solche Nöthigung nicht in sich zu schliessen 
scheinen. | 

Ausser den angeführten Angaben über Muskelneubildung an 
Orten, denen dieses Gewebe normal fehlt, ist noch der von 
©..O. Weber beschriebene Fall zu erwähnen, in dem neuge- 
bildete Primitivbündel in einer bypertrophischen Zunge be- 
obachtet wurden. Der Beschreibung und den Abbildungen 
nach zu schliessen sind aber die hier beobachteten Formen, 
wenn auch jungen, so doch nicht jüngsten Datums, und sie 
können um so ‚weniger zur Entscheidung der uns beschäftigen- 
den Fragen beitragen, als die Erklärung des Beobachteten noch 
unter dem Einfluss der Lehre von einem organisirbaren plasti- 
schen Exsudate steht. 

Iu allen übrigen Fällen, wo hypertrophische Musculatur un- 
tersucht wurde, konnte eine Neubildung nicht constatirt wer- 
den, wohl aber eine beträchtliche Volumszunahme sämmtlicher 
vorhandener Primitivbündel, welche die Volumszunahme des 
ganzen Muskels hinlänglich zu erklären schien. 

Da demnach aus den Verhältnissen bei der pathologischen 
Neubildung, soweit die bisherigen Untersuchungen reichen, ein 
klares und: zuverlässiges Bild des Entwicklungsmodus nicht ge- 
wonnen wurde, so glaubte ich in der ‚Regeneration entfernter 


Beitrag zur Histologie der quergestreiften Muskeln. 399 


Muskelpartieen ein zweckmässiges Mittel gefunden zu haben, 
um diese Frage in genügender Weise lösen zu können. Das 
Object der Untersuchung waren Froschlarven, bei denen die 
leichte Regeneration entfernter Schwanzstücke seit langem be- 
kannt ist; Tritonenlarven leisten denselben Dienst. 

Schon in den bisherigen Untersuchungen über normale Ent- 
wicklung der quergestreiften Muskeln spielen die Froschlarven 
eine Hauptrolle und sind mehrfach fast ausschliesslich zur Be- 
gründung der Theorie benutzt worden, Es ist deshalb hier vor 
Allem zu discutiren, in wiefern man es hier mit ganz einfachen 
Entwicklungsvorgängen zu thun hat, und ob nicht etwa schon 
beim einfachen Wachsen des unverkürzten Schwanzendes com- 
plieirtere Verhältnisse der Art, wie sie nachstehend beschrieben 
werden, obwalten. Ich glaube, dass das letztere allerdings 
durch die normale Anordnung der Musculatur in dem Frosch- 
larvensehwanze wahrscheinlich gemacht wird. In dem unver- 
kürzten Schwanzende giebt es nämlich eine kleine Spitze, in 
welche ausser der feinen Chordaspitze und dem sie umgeben- 
den Bindegewebsstratum nur sparsame Gefäss- und Nervenver- 
zweigungen, aber keine Muskeln hineinreichen. Die Anord- 
nung in dem überstehenden Schwanze ist so, dass hier in regel- 
mässiger Gruppirung übereinander stehende kurze Muskelpri- 
mitivbündelreihen durch schmale, bindegewebige (sehnige) 
Zwischenräume getrennt werden, wodurch eine mit blossem 
Auge erkennbare, treppenartige Anordnung entsteht. Ich weiss 
nicht genau, ob: bei dem normalen Wachsen des Froschlarven- 
schwanzes immer der Spitze zunächst neue Primitivbündelreihen 
gebildet werden, oder ob nur die vorhandenen in die Länge 
wachsen; das erstere ist mir aber der bedeutenden Kürze der 
Bündel wegen wahrscheinlicher; ist ‘dieses erstere aber der 
Fall, so muss es hier eine ganz physiologische Umwandlung 
von Bindegewebselementen in quergestreiftes Muskelgewebe 
geben. Die wirkliche Existenz ‚dieser Möglichkeit lässt sich 
dadurch wahrscheinlich machen, dass fast dieselben Formen, 
welche gleich als der Regeneration zugehörig beschrieben wer- 
den, auch hier zur Beobachtung kommen können, ‚, Das Stu- 
dium der Regeneration würde dann nur den Vortheil haben, 


A400 Otto’ Deiters:\Beiträge/zur Histologie u. s. w. 


in Bezug auf das den Ursprung gebende Gewebe jeden Zweifel 
auszuschliessen und durch dieraschere Entwicklung, den rascheren 
Wechsel der Formen, die charakteristischen Bildungen zu glei- 
cher: Zeit in grösserer Zahl und Mannigfaltigkeit zur Beobach- 
tung kommen zu lassen. "Sie würde also mit grosser Bestimmt- 
heit die Umwandlung des fertigen Gewebes in Muskelgewebe 
demonstrirei können. ; Ich nenne das constituirende Gewebe 
des Froschlarvenschwanzes ein fertiges und will damit nur: die 
vollkommen’ fertige histologische Differenzirung aussprechen; 
es kommt: für meinen Zweck nicht darauf an, den Nachweis 
der Bildung aus: Bindegewebe, wie es im erwachsenen: Orga- 
nismus repräsentirt wird, geliefert zu haben, sondern eben nur 
aus einem der Bindesubstanzgruppe zugehörigen Gewebes, das 
sich in vollkommen normalem. Entwicklungsgange in Muskel- 
gewebe umwandelt. ' In dieser Hinsicht: ist, ‚glaube ich, das 
Object für alles das beweiskräftig, was in der nachstehenden 
Untersuchung von ihm verlangt wird. | 

Die Beobachtung der Folgen, ‚welche die Entfernung eines 
Schwanztheiles der Froschlarve nach sich zieht, hat die Auf- 
merksamkeit zunächst und: vor: Allem auf die Theile zu rich- 
ten, welche dem Schnitte zunächst liegen und unmittelbar. von 
ihm getröffen sind. 

Auf ‚die entzündlichen. Reizzustände, ‘welche begreiflicher 
Weise als die erste Folge eintreten müssen, gehe ich nicht.ein; 
sie sind so unbedeutend, dass sie von den beginnenden Wachs- 
thumsvorgängen kaum zu trennen sind; einer vorübergehenden 
Kernvermehrung, welche ich in den zunächst getroffenen Mus- 
keln häufig antraf, thue ich nur deshalb Erwähnung, um sie 
von der Theilnahme an dem weiteren Wachsthum  auszu- 
schliessen. ‘Was schon durch die charakteristische Anordnung 
der Museculatur , noch mehr durch die bedeutenden Breitenun- 
terschiede zwischen den älteren und ‘den 'regenerirten Primitiv- 
bündeln wahrscheinlich gemacht wird, dass nämlich die. über- 
stehenden Muskeln an der Bildung der. regenerirten ganz un- 
betheiligt sind, ergiebt die genauere een u... 
ganz unzweifelhaft, ' KSERBN 

(Fortsetzung folgt.) 


Otto Deiters: Beitrag zur Histologie u. s. w. 401 


Beitrag, zur Histologie der quergestreiften Muskeln. 


Von 


Dr. OrTo DEITERS ın Bonn. 
(Hierzu Taf. X.) 
(Fortsetzung.) 


Während die Regeneration beginnt, beobachtet man in 
den Elementen aller betheiligten Gewebe in grosser Zahl die- 
jenigen Formen, welche auf eine rege Fortpflanzung deuten- 
Zellen mit einem Kern und mehreren Kernkörperchen, Zellen 
mit getheiltem und doppeltem Kern, abgeschnürte Zellen u. s. w. 
sind in regelmässiger Reihenfolge in dem Bindegewebe sowohl 
wie in dem Epithel vertreten, während zugleich eine Gefäss- 
neubildung stattfindet, in einer Weise, die hier nicht näher zu 
erörtern ist. Während auf diese Weise die betreffenden Ge- 
webe gleichzeitig regen Vermehrungsprocess eingehen, entsteht 
eine kleine neugebildete Schwanzspitze, in der bis zu einer ge- 
wissen Zeit nichts von musculösen Elementen wahrzunehmen 
ist. Wie lang dies Stück werden kann und wie lange Zeit es 
überhaupt dauert, bis neugebildete Muskelprimitivbündel auf- 
treten, varlirt sehr, sowohl nach der Jahreszeit als nach der 
Eigenthümlichkeit der untersuchten Individuen. Während bei 
den jungen Froschlarven die Regeneration sehr rasch von 
Statten geht und also dieses Stadium sehr rasch vorüber ist, 
dauert dasselbe bei den überwinternden viel länger und lässt 
sich hier die Zeit auch nicht annähernd bestimmen. 

Man hat also auf diese Weise ein Parenchym einer homo- 
genen, glänzenden Intercellularsubstanz mit einer Menge stern- 
förmiger mit sehr vielfachen Ausläufern versehener Zellen er- 
halten, in denen häufig ein sich theilender Kern, häufig ein 


doppelter Kern erkannt wird. Die anastomosirenden Ausläufer 
Reichert'3 u. du Bois-Reymond’s Archiv. 1861, 97 


402 a ge‘ 'Ötto Deiters: Hth.8EFO 


sind sehr lang und dem Rande des Schwanzes zunächst meist 
so charakteristisch angeordnet, dass die grössere Zahl einander 
nahezu parallel radienartig nach aussen gekehrt erscheint. In 
«etwas anderer Weise werden diese sternförmigen Zellen in un- 
mittelbarer Nähe der Chorda dorsalis gefunden, an der Stelle, 
wo später die Reihe von neuen Muskelelementen sichtbar wird. 
Die allgemeine Form derselben erscheint hier der Art modifi- 
eirt, dass durch ungleiche Ausbildung der Ausläufer die Zellen 
entweder vollkommen oder nahezu spindelförmiger Gestalt sind. 
Diese Zellen geben das Bildungsmaterial für die neu entste- 
henden Muskelelemente ab. Hat man den Schwanz so weit 
wachsen lassen, dass schon eine ganze Strecke hinter einander 
gelegener neuer Muskeln beobachtet werden kann, so hat man 
die ganze Reihe von Entwicklungsstufen, welche die sternför- 
migen Zellen zu Muskelelementen durchmachen, klar. vor 
Augen. Man kann dann zunächst die Beobachtung; machen, - 
dass nieht Schicht vor Schicht die neuen Muskelelemente neu 
und vollständig: gebildet werden, so dass alle Bestandtheile der 
oberen Schichten nur zu wachsen brauchten, während sich die 
unteren erst bilden, sondern man findet noch in allen Schichten 
alle Entwicklungsstufen. Es fällt zunächst auf, dass die Grup- 
pirung der Musculatur in dem neu gebildeten Stück noch nicht 
die oben angeführte regelmässige Ordnung einhält; man findet 
anfangs noch eine mehr unregelmässige Anordnung, der ent- 
sprechend das eine Bündel’ länger ist als ein anderes, in eine 
tiefer stehende Reihe hineingreift u.s. w. Man findet zugleich 
in gleich hoch stehenden Reihen nicht alle Primitivbündel in 
gleicher Weise entwickelt und hat also schon in dieser frühen 
Periode Wachsthumsverschiedenheiten anzunehmen, ohne ‚die 
mänche Vorkommnisse des fertigen Muskels nicht zu verste- 
hen sind. re 
Ich gehe zu den Einzelheiten über. An der Grenze der 
Chorda dorsalis, an der Stelle, die in übergelegenen Stücken 
von den: jüngsten Muskelelementen ausgefüllt ist, findet man, 
wie vorhin bemerkt, spindelförmige Zellen, langgestreckt, mit 
länglichem Kern und punktförmigen Kernkörperchen, als un- 
mittelbare Uebergangsbildungen aus den sternförmigen Zellen 


Beitrag zur Histologie der quergestreiften Muskeln. 403 


des umgebenden Bindegewebes. Nicht selten haben diese noch 
unvollkommene  'Sternform, ‘indem noch mehrere Ausläufer, 
wenn auch untergeordneter Form, zu beobachten sind; das er- 
stere aber schien mir die Regel. Beide Typen lassen sich als 
mögliche Ausgangspunkte einer Muskelneubildung nachweisen. 
Man findet nämlich als nächstes diesen Formen sich anschlies- 
sendes Bild eine solche langgestreckte Zelle, anfangs noch mit 
einem Kern, später mit mehreren, welche an der einen Seite 
der Zellwand einen langen, gleichmässigen Verdickungssaum 
trägt, der schon in der Weise des fertigen Primitivbündels in 
zwei Schichten (Substanzen) differenzirt erscheint (quergestreift 
ist) (Vergl. Fig. 2 u. s. w.). In seltenen aber wie ich glaube 
unzweifelhaften Fällen, habe ich einen solchen Saum gesehen, 
der:noch keine Querstreifen zeigte. Ein solcher Saum liegt 
ausserhalb der Zelle; er hat die Breite einer Primitivfibrille, 
und so wie er breiter wird, lässt er leicht mehrere neben ein- 
ander liegende Schichten erkennen, die eben so leicht in ein- 
zelne Fibrillen sich sondern. Während an der Zelle dieser 
Verdickungssaum sichtbar wird, behält sie im Ganzen ihre nor- 
malen Attribute. Auf der gegenüberstehenden Seite ist ihre 
Wand unverändert zu erkennen; zwischen ihr und dem grossen 
länglichen Kern liegt ein höchst feinkörniger, nie quergestreif- 
ter Inhalt, der selbst bei weit vorgerücktem Stadium des eben 
zu keschreibenden Processes in ziemlicher Menge und unver- 
änderter Gestalt sichtbar bleibt. Wie schon oben gesagt, wer- 
den häufig an der Zelle, auch wenn der Verdiekungssaum schon 
vorhanden ist, ausser den beiden Spitzen noch mehrere seit- 
liche Ausläufer wahrgenommen (Fig. 2e., Fig. 7), an denen 
von Querstreifen keine Spur wahrgenommen wird. ‘Die beiden 
dem Verdickungssaum anliegenden Spitzen werden häufig von 
diesem abgelöst angetroffen, ja sogar die ganze Zelle kann sich 
unter glücklichen Verhältnissen, nach Insultationen des Prä- 
parates, von demselben trennen, ohne selbst alterirt zu werden 
(Fig. 2b., Fig. 3, Fig. 4 u. s. w.). Besonders charakteristisch 
war in dieser Hinsicht ein Präparat, dem Fig. 3 entspricht, 
wo die ganze Zelle leicht in der Art von dem Saum getrennt 
werden konnte, dass diese nur noch mit der Spitze befestigt 
27° 


404 uM nslliorısO4te DieidiensysiH 


blieb. Der auf diese Weise entstandene Saum erscheint: fast 
immer mit durchweg glattem Rande ‚und wird‘ auch meist so 
gerade gerichtet angetroffen, dass die ganze Zelle dadurch eine 
mehr oder minder geradgestreckte Richtung erhält, die sie auch 
dann nicht verlässt, wenn sie von dem Saum abgetrennt wird. 

Bei fortschreitender Entwicklung sieht man das auf diese 
Weise entstandene Gebilde in Länge und Breite in eigenthüm- 
licher Weise zunehmen, so dass andere Bilder, zum Vorschein 
kommen, wie. sie Fig. 4, 5 ff. abgebildet sind. ‚Man sieht 
dann Formen, .an Länge wie an Breite zunehmend, und beider- 
seits Saum und Zelle in gleicher oder ungleicher Weise bethei- 
list. Dadurch müssen natürlich, je. nachdem der eine oder der 
andere der hier zu beobachtenden Vorgänge die Oberhand hat; 
sehr verschiedene Formen zum: Vorschein kommen, die zum 
Theil seit. längerer Zeit bekannt sind und zu ganz anderen 
Ansichten Veranlassung gegeben haben. 

Die Bilder, welche auf ein Wachsthum der Zelle deuten, 
zeigen einerseits den Breitendurchmesser vergrössert und: den 
Inhalt vermehrt, also die ursprüngliche Spindelgestalt mehr 
oder weniger verwischt; auch der vermehrte Zelleninhalt bleibt 
dabei klar, ungetrübt, selten leicht körnig,; nie aber querge- 
streift (Fig. 4d.). Zugleich findet man in solchen Zellen. den 
Kern etwas. vergrössert, sehr selten aber mehrere Kerne in der 
Breite neben einander liegend (Fig. 5). Mehr in die Augen 
fallend ist das Wachsthum der Zellen in die Länge, wobei 
eine. excessive Kernvermehrung längst beobachtet ist und .die 
Theorie, welche das ganze fertige Primitivbündel aus einer 
Zelle herleitete, veranlasst hat. : Diese Kernvermehrung ist’ so 
bekannt, dass darüber kein Wort zu verlieren ist; es scheint 
mir indessen, dass es nicht immer bei dieser einfachen. Wuche- 
rung ‚bleibt, sondern dass auch Einschnürungen um die neuge- 
bildeten Kerne von Seiten der Zellwand vorkommen, also auch 
die Zelle im Ganzen einer Theilung, ‘einer Vermehrung fähig 
ist; für den zu beschreibenden Process ist diese Frage unwe- 
sentlich. Kin 

Auch der entstandene Saum! ist einer Breiten- und Längen- 
zunahme fähig. In beiden Richtungen ist es, während der, Zu- 


Beitrag zur Histologie der quergestreiften Muskeln. '405 


nahme nicht möglich, quergestreifte und nicht quergestreifte 
Partieen zu beobachten; also wenn es ein Stadium giebt, wo 
der eben gebildete Saum noch nicht quergestreift ist (wofür 
allerdings einige Formen sprechen), so muss dieses so rasch 
vorübergehen, dass es sich der Beobachtung entzieht. Unter 
den Bildern, welche auf ein Wachsen des Saumes deuten, fal- 
len zunächst und zumeist solche auf, bei welchen derselbe 
breiter erscheint, wie in den jüngsten zuerst beschriebenen 
Formen. Auch der breitere Saum zeigt immer vollkommen 
scharfe Conturen, nie unregelmässige Ränder und eine in seiner 
ganzen Länge fast vollkommen gleich bleibende Breite, die nur 
gegen das Ende hin etwas zugespitzt sein kann. Schon bei 
den frühesten Formen eines wirklich gewachsenen Saumes ist 
eine Längsstreifung leicht und ohne Anwendung eingreifender 
Reagentien zu beobachten, welche je nach dem Vorgeschritten- 
sein des Processes den quergestreiften Theil in eine mehr oder 
minder grosse Zahl gleich breiter Längstheile zu zerlegen 
scheint. Sehr leicht zerfallen letztere in wirkliche Fibrillen, 
deren also der Saum mit zunehmendem Wachsthum eine regel- 
mässig zunehmende Zahl erhält. Zur Untersuchung dieser Ver- 
hältnisse dienen am besten frische Präparate, zur Verdeutlichung 
mit verdünnter Jodtinetur gefärbt, bei grösseren Individuen 
aber, wo nur auf Durchschnitten passende Bilder erhalten wer- 
den, — Präparate mit doppeltchromsaurem Kali bereitet. Chrom- 
säure passt nicht. Es kommt zur Schätzung dieser Verhält- 
nisse wenig darauf an, ob man die wirkliche Trennung in Fi- 
brillen der Präparation, dem Reagens zuschreibt; es ist nur 
die völlige Gleichmässigkeit der durch jedes Hülfsmittel erhal- 
tenen Fibrillen und die regelmässige Zunahme dieser Theile 
von den jüngsten Formen zu den ältesten zu beachten. Die- 
selbe deutet dem zu beschreibenden Vorgang gemäss auf eine 
regelmässig schichtweise Absetzung der quergestreiften Sub- 
stanz, deren einzelne Schichten den später sogenannten Fibril- 
len entspreehen. Insofern würden dann die Fibrillen in dem 
Primitivbündel wirklich präexistirende Gebilde sein, ohne dass 
damit aber zugleich die Nothwendigkeit gegeben ist, dass die- 


406 Otto Deiters: 


selben dies auch noch in der späteren Entwicklung des Pri- 
mitivbündels bleiben. 

Nach der Spitze der muskelbildenden Zelle hin gr sich 
mehrere verbunden liegende Fibrillen meist etwas zugespitzt 
an einander zu legen, indessen kommen auch abgestumpfte 
Enden vor, 

Auch die breiter gewordene Spitze wird von der Spitze der 
Zelle häufig abgelöst und frei abstehend gefunden. 

Das Wachsthum der quergestreiften Masse in die Länge ist 
an und für sich einfach und nur insofern einer besonderen Be- 
sprechung bedürftig, als es sich um das Verhältniss der ver- 
schiedenen Wachsthumsrichtungen unter einander und zu dem 
Wachsthum der Zelle handelt. 

Bei der Beobachtung dieser Verhältnisse findet man fast 
beständig eine gewisse Unregelmässigkeit, vermöge welcher 
entweder die eine oder die andere Wincheiumseichtaig die 
Oberhand behält. 

Bezieht sich dies auf die Zelle, so nimmt diese an Länge 
und Breite zu, vermehrt die Kerne, vermehrt den homogen 
bleibenden nicht quergestreiften Inhalt, wird aus dem spindel- 
förmigen Körper ein langes, kernreiches Band — während der 
Saum, der natürlich in der Länge nicht zurückbleiben kann, 
seine anfängliche Breite behält. (Vgl. Fig. 4a.) Dies ist in- 
dess der seltenere Befund; viel häufiger werden andere Formen 
angetroffen, welche auf ein übermässiges Wachsen des Saumes 
deuten. Es kann vor allen Dingen vorkommen, dass der Saum 
in der Länge selbständig über die Länge der Zelle hinaus- 
wächst. Die charakteristischen Bilder, wo sich die Spitze der 
Zelle von der viel länger hinausragenden Spitze des querge- 
streiften Saumes gelöst hat, sind nicht gerade selten. 

Es werden aber eben so gut Bilder gefunden, welche eine 
bedeutende Breitenzunahme des Saumes zeigen, während seine 
Länge unbedeutend bleibt und während die Zelle selbst ihre 
ursprüngliche Gestalt wenig verändert (Fig. 5, Fig. 7a.). Ne- 
ben den bis jetzt beschriebenen Formen finden sich 'unzweifel- 
haft, aber seltener andere, bei denen die muskelbildende Zelle 
nicht nur einen Verdickungssaum an einer Seite, sondern meh- 


Beitrag zur Histologie der quergestreiften Muskeln. 407 


rere an verschiedenen Seiten stehende Säume absetzt: Ein sol- 
ches Bild zeigt z. B.. Fig. 4b., wo sich die verschiedenen 
Säume unten zu einer Spitze zusammenlegen. Es kann unter 
solchen Verhältnissen, welche die selteneren zu sein scheinen, 
vorkommen, dass die Zelle schliesslich ganz von der querge- 
streiften Masse umgeben wird, wirklich innerhalb derselben ge- 
legen ist. 

In den eben beschriebenen Bildungen ist, wie ich glaube, 
das Prineip gegeben, demzufolge wenigstens in dem vorliegen- 
den Falle die Bildung der quergestreiften Masse von der Zelle 
aus’ geschieht. Die weitere Frage ist, auf welche Weise führt 
dieser Process zu dem abgeschlossenen Gebilde, welches als 
Primitivbündel bezeichnet wird? Die Beobachtung zeigt For- 
men, welche auf zwei Möglichkeiten deuten: ‘Das Primitiv- 
bündel kann aus einer einzigen Zelle entstehen, es können sich 
aber auch mehrere Zellen zur Bildung eines Primitivbündels 
zusammenlegen. 

Wenn eine einzige Zelle ein Primitivbündel bildet, so findet 
man eine solche Zelle gewöhnlich von einem quergestreiften 
Saum begrenzt, der an Breite und Länge einem jungen , aber 
in seiner Bildung vollendeten Primitivbündel entspricht. _ Die 
Zelle zeigt dann eine Reihe meist hinter einander gelegener, 
sehr selten zum Theil auch neben einander liegender Kerne 
und kann ihren homogenen Inhalt noch längere Zeit bewahry 
haben. Die quergestreifte Masse, welche sich dann meist bei- 
derseitig etwas zuspitzt, kann sich unter solchen Verhältnissen 
ganz oder zum Theil in Fibrillen zerfasern, ohne dass dabei 
die Zellmembran nothwendig zerstört zu werden braucht. 

Auch in diesem Stadium kann die Zelle noch seitliche Aus- 
läufer besitzen. Eine einzige Zelle kann noch auf eine zweite 
Art .der Ausgangspunkt "eines Primitivbündels werden; man 
findet Formen, wo die Bildungszelle schliesslich inmitten der 
quergestreiften Masse liegt; der Absetzungsprocess ist also in 
solehen Fällen nicht ein einseitiger gewesen. e 

Viel häufiger indessen als die eben beschriebenen. Formen 
habe ich andere gefunden, wo an der Bildung eines Primitiv- 


408 Otto Deiters: 


bündels mehrere Zellen betheiligt waren. Die meisten der ab- 
gebildeten Formen gehören dieser Kategorie an. 

Die Bildungszellen legen sich in solchem Falle nie ini 
hinter einander; seltenere Befunde von wirklich direct hinter 
einander liegenden Zellen, wie Fig. 2a., werden natürlicher 
als durch Abschnürung getheilte angesehen. : Die bildenden 
Zellen legen sich vielmehr entweder einfach neben einander 
(Fig. 3, Fig. 6 u. s. w.) oder was das Häufigere ist, etwas 
schräg neben einander, so dass sie sich zum Theil decken 
(dachziegelförmig). Die hier zu beobachtenden Formen ge- 
hören zu den für das Prinzip wichtigsten. Sie sind sehr: ver- 
schiedener Art. Die einfachsten sind die, wo die quergestreifte 
Masse auf beiden Seiten entweder von je einer Zelle und ihren 
Derivaten oder von je einer Zellenreihe begrenzt wird, z. B. 
Fig. 6. Neben diesen finden sich andere, wo sich sogar drei 
Zellenreihen in dieser Art neben einander legen (Fig. 4e.). 
Endlich sind unregelmässigere Bilder zu erwähnen, welche 
vielleicht die Mehrzahl ausmachen, wo die Zellen unsymmetrisch 
einander gegenüberstehen, wo die eine von der quergestreiften 
Masse umgeben ist, während die andere frei die letztere: be- 
grenzt u. dgl. m. (Fig. 8). 

Von ganz besonderer Wichtigkeit ist in diesen Fällen ein- 
mal die Möglichkeit des Auseinandertretens der Fibrillen, dann 
aber ganz besonders die sehr verschiedene Theilnahme der zu 
einem Bündel gehörenden Zellen an der Bildung desselben. 
Eine solche Verschiedenheit beobachtet man zuerst hinsichtlich 
der einfachen zelligen Veränderungen. An demselben Primi- 
tivbündel findet man Zellen mit einer ganzen Reihe von Kernen 
und hinwiederum Zellen von einfach spindeltörmigem Charakter 
und einfachem Kerne (Fig. 6). Aehnliche Verschiedenheit wird 
in dem Verhältnisse zu der quergestreiften Masse bemerkt. Es 
lässt sich oft genug deutlich zeigen, dass in solchen Fällen 
die scheinbar ganz gleichmässige quergestreifte Masse eines 
Bündels in einzelne Provinzen zu zerlegen ist, von denen jede 
einer besonderen Zelle als Matrix angehört. Nicht nur, dass 
die Masse’ häufig in so charakteristischer Weise auseinander 
tritt, wie in Fig. 4e, es werden sogar Beispiele gefunden, wo 


Beitrag zur Histologie der quergestreiften Muskeln. 409 


sich eine verschiedenartige: Ausbildung dieser Provinzen nach- 
weisen lässt, : In Fig. 8a,:b, c,‘d sieht man vereinzelte, los- 
gelöste, einer selbständigen Zelle angeheftete Fibrillen von viel 
geringerer Länge wie die Hauptmasse, ja sogar eine ganze 
einer Zelle angehörende Gruppe kürzerer Fibrillen wird beob- 
achtet. ‘Es hat bei dieser Bildung des Primitivbündels nichts 
Auffallendes, dass bei fortschreitender Entwicklung entweder 
alle: Bildungszellen von der 'quergestreiften Masse eingeschlos- 
sen werden oder nur zum Theil innerhalb derselben liegen, 
zum Theil ‚dieselben begrenzen. Sowie die Zelle ganz in der 
quergestreiften Masse liegt, ist ohne besonders günstige Lage 
meist nur der Kern oder die Kerne der Beobachtung zu- 
gänglich. 

Auch in den Auffassungen des Primitivbündels von Ley- 
dig und Margo wird eine solche Zerlegbarkeit desselben an- 
genommen. Sie giebt zugleich einen weiteren Anhaltspunkt ab 
für das Verständniss des Primitivbündels im Ganzen. Das das 
Bündel abschliessende Sarkolemma kann ihr zufolge unmöglich 
einfach als Zellmembran oder als Abkömmling einer Zellmem- 
bran aufgefasst werden, mag man sich diese als einer einzigen 
Zelle oder als einer Zellenreihe entsprechend denken. Es ist 
schwer, für die Bildung dieser Membran einen sicheren An- 
haltspunkt zu finden, also den wirklichen Abschluss des Pri- 
mitivbündels zu erkennen. In den bisher beschriebenen For- 
men war das Sarkolemma sicher noch nicht vorhanden, Die 
begrenzenden, zum Theil noch mit seitlichen Ausläufern ver- 
sehenen Zellen, vor Allem aber die leichte Zerlegbarkeit der 
Fibrillen liefern den Beweis. Man muss also dasselbe für eine 
spätere secundäre Bildung halten, die man sich vielleicht am 
natürlichsten als eine schliessliche Erhärtungsschicht des die 
Fibrillen zusammenhaltenden Bindemittels denkt. Margo’s 
Ansicht ist dieser sehr ähnlich. Ich sehe kaum eine andere 
Möglichkeit. Aus der Beobachtung aber den strieten Beweis 
zu liefern, würde misslich sein. 

‘Ich schliesse die Angabe der directen Beobachtungsergeb- 
nisse damit,'dass ich auf den leicht zu constatirenden Zusam- 
menhang der muskelbildenden Zellen mit den Bindegewebsele- 


410 al orten Otto: Deiters: 


menten der Sehne aufmerksam mache, Der Uebergang: beider 
heterogener Gewebe, alsö der ‚Abschluss des Primitivbündels 
zu beiden Enden’ ist daher nur insofern ein plötzlicher, als die 
beiderseitigen Intercellularsubstanzen unvermittelt an einander 
stossen; die zugehörigen Zellen stehen in Continuität. 

Die erhaltenen Resultate glaybe ich in folgenden a 
zusammenfassen zu dürfen: 

1. Die Umwandlung eines der Bindesubstanzgruppe zuge- 
hörenden Gewebes in quergestreiftes Muskelgewebe ist möglich 
und nicht nur durch pathologische Beobachtungen, sondern auf 
ganz normalem Wege zu constatiren. 

2. Die geschieht in solchem Falle direct von den Binde- 
substanzzellen aus, welche dabei ihre spindelförmige Gestalt, 
mitunter sogar ihre Sternform behalten. 

3. Der Process besteht im Wesentlichen darin, dass die 
Zelle die quergestreifte Masse auf die äussere Zellwand ab- 
setzt; dieselbe hat demnach die Bedeutung einer Intercellular- 
substanz. 

4. Sie erscheint anfangs in Form eines einifa6herl; langen, 
glatten, sehr bald quergestreiften Verdickungssaumes, einer Fi- 
brille entsprechend und nimmt zu, indem immer neue: entspre- 
chende Schichten nach aussen abgesetzt werden; je weiter: vor- 
gerückt der Process, in desto mehr gleichmässige Fibrillen lässt 
sich der Saum zerlegen. | 

5. Die Absetzung erfolgt meist einseitig, kann aber auch 
mehrseitig vorkommen. 

6. Während dieses Processes wächst die Zelle unter be- 
deutender Kernvermehrung; gleichzeitig nimmt der querge- 
streifte Saum an Länge zu und kann sogar sehr weit über die 
Zelle hinaus sich verlängern. 

7, Auf diese Weise kann eine Zelle die Bildung eines Primi- 

tivbündels bewerkstelligen; meist dagegen tragen mehrere dazu 
_ bei; letztere liegen nie gerade hinter einander, sondern entwe- 
der gerade neben einander oder. der Art schräg hinter einan- 
der, dass sie sich zum Theil dachziegelförmig decken. Seit- 
liche Anastomosen derselben wurden nicht gesehen. 


Beitrag zur Histologie der quergestreiften Muskeln. 411 


8. Die Bildungszellen hängen mit den Bindegewebszellen 
des Sehnengewebes zusammen. 

9. : Das Sarkolemma ist das letzte Product des sich ab- 
schliessenden Primitivbündels; es ist nicht Zellmembran und 
‚wahrscheinlich den sog. Cuticularbildungen einzureihen. 

10. Nach dem eben entwickelten Princip wäre das fertige 
Muskelprimitivbündel aufzufassen als eine Gruppirung meist 
spindelförmiger Zellen, durch eine unverhältnissmässig' ent- 
wickelte, quergestreifte Intercellularsubstanz getrennt und durch 
eine Outicularmembran abgeschlossen. Die spindelförmigen 
Zellen (Muskelkerne) werden durch die Entwicklungsgeschichte 
als Zellen charakterisirt, und haben vor der fertigen Bildung 
des Primitivbündels unzweifelhaft eine selbständige Zellmem- 
bran; ob letztere dagegen auch im erwachsenen Zustande den 
Muskelkernen noch zukommt, soll damit nicht gesagt sein und 
es ist dies eine Frage, über die die Entwicklungsgeschichte 
nicht zu entscheiden hat. | 

ll; Es ergäbe sich demnach eine grössere Analogie zwi- 
schen den Bindesubstanzen und dem quergestreiften Muskelge- 
webe, als man bisher annehmen konnte. 

Die vorstehend mitgetheilten Untersuchungen sind allerdings 
ebenso wie die daraus gezogenen Schlüsse nur einem Unter- 
suchungsobjeete entnommen, und es kann ihnen demnach der 
Anspruch auf allgemeine Geltung wohl mit Recht - bestritten 
werden. Indem ich dies gern zugebe, muss ich doch vor Allem 
hinzufügen, dass sich das Object, wie vorhin bemerkt, wahr- 
scheinlich nur unwesentlich von dem ganz normal wachsenden 
Froschlarvenschwanze, dem vielleicht am meisten untersuchten 
Objecte, unterscheidet, ‚ferner dass die Resultate zum Theil 
Bildern ‚entnommen wurden, die auch anderen Beobachtern 
vorgelegen haben und nur ‚anders erklärt wurden. Ganz be- 
sonders aber führe ich an, dass wohl nur nach der eben durch- 
geführten Anschauung die Structur des erwachsenen Primitiv- 
bündels und dessen pathologische Veränderungen verständlich 
werden, Es ist endlich wohl noch kein Beispiel bekannt, dass 
zwei ganz und gar. differente histogenetische Processe wie die 


412 lsdlsrM notes Diesen us yenisfl 


intra- und extracellulare Bildung schliesslich ein und ES 
histologische Product haben können. Blei 

" Der Auffassung der Masse des Primitivbündels als Intercel- 
lularsubstanz und speciell als Zellenausscheidung, die, wenn 
auch bisher nicht bewiesen und nicht einmal bestimmt ausge- 
sprochen, doch nicht gerade neu ist, stehen nicht nur die älte- 
ren histogenetischen Ansichten, als ganz besonders’ die neuen 
sorgfältigen Angaben von Margo entgegen. Bis vor Kurzem 
waren über die Entwicklung des Primitivbündels ‘die. ‘Theorie 
von Schwann und die neuen von Remak (Kölliker u. A.) 
ziemlich allgemein genannt, und die letzte zumeist angenommen. 
Sie laufen daraufhinaus, dass ein Primitivbündel histogenetisch 
entweder einer einzigen, excessiv wuchernden Zelle ihren Ur- 
sprung verdankt, oder einer Reihe hinter einander gelegener 
ursprünglich getrennter Zellen, deren Membran Sarkolem würde, 
während ihr Inhalt sich in die quergestreifte Masse metamor- 
phosire. Beide Annahmen müssen verlassen werden, ‘sobald 
man sich hinsichtlich der Structur des fertigen Bündels auf den 
besonders von Böttcher und ©.O. Weber vertretenen Stand- 
punkt stellt, demzufolge noch im erwachsenen Zustande die 
quergestreifte Masse von einem anastomosirenden Zellensystem 
durchzogen ist. Ich halte diese Angaben ihrem Wesen nach 
für richtig, wenn auch mit einigen Modificationen und glaube 
insbesondere, dass die vorstehend mitgetheilten Ergebnisse sehr 
zu ihrer Unterstützung beizutragen geeignet sind. Es gelang 
ihnen zufolge, die mit allen Charakteren einer Zelle versehe- 
nen isolirbaren Bildungszellen successive in die bekannten Mus- 
kelkerne zu verfolgen, es gelang ferner, dass Sarkolem als 
spätere Bildung nachzuweisen und endlich einen Zusammen- 
hang der Bildungszellen mit den Elementen der Sehnen zu er- 
kennen. Es wurde indess auch bemerkt, dass seitliche Ana- 
stomosen zusammentretender Bildungszellen nicht sicher gese- 
hen wurden, und dass also darin die Entwicklungsgeschichte 
die obigen Angaben nicht unterstützen würde. Eben so wenig 
ist natürlich dieselbe im Stande, die um die späteren sog. Mus- 
kelkerne supponirte Zellmembran zu beweisen, also’ das ganz 
geschlossene Röhrensystem innerhalb des erwachsenen Primitiv- 


Beitrag zur Histologie der quergestreiften Muskeln. 413 


bündels zu constatiren. Die Theorie verlangt indess dies letz- 
tere wohl'kaum und die Angaben der genannten Untersucher 
werden dadurch in ihrer Bedeutung nicht modificirt. Die Phy- 
siologie der Zelle hat zu der Ueberzeugung geführt, dass eine 
Zelle sowohl in ihren: ersten Stadien einer ‚geschlossenen Mem- 
bran entbehren kann, als auch: dass sie, wenn ihr anfangs eine 
solche zukommt, dieselbe im Lauf ihrer Entwicklung verlieren 
kann, ohne damit in functioneller Hinsicht ihrer zelligen Be- 
deutung verlustig zu gehen. 

Während also mit einer diesen Grundsätzen entsprechenden 
Ansicht über die Structur des fertigen Primitivbündels die äl- 
teren histogenetischen Ansichten nicht vereinbar sind und einer 
genaueren Widerlegung kaum bedürfen, verhält es sich anders 
mit den neuen ausgedehnten Untersuchungen ‘von Margo. 
Nach diesen 'entsteht die contractile Masse des Primitivbündels 
durch Verschmelzung einer Gruppe von zelligen Elementen, 
welche sich etwas schräg neben einander ‚legend verschmelzen, 
nachdem sich:ihr Inhalt in charakteristischer Weise differenzirt, 
Querstreifen angenommen hat. In letzter Form werden sie 
Sarkoplasten genannt. :Miargo hat diese Ansicht mit der eben 
entwickelten Structur des fertigen Primitivbündels für so un- 
‚vereinbar gehalten, dass er die desfallsigen Angaben einfach in 
Abrede stellte, wozu keine Berechtigung und auch keine Nö- 
thigung vorliegt... Man kann sich recht wohl das Primitivbün- 
del. in analoger Weise entstanden denken, wie sich Kölliker 
die Entstehung des gewöhnlichen Bindegewebes ‚denkt, dass 
nämlich nur ein Theil der consti:uirenden Zellen seinen Inhalt 
differenzirt und verschmilzt, Intercellularsubstanz wird, ein an- 
derer dagegen in zelliger Form persistirt, die Muskelkörperchen 
abgiebt. Ich möchte diese Möglichkeit auch schon deshalb her- 
vorheben, um den Beweis zu führen, dass die Annahme eines 
Zellennetzes ‘innerhalb ‘des Primitivbündels nicht nothwendig 
(wie Senftleben: meint) die Deutung der contractilen Substanz 
als Zellenausscheidung a priori verlangt. Margo’s Ansicht 
würde diesen intrafaseicularen Zellen nur in dem allerdings zu 
beobachtenden Falle entgegenstehen, dass sich das Primitiv- 
bündel nur aus einer Zelle und ihren Theilungsproducten 


414 loan aorti Otto Deiters: 


hervorbildete, Nur in diesem Falle, den ich als ersten Einwand 
gegen Margo’s Ansicht aufstellen möchte, wird; die Annahme 
der contractilen Masse als eines ausserhalb der'Zelle gelegenen 
Productes theoretisch gefordert. In allen anderen ‚ welche die 
Mehrzahl zu sein scheinen, muss die Beobachtung die betref- 
fenden Bilder zu Gunsten der einen oder anderen Ansicht zu 
deuten versuchen. Ich glaube allerdings, dass unter: den be- 
schriebenen und abgebildeten Formen die Mehrzahl wirkliche 
Beweiskraft besitzen, und ich will daher nur kurz die Gründe 
und Gegengründe für die eine oder andere Meinung neben ein- 
ander stellen. 

Die Hauptgründe dafür liegen, wie ich glaube, in Fol- 
gendem: 

1. Ist die quergestreifte Masse Zelleninhalt, so —. sie 
sich in toto weder von der ganzen Bildurgszelle, noch auch 
nur von der Spitze derselben loslösen. Fig.'2, 3, 4,5 u.s.w. 

2. Dieselbe kann sich unter keinen Umständen in Fibril- 
len sondern, ohne die Zellmembran zugleich zu zerstören. 

3. Die Masse, als allmählige Metamorphose des Zellenin- 
haltes, darf nicht gleich anfangs in Form einer glatten, ‚geraden 
Fibrille ersgheinen. Vgl. Fig. 2. 

4. Man muss bei entstehenden und wachsenden Zellen an- 
nehmen, dass allmählig die Zelle von der quergestreiften Masse 
ausgefüllt wird; statt dessen sind die ersten Zellen meist so 
schmal spindelförmig, dass sie manchmal kaum für eine einzige 
Fibrille Raum abgeben würden, und der homogene, weder kör- 
nige noch quergestreifte Inhalt nimmt anfangs noch in glei- 
chem Maasse wie der en. Saum zu. Vgl. Fig. 2, 
Fig. 4d. u. s. w. 

9. Die quergestreifte Masse kann über die Zelle king 
wachsen. 

6. Die: Spitze derselben ist häufig genug schon auhkhg 
abgestumpft, in jedem Falle aber der Zellenspitze nicht ent- 
sprechend. | 

7. Wenn mehrere Bildungszellen zusammentreten, so be- 
halten dieselben ihre Individualität, sie sind entweder vollstän- 


Beitrag zur Histologie der quergestreiften Muskeln. 415 


dig oder mit dem ihnen u. Theil der en 
ten Masse isolirbar. | 

‚Den angeführten Punkten ie darf man: sich nicht 
verhehlen, dass eine solehe Auffassung vieles scheinbar wider- 
sprechende, vieles Unerklärliche in sich schliesst. Dies liegt 
vor Allem in der. Thatsache einer so eigenthümlichen Zellen- 
ausscheidung, von der es:schwer hält, sich gegenwärtig einen 
klaren Begriff zu machen, und die‘ wohl nur durch den Hin- 
weis: auf die entwickelten Zellenauscheidungen, deren die ver- 
gleichende Histologie täglich mehr kennen lehrt, plausibel ge- 
macht: werden kann. Das Paradoxe liegt hier wohl vor Allem 
darin, dass wohl kaum eine schon differenzirte Masse nach aus- 
sen abgesetzt werden kann, dass also das abgesetzte' Product 
noch weiteren Veränderungen unterworfen sein muss. Ich will 
zu dem Ende nicht die zweifelhafte Beobachtung eines noch 
nicht differenzirten Saumes anführen; im Gegentheil ist zuzu- 
geben, dass es sich hier um Verhältnisse handelt, welche der 
Beobachtung noch nicht zugänglich sind, also nicht nach der 
einen oder anderen Richtuug benutzt werden dürfen. Es ver- 
hält sich ebenso mit der Frage, ob sich innerhalb eines und 
desselben Primitivbündels Altersverschiedenheiten hinsichtlich 
der quergestreiften Masse nachweisen lassen, eine Frage, zu 
deren Beantwortung die Hülfsmittel fehlen. 

Ich glaube nicht, dass die eben besprochenen Beobachtun- 
gen: direet angegriffen werden können, aus dem Grunde, weil 
die Hauptbeweise aus den verschiedenen Trennungsmöglich- 
keiten genommen sind, und also das Resultat selbst dann nicht 
geändert würde, wenn man einzelne der angeführten Bilder für 
durch die Präparation erzeugte Kunstproducte erklären wollte, 
Aus diesem Grunde glaube ich dieselben auch denjenigen Bil- 
dern entgegenstellen zu dürfen, welche bisher über die Ent- 
wicklung des Primitivbündels gegeben worden sind, und aus 
denen die entgegengesetzte Theorie hergeleitet worden ist. Die 
grösste Mehrzahl dieser Formen lässt gerade in dieser Frage 
beide Möglichkeiten offen und gestattet nach keiner Seite hin 
einen entscheidenden Beweis. Es wird mir erlaubt sein, als 
Beispiel auf die in Kölliker’s Gewebelehre S, 204 abgebil- 


416 ‚mHoaan »..Otto Deiters: s geist 


dete Fig. 113, der die meisten der auch von anderen Forschern 
abgebildeten, wirklich ersten Entwicklungsstüfen dem ‘Wesen 
nach entsprechen, hinzuweisen. Es bedarf keines Beweises, 
dass in diesen Formen die quergestreifte Masse auch als aus- 
serhalb der Zelle gelegen aufgefasst werden kann. Nur eine 
Beobachtung würde, glaube ich, der Verallgemeinerung der eben 
durchgeführten Anschauung geradezu entgegenstehen, nämlich 
dieExistenz wirklich vollständig quergestreifter Zellen. Ich weiss 
nicht, ob solche von einzelnen Forschern mit vollkommener 
Sicherheit beobachtet worden sind; die Vorsicht, mit der vor- 
urtheilsfreie Forscher über dieselben sprechen, darf wohl’ zu 
einigem Zweifel veranlassen. Ich habe dieselben nicht gesehen. 
Es ist aber gewiss von Wichtigkeit, dass selbst Untersucher, 
welche dieselben annehmen, auf die Täuschungen aufmerksam 
machen, zu denen der Anschein einer Querstreifung Anlass’ ge- 
ben kann, und auf das Vorkommen von Querstreifen an Thei- 
len, welche nicht musculös sind. Ich möchte hinzufügen, dass 
selbst ein quergestreifter Saum der Art, wie er eben beschrie- 
ben wurde, bei ungünstiger Lage sehr leicht innerhalb der Zelle 
zu liegen scheinen kann. 


Im Vorhergehenden ist, wie ich glaube, die Möglichkeit 
dargelegt, dass aus Geweben, welche der Bindesubstanz- 
gruppe angehören, Muskelgewebe sich entwickeln könne, 
Wenn man davon ausgeht, so ist eigentlich die Mög- 
lichkeit, dass auch in nachembryonaler Zeit im wachsenden 
Muskel neue Primitivbündel entstehen, evident bewiesen, und 
ich glaube, man kann sich mit dieser Möglichkeit begnügen, 
da ja auf die Kenntniss der absoluten Zahl wohl kaum viel 
ankommen dürfte. Die Frage nach der Wirklichkeit ist aber, 
wie schon angegeben, vor derjenigen nach der Möglichkeit zu 
diseutiren versucht worden und der Unvollkommenheit der Me- 
thode entsprechend haben dabei sehr verschiedene Resultate zu 
Tage gefördert werden müssen. ' Seitdem indess Margo die 
wirkliche Neubildung als das Ergebniss der direeten Beobach- 
tung hingestellt hat, wäre die Frage abgethan, wenn dies auch 


Beitrag zur Histologie der quergestreiften Muskeln. 417 


von anderer Seite bestätigt würde und wenn nicht Margo’s 
sonst verdienstliche Angaben zu gerechten Zweifeln Veranlas- 
sung gäben. 

Es mag mir daher gestattet sein, mit kurzen Worten noch 
einmal die Resultate meiner Dissertation, welche diese Frage 
behandelt, zu berühren, die bisher nicht gesondert veröffentlicht 
wurden und daher wenig bekannt geworden sind, die ich aber 
gegen einige neue Widersprüche in Schutz nehmen möchte. 

Dieselbe ging von der gewiss richtigen Voraussetzung aus, 
dass es nur eine directe Methode giebt, die ein positives Re- 
sultat möglich macht, nämlich den Nachweis von im fertigen 
Muskel vorkommenden Primitivbündeln mit embryonalem Cha- 
rakter. Da dieser Nachweis nicht zweifellos geliefert ist, auch 
schwer zu liefern scheint, so musste nach einer indirecten Me- 
thode gesucht werden.. Eine solche hängt wesentlich von der 
Art der Fragestellung ab. 

Wird die Frage so gestellt: ist ein Unterschied in dem Zah- 
lenverhältniss zwischen jungen und alten Muskeln nachzuwei- 
sen, so wird das Resultat nur dann zu brauchen sein, wenn 
sich ein solcher zum Vortheil des erwachsenen Muskels her- 
ausstellt und zwar dies aus dem Grunde, weil die Möglichkeit 
vorliegt, dass nicht alle Primitivbündel des embryonalen Zu- 
standes das spätere Alter erreichen, sondern früher zu Grunde 
gehen. Im anderen Falle würde allerdings ein beweisendes 
Resultat gewonnen sein. Ich ging indessen und gehe noch 
jetzt von der Ansicht aus, dass die absolute Zahl nicht zu be- 
stimmen ist und berufe mich dabei auf Folgendes: 

1. .Die Zählung durch Isolirung sämmtlicher Primitivbün- 
del ist nicht möglich, jedenfalls der Versuch keine die unsäg- 
liche Mühe lohnende Arbeit; soll etwas bewiesen werden, so 
müssten Hunderte von Muskeln in solcher Art behandelt und 
verglichen werden, eine Arbeit, die hoffentlich Niemand unter- 
nehmen wird. 

2. Die Zählung auf dem Durchschnitt ist nicht thunlich, 
weil nur in den wenigsten Muskeln die Primitivbündel in ge- 


rader Richtung den ganzen Muskel durchziehen, im Gegentheil 
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 1861, 28 


418 s12.0tto Deiters: 


die meisten nach einem schiefen Verlauf im Inneren des Mus- 
kels enden. Kalk 

3. Die Berechnung aus dem durchschnittlichen Volum eines 
Primitivbündels und dem Volum eines ganzen Muskels stösst 
auf unüberwindliche Fehlerquellen, . Bei einem derartigen Ver- 
suche findet sich in meiner Dissertation ein grober Fehler, der 
von Seiten einiger Berichterstatter eine nur zu machsichtige 
Rüge erfahren hat und wegen dessen ich nachträglich um Ent- 
schuldigung bitte. 

Aus den angegebenen Gründen glaubte ich für die zu lö- 
sende Frage eine Antwort nur auf Umwegen erhalten zu kön- 
nen. Zu dem Ende wurde zuerst der Nachweis geführt, dass 
überall, wo neu entstehende Primitivbündel zur Beobachtung 
kommen, diese schmal beginnen und mit fortschreitendem Wachs- 
thum eine stetige Breitenzunahme zeigen. Dieser Satz wurde 
durch eine sehr grosse Zahlenreihe bewiesen, deren Resultate 
anzugeben genügen wird. Dieselben wurden zuerst der Unter- 
suchung junger und älterer Thiere in allen Stadien des Wachs- 
thums. entnommen. In zweiter Reihe wurden an ‚demselben 
Thiere jüngere und ältere Muskeln verglichen ; ein Beispiel der 
Art geben die Batrachierlarven, wo die Muskeln der später ent- 
standenen Extremitäten mit den Muskeln des Stammes vergli- 
chen werden konnten. Es kam dann darauf an, kurz entstan- 
dene Muskeln eines erwachsenen Thieres zu untersuchen; auch 
die Reproduction (es war das in vorstehenden Zeilen genauer 
durchgeführte Object gewählt) und die pathologische Neubil- 
dung, so weit die Beschreibung der bis dahin in der Literatur 
verzeichneten Fälle ausreichte, gaben dasselbe Resultat. 

In allen diesen Fällen konnte demnach der oben verlangte 
Nachweis ausnahmslos geliefert werden. Wenn schon in die- 
sem Factum und in der Unmöglichkeit, Primitivbündel mit em- 
bryonalem Charakter in dem wachsenden Muskel nachzuweisen, 
die Neubildung solcher während des Wachsens unwahrschein- 
lich wurde, so kam es in zweiter Reihe darauf an, gewisse 
Widersprüche zu heben, welche gegen diesen Satz besonders 
aus der Structur des fertigen Muskels entnommen werden konn- 
ten; es kam darauf an, die Wachsthumsverhältnisse im einzelnen 


Beitrag zur Histologie der quergestreiften Muskeln. 419 


genauer zu analysiren. Diese Einwürfe liegen zuerst in der 
wirklich beobachteten Neubildung unter pathologischen Ver- 
hältnissen, dann aber und vor Allem in der bedeutenden Grös- 
senverschiedenheit der Primitivbündel in. ein und demselben 
Muskel. Es liegt.nahe, hier Primitivbündel von verschiedenem 
Alter vorauszusetzen. 

Was den ersten Einwand angeht, so versteht es sich von 
selbst, dass pathologische Data nicht ohne Weiteres auf nor- 
male Verhältnisse angewendet werden dürfen, um so weniger, 
da in den meisten Fällen von Muskelhypertrophie wirklich eine 
Hypertrophie, keine Hyperplasie constatirt wurde. In 
Betreff des zweiten Einwandes glaubte ich aber eine bessere 
Erklärung in der Annahme von Wachsthumsverschiedenheiten 
der einzelnen Primitivbündel unter einander gefunden zu haben. 
Um diese wahrscheinlicher zu machen, wurden durch eine 
grosse Zahl von Messungen die nachfolgenden Sätze constatirt: 

1. Die Muskelprimitivbündel verschiedener Thiere zeigen 
constante Grössenunterschiede. 

2. Auch die Primitivbündel verschiedener Muskeln- ein und 
desselben Thieres zeigen constante Unterschiede. 

3. Ebenso variiren die Bündel in ein und demselben Mus- 
kel, doch so, dass :sich eine charakteristische Mittelzahl auf- 
stellen lässt, die in verschiedenen Muskeln verglichen werden 
kann. 

4, ‚Die von. der Mehrzahl der Bündel eines Muskels durch 
geringere Breite ausgezeichneten Bündel liegen hier nicht an 
bestimmten Punkten vereinigt, sondern ganz durch den Muskel 
zerstreut. 

d. „Behr selten verändert ein Bündel in seiner ganzen 
Länge bedeutend seine Dimension; kleinere Veränderungen sind 
häufig; 

6. In den jüngsten Thieren sind alle Primitivbündel, so- 
wohl in verschiedenen Muskeln, als innerhalb desselben Mus- 
kels an Grösse nur sehr unbedeutend verschieden; je mehr das 
Thier wächst, desto mehr treten die Unterschiede hervor. 

7. In den verschiedenen Muskeln lässt sich während dieser 
Zeit ein ungleich rasches Wachsthum nachweisen, so z. B. be 

28* 


* 


490 Otto Deiters: 


Vergleichung der Schwanz- und Bauchmuskeln einer Frosch- 
larve; das Verhältniss ist in solchen Fällen nicht der Art, dass 
nach gleich raschem Wachsen die Primitivbündel des einen 
Muskels früher zu wachsen aufhörten, wie die des anderen; 
in noch wachsenden Muskeln lassen sich diese Verschieden- _ 
heiten nachweisen. 

8. Ein solches langsameres Wachsen lässt sich sogar künst- 
lich erzeugen. Von zwei jungen, gleich alten Kaninchen wurde 
bei dem einen die Grösse der Bündel in den M. gastrocnemii 
bestimmt. Dem anderen wurde auf der einen Seite der N. 
ischiadicus durchschnitten. Nach Ablauf einer bestimmten Zeit 
wurde auch dieses Thier untersucht. Beiderseits wurden in den 
M. gastrocnemii breitere Bündel gefunden, wie bei dem an- 
deren gleich alten vor dieser Zeit untersuchten Thiere. Doch 
waren in den Muskeln der Seite, deren N. ischiadieus durch- 
schnitten war, die Primitivbündel schmäler wie diejenigen der 
gesunden Seite. 

9. In den am wenigsten geübten Muskeln eines Thieres las- 
sen sich ziemlich constant die schmalsten Primitivbündel nach- 
weisen. 

“10. Das Volum eines Primitivbündels kann abnehmen. 
Von verschiedenen Beobachtern wurden die Primitivbündel atro- 
phirter Muskeln verhältnissmässig schmal gefunden. Ich un- 
tersuchte die Primitivbündel solcher Muskeln, welche durch 
Nervendurchschreidung atrophirt waren. Einer Anzahl erwach- 
sener Frösche wurde einerseits der N. ischiadieus durchschnit- 
ten. Nach Ablauf einer bestimmten Zeit wurde bei einer Ver- 
gleichung der beiderseitigen M. gastrocnemii derjenige der 
kranken Seite immer atrophirt gefunden (das Volum wurde 
beiderseits bestimmt), die Primitivbündel aber theils degenerirt, 
zum grösseren Theil aber von verhältnissmässig kleinerer Di- 
mension. i 

Den erhaltenen Resultaten gemäss hat demnach die An- 
nahme von Wachsthumsverschiedenheiten der Primitivbündel 
ein und desselben Muskels nichts gerade Unwahrscheinliches 
und sie kann, indem sie einen wesentlichen Einwand: beseitigt, 
dazu beitragen, der Ansicht, dass das normale Wachsthum 


Beitrag zur Histologie der quergestreiften Muskeln. 421 


des Muskels durch einfache Volumszunahme seiner Primitiv- 
bündel geschehe, die grösstmögliche Wahrscheinlichkeit zu geben. 

Mehr sollten und konnten meine dermaligen Resultate nicht 
beweisen und ein bestimmtes Ergebniss kann, wie ich glaube, 
nur allein durch den directen Nachweis embryonaler Primitiv- 
bündel im wachsenden Muskel erlangt werden. 

Einige seit der Zeit veröffentlichte Untersuchungen meines 
verehrten früheren Lehrers Budge haben indess diese Resul- 
tate zweifelhaft gemacht. - Da ich selbst dieselben trotzdem für 
richtig halte, so gestattet mir derselbe gewiss gern, meine Be- 
denken gegen seine Schlussfolgerungen hier mitzutheilen. 

Budge hat wirklich den Versuch gemacht, die Muskelpri- 
mitivbündel direet zu zählen und Zahlen erhalten, welche den 
: eben angegebenen Resultaten entgegenzustehen scheinen. Er 
ging ‘dabei von der Auffindung eines Mittels (Mischung von 
Salpetersäure und chlorsaurem Kali) aus, die einzelnen Primi- 
tivbündel so glatt und schön zu isoliren, dass dieselben be- 
quem gezählt werden können. Ein solches Reagens muss die 
Eigenschaft besitzen, das die Primitivbündel verbindende Binde- 
gewebe entweder vollständig aufzulösen oder in einen Zustand 
zu: versetzen, dass es bei der geringsten Insultation zerfällt, 
Es hat nach Budge die zweite Eigenschaft, in einem weiteren 
Stadium der Einwirkung die Hülle des Primitivbündels aufzu- 
lösen, endlich dessen Inhalt, die contractile Masse, in eigen- 
thümlicher Weise zu zerlegen. | 

Die erste Frage ist natürlich, hat das Reagens die angege- 
benen Eigenschaften und ist es demgemäss im Stande, die Pri- 
mitivbündel in verlangter Weise zu isoliren? Hinsichtlich die- 
ses Punktes halte ich mich, da ich mich mit .den betreffenden 
Versuchen vielleicht nicht lange genug beschäftigt habe, ganz 
an die Angaben von Budge selbst, aber ich sehe gerade darin 
den Beweis, dass das Reagens im Stande ist, das Primitivbün- 
del sowohl der Länge wie der Quere nach zu theilen, und also 
die Zahl derselben künstlich zu vermehren. Ich glaube kaum, 
dass eine solche künstliche glatte Trennung etwas Auffallen- 
des hat, habe wenigstens selbst oft genug derartige Bilder vor 
Augen gehabt und möchte besonders darauf hindeuten, wie leicht. 


422 Otto Deiters: 


der Anschein eines stumpfen abgerundeten Endes künstlich er- 
zeugt werden kann. 

Die Entgegnung liegt a ie dem Reagens gerdäkb bei 
einem bestimmten Grade der Ei irkung die in Budge’s Ver- 
suchen ihm beigelegte Fähigkeit zukommt. 

Ich muss das zugeben, aber keinesfalls kann dann für junge 
und alte Muskeln diese Einwirkung dieselbe sein; es muss 
dann nicht nur jedes für Individuum, es muss für jeden Muskel 
eine bestimmte Zeit geben, binnen welcher das Reagens die 
Primitivbündel 'isolirt hat und binnen welcher Längs- und 
Quertheilungen künstlicher Art vermieden werden. Eine zweite 
Frage, ob bei wirklicher Isolirung die Zählung möglich sei, 
darf nicht erhoben werden, da Budge den Versuch wirklich 
durchgeführt hat. Die grosse Kleinheit der jugendlichen Pri- 
mitivbündel dürfte eine solche Frage vielleicht besonders aus 
dem ‘Grunde zu rechtfertigen scheinen, weil durch die gleich 
anfangs auftretenden Wachsthumverschiedenheiten manche Bün- 
del eine Kleinheit behalten, die sie der Zählung mit Nadel und 
Loupe entziehen könnte. 

Ich setze aber den Fall, die Methode ist vortrefflich, die 
Primitivbündel werden dabei gleichmässig in den verschieden- 
sten Muskeln glatt und schön isolirt, künstliche Trennungen 
kommen nicht vor — so erhält man also im besten Falle die 
richtige Zahl der in dem untersuchten Muskel enthaltenen Pri- 
mitivbündel. Es fragt sich, wie. darf diese Zahl benutzt wer- 
den? Würde man sich an Budge’s Resultate halten, so er- 
gäbe sich ein so bedeutender Unterschied zwischen jungen und 
alten Muskeln, dass es leicht sein müsste, die neugebildeten 
Primitivbündel auch durch die direete Beobachtung nachzu- 
weisen. — Nun sind aber Budge’s Zahlen der Untersuchung 
einiger weniger Muskeln entnommen, und also auch im besten 
Falle die Fehlerquellen nicht umgangen, welche in individuellen 
Verschiedenheiten begründet sind. Die Schwankungen in Zahl 
und Grösse der Primitivbündel eines Muskels bei verschiedenen 
Individuen sind, wie ich wohl kaum durch Zahlen zu beweisen 
brauche, so.gross, dass Hunderte von Muskeln in der ange- 
führten Weise untersucht werden müssten, um, bei'sonst voll- 


Beitrag. 'zur Histologie der quergestreiften Muskeln, 423 


kommener Methode; ein nur einigermassen brauchbares Resultat 
zu erhalten. Ich glaube um so weniger, dass Jemand diese 
Arbeit unternehmen wird, da die aufgewandte Mühe der ge- 
ringen Wichtigkeit der Frage nicht entspricht, und da selbst 
das günstigste Resultat erst nach wirklicher ‚Auffindung: der 
neugebildeten Primitivbündel unzweifelhaft bestätigt wäre. 
Auf diese redueirt sich der Kern dieser Frage, wie ich 
glaube, allein, und so lange sie nicht sicher gefunden sind, 
dürften wohl die angeführten Gründe ausreichen, um im wach- 
senden Muskel eine Neubildung von Primitivbündeln für im 
höchsten Grade unwahrscheinlich zu erklären. Dass derselben 
aber vom histologischen Gesichtspunkte aus nichts entgegen- 
steht, wird eben durch die Möglichkeit der Umwandlung von 
Bindegewebe in: quergestreiftes Muskelgewebe erwiesen. 


Erklärung der Abbildungen. 


Fig. 1. Sternförmige und spindelförmige Zellen aus unmittelbarer 
Nähe der Chorda dorsalis aus der untersten Schicht, die noch keine 
Muskelelemente trägt. Bei a zwei weiter entwickelte Zellen mit ver- 
mehrten Kernen und je in der Mitte einer verdickten Falte (Anfang 
der Bildung des quergestreiften Saumes?). 

Fig. 2. Die ersten Anfänge der Muskelbildung. Einige der Bil- 
der (die unbestimmteren) entsprechen den bisher verbreiteten Abbil- 
dungen. | 
a. Zwei hinter einander liegende durch einen einfachen quer- 

gestreiften Saum zusammengehaltene Zellen werden von zwei 
noch unveränderten spindelförmigen Zellen begrenzt. Aus 
den Uebergangsformen zu schliessen, sind die beiden Zellen 
Theilungsproducte einer einzigen. Der Saum hat, wie in 
allen Bildern dieser Figur, die Breite einer Fibrille. 

b. Spindelförmige in Vermehrung begriffene Zellen mit einfa” 

chem Saum; der letztere hat sich zum Theil von der unver- 
sehrten Spitze der Zelle gelöst. 

c. Aehnliche Bilder; die Zelle selbst in der Entwicklung weiter 
vorgerückt, der Saum noch einfach (einer Fibrille entspre- 
chend), bei der einen über die Zelle hinausgewachsen. Bei 
zweien dieser Bilder hat die Zelle noch seitliche von dem 
Saum unabhängige Aeste. In allen wird die geradgestreckte 
Richtung bemerkt, welche die Zelle erhält, sowie sich der 


494 Otto Deiters: Beitrag zur Histologie u. s. w., 


Verdickungssaum bildet und welche auch der isolirten Zelle 
noch zukommt (vgl. Fig. 3). | va 

Fig. 3. Zwei Abbildungen eines Präparates; ein etwas breiterer 
Saum liegt zweien Zellen an, von denen die eine bei der Präparation 
leicht zu entfernen (b). 

' Fig. 4. Weiter entwickelte Formen. 

a. Sehr verlängerte, mit- vielen Kernen versehene Zelle, aber 
mit einfachem Saum. 

b. Vergrösserte Zelle mit mehrseitigem Saum, unten zu einer 
Spitze vereinigt; nicht an allen Säumen war in der ganzen 
Länge Querstreifung zu erkennen. 

c. Erbreiterter Saum mit nur mässig entwickelter Zelle, deren 
eine Spitze von dem Saum entfernt ist; der Saum ungefähr 
in drei Fibrillen zu zerlegen. 

d. Aehnliches Bild; der Inhalt der Zelle sehr vermehrt, aber 
durchaus hell, homogen. 

e. Mehrere Bildungszellen zu einem Primitivbündel sich verei- 
nigend; dieselben haben sich, ohne selbst alterirt zu sein, 
von einander getrennt, und je einen Theil der quergestreif- 
ten Masse behalten, der bei den einzelnen verschieden gross ist. 

Fig. 5. Leicht verständlich; durch die Vermehrung der auch seit- 
lich neben einander gelegenen Kerne bemerkenswerth. 

Fig. 6. Verbindung mehrerer muskelbildender Zellen zu einem 
Primitivbündel; dieselben stehen einander einfach gegenüber, haben die 
quergestreifte Masse zwischen sich und sind in sehr verschiedener 
Weise ausgebildet. Sie setzen sich einerseits in einen sehnigen Theil 
fort, mit dessen Elementen sie zusammenhängen. 

. Fig. 7. Bemerkenswerth ist die vollkommene Sternform, die ein- 
zelne der muskelbildenden Zellen noch behalten haben. 

Fig. 8. Unregelmässigere Gruppirung der muskelbildenden Zellen 
bei der Bildung eines Primitivbündels. 

a. Die Zellen, deren Kerne nur zu sehen, liegen zum Theil in- 
nerhalb der quergestreiften Masse; an der einen Seite eine 

- frei hervorstehende breite Zelle, auf der ein schmaler und 
kurzer Saum. 

b. Die quergestreifte Masse zerfällt in einen kürzeren, einer 
Zelle dicht anliegenden Theil und einen längeren, von sei- 
nen Zellen zum Theil getrennten. 

c. Unregelmässige Zellenanordnung; Trennung der quergestreif- 
ten Masse bei unversehrten Zellen; die eine losgelöste Fi- 
brille von viel geringerer Länge. 

d. Aehnlich; die meisten Zellen (Kerne) von der a 
Masse unsern 

e. f. Leicht verständlich. 


Hermann Munk: Untersuchungen über die Leitung u. s. w. 425 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im 
Nerven. 


Von 
Dr. HERMANN Muxk in Berlın. 


11.') 


Wir wenden uns nunmehr der genaueren Untersuchung des 
Erregungsmaximum (Err.) des Nerven zu und ermitteln zu- 
nächst sein Verhalten nach der Trennung des Nerven vom le- 
benden Organismus. 

Zwei Verfahren bieten sich uns hier dar. Entweder ver- 
wenden wir zur Erregung des Nerven stets Ströme von solcher 
Intensität, dass bis zu einer gewissen Grenze, welche vorher 
ermittelt ist, zweifellos durch sie das Err. erlangt wird: oder 
wir suchen erst bei der jedesmaligen Prüfung des Nerven die 
Stromstärke auf, welche gerade genügt, das Err. hervorzurufen. 
Das erste Verfahren haben wir bereits oben bei den Versuchen 
über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung in An- 
wendung gezogen. Für die folgenden Versuche scheint auf den 
ersten Blick das letztere Verfahren den Vorzug zu verdienen, 
da es die Maximalerregung durch die möglichst geringe Menge 
von Elektricität herbeiführt und somit auch die Veränderungen, 


1) Die erste Abhandlung (I. der folg. Cit.) s. d. Arch. 1860. S, 
798 f#. Der den „Untersuchungen“ zu Grunde liegende Plan hat in 
Folge von Erfahrungen, welche gangbare Vorstellungen über Erreg- 
barkeits-Verhältnisse und über die Leitung der Erregung wankend 
machten, eine Erweiterung erfahren müssen. Damit nicht zu viele 
Fragen zugleich offen bleiben, muss ich die folgenden Untersuchungen 
vorerst in nur lockerem Zusammenhange mit den früheren erscheinen 
lassen. — Auch die folgenden Untersuchungen sind im hiesigen phy- 
siologischen Laboratorium angestellt. 


n.. 7498 | Hermann Munk: 


welche durch die Prüfungen im Nerven hervorgerufen werden, 
auf das bei diesen Versuchen unumgängliche Maass beschränkt. 
Allein dieser Vortheil wird reichlich schon dadurch aufgewo- 
gen, dass die geringere Elektrieitätsmenge, wie es die Fest- 
stellung des Err. erfordert, desto öfter durch den Nerven ge- 
schickt werden muss. Es kommt nun noch hinzu, dass auch 
der Muskel durch die oftmaligen Zuckungen bei der Aufsuchung 
des Err. unnütz ermüdet. Endlich lässt das zweite Verfahren, 
wie sofort einleuchtet, ganz im Stich, wenn es sich um die Er- 
forschung von Veränderungen des Err. handelt, die mit einiger 
Geschwindigkeit vor sich gehen, indem man hier mit der Sicher- 
stellung des Err. gar nicht wird zum Ziele kommen können. 
Es kann demnach, besonders in Rücksicht auf den letzterwähn- 
ten Umstand, keinem Zweifel unterworfen sein, dass das erste 
der beiden angegebenen Verfahren auch ferner festzuhalten ist. 

Die Versuche haben zuerst das Err. Einer Stelle des Ner- 
ven zu verfolgen. Sie werden einfach in der Weise ausgeführt, 
dass eine beliebige, im Verlaufe des einzelnen Versuches aber 
immer die nämliche Stelle des Nerven von Zeit zu Zeit erregt 
wird. Es ergeben dann die Versuche nicht ausschliesslich die 
Veränderungen des Err., welche mit der Zeit nach der Tren- 
nung des Präparates vor sich gehen, sondern, wie schon oben 
gelegentlich betont worden ist, die algebraische Summe dieser 
Veränderungen und anderer, welche durch die prüfenden Er- 
regungen bedingt sind. Diese letzteren Veränderungen lassen 
sich hier, wo es uns darum zu thun ist, das Err. als Function 
der Zeit zu erforschen, als Fehlerquelle auffassen, und es kommt 
daher Alles darauf an, diese Fehlerquelle möglichst zu besei- 
tigen und, soweit sie durchaus unvermeidlich ist, ihren Ein- 
fluss auf die unmittelbaren Versuchsergebnisse kennen zu lernen. 

Die Veränderungen, welche durch die Erregungen im Prä- 
parate hervorgerufen werden und hier in Betracht gezogen wer- 
den müssen, sind: die Ermüdung des Nerven, die Ermüdung 
des Muskels und die Nachwirkungen des Inductionsstromes 
(die Modification des Nerven). Was die ersten beiden betrifft, 
so. wissen wir, dass Nerv und Muskel desto weniger ermüden, 
je seltener sie thätig sind, und desto besser sich erholen, je 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 427 


grössere Ruhepausen zwischen ihre einzelnen Thätigkeitsäusse- 
rungen fallen. Es ergiebt sich hieraus für uns die Regel, die 
Prüfungen des Nerven nur in geringer Zahl und in grossen 
Zeitzwischenräumen ‘vorzunehmen. Und so werden dann offen- 
bar auch die Naehwirkungen des Inductionsstromes bekämpft 
sein, deren wesentliche Eigenschaft es eben ist, dass sie mit 
der Zeit nach der Erregung sich abgleichen. 

Wir wissen aber ferner, dass die Erholung der vom Orga- 
nismus getrennten Gebilde immer nur eine unvollkommene ist 
und zwar desto unvollkommener, je länger die Gebilde bereits 
getrennt und je öfter sie thätig gewesen sind. Hiernach wer- 
den unsere Versuche mit spärlichen und der Zeit nach weit 
aus einander liegenden Erregungen, wenn wir ihre Ergebnisse 
als allein von der Zeit abhängig ansehen, einen Fehler enthal- 
ten, dessen Grösse bei den noch zu den ersten gehörenden Er- 
regungen nur sehr gering sein, mit der Zahl der Erregungen 
aber rasch wachsen wird. Es ergiebt nun der Versuch (s. u. 
S. 439), dass in Folge der durch die Erregungen herbeigeführ- 
ten Veränderungen das Err. sinkt: somit werden die in diesen 
Versuchen gefundenen Werthe des Err. zu klein sein, und dies 
um so mehr, einer je späteren Zeit des Versuches sie ange- 
hören werden. 

Versuche der Art, wie wir sie eben als vortheilhaft erkannt 
haben, würden für sich allein jedoch nur dann ausreichend sein, 
wenn das Err. dauernd Veränderungen in demselben Sinne er- 
führe, entweler zunähme oder abnähme. Denn finden Schwan- 
kungen desselben in positivem und negativem Sinne, zumal in- 
nerhalb. kurzer Zeit, statt, so werden diese sich ganz der Be- 
obachtung entziehen oder nur unvollkommen erkannt werden. 
Es müssen daher neben jenen Versuchen mit seltenen Erregun- 
gen, welche als Hauptversuche festzuhalten sind, andere Ver- 
suche einhergehen, in welchen die Pausen zwischen den einzelnen 
Prüfungen kleiner und in den verschiedenen Versuchen wiederum 
verschieden gross genommen werden. 

In dieser Weise habe ich die Untersuchung ausgeführt. In 
den zahlreichen Versuchen wurden die Prüfungen der Zahl und 
Zeit nach vielfach verschieden vorgenommen. Für einen Theil 


428 Hermann Munk: 


der Versuche wurde das Helmholtz’sche, für den anderen 
Theil das Pflüger’sche Myographion benutzt. Bei den letz- 
teren Versuchen war statt des Platincontacts am Helmholtz- 
schen Myographion der Hammer des elektromagnetischen Fall- 
apparats in den primären Kreis aufgenommen, und es wurde 
nur mit Schliessungsinduetionsströmen gearbeitet; der Abstand 
der Rollen des Magnetelektromotors betrug hier auf Grund von 
Vorversuchen!) 110 Mm., und es wurde so das Err, bis zu 4 
Mm. sicher erhalten. Die der Prüfung unterzogene Nerven- 
stelle Jagstets einem Elektrodenpaare desZuleitungsapparates auf. 

Meine Erfahrungen über die mit der Zeit vor sich gehenden 
Veränderungen des Err. lassen sich in Folgendem zusammen- 
fassen: 

An jeder Stelle des Nerven steigt sofort nach der Tren- 
nung desselben vom lebenden Organismus das Erregungs- 
maximum mit grosser, aber rasch abnehmender Geschwin- 
digkeit an und erlangt nach kurzer Zeit einen höchsten 
Werth. Von diesem aus fällt es dann in der allerersten, 
nur sehr kurzen Zeit mit beschleunigter, später mit mehr und 
mehr abnehmender Geschwindigkeit bis zu Null ab. 


Vers. I. Vers. Il. 
Entfernung der geprüften Stelle von | Entfernung der geprüften Stelle von 
der Wirbelsäule?): 40 Mm. der Wirbelsäule‘): 15 Mm. 
Lauf. Zeit Lauf. Zeit 
vonder Trennung Err. in Mm. vonder Trennung| Err. in Mm. 
des N. an in Min. des N.an in Min.| , 
8 11,3 7 8,8 
27 13,2 16 10,5 
38 13,4 25 10,8 
49 13,24 lo: 34 10,5 
61 12,6 43 10,0 
73 12,3 52 10,0 
87 12,0 61 9,6 
102 11,8 70 9,0 
122 11,4 79 8,6 
146 10,5 102 7,2 
170 9,5 156 5,4 
194 9,3 328 3,2 
218 8,6 
242 8,2 
422 7,0 


1) Vergl. I. S. 804 ff. u. $. 809. — 2) S. u. S. 437 Anm, 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 429 


Das Ansteigen des Err. nimmt immer nur einen kleinen 
Bruchtheil der Zeit in Anspruch, während welcher die betref- 
fende Nervenstelle überhaupt erregbar bleibt. Die absolute 
Dauer des Ansteigens habe ich in den verschiedenen Versuchen 
zwischen 7 und 52 Min., immer von der Trennung des Ner- 
ven vom lebenden Organismus an gerechnet, schwanken sehen. 
Meist betrug sie 10 bis 30 Min., und nur bei sehr wenig lei- 
stungsfähigen !) Präparaten wurde die untere, bei sehr leistungs- 
fähigen hingegen die obere dieser Grenzen überschritten. 

W. Wundt hat die Veränderung untersucht, welche der 
elektrische Strom nach kürzerer Einwirkung in der Erregbar- 
keit des Nerven zurücklässt und sie, im Gegensatz zu der Ver- 
änderung nach längerer Einwirkung des Stromes, als „secun- 
däre Modification“ bezeichnet.?) „Die Thatsache der secundären 


1) Die Leistungsfähigkeit der Präparate ist gegeben durch die Zeit, 
während welcher unter ganz denselben Verhältnissen ihre Muskeln 
oder genau entsprechende Stellen ihrer Nerven erregbar bleiben. — 
Wenn es auf Grund der oben erwähnten Thatsache und überhaupt 
nach dem Gesammteindrucke meiner Versuche sehr wahrscheinlich war, 
dass die Dauer des Ansteigens mit der Leistungsfähigkeit wächst, so 
muss ich doch gestehen, mich einmal lange Zeit vergebens bemüht zu 
haben, dies mit Bestimmtheit zu erweisen. Wenn ich Versuche ver- 
glich, in welchen gleich weit von dem Querschnitte entfernte (die Be- 
deutung dieses Umstandes wird aus dem Folgenden erhellen) Stellen 
der Nerven auf gleiche Weise geprüft worden waren, so fanden sich 
immer einzelne, an Präparaten von mittlerer Leistungsfähigkeit ange- 
stellte Versuche, welche grössere Abweichungen von dem erwarteten 
gesetzmässigen Verhalten zeigten. Ich sah damals eine genügende Er- 
klärung für diese Abweichungen schon in den zahlreichen Fehlerquellen 
der Vergleichung: der ungenauen Bestimmung der Zeit, wann das Err. 
den höchsten Werth erreichte, der Verschiedenheit der geprüften Stel- 
len im anatomischen Sinne, der ungleichen Grösse der Präparate (diese 
wird von Bedeutung, weil das Err. in den Versuchen nicht bis zu 
Null, sondern nur bis zu 5 resp. 3Mm. verfolgt worden ist) u. s, £. 
Wir werden aber später erfahren (s. u. IV.), dass die Dauer des An- 
steigens die Function noch eines anderen Umstandes ausser der Lei- 
stungsfähigkeit ist, eines Umstandes, der bei den verschiedenen Versu- 
chen nicht constant erhalten worden war. Ich komme dort noch ein- 
mal hierauf zurück, 


2) W. Wundt. Ueber secundäre Modification der Nerven. Dies. 
Archiv 1859. S. 537 ff. 


BE 


430 2 Hermann Munk: 


Modifieation“, sagt Wundt, „besteht darin, dass man nach 
kürzerer Einwirkung des elektrischen Stromes die Erregbarkeit 
für die Richtung des Stromes erhöht findet* (8. I37). „e..» 
„Lässt man eine Stelle des Nerven öfter nach einander von 
Inductionsströmen gleicher Richtung durchfliessen, so bemerkt 
man in allen Fällen, vorausgesetzt dass das Präparat. hinrei- 
chend erregbar ist und die Erregungspausen in der: richtigen 
Weise gewählt werden, eine Zunahme der Zuckungshöhe* 
(S. 539.). 

Den Grundversuch seiner eingehenderen Untersuchung stellt 
Wundt in folgender Weise dar: „Lässt man Schliessungsin- 
ductionsschläge von absteigender Richtung bei einer so gewählten 
Entfernung beider Rollen, dass gerade eine schwache Zuckung 
eintritt, mit solcher Raschheit sich folgen, dass immer: einige 
Secunden nach Beendigung der Zuckung ein neuer Inductions- 
schlag einwirkt, so sieht man die Grösse der Zusammenziehung 
immer mehr zunehmen, bis sie das Zuckungsmaximum erreicht, 
immer steigt auch dieses bis zu einem Grenzwerthe, von dem 
an die Zuckungshöhe allmählig wieder abnimmt und schliess- 
lich zu Null wird. Zugleich ändert sich während dessen der 
Verlauf der Zusammenziehung. Die Dauer derselben wird 
nämlich erst, während die Zuckungshöhe noch in Zunahme be- 
griffen ist, und dann bei gleichbleibender (?') Ref.) Zuckungshöhe 
immer grösser und grösser, so dass schliesslich die ganze Zuk- 
kung, während sie ansteigt und wieder sinkt, sehr leicht mit 
dem Auge sich verfolgen lässt. Hat man ein hinreichend er- 
regbares Präparat, so gelingt es leicht, die Zeit der Abnahme 
der Zusammenziehung so weit hinauszuschieben, dass sich die 
Erhöhung der Reizbarkeit sehr weit treiben lässt. Man sieht 
dann die Grösse und Dauer der Zusammenziehung immer weiter 
zunehmen, bis dieselbe endlich von einem Tetanus sich nicht 
mehr unterscheidet. Man überzeugt sich auf diese Weise, dass 
es eine Grenze zwischen Zuckung und Tetanus nicht giebt: 
mit der Zunahme der Reizbarkeit sieht man die Zuckung an 


1) Eben. war ja gesagt worden, dass die Zuckungshöhe dauernd 
sich verändert. 


Untersuchungen über die Leitung, der Erregung im Nerven. 431 


Grösse und Dauer zunehmen, und endlich geräth der Muskel 
durch einen einzigen Inductionsschlag in Tetanus* (S. 539. 40). 

Der Leser hat ohne Zweifel bereits erkannt, weshalb wir 
unsere Darlegung unterbrochen haben und auf Wundt’s Un- 
tersuchungen eingegangen sind. Wundt findet, dass in Folge 
der Nachwirkungen der Inductionsströme die Zuckungshöhe zu- 
nimmt, ja endlich sogar das Erregungsmaximum !) ansteigt. 
Nichts liegt nun näher als die Vermuthung, dass das Anstei- 
gen des Err., welches wir beobachtet haben, ganz oder wenig- 
stens zum grössten Theile durch die Modification des Nerven in 
Folge der Prüfungen bedingt gewesen sei. 

Betrachtet man jedoch den Wundt’schen Grundversuch 
genauer, so ergiebt eine leichte Ueberlegung, dass derselbe gar 
keinen sicheren Aufschluss über die Modifieation des Nerven 
verschafft. _Wundt hat bei seiner Untersuchung das Aller- 
wichtigste vergessen, nämlich sich zu überzeugen, ob nicht zur 
Zeit seiner. Versuche, auch ohne die Einwirkung der rasch auf 
einander folgenden Inductionsströme, ein Ansteigen der Erreg- 
barkeit des Nerven und zunächst der der Prüfung unterzogenen 
Nervenstelle stattfände. Da Wundt auch nicht im Entfernte- 
sten eine Andeutung macht, dass seine Versuche nur zu einer 
bestimmten ‚Zeit angestellt werden dürfen, andere Zeiten aber 
vermieden werden müssen, da er ferner öfters gerade „hinrei- 
chend erregbare“ Präparate als für gewisee Versuche noth- 
wendig, erklärt, so kann es keinem Zweifel unterworfen sein, 
dass er seine Versuche, wie in der Regel geschieht, bald nach 
der Herrichtung des Präparates begonnen hat. Nach den Er- 
fahrungen von Pflüger,?) Heidenhain°) und Rosenthal‘) 
steigt aber bei dem Absterben des Nerven die Erregbarkeit, 
bevor sie sinkt, erst beträchtlich an,’) und dieses Ansteigen 


1) Wundt’s „Zuckungsmaximum“ hier ist mit unserem „Erre- 
gungsmaximum“ identisch. 

2) E. Pflüger, Physiologie des Elektrotonus. 1859. S. 268.29. — 
Allgem. Mediz, Centralzeitung 1859. No. 14 u. 19. 

3) R.Heidenhain, Allg. Mediz. Centralzeitung 1859. No. 10 u. 16. 

4) J. Rosenthal, Allg. Mediz. Centralzeitung 1859. No. 16. 

5) Die Vernachlässigung dieser Thatsache. fällt Wundt um.so 


432 Hermann Munk: 


ist, wie ich mich oft überzeugt habe, ‘gewöhnlich eine lange 
Zeit hindurch nach der Herrichtung des Präparates, selbst an 
einer dem Querschnitte nahen Stelle des Nerven, zu beobach- 
ten. Die Ergebnisse des eitirten Wundt’schen Versuches, an 
deren Richtigkeit zu zweifeln wir keinen Grund haben, lehren 
somit nur das Ansteigen der Erregbarkeit des Nerven bei dem 
Absterben, in seinem Verlaufe verändert durch die häufigen 
Erregungen. 

In jenem Versuche lässt Wundt schliesslich das Err. 'er- 
reicht werden und auch dieses dann ansteigen. Da die Form 
des Versuches eine Unterbrechung inmitten desselben nicht zu- 
lässt, so muss Wundt das Err. vor dem Beginn des Versu- 
ches bestimmt haben. Seine Angabe über Veränderungen des 
Erregungsmaximum durch die Modification war dann nicht 
berechtigt, da das Err. sich mit der Zeit geändert und so zu 
der Zeit, wo Wundt es in Folge der Modification eben er- 
reicht zu sehen glaubte, bereits den Werth angenommen haben 
konnte, welchen er als den Grenzwerth bei dem Ansteigen des 
Err. in Folge der Modification ansah. Dieser Vorwurf trifft 
aber nicht einen anderen Versuch, welchen Wundt folgender- 
massen beschreibt: „Nimmt man die Ströme stärker, so 
z. B. dass die Inductionsströme beider Richtungen das 
Zuckungsmaximum veranlassen, so verhält sich die Sache im 
Wesentlichen ganz ähnlich: man sieht hier das Zuckungsmaxi- 
mum anfangs zunehmen und zwar für beide Richtungen... . 
Doch sind stärkere Inductionsschläge für die Modification un- 
günstiger, und es nimmt hier auch die absteigende Zuckung 
wieder ab, noch ehe man durch den Inductionsschlag einen 
Tetanus hervorzurufen vermochte“ (S. 541. 542). Hier muss 
ich auf das verweisen, was oben von der Nichtberücksichtigung 
der mit der Zeit vor sich gehenden Veränderungen gesagt wor- 


mehr zur Last, als dieser (a. a. O. S. 547) selbst sagt: 5, .. . jeder 
Beobachter im Gebiete des Zuckungsgesetzes hat schon die auffallende 
Zunahme der Erregbarkeit im Anfang der Untersuchung bemerkt, 
theilweise ist dieselbe jedenfalls durch secundäre Modification bedingt, 
theilweise scheint sie aber auch mit dem Absterben vom centralen Ende 
des Nerven aus zusammenzuhängen.* 


EIN; 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 433 


den ist, und: es erscheint mir in der That gewiss, dass Wundt 
hier im Wesentlichen das von uns beobachtete Ansteigen des 
Err. mit der Zeit vor sich gehabt hat (vgl. noch S. 435 Anm. 2). 
Es würde damit auch im besten Einklange stehen, dass die ver- 
meintliche Modification sich nicht sehr weit treiben liess und 
auch nicht zum Schlusse des Ansteigens zum Tetanus führte 
(s. u. S. 489 Anm 1.). 

Aber nicht nur die Zuekungshöhe, von welcher allein bisher 
die Rede war, sondern auch die Zuekungsdauer hat Wundt 
in jenem Grundversuche berücksichtigt und auch die Zunahme 
der letzteren in Beziehung zur Modification gebracht. ' Allein 
man sieht eben auch, wie ich hier anmerken will, bei dem Ab- 
sterben des Nerven, wenn ein. und derselbe schwache Induc- 
tionsstrom mit der Zeit immer stärkere Zuckungen hervorruft, 
mit der Zunahme der Maximalordinate der Curve der Muskel- 
verkürzung die Länge der Curve zunehmen und die der Zeit, 
während welcher die Reizung latent bleibt, entsprechende Ab- 
seisse an Grösse abnehmen. 

Wir verlassen nun die Wundt’sche Untersuchung, da es 
hier nicht unsere Aufgabe sein kann, eine erschöpfende Kritik 
derselben zu geben. In Vorstehendem dürfte wohl durch die 
Besprechung von Wundt’s Fundamentalversuch, auf welchen 
sich alle anderen Versuche stützen, genügend gezeigt sein, dass 
exacte Aufschlüsse über die Modification des Nerven durch 
Inductionsströme durch jene Untersuchung nicht gegeben sind, 

Die Ergebnisse eines in der von Wundt vorgegebenen Weise 
angestellten Versuches werden nur dann die Erhöhung der Er- 
regbarkeit (und die’ Zunahme der Zuckungsdauer) durch die 
Modification beweisen, wenn’ der Versuch zu einer Zeit ange- 
stellt sein wird, in welcher die Erregbarkeit der geprüften Ner- 
venstelle bereits im Sinken begriffen war. Während des An- 
steigens der Erregbarkeit würde ein rascheres Ansteigen, als 
erwartet wurde, aus verschiedenen Gründen Nichts über die 
Modification lehren. Denn die Kenntniss der Art, in welcher 
die Erregbarkeit ‘des ausgeschnittenen Nerven ansteigt, wird 
wohl vorerst nicht so vollkommen erworben werden können, 


wie es für jenen Zweck nothwendig wäre, schon deshalb nicht, 
Reiche:t's u. du Bois-Reymond’s Archiv. 1861. 29 


434 Hermann Munk: 


weil dieses Ansteigen nicht bloss, wie bisher angenommen 
wurde, eine Folge des Absterbens, sondern auch, worauf un- 
sere weiteren Mittheilungen hinweisen werden (s. IV.), eine 
Folge der Temperatur-Erhöhung des Nerven ist. Zudem wird 
sich immer noch der Einwand erheben lassen, dass durch die 
häufigen Erregungen das Absterben des Nerven beschleunigt 
worden sei. 

:Ich habe diese letzten Bemerkungen für nothwendig: gehal- 
ten, um die Fassung, des oben gegen Wundt Vorgebrachten 
zu rechtfertigen, Experimentell bin ich nicht tiefer in das Ge- 
biet der Modificationen eingedrungen, einmal weil dieses: gewiss 
nicht so nebenbei sich abfertigen lässt, wie es hier hätte ge- 
schehen müssen, und. sodann auch, weil wir sogleich auf andere 
Weise den Beweis werden führen können, dass das von uns 
beobachtete Ansteigen des Err. auch nicht im Geringsten durch 
die Modification des Nerven in Folge der Prüfungen bedingt 
gewesen ist. 

Wir hatten das Err. in den verschiedenen Versuchen  ver- 
schieden lange, höchstens aber bis 52 Min. nach der Trennung 
des Nerven vom lebenden Organismus ansteigen sehen. Be- 
ginnen wir die Versuche nunmehr erst nach Ablauf dieser Zeit 
und nehmen wir die Prüfungen genau so wieder, wie bisher, 
vor, so wird offenbar das Ansteigen des Err. als durchaus un- 
abhängig von den Erregungen in dem Falle erwiesen sein, dass 
jetzt ein Ansteigen gar nicht mehr zur Beobachtung käme. 
Hierhergehörige Erfahrungen macht man öfters durch Zufall, 
wenn man durch eine äussere Störung verhindert ist, bald nach 
dem Einbringen des Präparates die Prüfungen zu beginnen: 
man sieht dann das Err. nur sehr wenig oder selbst gar nicht 
ansteigen. Entscheidend aber ist erst folgender Versuch. Ein 
frischer und kräftiger Frosch wird getödtet, und sofort werden 
beide Nervmuskelpräparate möglichst schnell angefertigt. Noch 
vor der Herrichtung des zweiten Präparates wird das erste in 
den feuchten Raum gebracht und auf eine dort befindliche 
Glasplatte gelegt. Das zweite Präparat wird rasch eingehängt, 
und ohne, Verzug werden die. Prüfungen einer. Stelle seines 
Nerven begonnen: von Min. zu Min. wird der Nerv erregt. 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 435 


‚Hat man so das Ansteigen des Err. verfolgt und hat dieses 
bereits zu sinken begonnen, so wird das erste, bisher unerregt 
gebliebene Präparat an die Stelle des zweiten gebracht und 
die entsprechende oder eine dem Muskel nähere Stelle!) seines 
Nerven auf die Elektroden gelegt. Wenn eine Stunde seit 
dem Tode des Frosches verflossen ist, werden die Prüfungen 
dieser Nervenstelle begonnen und in genau derselben Weise, 
wie vorher, fortgeführt. Ganz ausnahmslos sieht man hier das 
Err. von Prüfung zu Prüfung an Grösse abnehmen.) 

Bei der Erregung des Nerven von Minute zu Minute müs- 
sen die durch die Erregungen im Präparate hervorgerufenen Ver- 
änderungen offenbar einen grossen Einfluss auf die Versuchs- 
ergebnisse gewinnen, und ich habe deshalb bei meinen anderen 
Versuchen nur für eine verhältnissmässig unbeträchtliche An- 
zahl derselben die Pause zwischen je zwei Prüfungen so ge- 
ring genommen. Gerade deshalb aber auch häbe ich bei dem 
eben beschriebenen Versuche dieser kürzesten Pause den Vorzug 
gegeben. Doch habe ich mich hierbei noch nicht beruhigt. 
Es liess sich, allerdings nur mit Hülfe von willkürlichen Vor- 
aussetzungen, noch einwenden, dass bei so häufiger Erregung 
des Nerven der Einfluss der intensiven Ermüdung des Präpa- 
rates, in Folge deren, wie schon einmal angegeben, das Err. 
sinkt, den Einfluss der Modification des Nerven verdeckte, 
und dass dieser letztere Einfluss sich erst bei weniger häu- 
figen Erregungen geltend machte: es hätte hiernach wenigstens 
noch ein Theil des beobachteten Ansteigens des Err. auf 
Rechnung der Modification des Nerven gesetzt werden können. 
Ich habe deshalb jenen Versuch auch so u S1ellt, je 2, 


y Durch die Prüfung einer dem Muskel en Stelle bensangf 
man jedem Skrupel, der etwa. auf Grund unserer weiteren Erfahrun- 
gen aus der Befürchtung, die entsprechende on verfehlt zu haben, 
entspringen könnte. 

2) Da ich bei diesem Versuche auch stets dasselbe Resultat er- 
halten habe, als ich ihn gelegentlich so anstellte, dass der Nerv 3 bis 
4 Mal in der Minute erregt wurde, muss ich der oben S. 429 eitirten 
Angabe Wundt’s gegenüber behaupten, dass nach Verlauf von 15 
Secunden nach der Erregung das Err. der geprüften Nervenstelle kei- 
nesfalls in Folge der Modifieation erhöht ist. 


29* 


436 | ... Hermann Murk: er 


3 u. 8. f. bis 12 Min.!) als Zwischenraum zwischen je zwei, 
Prüfungen nahm. Der Erfolg war aber immer. derselbe: nie, 
wenn eine Stunde seit dem Tode des Frosches verflossen war, 
nahm das Err. an Grösse zu. Es kann somit keinem Zweifel 
mehr unterliegen, dass das Ansteigen des Err., welches. wir 
beobachtet haben, eine einzig und allein von der Zeit abhän- 
gige Veränderung desselben gewesen ist. 

Vielleicht isö es nicht überflüssig, noch besonders darauf 
aufmerksam zu mach@n, dass bei dem zuletzt beschriebenen 
Versuche auch dasjenige Präparat, welches erst später geprüft 
werden soll, wie oben vorgegeben ist, sogleich hergerichtet wer- 
den muss. Lässt man einen Schenkel liegen, so müssen bis 
zur Herrichtung des Präparates, wenn man dieser unmittelbar 
die Prüfung des Nerven folgen lassen will, zwei bis drei Stun- 
den seit dem Tode des Frosches verflossen sein, damit ein An- 
steigen des Err. nicht mehr zur Beobachtung komme. Wir 
können hierdurch auf’s Neue uns auf die Beziehung hingewie- 
sen sehen, in welcher die Dauer des Ansteigens des Err. zur 
Leistungsfähigkeit des Nerven ohne Zweifel steht, wenngleich 
wir sie nicht genau haben nachweisen können, da es ja eine 
allgemeine Erfahrung ist, dass der Nerv in seiner natürlichen 
Lagerung im Schenkel länger erregbar bleibt, als im hergerich- 
teten Präparate. 

Dagegen kann man, wenn man von einem weniger leistungs- 
fähigen Thiere sogleich beide Präparate anfertigt, selbstver- 
ständlich schon früher als eine Stunde nach dem Tode des 
Thieres die Prüfungen des bis dahin unthätigen Präparates vor- 
nehmen, ohne das Err. hier ansteigen zu sehen.?) Ja, bei sehr 
wenig leistungsfähigen Thieren muss man sich sogar mit der 
Herrichtung der Präparate sehr beeilen, wenn man nicht schon 
bei dem zuerst der Prüfung unterzogenen Nerven das Anstei- 
gen des Err. vermissen will (vgl. Vers. XIII. u. XIV. S. 454). 


1) Mit solchen und nicht längeren Pausen hatte ich auch das An- 
steigen des Err. verfolgt. (Unser Vers. I. zeigt zufällig eine der sehr 
wenigen Ausnahmen.) 

... 2) Bei Präparaten von nicht gerade ausnehmend grosser Leistungs- 
fähigkeit habe ich einen Verzug von 40Min. in der Regel ausreichend 
gefunden, 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 437 


Eine genauere Angabe der Werthe, um welche ich das Err. 
"habe zunehmen sehen, muss, ganz abgesehen von anderen 
Gründen, schon deshalb ohne weiteres Interesse sein, weil uns die 
Versuche immer nur einen unbestimmten Bruchtheil der wahren 
Grösse des Ansteigens kennen lehren. Ich beschränke mich 
deshalb darauf, durch zwei Beispiele darzuthun, ein wie bedeu- 
tendes Anwachsen des Err. zur Beobachtung kommen kann. 


Vers. Ill. Vers. IV. 


Lauf. Zeitin Min.| Err. in Mm. Lauf. Zeitin Min.| Err. in Mm. . 


5 7,5 5 6,6 
12 15,0 10 11,8 
18 97 15 14,3 
28 15,0 21 14,0 


Die Präparate stammten von grossen, frischen Fröschen. Bei bei- 
den Versuchen war die geprüfte Stelle des Nerven c. 20 Mm. von der 
Wirbelsäule entfernt. 


Es reihen sich hier passend sogleich zwei weitere Beispiele 
an aus der Reihe der Versuche, bei welchen das Err. während 
des Ansteigens und der ersten Zeit des Sinkens durch häufigere 
Prüfungen genauer verfolgt worden ist. 

Vers. V. Vers. VI. 


Länge des Nerven!): 70 Mm. Ent- | Länge des Nerven: 73 Mm. Ent- 
fernung der gepr. Stelle von der | fernung der gepr. Stelle von der 
Wirbelsäule: 17 Mm. Wirbelsäule: 15 Mm. 


Lauf. Zeit in Min.) Err. in Mm. Lauf. Zeitin Min.| Err. in Mm. 


9 12,2 7 12,7 
13 13,5 11 15,0 
17 14,6 15 16,7 
21 15,0 19 17,4 
25 15,1 23 17,7 
29 14,9 27 | 17,5 
33 14,0 31 17,0 
37 13,2 35 16,3 
Al 13,1 39 | 15,8 
45 13,0 43 | 15,5 
49 13,0 47 15,0 
53 11,4 
57 11,4 

-.61 10,6 
65 10,0 
69 10,6 
73 9,6 
77 9,0 


1) Als obere Grenze ist für die Messungen die Austrittsstelle des 


438 Hermann Munk: 


‚Prüft man bei solchen Versuchen, bei welchen das Anstei- 
gen des Err. längere. Zeit dauert, noch öfter, etwa alle zwei 
Min., so treten manchmal schon während des Ansteigens, jeden- 
falls aber von dem Beginn des Sinkens an kleine Unregel- 
mässigkeiten im Verlaufe des Err. ein, der Art, wie wir sie 
weiterhin (S. 440) als Folgen der Erregungen näher werden 
kennen lernen. In den Vers. V. und VI. und ähnlichen zei- 
gen sich solche Unregelmässigkeiten erst von der Zeit an, wo 
das Err. mit abnehmender Geschwindigkeit zu sinken angefan- 
gen hat. Ich finde hierin eine Bestätigung dessen, was sich 
erwarten liess, dass nämlich bei so leistungsfähigen Präparaten 
die Pausen von 4Min. zwischen je zwei Prüfungen ausreichen, 
um den Einfluss der Ewregungen für die kleine Zahl der ersten 
Prüfungen zu eliminiren, und ich glaube hiernach für die Zeit 
des Ansteigens und des beschleunigten Sinkens in den Er- 
gebnissen der vorstehenden und ähnlicher Versuche ganz rein 
die Veränderungen des Err. mit der Zeit ausgesprochen sehen 
zu dürfen. 

Die Zeit, während welcher das Err. mit zunehmender Ge- 
schwindigkeit sinkt, wächst mit der Dauer seines Ansteigens. 
Der Werth, um welchen das Err. so sinkt, ist stets nur ein 
Bruchtheil des Werthes, um welchen es vorher zugenommen 
hat, so dass zum Schlusse des beschleunigten Sinkens das Err. 
immer noch beträchtlich grösser ist, als es vor seinem Anstei- 
'gen war.!) 

Für den weiteren Verlauf des Err. ergeben die Versuche, 
in welchen die Pausen zwischen den einzelnen Prüfungen gross 


8. Rückenmarksnerven zwischen dem 8. u. 9. Wirbel festgehalten wor- 
den. Der Querschnitt war immer in der Höhe des 7. Wirbels ange- 
legt (vgl. I. 801), so dass die angegebene „Entfernung einer Nerven- 
stelle von der Wirbelsäule“ etwas kleiner ist als ihre Entfernung von 
dem Querschnitte des Nerven. 

3) Ich verweise hierfür auf die Vers. I., IT., V. u. VI. — Ueber- 
haupt glaube ich es hier bei der Anführung von nur wenigen Bei- 
spielen um so eher bewenden lassen zu dürfen, als Versuche, welche 
aus anderen Gründen später werden mitgetheilt werden müssen, noch 
genügend Belege für das Gesagte liefern werden. 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 439 


genommen werden, durchweg, dass es dauernd mit allmählich 
mehr und mehr abnehmender Geschwindigkeit sinkt. 

Haben wir uns der Oonstanz dieses Ergebnisses versichert, 
so können wir uns Aufschluss darüber verschaffen, von wel- 
chem Einflusse die prüfenden Erregungen auf das Err. sind. 
Wir verfolgen durch Prüfungen, welche wir in Zwischenräumen 
von je 30 Min. vornehmen, bei einer beliebigen Stelle eines lei- 
stungsfähigen Nerven das Sinken des Err., bis dieses in den 
letzten 30 Min. etwa um 1 Mm. abgenommen hat. Jetzt prü- 
fen wir von Minute zu Minute: nach Ablauf von 30 Min. fin- 
den wir das Err. um mindestens 3 Mm. gesunken. In den nun 
folgenden 30 Min. lassen wir den Nerven unerregt: am Ende 
dieser Zeit sehen wir das Err. um etwa 1 Mm. gestiegen. 

Es ist dies eben nur ein Schema der Versuche, welche hier 
mit mannigfachen kleinen Veränderungen zur Erledigung der- 
selben Frage angestellt werden können. Immer zeigt es sich, 
dass in Folge der durch die Erregungen im Präparate hervor- 
gerufenen Veränderungen das Err. sinkt und zwar desto mehr 
sinkt, je zahlreichere Erregungen statthaben und in eine je spä- 
tere Zeit seit der Trennung des Nerven vom lebenden Orga- 
nismus sie fallen. | 

Noch langsamer als in den Versuchen, in welchen die Pau- 
sen zwischen den Prüfungen gross, aber immer gleich gross 
genommen werden, sieht man das Err. in anderen Versuchen 
abnehmen, in welchen man die grossen Zwischenräume zwi- 
schen den einzelnen Erregungen noch mit der Zeit wachsen 
lässt. Dagegen beobachtet man ein im Ganzen steileres Ab- 
fallen des Err., wenn die Prüfungen nur durch kürzere Pausen 
getrennt sind. Folgen endlich die Prüfungen sehr rasch (z.B. 
allef — 2 Min.) auf einander, so sieht man das Err. nur eine 
Zeit lang mit abnehmender, schliesslich aber wiederum mit zu- 
nehmender Geschwindigkeit sinken, 

Ich kann mich hier kurz fassen, indem ich auf die Bemer- 
kungen verweise, welche oben (S. 426) voraufgeschickt wor- 
den sind. Die verschiedenen Ergebnisse jener Versuche sind 
dadurch bedingt, dass der Fehler, welchen die durch die Er- 
regungen im Präparate hervorgerufenen Veränderungen in die 


440 Ey Hermann Munk: 


unmittelbaren Versuchsergebnisse einführen, bei den verschie- 
denen Prüfungsweisen eine verschiedene Grösse hat. Am klein- 
sten ist.der' Fehler in denjenigen Versuchen, in welchen die 
Prüfungen in grossen und mit der Zeit noch wachsenden Zwi- 
schenräumen statthaben, und es legen daher diese Versuche der) 
Wahrheit am nächsten kommend dar, wie mit der Zeit das 
Err. abnimmt.) 

Eine besondere Besprechung verlangen dann nur noch 
einige kleine Unregelmässigkeiten, welche bei den Versuchen 
mit häufigeren Prüfungen vorkommen. In diesen Versuchen 
sieht man das Err. im Ganzen zwar, je nach der Leistungs- 
fähigkeit?) der Präparate und der Häufigkeit der Prüfungen, 
mehr oder weniger rasch abnehmen, diese Abnahme aber doch 
hin. und wieder durch eine schwache Zunahme unterbrochen 
werden. Ein Beispiel hierfür liefert Vers. V. in der 69. Mi- 
nute. Immer ist, die Zunahme des Err. nur unbedeutend, und 
meist. ist sie auf die Zwischenzeit nur zweier Prüfungen be- 
schränkt. In der Regel findet man dann auch in dem unmit- 
telbar folgenden, eben so langen Zeitraume das Err. recht be- 
trächtlich gesunken. Wird sehr häufig (etwa ‚alle 1 oder 2 
Min.) geprüft, so kann die in Rede stehende Erscheinung; auch 
mehrmals im Verlaufe desselben Versuches in längeren Inter- 
vallen auftreten. Eine Uebereinstimmung zwischen verschie- 
denen Versuchen in Betreff der Zeit, wann eine solche geringe 
Zunahme des Err. erfolgt, ist nicht aufzufinden.. Spricht schon 
Alles. dieses dafür, dass es sich hier nur um eine Erholungs- 
Erscheinung handelt, so scheint mir Folgendes, so weit nur 
möglich, Gewissheit hierüber zu verschaffen. Im Verlaufe 
eben derselben Versuche sieht man nämlich zu anderen Zeiten 


1) Will man durch einen einzelnen Versuch möglichst viel über 
die zeitlichen Veränderungen des Err. erfahren, so-thut man nach dem 
bisher Abgehandelten ‘offenbar gut daran, die Prüfungen in der ersten 
Zeit häufiger (z. B. von 4 zu 4 Min.) vorzunehmen, sodann aber die 
Pausen mit der Zeit rasch wachsen zu lassen. 

2) Es ist als selbstverständlich bisher nicht besonders noch ange- 
merkt worden, dass ceteris paribus das Err. im Ganzen desto steiler 
abfällt, je weniger leistungsfähig das Präparat ist, 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 441 


gewissermassen plötzlich die verhältnissmässig rasche Abnahme 
des Err. für die Zeit mehrerer Prüfungen unterbrochen werden, 
in dieser Zeit das Err. entweder nur langsam oder selbst gar 
nicht abnehmen und dann wiederum plötzlich in der Zwischen- 
zeit nur zweier Prüfungen ganz steil abfallen (vgl. Vers. V. 
von der 4. Min. an). Als Grenzfall würde sich nun hier, 
wie man leicht einsieht, das unbeträchtliche Ansteigen des Err. 
vor dem steilen Sinken anschliessen. Es lässt sich sodann un- 
gezwungen diese ganze Reihe von Erscheinungen durch die 
Annahme erklären, zu welcher man schon durch einen Ver- 
sueh von Ed. Weber geführt wird,') dass die Ermüdung und 
die Erholung des Präparates neben einander hergehen, so dass 
in unseren Versuchen zu einer Zeit die Ermüdung, zu einer 
anderen Zeit die Erholung das Uebergewicht erlangen kann, 
Dass aber in der That durch die Erholung des Präparates das . 
Err. ansteigt, dafür ist bereits oben (S. 439) der beweisende 
Versuch angegeben worden. 

Wir können es zum Schlusse nicht verhehlen, dass unsere 
Versuche doch zwei Lücken übrig gelassen haben: weder für 
die ersten Minuten nämlich nach der Trennung des Nerven 
noch für die allerletzte Zeit, ehe das Err. den Werth Null er- 
reicht, haben uns die Versuche unmittelbar Aufschluss über die 
Veränderungen des Err. verschafft. 

Wir haben unter sonst gleichen Umständen ein desto grös- 
seres Ansteigen des Err. beobachtet, je früher wir die Versuche 
begannen. Wir haben ferner in den Versuchen, in welchen 
wir die Prüfungen am frühesten vornahmen, in der fünften 
Minute nach der Trennung des Nerven das Err. im Ansteigen 
begriffen gefunden. Da gar kein Grund vorliegt zu der Ver- 
muthung, dass dem Ansteigen des Err. andere Veränderungen 
desselben vorhergehen, halten wir die natürlichste Annahme, 
welche wir schon oben (8. 428 u. 429) stillschweigend uns er- 
laubt haben, auch ferner fest, dass nämlich mit dem Zeitpunkte 
‘ der Trennung des Nerven der Beginn der Zunahme des Err. 
gegeben ist. 


1) Vgl. Ludwig, Physiologie. Zweite Auflage. Bd. IL S. 453 


442 Hermann Munk: 


Die zweite Lücke ist dadurch entstanden, dass wir in un- 
seren Versuchen das Err. nur so weit verfolgt haben, bis es 
auf 5 oder 4 oder 3 Mm. gesunken war (vgl. I. 8. 809; II. S, 
428). Hier wäre ein weiteres Verfolgen mit vielen Schwierig- 
keiten und Umständen verknüpft gewesen, und ein Verfolgen 
des Err., bis es zu Null wird, liegt sogar, wie ich wohl nicht 
weiter zu erörtern nöthig habe, ausser dem Bereiche des Mög- 
lichen. Bis zu jenen erstgenannten Werthen haben wir aber 
das Err. ununterbrochen mit mehr und mehr abnehmender Ge- 
schwindigkeit sinken sehen, und so werden wir uns denn bei 
der Annahme beruhigen können, welche die grösste Wahr. 
- scheinlichkeit für sich hat, dass in eben derselben Weise auch 
das weitere Sinken des Err. statthat. 


Durch die eben abgeschlossene Untersuchung haben wir er- 
fahren, dass die Veränderungen, welche das Err. einer beliebi- 
gen Stelle eines beliebigen Nerven mit der Zeit nach der Tren- 
nung des Nerven vom lebenden Organismus erfährt, immer 
durch eine Curve sich vorstellen lassen von solcher Gestalt, 
wie sie die in Fig. 6 gegebene Curve!) zeigt. Wir wollen 


Fig. 6. 


5 mm 


3a min 


1) Dem Entwurfe dieser Curve ist Vers. V. zu Grunde gelegt. Als 
Abseissen sind selbstverständlich die Zeiten nach der Trennung des 
Nerven, als Ordinaten die beobachteten Werthe des Err. verzeichnet 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 443 


jetzt weiter gehen und das Verhalten des Err. an den verschie- 
denen Stellen eines und desselben Nerven genauer zu ermitteln 
suchen. Es fragt sieh, ob die Veränderungen des Err. an allen 
Stellen desselben Nerven ihrer Grösse und der Zeit nach in 
genau gleicher Weise vor sich gehen, mit anderen Worten, ob 
die Erregungsmaxima (Err.) aller Stellen desselben Nerven in 
derselben Zeit um dieselbe Grösse ansteigen, resp. sinken. 
Die Beantwortung dieser Frage fällt offenbar zusammen 
mit der Kenntniss der gleichzeitigen Err. aller Stellen eines 
Nerven für verschiedene Zeitpunkte nach der Trennung des 
Nerven vom lebenden Organismus. Die Kenntniss gleichzeiti- 
ger Err, ist deshalb erforderlich, weil die Veränderungen des 
Err., wie wir wissen, zu keiner Zeit mit constanter, sondern 
immer entweder mit zunehmender oder mit abnehmender Ge- 
_ schwindigkeit vor sich gehen. Gerade deshalb aber auch, müs- 
sen wir uns sofort sagen, ist für den Augenblick nicht daran 
zu denken, jene Kenntniss mit der strengsten Genauigkeit zu 
erlangen. Da die Err. der verschiedenen Stellen des Nerven 
nur nach einander sich aufsuchen lassen, sind wir auf die Un- 
tersuchungsmethode allein angewiesen, dass wir die Prüfungen 
in gleichen Zeitabständen und mit wechselnder Reihenfolge der 
Stellen (also z. B. A,B,C,D, E, D, C, B, A) vornehmen 
und dann von den zu den verschiedenen Zeiten gefundenen 
Err. derselben Nervenstelle immer den mittleren Werth neh- 
men. Allein dann werden eben jenes vorhin erwähnten Ver- 
haltens des Err. halber unsere Resultate Fehler enthalten, die 
einmal desto grösser sein werden, je rascher zu der betreffen- 
den Versuchszeit die Geschwindigkeit, mit welcher die Verän- 
derungen des Err. erfolgten, zunahm oder abnahm, sodann 
aber auch für die verschiedenen Stellen immer verschieden gross 
und für die zuerst und. wiederum zuletzt geprüfte Stelle am 
grössten sein werden. Und nicht genug, dass wir schon diese 
Fehler genauer zu bestimmen nicht im Stande sind, kommen 
' noch andere, eben so wenig bestimmbare Fehler hinzu, da- 


worden. Die punktirten Anfangs- und Endstücke der Curve beruhen 
nicht auf unmittelbaren Versuchsergebnissen. 


444 e so Hermann Munk: 


durch bedingt, dass die Ermüdung des Präparates in Folge der 
Erregungen nicht einfach mit der Zahl der Erregungen wächst, 
sondern, wie es scheint, bald rascher bald langsamer als diese 
zunimmt, !) 

Doch wird der Erfolg der Untersuchung viel günstiger sich 
herausstellen, als nach dieser üblen Voraussicht zu erwarten 
ist. Allerdings werden manche feinere Ergebnisse der Unter- 
suchung, einzeln betrachtet, nur eine sehr hohe Wahrschein- 
lichkeit für sich in Anspruch nehmen können, allein diese 
Wahrscheinlichkeit wird dureh die Uebereinstimmung und durch 
das treffliche Ineinandergreifen der vielen einzelnen Ergebnisse 
zur zweifellosen Gewissheit werden. So unabweislich drängt 
sich, wenn mich nicht Alles täuscht, die Ueberzeugung von der 
Sicherheit der Ergebnisse auf, dass ich es für überflüssig hal- 
ten muss, bei jeder einzelnen Gelegenheit noch besonders dar- 
auf aufmerksam zu machen. Erst an einer späteren Stelle 
wollen wir im Zusammenhange hierauf zurückkommen. 

Um die vorhin besprochenen Fehler möglichst Klein zu 
machen, habe ich immer nur wenige, in einem Theile der Ver- 
suche drei, in dem anderen Theile sogar nur zwei Stellen des- 
selben Nerven verglichen. Wurden nur zwei Stellen eines 
Nerven untersucht, so betrug ihr ‘gegenseitiger Abstand immer 
43 Mm., und es lag die eine (O) derselben in der Nähe des 
Querschnittes des Nerven, die andere (U) nahe dem Muskel. 
Bei den übrigen Versuchen kam zu diesen beiden Stellen eine 
dritte (M), gerade in der Mitte zwischen ihnen gelegene noch 
hinzu. Die der Prüfung unterzogenen Nervenstellen lagen stets 
den Elektrodenpaaren des Zuleitungsapparates auf. Die Ver- 
suchsanordnung war unverändert wie früher bei der Verfolgung 
des Err. Einer Nervenstelle (s. 0. $. 427, 428). Der erregende 
Strom hatte im Verlaufe eines Versuches in allen geprüften 
Stellen des Nerven stets dieselbe Richtung. 

Ich lehne die Darlegung der Ergebnisse der Untersuchung 


1) Es ist hier die Trennung der Ermüdung und der Erholung 
nicht festgehalten und auch davon abgesehen worden, dass die Erho- 
lung das Uebergewicht über die Ermüdung erlangen kann (vgl. oben 
S. 441.). 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 445 


im Folgenden an eine Anzahl als Paradigmata voraufgeschick- 
ter Versuche an, welche zugleich so ausgewählt sind, dass die 
verschiedenen von mir angewandten Prüfungsweisen unter ihnen 
vertreten sind. ‘Der Querstrich, welcher sich bei den meisten 
Versuchen in der Zeit-Columne findet, grenzt das erste Sta- 
dium im Verlaufe der Err. von dem zweiten Stadium ab. Wir 
wollen nämlich im Folgenden, um uns viele Weitläufigkeiten 
zu ersparen, solche zwei Stadien unterscheiden: das erste Sta- 
dium soll das Ansteigen und das beschleunigte Sinken, das 
zweite das verzögerte Sinken des Err. umfassen. 

Die Folgeerscheinungen der Erregungen werden weiterhin 
nur so weit in Betracht gezogen werden, als sie für die Lö- 
sung der uns vorliegenden Frage ‚von Bedeutung sind. Im 
Uebrigen verweise ich auf S. 439 fi. Es wird dann aber im- 
mer nur von der Ermüdung des Präparates die Rede sein, 
weil das Erregungsmaximum einer extrapolaren, 20 oder gar 
43 Mm. von der intrapolaren Strecke entfernten Nerven- 
stelle in Folge der Modification des Nerven durch In- 
duetionsströme nicht verändert wird. Wenigstens habe ich 
mich durch unmittelbar hierauf gerichtete Versuche davon 
überzeugt, dass eine Erhöhung des Err. der extrapolaren Stelle 
nach Ablauf von einer Minute nach der Erregung nicht be- 
merklich ist. Wird aber eine raschere Abnahme des Err. der 
extrapolaren Stelle bei solchen Versuchen beobachtet, so las- 
sen sich offenbar Ermüdung und Modification nicht auseinander 
halten. Uebrigens übersieht man leicht, dass, da wir unsere 
Folgerungen immer nur aus einer grossen Anzahl von Ver- 
suchen ziehen, jeder etwaige Einfluss der Modification dadurch 
eliminirt sein muss, dass einmal in den verschiedenen Versu- 
chen die Richtung der erregenden Ströme im Nerven eine ver- 
schiedene war und sodann auch im Verlaufe desselben Versu- 
ches die verschiedenen Nervenstellen meist in wechselnder Rei- 
henfolge geprüft wurden. 


446 Hermann Munk: 


Vers. VI. 


Länge des Nerven‘): 86 Mm. Entfernung der St. O: von der Wirbel- 
säule: 28 Mm. Abst. Oeffn. 


Lauf. Zeit | Err. Oin | Lauf. Zeit | Err. Min | Lauf. Zeit | Err. Uin 
in Min, Mm. in Min. Mm. in Min. Mm. 
6 | 7,0 4 7,9 9 10,0 
12 11,6 134 11,5 15 9,8. 
25 8,8 264 8,8 28 8,8 
39 8,1 374 8,1 36 8,1 
48 71 494 IT 51 71 
62 6,8 604 6,8 59 6,9 
74 5,7 754 5,7 77 5,8 
90 9,0 884 5,0 87 5,2 
100 4,3 1014 4,3 103 4,4 
132 unter 130 3,6 128 3.7 
3Mm. 141 unter 145 310 
3Mm. 153 unter 
| | 3Mm. 
Vers. VIII. 


Länge des Nerven 74 Mm. Entf. der St. O von der Wirbels.: 18 Mm. 
Aufst. Schliess. 


0 PR a ee M | U 

ins 1a ad te rer ann Me 
17 11,9 184 11,9 20 11,9 

31 11.9 291 11,9 28 11,9 

40 11,8 414 11,8 43 11.8 

72 10,7 734 10.8 75 11.0 

84 | 10,2 89 | 10,1 99 | 10,1 

Vers. IX. 


Länge des Nerven: 71 Mm. Entf. der St. O von der Wirbels.: 17 Mm. 
Abst. Schliess. 


6) | | Mae U 

RZ 15,1 84 16,0 10 16,6 
18 16,0 vertan. Po 16,0 

42 14,6 434 14,6 45 14,6 

54 13,9 554 13,9 57 13,9 

65 13,4 664 13,9 68 135 

86 12,0 91 12,0 924 12,0 

10%. 1683 114 11,2 1154 11,2 


1) Vgl. oben S. 437 Anm. 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 447 


Lauf. Zeit | Err. Oin 
in Min. Mm. 
ES 22,0 
29 16,5 
45 16,4 
52 15,8 
64 15,7 
75 23.2 
86 15,0 
97 14,8 
119 14,6 
Vers. XI. 


Vers. X. 


Länge des Nerven 70 Mm.: Entf. der St. O von der Wirbels.: 15Mm. 
Abst. Schliess. 


Lauf. Zeit 
in Min. 


20 


31 
43 
94 
66 
77 
88 
99 
114 


Lauf. Zeit 


Err. M in 
Mm. in Min. 
21,5 22 
16,5 33 
16,4 41 
15,8 56 
15,8 68 
15,2 79 
15,1 90 
15,0 101 
14,7 116 
Vers. X. 


Err. Uin 
Mm. 


20,9 
16,5 
16,4 
15,8 
15,7 
15,3 
15,1 
15,0 
14,7 


Länge des Nerven: 67 Mm. Entf. |Länge des Nerven: 75Mm. Entf. 
der Stelle OÖ von der Wirbels.: 


der St. © von der Wirbels.: [0 Mm. 


68 
74 
80 | 


Aufst. Schliess. 


10 Mm. Abst. Oefin. 
Err. Ö ni uf Err. U 
z eit ; 
in FiR in 
Mm. Min Mm. 
6,4 3 6,7 
6,9 17 Fi 
Ti 22 Z1 
7,0 293 7,0 
6,9 484 6,9 
656.469 6,6 
6,4 924 6,4 
6.2. "Bar o 
61 /1272 | 62 
5,8 ‚154 6,0 
5,0 1854 5,8 
ae | 


“= 


In dem zweiten Stadium, mit welchem wir uns vortheilhaft 
zunächst befassen, sinken überall die Err. aller Stellen des 
Nerven zugleich und zwar, wie man trotz der manchmal auf- 
tretenden kleinen „Unregelmässigkeiten, der Folgen der Ermü- 


448 Hermann Munk: 


dung und der Erholung der Präparate, sofort erkennt, sämmt- 
lich mit abnehmender Geschwindigkeit. ehr 

Dieser Uebereinstimmung gegenüber wird durch en Yan 
suche aber auch eine ganz regelmässige Verschiedenheit in dem 
Verhalten der Err. der verschiedenen Stellen desselben Nerven 
aufgedeckt. Es haben abgenommen 


die Err. ‚der Stellen 


im Versuche | von der | bis zur Ö M U 
Minute um Mm. 
VI. 36 5l 1,0 1,0 1,0 
77 2,4 2,4 2,3 | 
mehr als | mehr als 
145.7. 1851 Hu 5,0 
VII. 28 43 0,1 se 0;1 
75 1,2 aut 0,9 
IX. 19 57 2,1 2,1 zn 
68 2,6 2,9 2,5 
X. 41 56 0,6 0,6 0,6 
116 1,8 1,7 %7 
XI. 33 49 2,0 _ 1,7 
84 5,1 Nuss 4,4 _ 
XI. 67 92 0,2 _ 0,2 ;ail 
154 0,8 — 0,6 
185 1,6 — 0,8 


Obwohl bei dieser Berechnung alle Ansätze möglichst zu 
Gunsten der Err. der dem Querschnitte näher gelegenen Stellen 
gemacht worden sind,!) so, dass die Abnahme dieser überall 
zu gering sich darstellt, so fällt es doch sofort auf, dass in der 
Gesammtzeit, während welcher wir das zweite Stadium in den 
einzelnen Versuchen verfolgt haben, die Err. der dem Quer- 
schnitte nahe gelegenen Stellen immer beträchtlicher gesunken 
sind als die der von dem Querschnitte entfernten Stellen. 
Und weiter zeigt es sich, dass die Differenz der Werthe, um 
welche die Err. der verschiedenen Stellen desselben Nerven 
innerhalb derselben Zeit abgenommen haben, vom Beginne des 
zweiten Stadiums an eine längere oder kürzere Zeit hindurch 
Null gewesen, sodann aber mit der Zeit gewachsen ist. Es 


1) So ist jeder Fehler vermieden worden, der aus der ungenügen- 
den Kenntniss der gleichzeitigen Err. hier hätte entspringen können. 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 449 


nimmt also die Geschwindigkeit. bei dem Sinken der Err. zu- 
erst mehr ‘oder ‘weniger lange an den verschiedenen Stellen 
des Nerven gleichmässig, sodann aber an den:von dem Quer- 
schnitte entfernteren Stellen rascher ab als an den ihm näher 
gelegenen Stellen. 

Hierin ist bereits enthalten, dass die Differenz der gleich- 
zeitigen' Err. der verschiedenen Stellen des Nerven während 
der ersten Zeit des zweiten Stadiums eine constante ist, sodann 
aber mit der Zeit wächst. Die Versuche lehren nun, dass jene 
constante Differenz Null ist, dass also bei dem Beginne des 
zweiten Stadiums die Err. der verschiedenen Stellen desselben 
Nerven gleiche Grösse besitzen. Einen strengen Beweis hier- 
für wird man nach dem oben (S. 445) Erörterten nicht von 
mir verlangen; ich glaube aber nur auf die Versuche hinwei- 
sen zu dürfen, um einen solehen Beweis nicht eben sehr ver- 
missen zu lassen. ‘Nachdem festgestellt ist, dass die Differenz 
der gleichzeitigen Err. mit der Zeit wächst, scheint mir ein 
Zweifel an der anfänglichen Gleichheit der Err. unmöglich, 
wenn man in den Versuchen in langer Zeit die erste merkliche 
Differenz sich hervorbilden sieht. 

Wir wenden uns jetzt dem ersten Stadium zu. ‘Hier sehen 
wir in einem Theile der Versuche die Err. aller Stellen zugleich 
entweder zuerst ansteigen und dann sinken (XI, XII), oder 
sogleich sinken (VIII, X): — in einem anderen Theile der Ver- 
suche aber erscheinen die gleichzeitigen Veränderungen der Err. 
verschieden, der Art, dass das Err. der einen Stelle constant 
bleibt oder gar sinkt, während das der anderen ansteigt und 
sinkt; in der Folgezeit sinken dann beide Err. zugleich (VII, 
IX). Die letzteren Versuche, welche unsere Aufmerksamkeit 
zuerst in Anspruch nehmen, sind in der Regel solche, in wel- 
chen die Prüfungen in der Weise, wie in unseren Vers. VII 
bis X, vorgenommen wurden, so dass also je zwei Prüfungen 
derselben Nervenstelle durch eine längere Pause getrennt waren. 
Auf die Zeitdauer einer einzigen solchen Pause bleiben jene 
Verschiedenheiten immer beschränkt, und das Err., welches con- 
stant bleibt oder sinkt, gehört in einem Versuche der centralen, 


in einem anderen der peripherischen Stelle des Nerven an. Diese 
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv. 1861. 35° 


450 | Hermann Munk: il 
Momente berechtigen sofort zu der Vermuthung, dass hier nicht 
in Wahrheit Verschiedenheiten in dem gleichzeitigen Verhalten 
der Err. der verschiedenen Stellen, sondern vielmehr durch die 
Versuchsverhältnisse bedingte Erscheinungen vorliegen. 
Offenbar können unsere Prüfungen, zumal wenn längere 
Pausen sie trennen, nur einen sehr mangelhaften Aufschluss 
über die Veränderungen der Err. im ersten Stadium uns: ver- 
schaffen. Findet in der Zwischenzeit zweier Prüfungen dersel- 
ben Nervenstelle eine Schwankung ihres Err. nur: in einem 
Sinne statt, so erfahren wir die Grösse dieser Schwankung, 
nicht aber ihren zeitlichen Verlauf; und fallen in eine ‚solche 
Pause eine positive und eine negative Schwankung des Err., so 
bleibt der wahre Verlauf des Err. während dieser Zeit uns ganz 
verborgen, und es wird uns das Err., je nach der relativen 
Grösse der beiden Schwankungen, nur gestiegen oder nur 'ge- 
sunken oder constant geblieben zu sein scheinen. ‘Von wel- 
chem Einflusse dies auf diejenigen Versuche sein: muss ‚in 
welchen mehrere Stellen eines Nerven geprüft werden, wird 
besser, als durch viele Worte, durch ein Beispiel klar werden. 
Wir setzen den Fall, die Err. aller Stellen eines Nerven näh- 
men im ersten Stadium genau denselben Verlauf und hätten 
auch immer gleichzeitig dieselbe Grösse ; ihre gleichzeitigen 
Werthe sollen unter A der folgenden Tabelle gegeben sein. 
Es zeigen dann B, C, D und E der Tabelle die verschiedenen 
Ergebnisse, zu welchen die Prüfung mehrerer Stellen : dieses 
Nerven nach verschiedenen Schematen führen müsste (B nach 
dem Schema des Vers. VII; C nach Vers. VIIL; D: ebenso, 
aber mit wechselnder Reihenfolge der Stellen; E nach Vers. XI). 


A. 1 Be C. 

a .„IL£|Err. | L£.| Err. | Lf.| Err. | Lf.| Err. | L£.| Err. | L£.| Err. 
Lf.Zeit Fre) zo. |ze|) m. |ze| v. |ze.) 0. | Mm zelev. 
rn TEE SV TE m 

as a Jah 15,0 212 9! 14,0| 11 | 15,0 
9 »|14,0115[| 15,5 |17 | 15,5 | 19] 15,0) 19 | 15,0 |21 | 18,8 | 23 | 13,4 

11° 115.0. 5, FRE 

13 |15,4 = 

15 15,5 ni H 

47.115,51: 742,7 179 |14,0.]11.1150 713,7 sb 3 9 114,0 
19 [15,023] 13,4 [21 13,8 |19 [15,0 |11 130 = ee 19,4 
21) 113,8 | 15115,5 elle b1170)15,5 
23 [134 113 15,0 |— |. — |21 | 13,8 


Untersuchungen über. die, Leitung .der Erregung im Nerven. 451 


= Wir, brauchen ‚die Zahl der. unter B bis E gegebenen Mög- 
lichkeiten nicht noch -zu. vermehren, wie es schon nach den 
weiteren Schematen allein, welche unseren Versuchen zu Grunde 
gelegt waren, leicht geschehen könnte: wir haben, die Ueber- 
zeugung gewonnen, dass die Veränderungen der Err..der, ver- 
schiedenen Stellen des.Nerven in unseren Versuchen in gleicher 
Weise vor sich gegangen sein können während der Zeit, wäh- 
rend welcher sie uns auf den ersten Blick in. ganz. verschiede- 
nem: Sinne erfolgt zu sein schienen. 

Es hat jetzt den Anschein gewonnen, als ob die Aueiele: 
für. die Lösung ‚unserer Aufgabe im ersten Stadium sehr trübe 
wären. Denn wie: sollten | wir 'eine genaue Einsicht zu erlangen 
hoffen: dürfen in’ das gleichzeitige ' Verhalten. der. Err. der: ver- 
schiedenen. Stellen .durch die Versuche, welche schon daran 
Zweifel aufkommen liessen, ob. diese Err.. während derselben 
Zeit überhaupt. nur in gleichem Sinne 'sich verändert haben? 
Und in der That. würden wir. einem ‚complicirten Verhalten 
der Err.. gegenüber:hier gewiss unsere Ohnmacht. haben einge- 
stehen müssen. Wie. dieses Verhalten. aber. in. Wahrheit ist, 
‚werden ‚wir uns sogleich ihm noch gewachsen sehen. 

‚Es: hilft uns folgende Ueberlegung.', ‚Wenn. die Err. .der 
verschiedenen Stellen des Nerven im Verlaufe des ersten. Sta- 
‚diums immer gleichzeitig dieselbe Grösse haben, so: hat offen- 
bar jede Bestimmung, -gleichviel für welche Stelle sie gemacht 
ist, immer 'auch ‚für die Err. der anderen Stellen: zu derselben 
Zeit Geltung.. Man wird dann also, .wenn man auf-eine Ab- 
seissenaxe, welche, die Zeit seit der Trennung des Nerven. vom 
lebenden Organismus bedeutet, als Ordinaten alle im. ersten 
Stadium ‚des. Versuches bestimmten: Werthe. der! Eır. aufträgt 
und die Gipfelpunkte aller Ordinaten in ihrer zeitlichen Reihen- 
folge verbindet, eine Curve, erhalten von solcher Gestalt, ‚wie 
sie die ‚Curve der ‚Fig. 6 als graphischer ‚Ausdruck der Verän- 
derungen des Err. einer einzelnen Nervenstelle zeigt. Es ist 
hiermit bereits gesagt, doch will ich es noch besonders hervor- 
heben, dass die Curve von ‚solcher Gestalt sich wird ergeben 
müssen in allen Versuchen, mögen die Prüfungen in.ihnen auch 
nach den verschiedensten Schematen' vorgenommen worden sein. 

30” 


| 459 N ' Hermann Munk: BE: 2 Feet? 10777 37:7 77087 


Nur wird es natürlich von der Zahl der Bestimmungen und 
der Zeit, in welche sie fielen, abhängen, ob jene Gestalt der 
Curve mehr oder weniger genau ausgeprägt sein wird. Haben 
aber die Err. der verschiedenen Stellen im ersten Stadium nicht 
immer gleichzeitig dieselbe Grösse, so wird die durch dasselbe 
Verfahren erlangte Curve eine andere, unregelmässige und bei 
Versuchen mit verschiedenen Prüfungsweisen auch verschiedene 
Gestalt darbieten müssen. 

In den Versuchen VII -XII und in allen anderen entspre- 
chenden Versuchen gewinnen wir nun auf die vorgeschriebene 
Weise!) immer eine Curve von der Gestalt der Curve Fig. 6. 
Bei den Vers. VIII, IX und XI fällt der Gipfel der Curve in 
die Zwischenzeit resp. der 1. und 2., 3. und 4., 5. und 6. Prü- 
fung; bei den Vers. VII, X und XII ist der Gipfel resp. durch 
die 4., 1., 5. Prüfung bestimmt. Im Vers. X ist sonach auch 
nur der absteigende Ast der Ourve gegeben, die Zeit des An- 
steigens der Err. ist nach unseren früheren Erfahrungen hier 
schon verflossen gewesen, als wir die Prüfungen begannen.‘ 

Wir schliessen jetzt, dass in unseren Versuchen die gleich- 
zeitigen Err. der verschiedenen Stellen des Nerven im ersten 
Stadium immer von derselben Grösse gewesen sind. Die Aus- 
dehnung dieses Schlusses auch auf die ’der Beobachtung unzu- 
gänglichen allerersten Minuten nach der Trennung‘ des Nerven 
bedarf keiner weiteren Rechtfertigung, wenn wir eben ‘die 
gleichzeitigen Err. von der frühesten Zeit der Beobachtung an 
bis tief in das zweite Stadium hinein immer von gleicher Grösse 
gefunden haben und erst dann haben ungleich werden sehen. 

Eine Unregelmässigkeit, welche sich in dem ersten Stadium 
der Vers. VII und XI findet, habe ich auch sonst noch ziem- 
lich häufig beobachtet. Die zweite Prüfung des Versuches er- 
giebt nämlich oft einen beträchtlich geringeren Werth für das 
Err., als nach den Ergebnissen der ersten und der dritten 


!) Es bedarf wohl kaum einer besonderen Erwähnung, dass die 

_ Anfangsbestimmungen des zweiten Stadiums, da sie zugleich Endbe- 
stimmungen des ersten Stadiums sind, für die Construction der Curve 

‚mit verwandt werden müssen. Hl 


Untersuchungen über. die Leitung der Erregung im Nerven. 453 


Prüfung und nach dem uns wohlbekannten Verlaufe der Curve 
zu erwarten war. Es ist aber hierfür durchaus gleichgültig, 
welche der Stellen O, M und U gerade die zweite Prüfung 
traf. Und diese Erfahrung ist vollkommen ausreichend zum 
Beweise dessen, dass der Grund der Unregelmässigkeit wie- 
derum nicht in einem verschiedenen Verhalten der verschiede- 
nen Stellen des Nerven, sondern in den äusseren Verhältnissen 
des Versuches zu suchen ist. Ich glaube die Unregelmässigkeit 
dadurch bedingt, dass in den betreffenden Versuchen, welche 
sofort nach dem Einhängen des Muskels begonnen wurden, 
die ersten Prüfungen noch in die Anfangszeit der sog. Nach- 
oder Schlussdehnung fielen. In allen Fällen, in welchen die 
Unregelmässigkeit auftrat, habe ich zugleich heobachtet, dass 
der Muskel in der Zwischenzeit der ersten und der zweiten 
Prüfung unter dem Einflusse der Belastung sich noch beträchtlich, 
um etwa 0,5 bis 1,2 Mm., verlängert hatte. Es würde hier- 
nach die Unregelmässigkeit ihre Erklärung in den Erfahrungen 
von Volkmann!) finden, nach welchen die Verkürzung des 
Muskels desto geringer ist, je mehr der Muskel durch das an- 
gehängte Gewicht bereits verlängert war. Begreiflicher Weise 
würde aber dann in Rücksicht auf den ganzen Versuch nicht 
der‘durch die zweite Prüfung gefundene Werth als’ zu klein, 
sondern vielmehr der durch die erste Prüfung bestimmte Werth 
. als zu gross angesehen werden müssen. 


‘Eine andere Unregelmässigkeit zeigt Vers. XI gegen Ende 
des, ersten Stadiums. Sie ist die Folge der Ermüdung des 
Präparates durch die häufigen Erregungen, wie auch die zahl- 
reichen Unregelmässigkeiten im zweiten Stadium dieses Ver- 
suches lehren, und war nach unseren früheren nn 
(s. 0. 8. 440) als unvermeidlich zu erwarten. 

Fassen wir nun Alles zusammen, so haben wir erfahren, 
dass während des Ansteigens, des beschleunigten Sinkens und 
einer längeren oder kürzeren Zeit des verzögerten Sinkens die 


1) Berichte der Leipziger Academie 1856, — Ludwig, rn 
Zweite Auflage. Bd. I S. 456, 


454 ar Hermann Munk: 


gleichzeitigen Err. der verschiedenen Stellen des Nerven‘ immer 
von gleicher Grösse sind, dass bei dem weiteren Sinken aber 
die Abnahme der Gelehwindihett langsamer erfolgt an der 
dem Querschnitte näher gelegenen Stelle, so dass das Err. 
dieser Stelle fortan kleiner ist als das gleichzeitige der von 
dem Querschnitte entfernteren Stelle und dieser Unterschied 
der gleichzeitigen Err. mit der Zeit an Grösse zunimmt. 
Auch an Präparaten von nur sehr geringer Leistungsfähig- 
keit lassen sich diese Erfahrungen bestätigen. Den oben mit- 
getheilten Versuchen gegenüber, welche sämmtlich an Präpa- 
raten von grösserer Leistungsfähigkeit angestellt sind, mögen 
hier zwei Versuche Platz finden, für welche Präparate ver- 
wandt worden sind von Fröschen, deren Muskeln sogleich nach 
dem Tode der Thiere ein ganz weissliches Ansehen, nahezu 
wie todtenstarre Muskeln, hatten. 


‘Vers. XII. Vers. XIV. 
Länge des Nerven: 82 Mm. Länge des Nerven: 85 Mm. 
Entf. :d. St. O von.d. Wirbels.: 24 Mm.\Etf.d. St.O v. d. Wirbels.:20M, 
Aufst. Schliess. Aufst.. Schliess. 
Lf. Zt. ir, O.}Lf. Zt.|Err. M.|Lf. Zt.|Err. U.|L£. Zeit| Err.O. |L£. Zeit] Eır. U, 

3) 15,1 1.104 |149 | 12 |.14,6 10 |. 15,0 
19 -\- 13,5 1295 12.9.1622, | 156.1,.1% | 440, | 14 120 
29 | 11,0 1'302 "100 | 32 | 96 | 18 ins 118 101 
43 | 79414 | 82 "40 ln 8,6.1>420 9,01 22: | 8,1 
öl 7,0 | 524 6,7 | 54 6,5 | 24 7,2 26 6,8 . 
80. | unter | 814 -, unter | 83 , unter | 30 5,4 32 469,5 

3.Mm. 3 Mm. 3Mm.| 36 4,0 38 4,6, 
42 | unter | 44 | 3,8 
19 | 3Mm.| 50 3,0 


Construirt man für Vers. XIII die Curven der .Err. .der 
verschiedenen Stellen des Nerven,. bezogen auf dieselbe Ab- 
scissenaxe als Zeit, so fallen die drei Curven, so weit die Err. 
verfolgt, worden. sind (bis zur 54. Min.) zusammen. _Verfährt 
man ebenso für Vers. XIV., so. decken die Curven O und U 
einander bis: zur 22. Minute genau, von hier an aber fällt die 
Curve OÖ steiler ab als die Curve U. 

Selbstverständlich kann ‚der, Unterschied, welchen wir in 
dem Verhalten des Err. zwischen verschiedenen Stellen .dessel- 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 455, 


ben Nerven aufgefunden haben, nicht durch die Erregungen 
herbeigeführt sein, da ja alle Stellen gleich stark und gleich 
oft erregt worden sind!). Wohl aber können die Erregungen 
auf die Grösse des Unterschiedes, wie sie im einzelnen Ver- 
suche hervortritt, von Einfluss gewesen sein. . Von dem Zeit- 
punkte 'an, wo ..die gleichzeitigen Err. der verschiedenen Stellen 
nicht mehr genau] gleiche Grösse haben, ist die.dem Quer- 
schnitte näher gelegene Stelle, deren Err. rascher auf Null 
herabsinkt, gewissermaassen als weniger leistungsfähig zu be- 
trachten, und sie wird demnach von jenem Zeitpuncte an durch 
die gleich starken und gleich häufigen Erregungen doch mehr 
erschöpft worden ‚sein können, als die von dem Querschnitte 
entferntere Stelle. Hiernach wird also in jedem einzelnen 
Versuche der Unterschied im Verhalten der Err. der verschie- 
denen Stellen etwas grösser sich herausgestellt haben, als er 
in Wahrheit war, und zwar wird diese Differenz zwischen dem 
beobachteten und dem wahren Unterschiede desto grösser ge- 
wesen sein, je grösser der wahre Unterschied war. Um uns 
. später nicht unterbrechen zu müssen, wollen wir sogleich noch 
etwas weiter gehen. Wenn wir in verschiedenen Versuchen, 
in welchen immer gleich weit von einander entfernte Stellen 
nach demselben Schema geprüft worden sind, den Unterschied 
im Verhalten der Err. von verschiedener Grösse finden, dürfen 
wir, wie jetzt. sofort ersichtlich ist, aus einem grösseren beob- 
achteten Unterschiede immer auch auf einen grösseren wahren 
Unterschied schliessen. Dieser Schluss wird aber eben nur bei 
Versuchen ‚mit gleicher Prüfungsweise erlaubt sein; denn offen- 
bar; wird demselben wahren Unterschiede bei häufigeren Prü- . 


!) In einigen am Helmholtz’schen Myographion angestellten Ver- 
suchen ist zur Bestimmung des Zeitpunktes der Reizung nach der je- 
desmaligen Prüfung der Stellen noch die Stelle U, aber immer nur 
diese, erregt worden. Entweder wurde hierdurch die Zahl der Erre- 
gungen für die Stellen O und U gleich gross gemacht, wie z. B. im 
Vers. XVII, oder es kamen zu der schon gleichen Zahl noch diese 
Erregungen der Stelle U hiuzu, wodurch die oben im Texte bespro- 
chene grössere Ermüdung der Stelle O gewiss zum Mindesten com- 
pensirt worden ist. 


456 “ Hermann Munk: 


fungen ein grösserer beobäachteter Unterschied ‚entsprechen. als 
bei selteneren Prüfungen. Ä 

Bei den Versuchen, von welchen bisher schusdeih BE 
war die Stelle O immer mehr als 7 Mm. von der Wirbelsäule 
entfernt gewesen. Wir gehen jetzt an die Betrachtung von 
Versuchen, bei welchen diese Entfernung 7 Mm. oder: weniger 
betragen hat. 


Vers. XV. Vers. XVI. 


Länge des Nerven: 63 Mm. Länge des Nerven: 68 Mm. 
Entf. d.St.O v. d. Wirbels.: 7 Mm.|Entf. d. St. O v.d. Wirbels.: 5 Mm. 
Aufst. Schliess. | Abst. Schliess. 


Lauf. Zeit| Err. O.|Lauf.Zeit| Err. U. |'Lf. Zeit] Err. O | Lf. Zeit | Err. U 


11 13,9 13 14,0 7 12,1 9 12,5 

15 14,2 17 14,4 11 12,9 13 13,7 - 
1%; 14,4 23 14,5 15 11,9 Adi. 1230 
25 14,4 27 14,4 23 11,4 25 12,0 
29 14,3 31 14,0 27 11,0 29 11,7 
8319-)514,0 36.11.14,2 3 10,3... 38 11,8 
39 13,4 41 | 14,2 35 9,9 37 11,9 
43 13,3 45 13,9 41 9,8 43 11,8 
47 13,3 49 14,0 45 9,7 47 135% 
öl... 13,2 hy} 14,0 49 9,2 53 11 2 
55 12,9 57 13,9 57 9,0 61 112 

Vers. XV. Vers. XVII. 
Länge des Nerven: 63 Mm. | Länge des Nerven: 64 Mm. 

Entf. d. St. O v. d. Wirbels.: 5 Mm. Entf. d.St.O v.d. Wirbels.: 4 Mm, 
Aufst. Oeffn. | Aufst. Schliess. Ze 

a. Tr we 76, er 
8 6,9 ialı 72 5 10,2 7 10,4 
13 6,8 9 10,4 IM 11,4 
13 6,7 21+ 7,7 13 10,7 15 12,1 
24 6,7 17 10,7 19 12,2 
30 6,6 324 7,6 21 10,7 23 12,1 
35 6,4 ey 374 7,3 25 10,6 27 12,0 
öl 6,3 534 6,9 jan 29 10,7 sl 12,0 
69 6,2 714 6,7 33 10,1. 1.15.35 11,9 
74 6,2 844 6,5 37 9,0 39 11,3 
87 6,0 894 6,5 41 7,8 43 11,4 
105 5,7 107 | 63 45 5,4 °]% a7 Dg 
110 5,7 | I" ©49 Junt.&M.| 051 11,3 
1294 5,9 132 6,8 Err.M.| 58 11,2 
1343 5,91 57 10,7. | :59 11,2 
211 [u.3Mm. 221 6,8 61 10,6 68. is 
236 6,7 | 67 113 
I 69 10,1 71 10,8 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 457 


Im zweiten. Stadium sinken in den Vers. XV, XVI und 
XVU alle Err.. mit abnehmender Geschwindigkeit, im Vers, 
XVIII aber nur das Err. der Stelle U mit abnehmender, das 
der Stelle O hingegen mit zunehmender Geschwindigkeit. Auf 
die Abweichung, welches dieses letzte Err. an und für sich so- 
mit von dem gesetzmässigen Verhalten zeigt, werden wir wei- 
terhin zu sprechen kommen (s. u. S. 474): augenblicklich ist 
es uns nur um die Vergleichung des Verhaltens der Err. der 
verschiedenen Stellen zu thun. | 

Es ist in der Gesammtzeit, während welcher wir das zweite 
Stadium in den einzelnen Versuchen verfolgt haben, das Err. 
der Stelle O immer mehr und in den Vers. XVII und XVII 
sogar auffallend. mehr. gesunken als das Err. der Stelle U, und 
es ist die Differenz der Werthe, um welche die Err. der: ver- 
schiedenen Stellen desselben Nerven innerhalb derselben Zeit 
abgenommen haben, immer mit dieser Zeit gewachsen. 

Sogleich bei dem Beginne des zweiten Stadiums ist hier 
überall das Err. der Stelle O kleiner gewesen als das gleich- 
zeitige der Stelle U, und diese Differenz der. gleichzeitigen 
Err., hat überall, wie es nach dem Vorigen sich schon von 
selbst versteht, mit der Zeit rasch an Grösse zugenommen. 

Für das erste Stadium nehmen wir unsere Zuflucht wieder 
zu :dem Verfahren, welches wir oben mit Erfolg in Anwendung 
gezogen haben. Wir tragen für jeden einzelnen Versuch auf 
die Abscissenaxe, welche:die Zeit bedeuten soll, alle im ersten 
Stadium bestimmten Werthe der Err. als Ordinaten auf und 
verbinden die Gipfelpunkte sämmtlicher Ordinaten in ihrer 
zeitlichen Reihenfolge. Die Ergebnisse sind dann bei den ver- 
schiedenen. Versuchen verschiedene. 

Vers. XV liefert eine Curve, deren Gestalt bis über das 
Anfangsstück des absteigenden Astes hinaus der Curve ‚Fig. 6 
entspricht, sodann aber unregelmässig wird. Als Grund der 
Unregelmässigkeit ergiebt sich sofort, dass die letzten der Stelle 
U angehörenden Ordinaten sämmtlich grösser sind als die der 
Stelle O. Wir kommen hier somit ohne Schwierigkeit zu dem 
Schlusse, dass die gleichzeitigen Err. der Stellen O und U 
während des Ansteigens und der ersten Zeit des beschleunigten 


458 u "Hermann Munk: 


Sinkens immer von gleicher Grösse gewesen sind, zuletzt aber 
von ungleicher Grösse, weil die Geschwindigkeit beim Sinken des 
Err. an der Stelle O rascher zugenommen hat als an der Stelle U. 

Die Curve des Vers. XVI ist in ihrem ansteigenden wie 
in ihrem absteigenden Aste convex gegen die Abscissenaxe, 
und die beiden Curven, welche die Vers. XVII u. XVIII liefern, 
zeigen eine kammförmige Gestalt. In den Vers. XVI, XVII u. 
XVII sind also während der Zeit des ersten Stadiums, welche 
wir mit unseren Prüfungen verfolgt haben, die gleichzeitigen 
Err. der verschiedenen Stellen des Nerven von’ ungleicher 
Grösse gewesen. Es bleibt uns hier nur noch das zu thun 
übrig, dass wir die Gipfelpunkte immer nur der Ordinaten 
unter einander verbinden , welche der Ausdruck der Werthe 
des Err. einer einzelnen Nervenstelle sind. Wir erhalten so 
für jeden der drei Versuche zwei Curven von der Gestalt der 
Curve Fig. 6'), und es zeigt sich in allen Versuchen überein- 
stimmend, dass die Ordinaten der Curve O durchweg kleiner 
sind als die der Curve U, und dass das kleinere Maximum 
der Curve O auch früher eintritt als das der Curve U. 

Viel weiter in der Erkenntniss kommen wir bei diesen Ver- 
suchen nicht; nur über einen Punkt, der aber allerdings gerade 
von Bedeutung ist, vermögen wir noch etwas auszusagen. In 
den Vers. VII—XIV haben wir die gleichzeitigen Err. der 
verschiedenen Stellen des Nerven erst früher oder später im 
zweiten Stadium von ungleicher Grösse werden sehen, im Vers. 
XV bildete sich die Verschiedenheit der gleichzeitigen Eir. 
noch während des beschleunigten Sinkens im ersten Stadium 
hervor. Es liegt nun die Vermuthung sehr nahe, dass in un- 
seren Vers. XVI-XVIII, in welchen wir die gleichzeitigen 
Err. schon während des Ansteigens von ungleicher Grösse ge- 
funden haben, nur der Grenzfall hier vertreten ist, indem auch 
bei ihnen zu allererst die gleichzeitigen Err. von gleicher 
Grösse gewesen und nur eben sehr früh schon von verschie- 


ı) Der Gipfel der Curve O im Vers. XVII ist entweder; durch 
die erste Prüfung getroffen oder fällt-in die Zwischenzeit der 1. und 
2. Prüfung ; im ersteren Falle wäre das Ansteigen des Eır. dieser 
Stelle schon bei dem Beginne des Versuches beendet gewesen. 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 459 


dener Grösse geworden seien. Und in der That ergiebt eine 
genauere Betrachtung der Vers. XVI und XVIII (im Vers. 
XV]I sind zu wenige Prüfungen in die Zeit des Ansteigens 
gefallen) die Richtigkeit jener Vermuthung. In beiden Ver- 
suchen ist die Differenz der gleichzeitigen Err. mit der Zeit 
des Ansteigens gewachsen, und die somit gegen den Zeitpunkt 
der Trennung des Nerven hin convergirenden Curven O und U 
treffen noch in der Zwischenzeit der beiden ersten Prüfungen 
zusammen. 

Wir können die gesonderte Betrachtung der Vers. XV bis 
XVIII nicht aufgeben ohne die Bemerkung, dass die strenge 
Scheidung des 'ersten und zweiten Stadiums bei diesen Versu- 
chen sich als unzulässig herausgestellt hat. In den Vers. VII 
bis XII, wo die gleichzeitigen Err. der Stellen O und U. bis 
mehr oder weniger tief in das zweite Stadium hinein immer 
von gleicher Grösse waren, sind somit auch beide Err. gleich- 
zeitig in das zweite Stadium ihres Verlaufes getreten. Anders 
aber in jenen letzten Versuchen, in welchen die gleichzeitigen 
Err. der Stellen O und U noch während des ersten Stadiums 
von verschiedener Grösse wurden. : Hier {haben unzweifelhaft 
in’den Vers. XV und XVII und höchst wahrscheinlich: auch 
in den anderen Versuchen die zweiten Stadien der beiden Err. 
zu verschiedenen Zeiten begonnen. Wir geben deshalb die 
Trennung der Stadien , die wir doch ‘nur zum Vortheile 
der Darlegung oben vorgenommen haben, jetzt gern wieder 
ganz auf. 

‚Ueberblicken wir nunmehr unsere Versuche insgesammt, 
so waren in allen die gleichzeitigen Err, der Stellen O und U 
— wir betrachten diese Stellen allein — in der ersten Zeit 
nach der Trennung des Nerven von gleicher Grösse, sodann 
wurde das Err. der Stelle O kleiner als das gleichzeitige der 
Stelle U, und dieser Unterschied der en Err. nahm 
mit der Zeit an Grösse zu. 

In Betreff der Zeit aber, wann die gleichzeitigen Err. der 
beiden Stellen von ungleicher Grösse wurden, haben die ver- 
schiedenen Versuche verschiedene Ergebnisse geliefert. Das 
Err. der Stelle O ist in den Versuchen, in welchen diese Stelle 


A460 i Hermann Munk: 


7 Mm. oder weniger von der Wirbelsäule entfernt war, mit 
nur wenigen Ausnahmen während des beschleunigten Sinkens 
oder gar schon während des Ansteigens, in den Versuchen 
aber, in welchen jene Entfernung 10 oder mehr Mm. betrug, 
‚, erst früher oder später während des verzögerten Sinkens kleiner 
geworden als das gleichzeitige Err. der Stelle U. : Oder. achten 
wir jetzt lieber auf absolute Zeitverhältnisse, da die Bedingun- 
gen, von welchen die in den verschiedenen Versuchen verschie- 
dene Dauer des Ansteigens abhängig ist, uns noch nicht genü- 
gend bekannt sind, so sind die gleichzeitigen Err. in den er- 
steren Versuchen nur höchst selten länger als 30 Min., in den 
letzteren Versuchen aber immer länger, meist sogar beträchtlich 
länger als 30 Min. nach der Trennung des Nerven von gleicher 
Grösse geblieben. 

Nur in dieser groben Erfahrung spricht sich, wenn: wir 
eben alle unsere Versuche zugleich in’s Auge fassen, das Ab- 
hängigkeitsverhältniss aus, in welchem die Zeit des Eintritts 
der Verschiedenheit der gleichzeitigen Err. zu der Entfernung 
der Stelle OÖ vom Querschnitte des Nerven steht. Wir über- 
sehen aber leicht, dass, wenn:jene Zeit noch von anderen Be- 
dingungen abhängig ist, ein besseres Ergebniss nicht zu erwar- 
ten war, da in den Versuchen, in welchen wir die Entfernung 
der Stelle O vom Querschnitte verschieden gross nahmen, die 
anderen Bedingungen gewiss ‘nicht immer. constant erhalten 
worden sind. Gelingt es uns, eine oder mehrere dieser Be- 
dingungen zu ermitteln und vergleichen wir dann immer nur 
eine kleine Anzahl von Versuchen, in welchen diese Bedingun- 
gen constant geblieben oder wenigstens nicht bedeutend ver- 
ändert worden sind, so ist zu hoffen, dass hier die’ uns. be- 
schäftigende Abhängigkeit schärfer hervortreten wird. 

Wir haben oben gesehen, dass unsere Prüfungen nicht einen 
Unterschied im Verhalten der Err..haben hervorrufen, : sondern 
nur einen bereits vorhandenen Unterschied haben vergrössern. 
können. Hiernach scheinen auf den ersten Blick Versuche mit 
verschiedenen Prüfungsweisen in Betreff der Zeit. des Eintritts 
der Verschiedenheit der gleichzeitigen Err. unbedenklich ver- 
glichen werden zu dürfen. ‚Allein unzweifelhaft giebt es in 


Untersuchungen über: die Leitung der Erregung im Nerven, 461 


jedem Versuche ‘eine Zeit, in welcher ein Unterschied der 
gleichzeitigen Err. bereits vorhanden ist, aber wegen seiner 
geringen Grösse, indem diese innerhalb der Fehlergrenzen der 
Messungen und, der Bestimmung der gleichzeitigen Err. fällt, 
noch nicht zur Beobachtung kommt. “Und diese Zeit wird 
durch häufige Prüfungen mehr verkürzt werden als durch sel- 
tene, so dass, wenn in zwei Versuchen die gleichzeitigen Err. 
in Wahrheit zu genau derselben Zeit von ungleicher Grösse 
geworden sind, ihre Verschiedenheit doch in demjenigen Ver- 
suche, in welchem die Prüfungen häufiger vorgenommen wur- 
den, uns früher aufgetreten zu sein scheinen wird als in dem 
anderen. 

‚Bei Versuchen mit gleicher Prüfungsweise kommt wieder 
ein anderer Umstand in Betracht: die verschiedene Leistungs- 
fähigkeit der Präparate. Es ist ohne Weiteres klar, dass bei 
gegebener Anzahl der Prüfungen durch eine geringere Leistungs- 
fähigkeit des Nerven die Zeit, während welcher der Unterschied 
der gleichzeitigen Err. 'nicht zur Beobachtung kommt, ebenso 
‚wird mehr. verkürzt werden können, wie vorhin durch die grös- 
sere Anzahl der Prüfungen bei gleicher Leistungsfähigkeit. 
Sehen wir aber auch ganz hiervon ab, so ist die Möglichkeit 
vorhanden, dass die Verschiedenheit der gleichzeitigen Err. 
zweier Stellen unter sonst denselben Bedingungen desto früher 
eintritt, je weniger leistungsfähig das Präparat ist. 

Endlich. ist. noch die in den. verschiedenen Versuchen ver- 
schiedene Feinheit unseres Maasses in Erwägung zu ziehen. 
Gesetzt, es handele sich bei zwei in jeder Beziehung. gleichen 
Präparaten, welche unter denselben Bedingungen gehalten wer- 
den, um die Prüfung der Err. immer genau der nämlichen 
zwei Stellen ihrer Nerven: unter dieser Voraussetzung wird 
beide Male die Verschiedenheit der gleichzeitigen Err. zu der- 
selben Zeit eintreten und in gleicher Weise der Grösse und 
der Zeit nach zunehmen müssen. Wir belasten nun den Mus- 
kel des Präparates A mit einem geringen Gewichte, so dass 
kurz vor dem Eintritte des Unterschiedes wir bei der. Prüfung 
des Nerven die Zuckungsgrösse von 18 Mm. erlangen, den 
Muskel des Präparates B hingegen belasten wir mit einem viel 


462 „0 0© Hermann Munk: BRBTTERETTERTER SE 


grösseren Gewichte, so dass wir hier zu derselben Zeit nur.die 
Zuckungsgrösse von 6 Mm. erhalten. : Wenn dann der. Unter- 
schied der gleichzeitigen Err. bei dem Präparate. A 20 Min., 
nachdem er in Wahrheit’ eingetreten ist, !/; Mm..und..nach 
weiteren 30 Min. ®/, Mm. beträgt, so ‘wird derselbe bei dem 
Präparate B 50 Min. nach seinem wahren Eintritte erst '/) Mm. 
betragen können!). Fällt nun der Unterschied der: gleichzeiti- 
gen Err. so lange, bis er die Grösse von !/, Mm. erlangt hat, 
innerhalb der Fehlergrenzen unserer Messungen und der Be- 
stimmung der gleichzeitigen Err., so wird er offenbar bei dem 
Präparate A uns beträchtlich früher eingetreten zu sein: schei- 
nen als bei dem Präparate B. Und was in diesem Falle‘.die 
verschiedene Belastung bei gleicher Grösse der Präparate, bei 
gleicher Temperatur u. s. f. bewirkt hat, dafür wird natürlich 
bei gleicher Belastung die verschiedene Grösse der Präparate 
oder die verschiedene Temperatur (s. u. IV) u. s. w. Anlass 
sein können. erh 
Es bedarf keiner langen Auseinandersetzung, dass wir den 
strengsten Anforderungen, welche nach dem über die Leistungs- 
fähigkeit und die Feinheit des Maasses?) Gesagten an uns ge- 
stellt werden könnten, mit unseren Versuchen zu genügen'nicht 
im Stande sind. Was wir thun können, ist, dass wir ‘unter 
unseren Versuchen mit gleicher Prüfungsweise immer 'solche 
zur Vergleichung auswählen, in welchen die Err. der. Stellen 
U zur Zeit des Beginns des verzögerten Sinkens von ohngefähr 
gleicher Grösse gewesen und auch in ohngefähr gleicher Zeit 
nach der Trennung des Nerven auf 5 oder 4 oder 3 Mm. ge- 
sunken?) sind. Allerdings können wir von solchen Versuchen 


1) Wir sehen von dem Einfiusse der grösseren Ermüdung, des 
Muskels .B, der hier auch kaum beträchtlich sein würde, ganz ab. 
2) Nachdem auseinander gesetzt ist, was ich unter „Feinheit des 
Maasses“ verstehe, glaube ich diesen Ausdruck unbedenklich beibehal- 
ten zu dürfen. 
3) Versuche, in welchen die Eır. der Stellen U nicht bis zu dem- 
‚selben schliesslichen Werthe verfolgt worden sind, sehen wir, wofern 
nur die anderen Bedingungen 'erfüllt sind, dann für vergleichbar an, 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 463 


nicht mehr aussagen, als dass die Leistungsfähigkeit der Prä- 
parate und die Feinheit des Maasses in ihnen nicht sehr ver- 
schieden gewesen sind, aber glücklicherweise kommen wir doch 
auch schon so zu befriedigenden Ergebnissen. 

Sobald wir jetzt zwei Versuche neben einander halten, in 
welchen die Abstände der Stellen O von der Wirbelsäule be- 
trächtlicher verschieden angenommen waren, zeigt es sich aus- 
nahmslos, dass die Verschiedenheit der gleichzeitigen Err. be- 
trächtlich früher eingetreten ist in dem Versuche, in welchem 
die Stelle O näher dem Querschnitte sich befand. Aber auch 
bei nur geringem (etwa ö Mm. betragendem) Unterschiede der 
Stellen. O in den der Vergleichung unterzogemen Versuchen 
machen, wir ‘oft dieselbe Erfahrung, nur dass hier der zeitliche 
‚Unterschied in dem Eintreten der Verschiedenheit auch gerin- 
ger sich herausstellt. Und die Zusammenstellung mehrerer 
solcher Versuche legt dann manchmal sehr deutlich den stufen- 
weise früheren Eintritt der Verschiedenheit mit der stufenweise 
erfolgten Annäherung der Stelle O an den Querschnitt des 
Nerven dar. 

Von den mitgetheilten Versuchen . lassen sich einmal die 
Vers. XI, XV, XVI und XVIII und wiederum die Vers. XII 
und XVII zu Vergleichungen benutzen. _Begreiflich ist aber 
gerade hier für die Sicherheit der Erfahrungen ein viel grös- 
seres Material ertorderlich, als es oben. hat vorgelegt werden 
können. ß 

Wenn, wir nun in dem Falle, dass in den der Vergleichung 
unterzogenen Versuchen der Unterschied der Abstände der 
Stellen O von dem Querschnitte nur gering ist, manchmal gar 
keinen deutlichen Unterschied in der Zeit. des Eintritts der 
Verschiedenheit der gleichzeitigen Err. beobachten und manch- 
mal diese Verschiedenheit sogar früher eingetreten sehen in 
dem Versuche, in welchem der Abstand der Stelle O grösser 
gewesen ist, so werden wir uns hierdurch gewiss nicht beirren 


wenn die gegen die Abseissenaxe convexen Stücke der absteigenden 
Aeste der Curven U ohngefähr die gleiche Steilheit in ihrem Verlaufe 
Zeigen. 


464 ° A ini Hermann Munk: 


lassen, da diese Ausnahmefälle ihre hinreichende Erklärung 
in den immer noch zahlreichen Fehlerquellen der Vergleichung 
finden. Ich brauche zunächst nur daran zu erinnern, dass wir 
den Einfluss der verschiedenen Leistungsfähigkeit der Präparate 
und der verschiedenen Feinheit des Maasses nicht vollkommen 
eliminirt haben. Sodann ist die Möglichkeit zu erwägen, dass 
die Zeit des (wahren) Eintritts der Verschiedenheit der gleich- 
zeitigen Err. ausser von der Nähe des Querschnittes und der 
Leistungsfähigkeit des Präparates (s. u.) auch noch von ande- 
ren, uns unbekannten Bedingungen abhängig ist. Endlich aber 
muss ich ein besonderes Gewicht darauf legen, dass wir den 
Abstand der Stelle OÖ von dem Querschnitte immer nur unge- 
nau haben bestimmen können. Der wellige Verlauf der Ner- 
venfasern,, dessen Ausdruck die Fontana’sche Streifung ist, 
macht vollkommen sichere Messungen an den Nerven unmög- 
lich. Für verschiedene Messungen an demselben Nerven ver- 
hilft die Spannung desselben bis zum Verschwinden der Fon- 
tana’schen Streifung zu einer grösseren Genauigkeit; aber wo 
es, wie in unserem Falle, um Messungen an verschiedenen 
Nerven sich handelt, können wieder durch den verschiedenen 
Spannungsgrad der Nerven grössere Fehler herbeigeführt wer- 
den. Besonders an solche Fehler wird bei den obigen Aus- 
nahmefällen zu denken sein, und es wird dann auch nicht zu 
übersehen sein, dass wir immer nur die Entfernung der Stelle 
O von der Wirbelsäule bestimmt haben (s. o. S. 437. Anm.): 
wie ich mich wiederholt überzeugt habe, schwankt die Länge 
des Wirbelsäule-Stücks von der Austrittsstelle des 8. Rücken- 
marksnerven bis zu dem oberen Ende des 7. Wirbels bei Frö- 
schen von verschiedener Grösse um einige Mm. 

" Debertragen wir die Erfahrung, welche wir bei mehreren 
Nerven von durchaus gleichen Präparaten gemacht haben, wie 
es doch unbedenklich geschehen kann, auf einen und denselben 
Nerven, so darf jetzt als gesichert angesehen werden, dass die 
Verschiedenheit der gleichzeitigen Err. zweier 43 Mm. von einan- 
der entfernter Stellen eines Nerven desto früher eintritt, je gerin- 
ger der Abstand der Stellen von dem Querschnitte des Nerven ist. 
Mit diesem früheren Eintritte der Verschiedenheit geht aber 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 465 


auch eine raschere Zunahme derselben Hand in Hand. Es be- 
darf erst keines besonderen Eingehens auf diesen Zusammen- 
hang, da er bei den vorhin als vergleichbar erkannten Versu- 
chen ganz unmittelbar klar und bestimmt hervortritt. Alles 
was über den Eintritt der Verschiedenheit der gleichzeitigen 
Err. verhandelt ist, liesse sich in Betreff der verschieden raschen 
Zunahme derselben wiederholen. 4 

Bei den an leistungsfähigen Präparaten angestellten Versu- 
chen, in welchen die Stelle O in einer grösseren Entfernung 
von dem Querschnitte angenommen war, sehen wir den Unter- 
schied der gleichzeitigen’ Err. nur sehr langsam an Grösse zu- 
nehmen, und hier, müssen wir schliessen, hat gewiss eine län- 
gere Zeit hindurch eine Verschiedenheit ‘der Err. bereits be- 
standen, bevor sie zu unserer Beobachtung kam. Bei solchen 
Versuchen muss demnach auch der Einfluss der verschiedenen 
Prüfungsweise und der verschiedenen Feinheit des Maasses auf 
die Zeit, wann der Unterschied der gleichzeitigen Err. hervor- 
trat, besonders sich geltend gemacht haben. In der That fällt 
dies schon bei einer oberflächlichen Durchsicht der Versuche 
auf, und eine genauere Vergleichung derselben ergiebt noch 
weiter die Richtigkeit viel eingehenderer Sehlüsse, welche auf 
Grund der obigen theoretischen Erörterungen hier sich ziehen 
lassen. Leider muss ich es aber, so interessant der Gegen- 
stand auch ist, weil er zeigt, wie sehr wir Herren der Com- 
plicationen geworden sind, bei diesen Andeutungen bewenden 
lassen, da eine ausführliche Erörterung hier viel zu weit führen 
würde. Aus der Vergleichung der Vers. VII—-XIlI wird leicht 
manches Hierhergehörige sich entnehmen lassen. 

Wie bereits angedeutet worden ist, hängt die Zeit des (wah- 
ren) Eintritts der Verschiedenheit der gleichzeitigen Err. ausser 
von der Entfernung der Stelle O vom Querschnitte noch von 
der Leistungsfähigkeit des Präparates ab, und zwar tritt unter 
sonst denselben Bedingungen die Verschiedenheit desto früher 
ein, je weniger leistungsfähig das Präparat ist. ‘Wir entneh- 
men dies daraus, dass unter solchen Versuchen, in welchen bei 
gleicher Prüfungsweise und ohngefähr gleicher Feinheit des 


Maasses auch die Stellen O gleich weit von dem Querschnitte 
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv. 1861, 31 


466 Hermann Munk: 


entfernt waren, die an nur wenig leistungsfähigen Präparaten 
angestellten Versuche durchweg einen früheren Eintritt der. 
Verschiedenheit uns zeigen. Zu demselben Ergebnisse führt: 
die Vergleichung von Versuchen, in welchen bei ungleichen, 
jedoch nicht allzu verschiedenen Abständen der Stellen © die 
Präparate von sehr verschiedener Leistungsfähigkeit waren, und 
bei dem wenig leistungsfähigen Präparate die Stelle O weiter: 
entfernt vom Querschnitte gelegen war (vgl. Vers XI u. XIV). 
Es ist aber sehr interessant, dass, wenn die Stelle O in einem 
Versuche A an einem sehr wenig. leistungsfähigen Präparate 
weit. entfernt von der Wirbelsäule, in einem Versuche B an 
einem sehr leistungsfähigen Präparate hingegen sehr nahe der 
Wirbelsäule sich befunden hatte, die Verschiedenheit der gleich- 
zeitigen Err. immer früher im Versuche B eingetreten ist, 'also 
der Einfluss der höchst verschiedenen Leistungsfähigkeit den 
ihm entgegenwirkenden Einfluss des verschiedenen Abstandes 
der Stelle O von dem Querschnitte nicht hat verdecken kön- 
nen (vgl. Vers. XIV mit Vers. XVI oder XVII). . Es wird 
hierdurch erklärlich, dass bei unseren früberen Vergleichungen 
der Versuche die unvollkommene Bliminirung. der verschiede- 
nen Leistungsfähigkeit der Präparate nicht sehr ‚störend ge- 
wesen ist. 

Wir wissen nunmehr Folgendes: Die gleichzeitigen Err. 
zweier 43 Mm. von einander entfernter Stellen des Nerven 
sind unmittelbar nach der Trennung des Nerven von gleicher 
Grösse und bleiben es eine desto längere Zeit hindurch, je 
weiter die betreffenden Stellen von dem Querschnitte entfernt 
sind. Dann wird das Err. der dem Querschnitte näher gelege- 
nen ‚Stelle kleiner als das gleichzeitige der anderen Stelle, und 
dieser Unterschied der gleichzeitigen Err. nimmt, mit der Zeit 
an Grösse zu und zwar desto rascher zu, je näher die Stellen 
dem Querschnitte sich befinden. — Die absolute Grösse aller 
hierbei in Betracht kommenden Zeiten ist desto geringer, je 
weniger leistungsfähig das Präparat ist. 

Was die Curve der gleichzeitigen Err. in Bezug auf den 
Nerven als Abscissenaxe betrifft, können wir jetzt aussagen, 
dass sie unmittelbar nach der Trennung des Nerven eine in 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 467 


einem Intervall, dessen ein- oder mehrfache Länge 43 Mm. 
beträgt, genau sich wiederholende Gestalt besitzen muss. Im 
Uebrigen ‘aber: bleibt die Gestalt der. Curve unbestimmt: sie 
kann eine gerade Linie, eine Wellenlinie oder auch ganz un- 
regelmässig. sein. Da wir in den Versuchen, in welchen ausser 
den Stellen © und U noch eine, dritte, gerade in der Mitte 
zwischen ihnen befindliche Stelle M geprüft wurde, die gleich- 
zeitigen Err. aller drei Stellen von. gleicher Grösse angetroffen 
haben, müssen 45 Mm. ‚ein Multiplum des Intervalls sein, in 
valahete; die Ourye sich wiederholt. Es ist aber offenbar 
höchst unwahrscheinlich, dass wir, von ganz äusseren Gründen 
bei ‚der Wahl des ‚gegenseitigen Abstandes der ‚zu prüfenden 
Stellen geleitet, gerade eben genau ein Multiplum des Inter- 
valls: ‚getroffen haben ‚sollten, wenn im Uebrigen der Curve 
eine ganz. unregelmässige Gestalt oder selbst nur Wellenform 
zukommt. Dagegen ist es eben deshalb höchst wahrscheinlich, 
dass die Curve der gleichzeitigen Err.. in Bezug auf den Ner- 
ven als Abscissenaxe unmittelbar nach der Trennung des Ner- 
ven eine der Abscisse parallele Gerade ist. Nehmen wir. dies 
als Thatsache an — und wir werden es später experimentell 
feststellen —, so lässt sich unseren Erfahrungen jetzt nn 
Bi geben: 
An allen Stellen des Nerven steigt sofort nach der 
Trennung desselben vom lebenden Organismus das Er- 
regungsmaximum mit rasch abnehmender Geschwindig- 
keit zu einem oberen Grenzwerthe an und fällt sodann 
eine kurze Zeit hindurch mit beschleunigter, später mit 
abnehmender Geschwindigkeit bis zu Null ab. Die 
gleichzeitigen Erregungsmaxima aller Stellen des Nerven. 
sind zuerst nach der Trennung desselben von gleicher _ 
Grösse. Mit der Zeit aber wird, vom Querschnitte des 
Nerven aus gegen den Muskel hin‘fortschreitend, das 
Erregungsmaximum einer Stelle des Nerven nach der 
anderen kleiner als die gleichzeitigen und immer noch 
gleich grossen Erregungsmaxima aller dem Muskel näher 
gelegenen Stellen. Die einmal eingetretene Verschieden- 
heit wächst dann mit der: Zeit: und zwar ‚desto rascher, 
Sk” 


468 Hermann Munk: 


je früher sie eingetreten ist. — Die absolute Grösse 
aller hierbei in Betracht kommenden Zeiten ist desto 
geringer, je weniger leistungsfähig das Präparat ist. 


Ich mache darauf aufmerksam, dass, wo wir während des 
ganzen Versuches oder auch nur während eines Theiles dessel- 
ben ausser den Stellen O und U noch eine mittlere Stelle M 
geprüft haben, das Verhalten des Err. dieser Stelle durchaus 
so sich herausgestellt hat, wie es nach den vorstehenden Sätzen 
zu erwarten war. Es haben aber die Versuche, in welchen 
drei Stellen des Nerven geprüft wurden, die genaueren Auf- 
schlüsse über die Zeiten des Eintritts der Verschiedenheit der 
gleichzeitigen Err., welche ich von ihnen erwartet hatte, nicht 
geliefert, weil es mir nicht möglich gewesen ist, jene Zeiten 
genügend genau zu bestimmen: bei den Versuchen, in welchen 
die Stelle O in grösserer Nähe des Querschnittes sich befand, 
reichte die Zahl der Bestimmungen der Err., welche möglich 
war, nicht aus, und wieder bei den Versuchen, in welchen die 
Stelle O weiter entfernt vom Querschnitte gelegen war, wur- 
den durch das langsame Anwachsen der Verschiedenheit zu 
grosse Fehlerquellen eingeführt. 


In den Figg. 7 und 8 sind graphische Darstellungen unse- 
rer Erfahrungen gegeben. Fig. 7 zeigt die Curven der Err. 


Fig. 7. 


So MÄR 


verschiedener Stellen eines (leistungsfähigen) Nerven, bezogen 
auf die Zeit nach der Trennung des Nerven vom lebenden Or- 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 469 


ganismus!); die Curven 1, 2, 3, 4, 5, 6 gehören Stellen an, 
welche etwa 6, 11, 16, 29, 52, 75 Mm. von dem Querschnitte 
entfernt sind. Fig. 8 giebt dann die Curven der gleichzeitigen 


In 


Fig. 8. 

e—.- c 
d 

5 

ce e 
[74 [74 
S he L 
5 ai Shersibnhieni et 

d | | 

Bf ot 
m SF > 


Err., bezogen auf den Nerven als Abscissenaxe, für den näm- 
lichen Nerven, wie vorhin, und für verschiedene Zeitpunkte 
nach der Trennung desselben; die den Curven a, b, c,d, e, 
f, g entsprechenden Zeiten sind etwa: 0, 4, 17, 30, 70, 120, 
210 Min. nach der Trennung des Nerven. 


Wir haben bisher geflissentlich jede Aeusserung unterlassen 
über das Ursächliche der Veränderungen des Err., welche wir 
beobachtet haben. Jetzt geht dies nicht länger an. Doch 
wollen wir den Gegenstand hier eben nur so weit behandeln, 
als es für unser Vorwärtskommen durchaus nothwendig ist, 
und seine eingehende Erörterung für eine spätere Zeit aufspa- 
ren, wo ein grösserer und in sich mehr abgeschlossener Kreis 
von Thatsachen uns vorliegen wird. 

Unsere Erfahrungen drängen uns die Auffassung auf, dass 
die zeitlichen Veränderungen des Err. am ganzen Nerven die 
Folge von zweierlei Ursachen sind, von denen die eine von 
dem Zeitpunkte der Trennung des Nerven an auf die Err. 


1) Der Zeichnung sind vergleichbare (s. o. S. 462) Versuche zu 
Grunde gelegt. — In’ Betreff der Endstücke .der Curven 1 und 2». 
noch S. 474. 


470 I Hermann -Munk: 


aller Stellen des: Nerven in genau gleicher Weise einwirkt,.— 
die andere aber auf die‘ Err.. der verschiedenen: Stellen des 
‘Nerven einmal zu verschiedenen Zeiten und. zwar desto ‚später, 
je weiter die betreffende Stelle vom Querschnitte entfernt ist, 
einzuwirken beginnt und sodann auch in verschiedener Inten- 
sität einwirkt, desto intensiver nämlich, je näher die betreffende 
Stelle dem Querschnitte gelegen ist. Die Wirkung der ersteren 
Ursache — was diese sei, lassen wir vorerst dahingestellt — 
besteht darin, dass das Err. zuerst mit rasch abnehmender Ge- 
schwindigkeit zu einem oberen Grenzwerthe ansteigt und dann 
eine kurze Zeit hindurch mit beschleunigter, später aber mit 
abnehmender Geschwindigkeit sinkt; die letztere Ursache, der 
am Nerven angelegte Querschnitt, lässt das Err. sinken. Die 
algebraische Summe von beiderlei Veränderungen des Eır. 
stellen dann die uns bekannten zeitlichen Veränderungen des- 
selben vor. 

"Zur Mötivirung dieser Auffassung brauche ich nur auf die 
bereits vorliegenden Thatsachen zu verweisen, welche eine Wir- 
kung des am Nerven angelegten Schnittes darthun. ° Du Bois- 
Reymond!) hat beim Muskel die am Querschoitte mitder 
Zeit eintretende und von hier aus weiter über den’Muskel sich 
verbreitende saure Reaction, noch bevor also der Muskel im 
Ganzen sauer wird, nachgewiesen, und bei der Uebereinstim- 
mung, welche Funke?) in Betreff der Bildung von freier Säure 
zwischen der Muskel- und der Nerven-Substanz aufgedeckt 
hat, wird sich die fortschreitende Säuerung auch des Nerven 
vom Quersehnitte desselben aus nicht bezweifeln lassen. Fer- 
ner haben Pflüger, Harless°®), Heidenhain und Rosen- 
thal die Lage des Querschnittes am Nerven von Einfluss auf 


. 1) De fibrae museularis reactione etc. 1859, p.14. — Monatsbe- 
richte der Berliner Academie, 1859, S. 297. Se ee 

2) Ueber die Reaction der Nervensubstanz, Dieses Archiv 1859, 
S. 835 f. | angtish mise 
3) Moleculäre Vorgänge in ar Nervensubstanz, 2. Abhandlung, 
S. 69 des Separatdr. — Abhandlungen’ der Bayer. Academie n Wis- 
senschaften, phys.-mathematische Klasse, Band VIII, 2. AREAL, _». 
— Die anderen Citate s. o. S. 431. 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 47] 


das Verhalten der Erregbarkeit einer betrachteten Nervenstelle 
gefunden. Und wenn hiernach das Vorhandensein einer Wir- 
kung des Schnittes auch in unserem Falle kaum noch als hy- 
pothetisch gelten kann, so wird sich auch unserer Vorstel- 
lung von der Art dieser Wirkung die Berechtigung gewiss nicht 
absprechen lassen. 

Der einfachste Weg, unsere Auffassung thatsächlich zu er- 
härten, würde der sein, dass wir den Querschnitt ganz elimi- 
niren. Diesen Weg betreten wir hier jedoch nicht, sondern 
wir schlagen den zweiten möglichen Weg ein und prüfen, ob 
und welche Veränderungen des Err. durch einen unterhalb des 
(ursprünglichen) Querschnittes am Nerven angelegten Schnitt 
hervorgerufen werden. 

Wir wollen also aus den Veränderungen, welche das Err. 
einer betrachteten Nervenstelie erfährt, nachdem ein Schnitt 
oberhalb derselben am Nerven angelegt worden ist, auf die 
Veränderungen dieses Err. durch den Schnitt schliessen. Da 
jene der Beobachtung zugänglichen Veränderungen des Err. 
die algebraische Summe von dreierlei Veränderungen sind: 
den mit der Zeit vor sich gehenden, den durch die Erregungen 
und den durch den Schnitt herbeigeführten, so ist für unseren 
Schluss die Kenntniss der beiden ersten dieser drei Verände- 
rungen erforderlich. Hieraus ergiebt sich sogleich, dass wir 
unsere Versuche weder während des Ansteigens noch während 
des beschleunigten Sinkens des Err. werden anstellen dürfen, 
da die Dauer dieser Stadien und die Grösse der Zunahme und 
der beschleunigten Abnahme des Err. aus uns noch nicht be- 
kannten Gründen in den verschiedenen Versuchen bedeutenden 
Schwankungen unterworfen sind. Dagegen werden wir wäh- 
rend des verzögerten Sinkens auf Grund einiger der Durch- 
schneidung des Nerven voraufgeschickten Prüfungen des Err. 
der betrachteten Stelle genügend genau bestimmen können, 
welche Veränderungen dieses Err. mit der Zeit ohne die Da- 
zwischenkunft des neuen Schnittes erfahren haben würde. 
Weiter werden wir nur leistungsfähige Präparate zu den Ver- 
suchen verwenden, so dass die zeitlichen Veränderungen des 
Err. mit nur geringer Geschwindigkeit dann vor sich gehen, 


472 0 Hermann;Munk: 


um. die Veränderungen des Err. durch den Schnitt, auch wenn 
sie nicht bedeutend sind, auffinden zu können. ‚Endlich werden 
wir die Prüfungen so vornehmen, dass nur möglichst geringe 
Veränderungen des Err. durch sie herbeigeführt werden, und 
von ..der Art. und Grösse dieser Veränderungen werden wir 
dann von unseren früheren Versuchen her immer eine ohnge- 
fähre Kenntniss ‚besitzen. | 

Wir verfahren nun stets so, dass wir von einem kräftigen, 
eben getödteten Frosche ein Nervmuskelpräparat herrichten und 
dieses,:um es nicht unnütz zu- ermüden, im feuchten Raume 
ruhig; hängen lassen, bis 40—60 Min. nach der Trennung des 
Nerven verflossen sind. Dann prüfen wir das Err. einer Stelle 
des Nerven während 10—30 Min. genau in der Weise, wie 
wir es für die Zeit nach der Durchschneidung, des Nerven vor- 
haben. Wenn in der Zeit der Vorprüfung das Err. nur ge- 
sunken und nur sehr wenig, gesunken ist, so. dass wir es also 
mit einem leistungsfähigen Präparate zu thun haben, durch- 
schneiden wir den Nerven kurz vor der nächsten Prüfung 
oberhalb der oberen Elektrode und fahren mit unseren Prüfun- 
gen fort. 

Fassen wir zunächst nur die Zeit der ersten, etwa zehn 
Prüfungen nach der Durchschneidung in’s Auge. Nie beob- 
achtet man hier ein Ansteigen des: Err., gleichviel ob_ die 
geprüfte Stelle dem (ursprünglichen) ‚Querschnitte nahe oder 
weit von ihm entfernt angenommen worden ist, gleichviel, ob 
der Schnitt dicht oberhalb der oberen Elektrode, oder weiter 
von ihr entfernt angelegt ist, gleichviel endlich, ob die Prü- 
fungen rasch auf einander folgten oder weiter auseinander la- 
gen. (2—5 Min. in meinen Versuchen). Immer sinkt das Err. 
während der in Rede, stehenden Zeit, meist mit ohngefähr der- 
selben Geschwindigkeit, manchmal aber deutlich mit grösserer 
Geschwindigkeit als während der Zeit der Vorprüfung. 

Die Vermuthung, dass ein durch den Schnitt bedingtes An- 
steigen des Err. durch das Sinken desselben mit der Zeit und 
in.Folge der Prüfungen verdeckt worden sei, ist ganz entschie- 
den zurückzuweisen. Meine Versuche über den Einfluss ‚des 
Schnittes sind an so leistungsfähigen Präparaten angestellt, dass 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 473 


während der Zeit der Vorprüfung, welche ich im Allgemeinen 
innerhalb der angegebenen Grenzen desto kürzer nahm, je kür- 
zer die Pausen zwischen den Prüfungen waren, das Err. immer 
nur sehr unbedeutend an Grösse abnahm. Hier, wo also auch 
nach ‚der Durchschneidung des Nerven das Err. nur sehr lang- 
sam mit der Zeit sank, und wo bei der geringen Zahl der der 
Durchschneidung voraufgeschickten Prüfungen die Ermüdung 
des Präparates gewiss noch von keinem in Betracht kommen- 
den Einflusse auf das Err. war, hätte selbst ein nur sehr ge- 
ringes Ansteigen des Err. hervortreten müssen. 

Ich habe aber im Gegentheil, wie bereits erwähnt ist, 
manchmal: schon während der Zeit der ersten Prüfungen nach 
der Durchschneidung des Nerven ein beschleunigtes Sinken 
des Err. beobachtet und zwar in einer Anzahl von Versuchen, 
in welchen der Schnitt dicht oberhalb der oberen Elektrode 
angelegt war. In anderen solchen Versuchen und auch in Ver- 
suchen, ‚in welchen der Schnitt weiter von der oberen Elektrode 
entfernt war, trat eine Beschleunigung im Sinken des Err. erst 
später, nachdem bereits öfter geprüft worden war, hervor. 

Da in vielen der letzteren Versuche die Beschleunigung als 
eine Folge der durch die Prüfungen hervorgerufenen Ermüdung 
des Präparates sich hätte ansehen lassen (vgl. o. 8. 439), so 
wurden bei: den weiteren Versuchen, um für eine längere Zeit 
nach der Durchschneidung des Nerven den Einfluss der Prü- 
fungen ‘zu. eliminiren, diese nur alle 10 oder 15 Min. vorge- 
nommen. , ‚Nach dreimaliger Prüfung wurde der Nerv 1—5 
Mm. oberhalb. der Versuchs-Stelle, welche aus einem später 
anzuführenden Grunde hier immer in der Nähe des Muskels 
sich befand, durchschnitten. Die Zeichnungen am Pflüger’- 
schen Myographion lehrten dann: unmittelbar die Veränderun- 
gen, welche die Curve des Err., bezogen auf die Zeit, durch 
den Schnitt erfuhr: die Anfangs gegen die Abseissenaxe con- 
vexe Curve wandte schon bei den ersten Prüfungen nach. der 
Durchschneidung ihre Concavität der Abseissenaxe zu und fiel 
schliesslich sehr steil gegen diese ab. Da in den meisten Ver- 
suchen schon bei der 8.—12. Prüfung nach der Durchschnei- 
dung die Nervenstelle unerregbar gefunden ‘wurde, musste jeder 


474 '' Hermann Munk: 


‘Verdacht auf ‘eine irgend beträchtliche Beeinflussung der‘ Ver- 
suchsergebnisse durch die Prüfungen in sich zusammenfallen. 

"Wurde bei solchen Versuchen mit seltenen Prüfungen der 
Schnitt in der.Entfernung von 10 und mehr Mm. von der obe- 
ren Elektrode angelegt, so’ trat, so lange das Err. sicher 'ver- 
folgt werden konnte, bis es also auf 4 Mm. gesunken war, 
nie eine deutliche Beschleunigung im Sinken desselben auf. 
Dies im Verein damit, dass bei den Versuchen’ der ersteren 
Art, wie erwähnt, ein beschleunigtes Sinken schon während der 
Zeit der ersten Prüfungen nur dann, wenn der Schnitt dicht 
an der oberen Elektrode sich befand, manchmal zur Beobach- 
tung kam, ist‘ Alles, was ich über die Abhängigkeit der Wir- 
kung des Schnittes von der Entfernung beibringen kann. Es 
hätten sich hier genauere Aufschlüsse durch die Prüfung zweier 
Stellen desselben Nerven gewinnen lassen, allein bei dem’ gros- 
sen Zeitaufwande, welchen alle diese Versuche erfordern, wird 
man es mir gewiss nicht verdenken, wenn ich hier nicht wei- 
ter, als eben nothwendig war, gegangen bin. Durch den 'zwei- 
fellosen Nachweis, dass in Folge des Schnittes das Err. sinkt 
und dass diese Wirkung des Schnittes in der Nähe desselben 
bedeutend ‚in einiger Entfernung aber nur gering oder auch 
gar nicht vorhanden ist, ist die thatsächliche Begründung unse- 
rer obigen Auffassung geliefert. 

Wie die vorhin mitgetheilten Versuchsergebnisse lehren, 
sinkt das Err. in Folge des Schnittes mit zunehmender 'Ge- 
schwindigkeit, und zwar steigt die Curve der negativen Zu- 
wächse des Err. in Bezug auf die Zeit'nach der Durchschnei- 
dung‘ zuerst sehr flach und’ dann plötzlich sehr steil’ an. ' Es 
hat'sich dies auch bei unseren Versuchen über das Verhalten 
der Err. verschiedener Stellen‘:des Nerven herausgestellt, und 
nur aus Zweckmässigkeits-Gründen sind wir oben nicht weiter 
darauf eingegangen. Es sinken die Err.: der Stellen O im 
Vers. XVII von der 134., im Vers. XVIII'von der 29. Min, 
an mit beschleunigter Geschwindigkeit, ohne dass, wie ein Blick 
auf die Versuche lehrt, an einen Einfluss der Prüfungen hier 
zu‘ denken ist. Und ich habe eben in allen Versuchen, in wel- 
chen die Stelle O 4 oder 5'Mm.:von der Wirbelsäule entfernt 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 475 


war, das Eır. dieser ‘Stelle schliesslich mit beschleunigter Ge- 
schwindigkeit sinken sehen, nur scheint mir, nach einem allge- 
meinen Ueberblieke über die schwer zu vergleichenden Ver- 
suche, das beschleunigte Sinken meist später als in unserem 
Vers. XVIII begonnen zu haben. Dagegen habe ich in den 
Versuchen, in welchen die Stelle O 10 oder mehr Mm. von 
der Wirbelsäule entfernt war, nie, ausser wo zweifellos sehr 
zahlreiche Prüfungen die Veranlassung waren, das Sinken des 
Err. dieser Stelle ein beschleunigtes werden sehen'). Hiermit 
ist sogleich auch der Grund gegeben, weshalb wir bei unserer 
letzten Versuchsreihe immer eine dem Muskel nahe gelegene 
Stelle des Nerven geprüft ‚haben. 

So: hat sich’ denn unsere Auffassung, dass die zeitlichen Ver- 
änderungen des Err. an dem vom Organismus getrennten Ner- 
ven in der oben. (S. 469) angegebenen Weise die Folge: von 
zweierlei Ursachen sind , als berechtigt herausgestellt. Die 
Wirkung der einen Ursache, des Querschnittes, können wir jetzt 
genauer, als es oben geschehen ist, bestimmen: | 

Sie tritt an den verschiedenen Stellen des Nerven zu 
verschiedenen Zeiten und zwar desto früher ein, je näher 
die betreffende Stelle dem Querschnitte gelegen ist, ‚und 
lässt das Err. mit zunehmender Geschwindigkeit sinken, 
so zwar, dass die Zunahme der Geschwindigkeit wie- 
derum desto rascher erfolgt, je näher die Stelle dem 


1) Natürlich bleibt die Möglichkeit bestehen, dass hier in manchen 
Fällen das Err., nachdem es unter die Grösse gesunken war, bis zu 
welcher wir es mit Sicherheit haben verfolgen können, doch noch mit be” 
schleunigter Geschwindigkeit zu sinken angefangen hat. — Es würde 
die Darlegung unnütz sehr verwickelt haben, wenn ich das jetzt als 
so einfach in seinen Gründen und gewissermaassen nothwendig er- 
kannte schliessliche Verhalten, des Err. an den dem Querschnitte sehr 
nahe gelegenen Stellen, das mir schon bei den Versuchen an Einer 
Nervenstelle entgegengetreten war, früher erwähnt’ hätte. Es wird 
aber nunmehr der S. 467. 68 gegebenen Zusammenfassung unserer. Erfah- 
rungen noch hinzuzufügen sein, dass an den dem Querschnitte sehr 
nahe gelegenen Stellen des Nerven das Err. schliesslich wiederum mit 
beschleunigter Geschwindigkeit abnimmt. Wir sparen diese Ergänzung 
für seine spätere Gelegenheit auf 


476 „Hermann Munk: 


‚Querschnitte sich befindet. Im Ganzen ist die Wirkung 
des Querschnittes von desto grösserer Intensität, je ge- 
ringer die Leistungsfähigkeit des Präparates ist). 


. Es ist nunmehr an der Zeit, dass wir eine kleine Anzahl 
von Versuchen berücksichtigen, welche, obwohl zu der Unter- 
suchung über das Verhalten der Err. verschiedener. Stellen 
desselben Nerven gehörig, bisher ganz ausser Acht gelassen 
worden sind. Es stellen die Ergebnisse dieser Versuche ge- 
wisser Maassen Ausnahmen von dem gesetzmässigen Verhalten 
vor, welches wir oben aufgefunden haben. 


Vers. XIX. 


Länge des Nerven: 73 Mm. Entf. der St. O v. d. Wirbels.: 17 Mm. 
Aufst. Schliess. 


Lauf. Zeit | Eır. ©. Lauf. Zeit | Err. M. | Lauf. Zeit| Err. U. 


7 9,0 = E. | 9 9,5 
11 9,3 = ad 13 10,0 
15 9,6 = = 17 10,1 
19 9,5 -- = 21 10,0 
23 7,9 si 22 25 9,8 
27 5,9 = _ 29 9,4 
al unter4 Mm. — — 33 9,2 

38 9,2 

42 9,3 44 9,3 

46 0:9. 0.00 048 9,2 
Vers. XX. 


Länge des Nerven: 78 Mm. Entf. der St. O von der Wirbels.: 22 Mm. 
Aufst. Schliess. 


Di M... LE 
15 16,0 17 14,3 19 | 14,3 
26 16,5 28 14,6 -30 14,5 
38 16,0 40 14,1 42 1.17 
49 15.2 51 13,2 53 13.2 
61 15,0 63 12,9 65 12,9 
77 14.7 75 12,5 73 19,5 
85 133 87 12,0 89 12,0 
96 115 98 11,5 100 11,5. 
...107 111 109 112 111 112 
119 10,8 121 10,7 123 10,7 


Bei den folgenden Prüfungen Tetanus. 


1) Das Sinken des Err. einer betrachteten Stelle in Folge des 
Querschnittes beginnt also desto früher und erfolgt desto rascher, je 
weniger leistungsfähig das Präparat ist (s. o. S. 465). 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 477 
Vers. XXI. 
Länge des Nerven: 76 Mm. Entf. der St.O von der Wirbels.: 18 Mm. 
Aufst. Schliess. 
Lauf. Zeit | Err. O |Lauf. Zeit| Err. M |Lauf Zeit| Er. U 
7 8,2 ) 6,8 11 9,0 
20 9,7 22 6,9 24 10,2 
31 8,2 33 6,8 35 8,0 
42 7,8 44 6,4 46 2,9 
54 6,8 56 5,6 58 6,5 
66 9,8 68 unter 5Mm. 70 5,6 
82 unter 5Mm. | 78 unter 5Mm. 
Vers. XX1. 
Länge des Nerven: 73 Mm.- Entf. der St. OÖ von der Wirbels.: 21 Mm. 
Aufst. Schliess. 
er Be TEE FR RER u: 
5 8,2 9 7,9 11 5,5 
18 8,2 20 6,8 22 5,7 
29 8,8 sl 6.6 33 6,0 
41 8,6 43 6,5 45 5,8 
59 8,2 61 6,5 63 5,7 
Ba ag 78 6,8 76 5,8 
154 71,5 156 5,8 158 5,6 
243 unter 3 Mm. 245 Tetanus. 247 3,3 
257 unter 3Mm. unter 3 Mm. 


259 


Im Vers. XIX erfährt das Err. der Stelle O, obwohl diese 
sehr weit vom Querschnitte entfernt ist, genau solche Verän- 
derungen, wie sie uns nur bei grosser Nähe der Stelle O’am 
Querschnitte bekannt geworden sind. Ich habe dies ausserdem 
nur noch in einem einzigen Versuche beobachtet, in welchem 
auch der Abstand der Stelle O vom Querschnitte ohngefähr 
eben so gross wie im Vers. XIX war. Jede Anomalität in 
diesen Versuchen würde fortfallen, wenn wir annehmen, dass 
hier aus irgend einem Grunde die Wirkung. des Querschnittes 
von ausnehmender Intensität gewesen sei. Es lässt sich auch 
gegen die Berechtigung dieser’ Annahme an und für sich durch- 
aus Nichts einwenden, da ja die Intensität der Wirkung des 
Querschnittes, wie wir sie von der Leistungsfähigkeit des Prä- 
parates abhängig gefunden haben, sehr wohl noch von anderen 


Bedingungen abhängig sein-kann. Allein selbst wenn ich gar 


ATS swıg «00 Hliermann Munk: 


nicht in Anschlag bringe,.’däss ich, als ich sogleich nach der 
Beendigung des Vers. XIX. bei dem zweiten Nervmuskelprä- 
parate desselben Frosches- möglichst genau dieselben Stellen 
des N erven der Prüfung. unterwarf, hier das normale Verhalten 
der Err. beobachtet habe, hindert mich doch die so grosse 
Entfernung der. Stelle O vom Querschritte bei den in Rede 
stehenden Versuchen, die Sache einfach durch jene Annahme 
für erledigt zu halten. Wir kommen später nöch einmal auf 
diese Versuche zurück,:wo wir sie auf Grund weiterer Erfah- 
rungen von einem neuen Gesichtspunkte aus werden beurthei- 
len können. 

Für die anderen hierhergehörigen Versuche lässt sich, so 
verschieden sie auch im Uebrigen sind, die gemeinsame Ab- 
weichung von dem normalen Verhalten der Err., welche sich 
in ihnen herausgestellt hat, dahin angeben, dass das Err. einer 
dem Querschnitte näher gelegenen Stelle des Nerven während 
einer längeren ‚oder kürzeren Zeit des Versuches immer grösser 
gewesen ist als das gleichzeitige Err. einer von dem Quer- 
schnitte weiter entfernten Stelle. Es sind mir etwa zwanzig 
solche Versuche vorgekommen, und ich habe aus der’ Zahl 
derjenigen, welche genauer verfolgt worden sind, die Vers. 
XX, XXI und XXII so ausgewählt, dass auch die wesent- 
lichsten feineren Verschiedenheiten der Versuchsergebnisse durch 
sie dargelegt werden. 

In allen Versuchen sind drei Stellen des Nerven ‘geprüft 
worden, und das Err. jeder einzelnen Stelle verlief, für sich 
betrachtet, ganz!normal oder zeigte wenigstens nur die’ Abwei- 
chung vom normalen, Verlaufe, dass es’ von einer gewissen 
Zeit an, statt’ ferner mit abnehmender Geschwindigkeit zu sin- 
ken, für die ganze Folgezeit oder:auch (sehr selten) 'hur für: 
eine kurze Zwischenzeit mit beschleunigter Geschwindigkeit 
abfiel. In den ‘verschiedenen ‘Versuchen 'war.:aber während 
einer verschieden langen ‚Zeit: entweder das Err. der Stelle. © 
immer grösser als die gleichzeitigen und gleich grossen Err.; 
der Stellen M und U, .oder. es war: das Err. der»Stelle O immer 
grösser‘ als: das gleichzeitige der. Stelle M und dieses wieder 
grösser als das gleichzeitige der Stelle U, oder endliches'wa- 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 479 


ren die’ Err. der Stellen O und, U einander gleich, aber grös- 
ser als das gleichzeitige der Stelle M. . Und dieses paradoxe!) 
Verhalten: der gleichzeitigen Err. machte in der Regel erst 
sehr spät, wenn die Err. bereits niedere Werthe erlangt hatten, 
nur‘ in. zwei Versuchen schon etwas früher (vgl. Vers. XX), 
durch das beschleunigte Sinken desjenigen Err., dessen Curve 
bis dahin die durchweg grössten Ordinaten zugekommen wa- 
ren, dem normalen Verhalten Platz, welches dann für die 
übrige Zeit bestehen. blieb. _ Die Differenz der gleichzeitigen 
Err. während des paradoxen Verhaltens derselben war im All- 
gemeinen in den verschiedenen Versuchen von verschiedener 
Grösse. | 
 Selbstverständlich können uns, an der Gesetzmässigkeit im 
Verhalten der Err., welche wir in mehreren . Hunderten. von 
Versuchen beobachtet haben, die zwanzig Ausnahmefälle nicht 
irre werden lassen: es liegt uns aber ob, die besonderen Be- 
dingungen zu ermitteln, welche die abweichenden Ergebnisse 
in diesen Versuchen veranlasst haben. Die äusseren Versuchs- 
bedingungen waren, so weit sich abschen liess, nicht verändert, 
und es hatten auch Versuche, welche kurz vor und sogleich nach 
einem Ausnahme-Versuche, im letzteren Falle sogar oft an dem 
zweiten Präparate desselben Frosches, angestellt worden waren, 
die normalen Ergebnisse geliefert. An eine Wirkung des am 
Nerven angelegten Querschnittes durfte ich schon zur Zeit, als 
ich diese noch nicht unmittelbar durch Versuche festgestellt 
hatte, wegen der ‘Mannigfaltigkeit der Form der Ausnahme- 
versuche, besonders aber in Rücksicht auf Vers. XXI und ähn- 
liche nicht denken: jetzt, wo wir die Art der Einwirkung des 
Querschnittes kennen und nur ihre Intensität für einen gege- 
benen Fall zweifelhaft sein kann, ist dieser Muthmassung ge- 
wiss jede Basis entzogen. Es bleibt somit Nichts übrig, als 


1) Diese, Bezeichnung findet ihre Rechtfertigung besonders durch 
den Widerspruch, in welchem die im Texte niedergelegten Erfahrun- 
gen mit den gangbaren Vorstellungen. über die Leitung, der Erregung, 
stehen. Wir können auf diesen höchst wichtigen Punkt erst in der 
folgenden Abhandlung zu, sprechen kommen. 


480 Hermann Munk: 


dass wir den Grund für das paradoxe Verhalten der Err. in 
Eigenthümlichkeiten der (anatomisch bestimmten) Nervenstel- 
len suchen, welche gerade in jenen Versuchen geprüft worden 
sind. Es müssen im Verlaufe des Nerven einige Stellen exi- 
stiren, die in ihren hier in Betracht kommenden Eigenschaften 
von allen übrigen Stellen des Nerven abweichen. ') 


Das paradoxe Verhalten der Err. ist mir nur unter den 
Versuchen hin und wieder vorgekommen, in welchen bei lan- 
gen Nerven die Stelle O sehr weit vom Querschnitte entfernt 
angenommen war, nie aber bei Versuchen aufgetreten, in 
welchen, gleichviel ob bei langen oder bei kurzen Nerven, die 
Stelle O in grösserer Nähe des Querschnittes gelegen war. 
In der Mehrzahl der Ausnahme-Versuche habe ich genauer 
auf die den Elektrodenpaaren aufliegenden Stellen des Nerven 
geachtet, und ich habe übereinstimmend in allen diesen Ver- 
suchen die Stelle O dem unteren Endstücke des Plexus ange- 
hören und die Stelle M in der Gegend des Ischiadicus sich 
befinden sehen, in welcher die Aeste an die Oberschenkelmus- 
keln abgehen; es ist mir aber nicht gelungen, auch für die 
Bestimmung der Stelle U einen anatomischen Anhaltspunkt zu 
gewinnen. Nehmen wir nun an, dass in unseren Ausnahme- 
Versuchen die Stelle O immer die normalen Eigenschaften ge- 
habt hat, so würde aus unseren Versuchen auf die Existenz 
' nur zweier und zwar räumlich beschränkter ausgezeichneter 
Stellen am Nerven zu schliessen sein, von denen die eine in 
der Gegend des Abganges der Oberschenkeläste sich befinden 
und die andere so viel näher dem Muskel gelegen sein müsste, 
dass sie bei einer gewissen grossen Länge des Nerven gerade 
20 Mm. von der ersteren Stelle entfernt wäre. 


1) Ich will hier an frühere, aber bisher nicht weiter verfolgte Be- 
obachtungen ausgezeichneter Stellen am Nerven nur erinnern: Budge’s 
„Knotenpunkte“, Pflüger’s „Knickung der Erregbarkeitscurve des Ner- 
ven gegen die Abscisse“, die von du Bois-Reymond und Pflüger bei 
den Untersuchungen über den Elektrotonus beobachteten „Anwand- 
lungen“. Wir werden unten nach dem Abschlusse unserer betreffen- 
den Untersuchung genauer’ auf diese Beobachtungen eingehen. 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 48] 


"Wie ungenügend :diese Bestimmungen der Lage der ausge- 
zeichneten Stellen bei der geringen :Länge derselben sind, da- 
yon, hatte ich im: Verlaufe der Untersuchung mehrmals mich 
zu überzeugen Gelegenheit, da: ich, bei: Versuchen, in welchen 
scheinbar dieselben Siellen des Nerven, wie in den Ausnahme- 
Versuchen, den Elektrodenpaaren auflagen; doch das normale 
Verhalten der Err. beobachtete. Und ebenso waren alle meine 
Bemühungen erfolglos, als ich später, um eine grössere An- 
zahl von Ausnahme-Versuchen mir zu verschaffen, öfters dem 
Nerven mit Absicht die Lage gab, welche ich bei den Aus- 
nahme-Versuchen beobachtet hatte. | 

Die geringe Zahl. der durch den Zufall uns gebotenen Aus- 
nahme-Versuche, auf welche allein wir somit angewiesen sind, 
lässt genaue Ermittelungen über das Wesen und das Verhalten 
der ausgezeichneten Stellen des Nerven nicht zu. Wir haben 
ja sogar die Entscheidung, welche der Stellen O, M und U in 
den Ausnahme- Versuchen die ausgezeichneten Stellen des Ner- 
ven gewesen sind, vorhin nur auf Grund einer Annahme tref- 
fen können,. — einer Annahme, die durch die Vergleichung 
der Versuchsergebnisse wahrscheinlich, keineswegs aber sicher 
begründet wird. Und so dürfen wir denn die weitläufige, ge- 
nauere Analyse der Versuchsergebnisse hier unterlassen, zumal 
da uns später ein anderer, mehr unmittelbarer Weg zu besse- 
ren Erfolgen führen wird. | 

Nur was die Zeit des Eintritts Ües paradoxen Verhaltens 
der Err. betrifft, sei noch bemerkt, dass diese immer mit der 
Zeit, wann die gleichzeitigen Err. von ungleicher Grösse wur- 
den, zusammenfiel. Die Ausnahme- Versuche liessen sich in 
dieser Beziehung ebenso beurtheilen und führten auch zu eben 
solchen Ergebnissen, wie die Vers. XV—XVIIU. In einem 
Theile der Ausnahme-Versuche ist. die Verschiedenheit. der 
gleichzeitigen Err.. ‚während ..des. beschleunigten  Sinkens;, in 
einem anderen Theile schon gegen Ende des Ansteigens ein- 
getreten; in einem dritten Theile der Versuche endlich musste 
nur die Möglichkeit offen gehalten werden, dass die gleichzei- 


tigen Err. in der Zeit vor dem Beginne der Prüfungen von 
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 1861. 1182 


482 i Hermann Munk: . 


gleicher Grösse gewesen waren'). Es ist aber bereits oben 
(S. 467) das Ergebniss einer folgenden Untersuchung ange- 
merkt worden, welches auch in diesem wichtigen Punkte siche- 
ren Aufschluss verschafft: unmittelbar nach der Trennung des 
Nerven vom lebenden Organismus sind die gleichzeitigen Err. 
aller Stellen des Nerven von gleicher Grösse. 


Bei den Versuchen, von welchen im Vorstehenden gehan- 
delt worden ist, kommt häufig ein Tetanus zur Beobachtung, 
auf dessen Besprechung schon mehrmals verwiesen worden ist. 
Ich will, um wiederholte Unterbrechungen zu vermeiden, So- 
gleich specieller auf ihn eingehen, als bei dem gegenwärtigen 
Stande unserer Untersuchungen durchaus nothwendig wäre, und 
meine auf diesen Tetanus sich beziehenden Erfahrungen im 
Zusammenhange mittheilen. Ä 

Bei der Verfolgung des Err. einer einzelnen Nervenstelle 
wurden in sehr vielen Versuchen, nachdem das Err. bereits 
eine längere Zeit hindurch, oft sogar schon sehr lange mit ab- 
nehmender Geschwindigkeit gesunken war, durch die Prüfungen 
nicht mehr einfache Zuckungen erhalten, sondern es trat dann 
in Folge jedes einzelnen Inductionsschlages durch die jedesma- 
lige Superposition mehrerer Zuckungen in der ersten Zeit eine 
tetanische Contraction, später sogar Tetanus ein. Nach einiger 
Zeit verschwand diese Anomalie, und in der ganzen späteren 
Zeit des Versuches hatten die einzelnen Inductionsstösse immer 
wiederum nur einfache Zuckungen zur Folge. Während der 
Zeit der tetanischen Contractionen, bei welchen die zweite 
Zuckungscurve sich erst auf den absteigenden Ast der ersten 


1) Zu dieser letzten Kategorie der Ausnahme-Versuche gehören 
die Vers. XX, XXI und XXII. Für die beiden letzten Versuche ist 
auf das oben S. 453 Bemerkte zu verweisen und die Angabe hinzu- 
zufügen, dass der Muskel 

im Vers. XXIjim Vers. XXH 


in der Zwischenzeit der 1. u. 2. Prüfung um "07 Mm. 1,0 Mm. 
» » „ 2.u. 3. 9 P) 0,3 D) 03,75 
$>) „= 9 3 U. 4. $)) „ ee 0,3 » 


sich verlängert hatte. 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven, 483 


Curve aufsetzte!), liess sich das normale Sinken des Err. (d. 
h. natürlich der: Maximalordinate der ersten Zuckungscurve), 
wie es nach den voraufgegangenen Prüfungen zu erwarten war, 
beobachten; auch führten die Prüfungen vor dem Eintritte der 
tetanischen Contractionen und nach dem Verschwinden des Te- 
tanus immer zu der uns wohlbekannten Curve des Err., bezo- 
gen auf die Zeit. Die absolute Grösse des Err. vor dem Auf- 
treten und nach dem Verschwinden des Tetanus war in den 
verschiedenen Versuchen verschieden, so dass auch für die ver- 
schiedenen Versuche verschiedene Stücke der Curve des Err. 
ausfielen?). . Alles dies führt zu dem Schlusse, dass während 


1) Mit der. Zeit rückte der Beginn der zweiten Zuckung dem 
Zeitpunkte des Maximum der ersten Zuckung immer näher, bis es dann 
schliesslich, indem die zweite Zuekungscurve sich schon auf den auf- 
steigenden Ast der ersten Curve aufsetzte, zum Tetanus kam. Es 
waren aber die tetanischen Contractionen oft und der Tetanus sogar 
meist aus mehr als zwei Einzelzuckungen zusammengesetzt. — Ich führe 
dies nur an, um ersichtlich zu machen, wie ich „Tetanus“ und „teta- 
nische Contraction“ hier unterscheide und verstanden wissen will. 
Im Uebrigen aber mag ich, da ich mir bisher nur eine bruchstückweise 
Kenntniss der mannigfachen Formen der anomalen Zuckungen und 
ihrer Aufeinanderfolge habe erwerben können, diese Bruchstücke hier 
nicht weiter mittheilen. Das genaue Studium dieser Erscheinungen, zu 
welchem ich selbst vor der Hand nicht Zeit habe, wird gewiss zu in- 
teressanten Ergebnissen führen. Den Versuchen müsste dann aber eine 
für dieses Studium günstigere Form gegeben werden, als sie meine 
Versuche über das Err. hatten : auf Grund der sogleich mitzutheilen- 
den Erfahrungen über. die Ursache ‘der tetanischen Contractionen und 
des Tetanus wird sich die geeignetste Form leicht auffinden lassen. 


2) Die Untersuchung über die zeitlichen Veränderungen des Err. 
wird nach dem Gesagten durch die anomalen Zuckungen, wenn man 
diese hier nur ganz ausser Acht lässt, gar nicht gestört: die Versuche 
ergänzen sich in Betreff des in dem einzelnen Versuche ausgefallenen 
Stückes der Curve gegenseitig. — Bei den Versuchen am Pflüger’- 
schen Myographion reicht eine mässige Aufmerksamkeit aus, um die 
tetanische Contraction bald zu erkennen; man hält dann für die 
nächste Zeit, während man mit den Erregungen in der beabsichtigten 
Weise fortfährt, den Zeichenstift von der Glastafel entfernt, bis wieder 
einfache Zuckungen eingetreten’sind. Immerhin aber ist es vortheil- 
haft, die Versuche über das Err., so weit nur thunlich, am Helm- 


32 * 


484 Hermann Munk: 


der Zeit der anomalen Zuckungen das Err. ganz normal ge- 
sunken ist, einem Schlusse, der nur scheinbar unserer Defini- 
“tion des Err. widerspricht, da ja der Tetanus Nichts Anderes 
als die Superposition mehrerer Zuckungen ist und das Anomale 
der uns beschäftigenden Erscheinung somit nur darin zu suchen 
ist, dass durch den einzelnen Inductionsschlag mehrere Zuckun- 
gen hervorgerufen wurden. 


Ein Unterschied in dem Verhalten der anomalen Zuckun- 
gen, je nachdem die Richtung der Inductionsströme im Nerven 
die aufsteigende oder absteigende war, ist mir nicht aufgefallen. 
Ebenso sind diese Zuckungen in gleicher Weise in den Ver- 
suchen mit häufigen, wie in den mit seltenen Prüfungen vor- 
gekommen, nur blieben sie in den letzteren Ve'suchen in der 
Regel eine längere Zeit bestehen als in den ersteren Versuchen. 
In manchen Versuchen wurde die tetanische Contraction oder 
der Tetanus zum ersten Male erhalten, nachdem 1—2 Stunden 
vorher gar nicht geprüft worden war; in anderen Versuchen, 
welche sogleich nach dem ersten Auftreten der tetanischen 
Contraction oder des Tetanus abgebrochen worden waren, rief 
bei der Wiederaufnahme der Prüfungen nach 1—1'/, Stnnden 
sogleich der erste Inductionsschlag Tetanus hervor. 


Ganz die nämlichen Erfahrungen wurden bei sehr vielen 
der Versuche gemacht, in welchen die Err. mehrerer Stellen 
desselben Nerven geprüft wurden. Waren die gleichzeitigen 
Err. der verschiedenen Stellen zu der betreffenden Zeit noch 
von gleicher Grösse, so traten auch bei allen Stellen gleich- 
zeitig die tetanischen Contractionen auf; waren die gleichzei- 
tigen Err. aber bereits von verschiedener Grösse, so zeigte sich 
die tetanische Contraction zuerst bei der Erregung der dem 
Querschnitte nahe gelegenen Stelle und trat erst später an der 
vom Querschnitte weiter entfernten Stelle ein, öfters sogar an 


holtz’schen Myographion anzustellen. Nur für die Versuche mit sehr 
häufigen Prüfungen muss das Pflüger’sche Myographion benutzt 
werden, es lassen sich dann aber immer noch die Ergebnisse dieser 
Versuche durch die ähnlicher Versuche am Helmholtz’schen Rn 
graphion controlliren. 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 485 


dieser letzteren Stelle erst dann, wenn die Zeit des Tetanus 
für die erstere Stelle ‚bereits abgelaufen war. 

Wurde eine Nervenstelle, bei deren Prüfung tetanische 
Contraction oder Tetanus eben aufgetreten war, in ganz kur- 
zen Zeitabständen oft hinter einander so lange erregt, bis der 
Tetanus verschwunden war und wieder einfache Zuckungen 
erfolgten, so riefen dann nach einer längeren Pause die In- 
ductionsschläge wieder Tetanus hervor. Und dieser Versuch 
gelang, wenn bei einem Präparate von grösserer Leistungs- 
fähigkeit die tetanischen Contractionen schon bei einem grösse- 
ren absoluten Werthe des Err. eingetreten waren, mehrmals 
bei derselben Nervenstelle: durch die Ermüdung der Nerven- 
stelle verschwanden die anomalen Zuckungen, durch ihre Er- 
holung kehrten sie wieder zurück, nur wurde die Zeit, wäh- 
rend welcher nach der langen Pause der einzelne Inductions- 
schlag noch Tetanus hervorrief, immer kürzer, und endlich 
erfolgte auch sogleich nach der Erholungszeit nur eine einfache 
Zuckung. 

Nach den vorstehenden Erfahrungen konnte der Grund, 
weshalb durch den einzelnen Inductionsstoss, der in der Regel 
nur.eine einfache Zuckung veranlasst hatte, in sehr vielen Ver- 
suchen zu einer gewissen Zeit eine tetanische Contraction oder 
Tetanus hervorgerufen worden war,.nur in den Verhältnissen 
der einzelnen Prüfung, bei welcher eben die anomale Zuckung 
aufgetreten war, diese Prüfung ganz für sich allein betrachtet, 
gelegen sein. ‚Es wurde so die Vermuthung nahe gelegt, dass 
es ein allgemeines Gesetz sein möchte, dass dem Inductions- 
strome, wenn seine Intensität in einer bestimmten Beziehung 
zu der Grösse des Err. der betrachteten Nervenstelle steht, 
eine tetanisirende Wirkung zukommt. | 

Wie man sofort übersieht, haben unsere Versuche über die 
zeitlichen Veränderungen des Err. durch die vorstehenden Er- 
fahrungen die Beweise für jenes Gesetz nach einer Seite hin 
geliefert. Die Intensität des erregenden Inductionsstromes war 
in den Versuchen constant geblieben, das Err. der der Prü- 
fung unterzogenen Nervenstelle hatte sich verändert: und bei 
einem gewissen Werthe des Err. war tetanische Contraction, 


256 3 MW "Hermann Munk: 


bei einem etwas geringeren Werthe desselben Tetanus ober- 
halb und unterhalb dieser Werthe aber immer einfache Zuekung 
eingetreten. Wenn in einem Theile unserer Versuche die ano- 
malen Zuckungen nicht zur Beobachtung gekommen sind, so 
ist dies einfach dadurch zu erklären, dass entweder diese Ver- 
suche nicht bis zu der Zeit ausgedehnt worden waren, wo das 
Err. den erforderlichen Werth erlangt hatte, oder dass gerade 
zu dieser Zeit Prüfungen der Nervenstelle nicht vorgenommen 
worden waren. 

Nach der anderen Seite hin beweisen das Gesetz folgende 
Versuche, welche bei constantem?) Err. die Abhängigkeit der 
tetanisirenden Wirkung des Inductionsstromes von einer be- 
stimmten Intensität dieses Stromes darthun. 


War in einem Versuche bei der Erregung einer Nerven- 
stelle tetanische Contraction oder Tetanus eingetreten , so 
reichte es aus, die secundäre Rolle des Magnetelektromotors 
der primären ein wenig zu.nähern oder etwas von ihr zu ent- 
fernen, um bei den folgenden Prüfungen einfache Zuekungen 
zu erhalten: Zurückführen der secundären Rolle auf ihre alte 
Stellung brachte den Tetanus dann wieder zum Vorschein. 
Der Versuch liess sich mehrmals an derselben Nervenstelle 
wiederholen. 

War an der der Prüfung unterzogenen Nervenstelle der 
Tetanus mit der Zeit verschwunden, so konntefer durch Annähe- 
rung der secundären Rolle an die! primäre wieder hervorge- 
rufen werden, und es liess sich auf diese Weise durch die all- 
mäliche Verschiebung der secundären Rolle die tetanisirende 
Wirkung des Inductionsstromes bei einer und derselben Ner- 
venstelle sehr lange erhalten. 


Endlich konnte in den Versuchen, in welchen mehrere 
Stellen desselben Nerven geprüft wurden, wenn hier zu einer 


1) Die während der nur kurzen Zeit des einzelnen Versuches er- 
folgenden Veränderungen des Err. sind so gering, dass sie sich ganz 
vernachlässigen lassen, wie auch die Controlle in jedem Versuche, die 
schliessliche Erregung durch den Inductionsstrom von der 
chen Intensität, beweist. | 


Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. 487 


Zeit, wo die gleichzeitigen Err. bereits von verschiedener Grösse 
waren, die tetanische Contraction eben zuerst an der Stelle O, 
und zwar an dieser allein, eingetreten war, durch das Entfer- 
nen der secundären Rolle von der primären sogleich auch an 
den Stellen M und U tetanische Contraction oder Tetanus her- 
vorgerufen werden; in vielen Fällen war hiermit zugleich der 
Tetanus an der Stelle O beseitigt. Wurde sodann die secun- 
däre Rolle in ihre alte Stellung zurückgebracht, so hatten die 
Erregungen wieder die ursprünglichen Erfolge: tetanische Con- 
traction oder Tetanus an der Stelle O, einfache Zuckungen an 
den Stellen M und U. Für die Wiederholung dieses ganzen 
Versuches an den nämlichen Nervenstellen war es wegen der 
mit der Zeit vor sich gehenden Veränderungen der Err. meist 
nothwendig, sich des durch den vorigen Versuch an die Hand 
gegebenen Kunstgriffes zu bedienen und die secundäre Rolle 
von ihrer ursprünglichen Stellung aus der primären so weit zu 
nähern, bis durch den Inductionsstrom eben wieder allein an 
der Stelle O tetanische Contraction veranlasst wurde: dann 
lieferte aber die Wiederholung des Versuches immer dieselben 
Ergebnisse. 

In der folgenden Abhandlung (III) werde ich den Nachweis 
führen, dass, so weit es bei unseren Erfahrungen über die te- 
tanisirende Wirkung des einzelnen Inductionsstosses in Betracht 
kommt, das Erregungsmaximum einer Nervenstelle immer das 
Maass der Erregbarkeit derselben gewesen ist. Und indem 
ich hiervon sofort Gebrauch mache, stehe ich nicht an, auf 
die mitgetheilten Erfahrungen gestützt, jetzt Folgendes aus- 
zusprechen: 

Bei gegebener Erregbarkeit einer Nervenstelle giebt es 
immer einen Inductionsstrom von mittlerer Intensität, 
durch welchen statt einer einfachen Zuckung eine teta- 
nische Contraction oder Tetanus hervorgerufen wird. 
Die Erregbarkeit der betrachteten Nervenstelle und die 
Intensität des zur Hervorrufung des Tetanus erforderli- 
chen Inductionsstromes stehen in der Beziehung zu ein- 
ander, dass mit der Zunahme der ersteren die letztere 
abnimmt — und umgekehrt. 


ggg rn Ds Hetfmann Munk! 


Jedem Experimentator kömrit von’ Zeit zu "Zeit "ünd' ge- 
wöhnlich 'bei ‘den allerersten oder wenigstens bei’ den noch‘ zu 
den "ersten eehörenden 'Erresungen des Nerven’ eines’ frisch 
hergerichteten Präparates! ein scheinbar ganz von Ohngefähr 
durch einen einzelnen Inductionsstöss herbeigeführter Tetanus 
vor. Dieser Tetanus hat jetzt seine Räthselhaftigkeit verloren: 
es hat eben in diesen Fällen der Inductionsstrom gerade die 
mittlere Intensität gehabt, welche bei der derzeitigen Erregbar- 
keit der Nervenstelle zur Hervorrufung des Tetanug erförder- 
lich war. Wie sehr hierfür das Auftreten dieses Tetanus meist 
gerade bei den ersten Erregungen und dann''das jedem Expe- 
rimentator "bekannte rasche’ Verschwinden desselben spricht, 
leuchtet ohne’ Weiteres ein‘, wenn’ man bedenkt, dass eben in 
der ersten Zeit’ nach der Trennung des Präparates sehr rasch 
grosse Veränderungen der Erregbarkeit des Nerven statthaben. 
Ich berufe mich ferner auf den oben'$. 430 eitirten Versuch 
Wundt’s. Esist uns für den Augenblick gleichgültig, ‘ob in 
diesem Versuche die Veränderungen der Zuekungshöhe wirklich 
hur in‘ Veränderungen der Erregbarkeit ‘des Nerven ihren 
Grund hatten, und wodurch weiter die Veränderungen der Er- 
regbarkeit des Nerven veranlasst 'worden sind: so ‘viel steht 
fest, dass bei diesem Versuche’ 'die Erregbarkeit der geprüften 
Nervenstelle zuerst'angestiegen‘ und dann gesunken ist.‘ Hier 
hat nun, wenn die Erregbarkeit der Nervenstelle eine: gewisse 
Grösse erlangt hatte, derselbe Inductionsstrom, der früher "und 
später nur eine einfache Zuckung; veranlasste, Tetanus’ hervor- 
gerufen. Wundt scheint den Tetanus bei 'seinem’'Versuche 
immer nur am Ende der Zunahme der Zuckungshöhe beöbaeh- 
tet zu haben. ‘Leider habe ich, von änderen Fragen 'gedrängt, 
noch nicht Zeit Sefünden, den Versuch zu wiederholen, allein 
ich zweifle keinen Augenblick, dass, wenn’ man’ nur viele solche 
Versuche 'anstellt, immer ‘eine Anzahl‘ von Versuchen 'sich fin- 
den wird, bei 'welchen’'auch nach'dem Versehwinden des Te- 
tanus noch eine Zunahme 'der Zuckungshöhe stattgefunden hat. 
Ich &laube dies mit voller Zuversicht vorhersagen zw können 
nach Erfahrungen ‚welche ich bei meinen Versuchen‘über das 
Err. gemacht habe. In Versuchen,welehe sehr"früh’nach der 


-r „Untersuchungen über die Leitung der Erregung im Nerven. ‘489 


Trennung, des Präparates begonnen wurden, ist einige Male 
bei der ersten, Prüfung oder bei den «ersten zwei oder drei 
Prüfungen Tetanus aufgetreten, allein bei den weiteren Prü- 
fungen hat dann’ derselbe Inductionsstrom, obwohl die Erreg- 
barkeit der geprüften Nervenstelle bedeutend zugenommen hat, 
immer nur eine einfache Zuckung veranlasst!). 

"Es muss 'hier zum Schluss einer Bemerkung Pflüger’s Er- 
wähnung geschehen, „Leitet man* — sagt Pflüger?) — 
„einen starken Strom, d.h. einen solehen, der sogleich die tie- 
feren Ritter ’schen Stufen des Zuckungsgesetzes zeigt, durch 
einen Theil des Nerven selbst nur einige Secunden, so folgt 
.der Oeffnungszuckung, oft nachdem einige Zeit vollkommene 
Ruhe geherrseht hat, dann eine Reihe convulsivischer äusserst 
‚mächtiger Zuckungen, die selten die Form eines ruhigen steti- 
gen Tetanus annehmen. .... Je öfter man diesen Versuch wie- 
derholt, um so länger dauert es, bis nach der Oeffnung jener 
Tetanus ausbrieht, und um so mehr nimmt er an Stärke ab. 
Nach 4—&maligem Schliessen erscheint er endlich nach der 
Oefinungszuckung gar nicht mehr.: Kehrt man nun bei beste- 
hendem, auf. solche Weise  erzeugtem Oeffnungstetanus ‘den 
Strom um, so verschwindet der Tetanus ebenso, als ob man 
den Strom wieder in gieicher Richtung, geschlossen 'hätte, was 
für den aufsteigenden Strom besonders ganz augenfällig und 
ausnahmslos ist. Ich habe eine jenem Oeffnungstetanus wohl 
analoge Erscheinung selbst schon nach starken Inductionsschlä- 
gen beobachtet, denen eine Reihe: heftiger Zuckungen folgte, 
ohne dass der Inductionsschlag etwa die’ getroffene Stelle ver- 
nichtet hätte, da sie auch nachher noch sehr reizbar war.“ Ich 


1) Weshalb in denjenigen Versuchen Wundts, in welchen immer 
das Err. erlangt wurde, nicht am Ende der Zunahme der Zuckungs- 
höhe Tetanus eingetreten ist (s. o. S. 432), liegt jetzt auf der Hand: 
die Ströme sind bei der hohen Erregbarkeit, welche die Nervenstelle 
zu der Zeit besass, von zu grosser Intensität gewesen. Hätte Wundt 
diese Versuche länger ausgedehnt‘, so würde er, wie wir in unseren 
Versuchen, den Tetanus haben auftreten sehen, nachdem die Zuckungs- 
höhe eine Zeit lang abgenommen hatte, 

2) Physiologie des Elektrotonus,. S, 83. 


490 Hermann Munk: Untersuchungen über die Leitung u. s, w. 


muss es nach diesen wenigen Worten Pflüger’s dahingestellt 
sein lassen, ob Pflüger einen besonderen, von demjenigen, der 
uns vorgekommen ist und in der Regel zur Beobachtung 
kommt, ganz abweichenden Tetanus durch Inductionsschläge 
beobachtet hat. War dies aber nicht der Fall —, und ich für 
meine Person kann hieran nicht zweifeln — so kann Pflüger 
die Analogie des Tetanus durch die Inductionsströme mit dem 
Oeffnungstetanus des starken constanten Stromes nur darin ge- 
funden haben, dass er eben beide Male den Tetanus durch 
starke Ströme hervorgerufen werden sah. Es ist dann aber 
diese Analogie jetzt nicht mehr zu halten, nachdem wir ge- 
funden haben, dass die tetanisirende Wirkung gerade dem In- 
duetionsstrome von mittlerer Intensität zukommt und dass bei 
sehr hoher Erregbarkeit der betrachteten Nervenstelle eine nur 
geringe absolute Intensität des Inductionsstromes zur Hervor- 
rufung des Tetanus erforderlich ist. Auch glaube ich, dass 
man nicht ohne Weiteres den Teetanus in Folge des einzelnen 
Inductionsstromes als in einer Nachwirkung dieses Stromes be- 
gründet ansehen darf, so nahe diese Auffassung auch augen- 
blicklich liegt: unsere weiteren Mittheilungen werden die Mög- 
lichkeit einer Erklärung dieses Tetanus ohne Zuhülfenahms 
einer Nachwirkung darbieten.') 


Berlin, 9. April 1861. 


1) Berichtigung. In I (Jahrg. 1860) 8. 819, Zeile17 von oben 
ist DF statt BD zu lesen. 


C. Gegenbaur: Ueber den Bau und die Entwickelung u.s.w. 491 


Ueber den Bau und die Entwickelung der Wirbel- 
thier-Eier mit partieller Dottertheilung. 


Von 
Professor C. GEGENBAUR, 


(Hierzu Taf. XL.) 


Obgleich die genauere Kenntniss der Eier der Wirbelthiere 
mit den: Entdeckungen v. Baer’s und Purkinje’s beginnt, 
so ist ein richtiges Verständniss der Thatsachen doch erst dann 
möglich geworden, als, vorzüglich durch R. Wagner, auch in 
anderen Thierclassen eine ähnliche Bildung der Eier nachge- 
wiesen, und durch Schwann die gesammte Erscheinungsreihe 
auf die Zellenbildung zurückgeführt und nach der Zellentheorie 
beurtheilt ward. Die klare Vorstellung windet sich aber auch 
da noch mühsam aus dem Gewirre unrichtiger Anschauungen 
heraus, und man darf sagen, dass bis in die neueste Zeit in 
nichts weniger ‘als unwesentlichen Punkten eine Uebereinstim- 
mung der Meinungen noch nicht erreicht ist.‘ Es: gilt dies 
namentlich von jenen Eiern, die einer partiellen Dottertheilung 
unterworfen sind, und diese forderten zu einer Prüfung frühe- 
rer Angaben auf. 

Die zw beantwortenden Fragen stellen sich am Klarsten bei 
Betrachtung der verschiedenen Angaben und Meinungen her- 
aus, und so mag es erlaubt sein, zuvor einen Blick auf solche 
zu werfen. — Bei Schwann wird das Ei zwar als Zelle be-. 
trachtet, und im Zusammenhalte mit der gleichzeitigen Arbeit 
R.; Wagner’s scheint ihm die Deutung des Keimbläschen als 
Kern der Eizelle kaum mehr zweifelhaft. Was aber speciell 
das Vogelei angeht, so. enthält der Dotter Zellen, und zwar 
anfänglich nur jene, die später beim reifen Eie in der Dotter- 


492 „030.0, Gegenbaur: 


höhle sich finden. Ob die darin sich findenden fettähnlichen 
Kügelchen die Bedeutung von Kernen besitzen, bleibt zweifel- 
haft. Als Umhüllung dieses Dotters wird dann eine zusam- 
menhängende Schicht der schon von Purkinje beschriebenen 
Zellen angeführt. Die später erscheinende gelbe Dottersubstanz 
bildet sich lagenweise an der inneren Fläche dieser Zellenschicht, 
und da an der Stelle, wo Keimbläschen und die Grundlage 
der Keimhaut jenes anliegen, keine Bildung von Dotterkugeln 
erfolgen kann, so bleibt hier in jeder Lage von Dotterzellen 
eine Lücke, „die bei der zunehmenden Dieke der Dottersub- 
stanz zu einem Kanal wird, der von der Dotterhöhle nach der 
Keimhaut führen muss, und in diese Lücke drängen sich die 
Zellen der Dotterhöhle hinein.“ Ob auch diese in der Dotterzelle 
entstehenden Kugeln Zellen sind, wird von Schwann anfäng- 
lich als nicht ganz bestimmt angegeben, dann jedoch ist von 
„Zellen in Zellen“ die Rede, und damit die Natur: der Dotter- 
kugeln genauer formulirt. Ueber die ferneren Veränderungen 
im Baue des Eies erfahren wir, dass die äussere aus kernhal- 
tigen Zellen bestehende Schicht sich‘ theilt, so dass nunmehr 
zwei dieser Schichten den Dotter umgeben; die eine, äussere, 
zeigt keine Zellen mehr, und ist wohl aus Verschmelzung von 
Zellen entstanden, die andere, innere, besteht fort aus Zellen, 
und ist da, wo die Keimhaut liegt, unterbrochen. "Am reifen 
Eierstockseie verschwindet die letztere Schichte,' und es bleibt 
nur die 'erstere bestehen. 

Aehnlich der Schwann’schen Auffassung verhält sich jene 
R. Wagner’s (Lehrb.' der Phys. 1. Aufl. S. 34) bezüglich der 
allgemeinen Zusammensetzung des Vogeleies, indem: auch ser 
‚die 'Dotterkugeln als Zellen anspricht, die in: einer: anderen 
Zelle, der’ Dotterzelle, eingeschlossen seien. Auch das ‚Keim- 
bläschen: ist als Zelle anzusehen , und der Keimflek: verhält 
sich ‘wie deren Kern. 

Im Zusammenhalte mit dem Ei ‘der Säugethiere würde die- 
sem die gesammte Dottermasse des Vogeleies entsprechen, und 
beiden läge dieselbe ‚wesentliche, nur eigenthümlich modifieirte 
Bildung zu Grunde.  Eine>dieser Modificationen ist der’ Man- 
gel’ einer’Keimschichte (discus proligerus) im-Säugethierei ; sie 


Ueber den Bau und die Entwickelung der Wirbelthier-Eier. 493 


wird hier vielleicht dargestellt durch die den Dotter umgebende 
Körnermembran. Später (Lehrb. d. Physiologie. 3. Aufl.) ist 
diese Verschiedenheit der Lagerungsverhältnisse der Keimbläs- 
chen weniger urgirt. In Allem sehen wir eine Zurückführung 
der Theile des Vogeleies auf jene der Eier anderer Thiere 
durch R. Wagner überall angestrebt, und ihr vorzüglich im 
Prodromus hist. generationis (1836) das Wort geredet, 

In dieser Auffassung hat wohl der grösste Theil der Phy- 
siologen von da,an die Sache betrachtet, bis durch H ‚Meckel 
(Zeitschr. für wissenschaftl. Zoologie. Bd. III $. 420) eine an- 
dere Richtung angebahnt wurde. Bekanntlich hat dieser For- 
scher dargethan, dass, nachdem anfänglich das Keimbläschen 
gebildet sei, um dieses die Eisubstanz entstehe, um. welche 
dann durch reichliche und schichtenweise erfolgende Zellen- 
productiosnen von Seite des Follikelepithels der gelbe Dotter 
gebildet werde. Die Formelemente des Dotters sind Umwand- 
lungen des Graaf schen Follikelepithelium, und die Vereinigung 
dieser Theile mit dem primitiven Eie wird durch das Schwin- 
den der vorher vorhandenen Dottermembran bewerkstelligt, so 
dass jene Zellenschichten nunmehr die äusseren Lagen der Bi- 
substanz selbst darstellen. Mit ausführlicher Beschreibung der 
Dotterelemente als Dotterzellen wird zugleich eine: Analyse 
des Begriffes: Zelle gegeben, woneben die bekannte Lichten- 
berg’sche Definition freilich nicht unpassend angebracht ist. 
Nach dieser -Meckel’schen Deutung ist das Ei der Vögel und 
der übrigen Wirbelthiere mit partieller Dotterfurchung nicht 
dem Eie der Säugethiere und der Amphibien gleich, sondern 
diesem entspricht nur das Purkinje’sche Bläschen des erste- 
ren. ' Dagegen ist das Vogelei dem Inhalte des Graaf’schen 
Follikels (resp. dem Corpus luteum) der Säugethiere gleichzu- 
setzen, und der gelbe Dotter 'des Vogeleies entspricht den 
Zellmassen des Stratum granulosum im Graaf’schen Follikel 
des Eies der Säuger. Bei allem Anscheine von Klarheit und 
Einfachheit dieser Anschauung kommt doch nicht wenig Stö- 
rendes ja sogar Unverständliches zum Vorscheine, wenn man 
berücksichtigt, dass das unreife Ei:von dem Zeitpunkte an.als 
Zelle zu bezeichnen sei, „wo sich -um das Keimbläschen eine 


494 :C. Gegenbaur: 


davon abhängige Zellensubstanz bildet.* Eintweder ist diese 
Zellensubstanz, die vorher als ein integrirender. Bestandtheil 
der Zelle, geradezu als Zelleninhalt definirt ward, nur etwas 
ausserhalb der Zelle liegendes, wenn man das Keimbläschen, 
wie ja Meckel will, als Zelle betrachtet; oder es muss das 
‚, Keimbläschen in den verschiedenen Bildungsstadien eine. ver- 
schiedene Rolle spielen, heute Kern, morgen wahrhafte Ei- 
zelle sein. 

Die Meckel’sche Deutung des Vogeleies findet im Principe 
einen Widersacher an R. Leukart (Art. Zeugung in R. Wag- 
ner’s Handwörterbuch der Physiologie. 4. Band. 1853). Die 
frühere Abschliessung des primitiven Dotters durch eine Dotter- 
membran wird entschieden in Abrede gestellt, und die von 
Meckel als Membran gedeutete Umsäumung des Dotters: als 
die hellere Grenzschichte angesprochen, aber auf Grund zahl- 
reicher Untersuchungen wird die Bildung von „Dotterzellen, die 
an der Innenfläche der Drüsenwand entstehen, und schichten- 
weise an den körnigen Dotter sich anlegen* (S. 792), offenbar 
gleichfalls als eine vom Follikelepithel ausgehende Erscheinung 
betrachtet. Diese Dotterelemente sind „Zellen mit einem sehr 
deutlichen Kerne, der alle charakteristischen Merkmale eines 
Zellenkernes darbietet.“ 

Um diese den weissen Dotter darstellende und das Keim- 
bläschen umschliessende centrale Dottermasse entsteht dann 
„unter der Drüsenschicht des Follikels die structurlose Dotter- 
haut, und: dann erst bildet sich unter dieser durch Umwand- 
lung der Dotterzellen, die ihren Kern verlieren, der gelbe 
Dotter aus. — So ist zwar das Ei der Vögel aus Zellen auf- 
gebaut, die anfänglich an der Follikularwand entstehen, allein 
es geht doch die Bildung des gelben Dotters vor sich, und 
das Ei kann demnach dem Graaf’schen Follikel der Säuge- 
thiere nicht gleichgesetzt ‘werden. Vielmehr ist es, der 
Schwann’schen Auffassung gemäss, „in seinem morphologi- 
schen Werthe den Zellen anzureihen, der Dotter als Zellenin- 
halt, die Dotterhaut als Zellenmembran, das Keimbläschen mit 
dem Keimflecke als Zellenkern und Kernkörperchen zu deuten“ 
(S. 817). — In einer Dissertation von J. Samter (Nonulla 


Ueber den Bau und die Entwickelung der Wirbelthiereier. 495 


de evolutione ovi avium, donec in oviductum ingrediatur. Hal. 
1853) wird gleichfalls gegen die Betheiligung des Follikelepi- 
 tbels an der Bildung des Dotters gesprochen, und sogar die 
Uebereinstimmung der ersten Bildung des Eies bei allen Thie- 
ren (es ist aber speciell nur von den Vögeln die Rede) als 
Forschungsresultat hervorgehoben, aber dabei wird mehrfach 
der Dotterzellen gedacht, so dass auch dieser Autor das Vogelei 
consequenterweise als einen complieirten Organismus betrach- 
ten muss. — Näher an der von H. Meckel ausgesprochenen 
Auffassung steht Ecker (Icones physiologicae Tab. XXII). 
Nach ihm ist wirkliches Ei nur der nach Reichert sogenannte 
Bildungsdotter, in welchen das Keimbläschen eingebettet ist. 
Der gelbe Dotter ist der Inhalt des Graaf’schen Follikels, der 
aus einer Vermehrung der früher nur eine einfache Lage bil- 
denden Epithelzellen des Graaf'schen Follikels hervorgeht, und 
durch seine Wucherung den „wirklichen Dotter* an die Pe- 
ripherie der Kapsel drängt, an welcher er als cumulus proligerus 
unterschieden wird. Dieser, wie der Meckel’schen Darstel- 
lung tritt Kölliker (Mikroskop. Anatomie. Bd, II. Abth. 2. 
S. 433. 1854) entgegen, und hebt besonders hervor, die Dot- 
terhaut immer nur aussen am ganzen Dotter gesehen zu haben. 
Die Wagner’sche Auffassung ist ihm noch gültig, und der 
ganze Unterschied des Vogeleies vom Säugethierei besteht nach 
ihm darin, „dass bei ersterem innerhalb des Eies wirkliche 
Zellen sich entwickeln und ein guter Theil des Dotters direet 
aus Zellen sich aufbaut, bei letzterem nicht.“ 

Endlich sehen wir noch einmal bei Allen Thomson 
(Todd, Cyclopaedia, Supplementary volume. 1859, die erste 
Hälfte des Artikels wurde 1852, die letzte 1855 ausgegeben) 
in einer ausgedehnten Arbeit über das „Ei“, das Vogelei als 
Graaf’schen Follikel gedeutet. Es wird sowohl das von 
Meckel behauptete Auftreten einer primitiven Dotterhaut ver- 
theidigt, als auch der aus Zellen bestehende gelbe Dotter dem 
Stratum granulosum des Graaf’schen Follikels gleichgesetzt. 
Bezüglich der primitiven Dotterhaut findet sich aber die Modi- 
fication, dass sie zwar keine distinct begränzte, feste, doch eine 
unterscheidbare Schichte an dem primitiven feinkörnigen Dotter 


496 ala oOaGegenban ri 


sei. Auch'bei der Bildung des gelben Dotters. zeigt Thom-- 
son.einige Unabhängigkeit von Meckel, indem er die Ent- 
stehung der Dotterzellen von der Wand des Follikels aus be- 
zweifelt, und sie mehr innerhalb vom Lager der primitiven 
Follikelepithelzellen auftreten lässt, | 
Eine. Arbeit von Hoyer. (Müllers Archiv... .1857...8..52) 
führt die Zusammensetzung des Vogeleies wieder auf ein en- 
geres, und wie ich antieipando sagen muss, richtigeres Maass 
zurück. Das Follikelepithel wird als unbetheiligt bei der Bil- 
dung der Nahrungsdotter dargestellt, und das gesammte Vogelei 
dem  primitiven Eie anderer Thiere gleich. erachtet, was: hier 
anderen Autoren gegenüber um so mehr folgerichtig erscheint, 
als von einer Zusammensetzung des Dotters beim Vogelei ‚aus 
; Zellen keine Rede mehr ist. 

"Alle ‚diese im einzelnen vorgeführten Untinsnchiini:Rasik 
tate bieten mehr oder weniger wichtige Abweichungen von 
einander dar, und diese Reihe. verschiedener Ansichten. wird 
noch vermehrt durch die neuerdings von Kölliker (Entwicke- 
lungsgeschichte des Menschen und der höheren Thiere.. 1861. 
S. 24) gegebene Darstellung vom Baue des Hühnereies. ' Es 
besteht nach diesem Forscher das jüngere Eierstocksei aus der 
Dotterhaut, der Epithelialschichte, dem Nahrungs-: und Bil- 
dungsdotter, und dem in letzterem befindlichen Keimbläschen. 
Das Ei ist also auch hier, obgleich Kölliker es als ‚einer 
Zelle entsprechend ansieht, keine Zelle, sondern. ein Complex 
von Zellen, da die aus „kleinen kernhaltigen Zellen“ gebildete 
Epithelialschicht, „die unmittelbar innen. an der Dotterhaut' an- 
liegt“, doch unzweifelhaft zum Ei gerechnet werden muss (wie 
der gerannte Autor es auch that), und da für die Auffassung 
des so gebildeten Eies als Zellencomplex völlig, gleichgültig 
ist, ddss und wann die genannte, Zellenschichte wieder . ver- 
schwindet. Auch über die Bildung des Eies der. übrigen, aus 
partieller Dotterfurchung sich entwickelnden Wirbelthiere, fast 
aller Fische (Petromyzon ausgenommen) ‚und ‚der Reptilien 
herrschen noch ebenso mannichfaltige Vorstellungen, ‚wie. über 
jene der Vögel. Wie H.Meckel seine ‚oben näher: betrachtete 
Ansicht auf sämmtliche Eier mit partieller Furchung; ausdehnt, 


Ueber den Bau und die Entwickelung der Wirbelthiereier, 497 


so findet auch R. Leuckart (l. ec.) den Bau dieser Eier mit 
dem der Vogeleier, bis auf einige untergeordnete Momente 
übereinstimmend, und die oben beim Vogelei erwähnte Deutung 
muss auch für die anderen gelten. Dasselbe trifft auch bei 
Allen Thomson, so dass nur der beim Vogelei nicht er- 
wähnten Arbeiten specieller zu gedenken sein wird. 

Für die Eier der Reptilien sind die reichhaltigen Mitthei- 
lungen über den Bau und die Entwickelung der Schildkröten- 
eier von J. Clark in Agassiz Contributions to the natural 
history of the united States of North-America. Vol. II. Part. 
Ill vor allen anderen hervorzuheben. (Ein kurzer Auszug, als: 
„Recapitulation on the Embyrology of the Turtle“, ist ge- 
geben im American Journal of Science and Arts. Vol. XXV. 
1858.) Wir finden in diesem Werke, dass die primitiven Eier 
nach der ersten Differenzirung ihrer Theile im Graaf’schen 
Follikel sich ganz wie Zellen verhalten, und darin den Eiern 
anderer Thiere gleichkommen. Zuerst entsteht die Dottersub- 
stanz mit ihrer Membran, dann bildet sich das Keimbläschen, 
in welchem bald wieder verschwindende Keimflecke auftreten!). 
Alsdann treffen den Dotter wichtige Veränderungen, indem in 
seiner Substanz Zellen, die Dotterzellen, hervorgehen. Es bildet 
sich auch hier erst die Zellmembran, dann tritt zuerst als leichte 
Trübung an der Wandung und mit verschwindenden Gränzen, 
aber allmälig einen scharfen sphärischen Umriss annehmend, 
und frei werdend, der Kern auf, und zwar sehr bald unter 
verschiedenster Form und Grösse. 

„Unähnlich anderen Kernen ist der Kern der Dotterzellen 
nicht in seiner Entwickelung gehemmt, wenn die Zellmembran 
eine gewisse Grösse erreicht hat, und bleibt nicht als eine 
blosse Erinnerung an eine frühere Thätigkeit zurück, sondern 
er besteht fort unter lebhaften inneren Veränderungen seiner 


1) Es wird hier zugleich für die einzelnen Theile der Zelle (Dot- 
terzelle) eine neue Nomenclatur benutzt. Ektoblast wird die Zell- 
membran, Mesoblast der Kern, Entoblast das Kernkörperehen benannt. 
Falls in letzterem noch Körnchen liegen, so werden sie als Entostho- 
blasten bezeichnet. 


P 
Reichert’s u, du Bois-Reymond’s Archiv. 1861. 33 


498 | C. Gegenbaur: 


beständig fortwachsenden Masse.“ Zu diesen Veränderungen 
des niemals frei entstehenden Kernes gehört vorzüglich die 
Bildur ig der Nucleoli, die nicht nur an Grösse und Form, son- 
dern auch an Zahl sehr differiren, und oft ein krystallinisches 
Ansehen bietend, den Kern erfüllen. Der so aus Zellen ge- 
formte Dotter findet sich gleichmässig durch das ganze Ei, nur 
um das Keimbläschen sind helle, homogene Zellen mit kleine- 
ren Formen der oben beschriebenen Dotterzellen reichlicher 
gemischt. Auf der Oberfläche des Dotters, unter der Dotter- 
membran, findet sich aus polygonalen, ein mosaikartiges Bild 
bietenden Elementen zusammengesetzt, ein continuirliches Zell- 
stratum, welches vom Autor als „Embryonalmembran“ bezeich- 
net, und mit der Beichert’schen Umhüllungshaut zusammen- 
gebracht wird. Als solche wird es dann in gewissen Ent- 
wickelungsstädien des Embryo wirklich auch nachgewiesen. 
Nach aussen von dieser „Embryonalmembran“ liegt dann die 
homogene Dotterhaut, und dann erst folgt die Epithelschichte 
des Foliikels. Was die Deutung dieses so sehr complieirten 
Eigebildes angeht, so nimmt unser Verfasser keinen Anstand, 
dennoch das ganze Ei als Zelle anzusehen, aber als Zelle eigen- 
thümlicher Art und Bestimmung. 

Was die Eier der Fische betrifft, so müssen zunächst jene 
der Selachier in Betracht kommen, die an Grösse und in 
den Dotterverhältnissen den Vogel- und Reptilien-Eiern am 
nächsten stehen. Allen Thomson (l. c. pag. 79) hat dem- 
gemäss auch die Eier der Selachier mit denen der Reptilien 
und Vögel (wie auch jene der Cephalopoden) in eine Gruppe 
vereinigt, welche durch die schon oben bei den Vögeln näher 
auseinandergesetzten Verhältnisse charakterisirt wird, wodurch 
auch zugleich der Standpunkt bezeichnet ist, den der genannte 
Forscher in dieser Frage bezüglich der Selachier-Eier einnimmt. 
Von anderer Art sind die Mittheilungen Leydig’s (Beiträge 
zur mikroskopischen Anatomie der Rochen und Haie. Leipzig 
1852. 8. 87), aus denen hervorgeht, dass, Angabe gegen An- 
gabe gehalten, hier ein grösserer Unierschied von den Eiern 
der Vögel und Reptilien besteht, als man dem gemeinsamen 
Modus des Furchungsprocessgs zufolge anzunehmen berechtigt 


Ueber den Bau und die Entwickelung der Wirbelthiereier. 499 


wäre. Die Entwickelung der Eier geschieht wie bei den übri- 
gen Wirbelthieren, aber statt der Dotterzellen des Vogel- und 
Reptilieneies entstehen im Dotter nur eiweissartige Kugeln und 
die sogenannten Dotterplättchen. Zugleich ersehen wir aus 
denselben Mittheilungen, dass das Epithel des Follikels in 
keiner Weise an der Herstellung des Nahrungsdotters bethei- 
ligt scheint. 


Die vorstehende historische Auseinandersetzung und Darle- 
gung der verschiedenen Ansichten über den Bau eines wie man 
meinen sollte in seinen Verhältnissen leicht festzustellenden 
Gebildes, wird es erklärlich erscheinen lassen, dass auf diese 
verschiedene Angaben hin unmöglich ein allgemeiner Gesichts- 
punkt über den eigentlichen morphologischen Werth des Eies 
erlangt werden kann. Selbst wenn man die scheinbar ex- 
tremste Meckel - Thomson’sche Angabe als. abgethan be- 
trachten will, so sind die von Leuckart, Kölliker, Clark, 
Leydig mit einander im Widerspruche, selbst in Dingen, die 
man nicht als unwesentlich bezeichnen kann. : Auch damit ist 
nichts geholfen, dass erklärt wird, das Ei sei einer Zelle 
gleich, sobald man dieser Zelle noch einen wiederum aus Zel- 
len bestehenden Inhalt giebt, und sei es auch nur eine einzige 
Schichte, wie Leuckart, Clark und Kölliker thun. Eine 
Zelle, die wiederum Zellen zum Inhalt hat, besitzt, wie jetzt 
die Zellenlehre liegt, nur durch diesen Inhalt Bedeutung, sie 
selbst spielt keine Rolle mehr, denn jene Tochterzellen können 
doch nur aus der Theilung des Kernes und der Substanz der 
Mutterzelle hervorgegangen sein. Ob die ‘ganze Dottermasse 
aus solchen Zellen besteht oder nur eine äussere Schichte des 
Dotters, ist gleichviel, denn auch diese Epithelschichte muss 
doch irgendwoher ihren Ursprung nehmen, und da bleibt im 
ganzen Eifollikel nur das Ei selbst und die darum liegende 
Follikelepithellage in Frage zu ziehen. Bildet sich jenes Epi- 
thel des Dotters vom Eie selbst aus, so kann dies doch nur 
durch sogenannte Dottertheilung geschehen, entsteht es vom 
Follikelepithel, so trägt dieses zur Bildung des Dotters direet 
bei, und dann kommt die Meckel-Thomson’sche Darstellung 

; 33* 


500 | 'C. Gegerbaur: 


nur quantitativ modificirt, wieder zu Ehren. In beiden Fällen 
der Alternative darf aber das Ei nicht als „Zelle“, sondern 
muss als „Zelleneomplex“ betrachtet werden. — Zu diesen 
inneren, in den vorgetragenen Ansichten geborgenen Wider- 
sprüchen kommen noch mehrfache Schwierigkeiten, die beim 
Herbeiziehen des Furchungsprocesses entstehen und die diesen 
Vorgang in den einzelnen Abtheilungen der Wirbelthiere von 
äusserst ungleiche Werthe erscheinen lassen, je nachdem eine 
einfache Zelle oder ein Zellencomplex das Material zum Auf- 
bau des künftigen Individuums liefert. 

Meine eigenen Untersuchungen über den verhandelten Ge- 
genstand mögen nun, so weit sie hier einschlagen, folgen. 

Vor Allem ist die Anlage der Eierstocksfollikel in Betracht 
zu ziehen, um von da ab einen Ausgangspunkt zu gewinnen. 
Jüngere Zustände der Eifollikel sind von allen Wirbelthier- 
klassen bekannt und zur Genüge beschrieben. Für Vögel, Rep- 
tilien und Selachier ist in diesen kleinsten Follikeln so ziem- 
lich gleichmässig ein mit den übrigen Olassen übereinstimmen- 
des Verhalten angegeben, indem innerhalb der bindegewebigen 
Follikelhülle eine Epithelschichte lagert, welche das von we- 
nig Dottermasse umhüllte, relativ grosse Keimbläschen umgiebt. 
Von Vögeln haben es R. Wagner, H. Meckel,R. Leuckart 
und Ecker so beschrieben. Die jüngsten Formen sogar ent- 
behrten dieses Dotters nicht, und ebenso war immer auch das 
Keimbläschen vorhanden, so dass ich jene Angaben, nach denen 
in den kleinsten Follikeln das Keimbläschen fehlen soll, sowie 
jene, welche dem Keimbläschen eine frühere Entstehungszeit 
geben als dem Dotter, und letzteren sich gleichsam erst um 
das Keimbläschen ablagern lassen, mit Entschiedenheit in Ab- 
rede stellen muss. Bei den meisten Vögeln sind die jüngsten 
Eifollikel so klein, dass nur mittels sehr starker Vergrösserun- 
gen über die elementare Structur derselben etwas ermittelt 
werden kann, und dann kann man sich leicht überzeugen, dass 
das Follikelepithel schon eine ganze Zelle umschliesst, Keim- 
bläschen und Dotter, letzteren nur spärlich, meist völlig durch- 
sichtig, und das an Grösse nur wenig von den Kernen der 
Epithelzellen verschiedene Keimbläschen umgebend. Ein sehr - 


Ueber den Bau und die Entwickelung der Wirbelthiereier. 501 


günstiges Object fand ich in dieser Beziehung an den Eifolli- 
keln des Wendehalses, die nicht nur durch grosse, helle Epi- 
thelzellen, sondern auch durch die schönste Uebereinstimmung des 
Keimbläschens mit den Kernen der Epithelzeilen ausgezeichnet 
waren.!) Es schien so das Ganze ein Haufen von Zellen zu 
sein, von denen eine central gelagert, die anderen peripherisch 
um diese eine Art Schichte darstellten. Während die centrale 
Zelle durch den Mangel einer besonderen Membran charakte- 
risirt war, zeigt sich eine solche wohl bei den Epithelzellen 
als eine dunklere Contour, und ich glaube dies als den einzi- 
gen Unterschied beider ansehen zu müssen. Dass dieser vom 
Epithel umschlossene Follikelinhalt, aus einem Kerne und einer 
ihn umlagerhden homogenen oder nur wenige Körnchen ent- 
haltenden Substanz bestehend, offenbar eine Zelle vorstellt, ist 
zweifellos, und es würde ein Anachronismus sein, dafür noch 
besonders plaidiren zu wollen. Etwas Anderes ist die Frage 
nach der Zellmembran. Dass von einer solchen nicht das min- 
deste um den primitiven Dotter herum wahrzunehmen ist, habe 
ich schon oben betont. Man könnte somit sagen, dass 
nach den hergebrachten Begriffen von einer Zelle etwas sehr 
wesentliches der primitiven Eizelle abginge, so dass sie zwar 
einer Zelle gleichbedeutend, aber doch nicht so recht für „voll“ 
angesehen werden könnte. Hierbei dürfte’es nun zweckmässig 
sein, darauf aufmerksam zu machen, dass das, was wir „Zell- 


1) Nicht wenige jüngste Follikel von 0,01‘ entwickeln kein Ei; 
auf den Querschnitt des Follikels trafen 1—4 helle Zellen, so dass das 
gesammte Epithel sich auf 7—9 Zellen belief.‘ Sie umschlossen dann 
eineu äusserst engen Centralraum, in dem durchaus nichts Geformtes 
zu sehen war (Fig. 9). Etwas grössere Follikel wiesen nicht selten 
statt der Dotter 2—3 scharf contourirte, stark lichtbrechende Tropfen, 
die aus ihrem Verhalten gegen Aether zu schliessen keineswegs Fett 
waren, und ausser diesen Tropfen fand man keinerlei formirte Be- 
standtheile. Man könnte diese Follikel als solche ansehen, deren Ei 
etwa zu Grunde gegangen wäre, ich glaube jedoch, dass sie besser 
aus der Weiterentwickelung deristerilen Follikelanlagen abzuleiten 
sind, bei denen sich der centrale Hohlraum allmälig mit einer den 
Dotterkörnchen ähnlichen Substanz füllt, die sich in Form von Tröpf- 
chen niederschlägt. 


= 


502 C. Gegenbaur: 


membran“ zu nennen gewöhnt sind, in vielen Fällen ein Pro- 
duct der Zelle selbst, nicht ein Theil des lebendigen Zellorga- 
nismus ist, ja dass jegliche Zelle, so lange sie noch innerhalb 
energischer Lebensvorgänge sich bewegt, durchaus keine di- 
stincte nach aussen wie nach innen gleichmässig scharf abge- 
gränzte Umhüllung als „Zellmembran“ aufweist, so dass der 
Nachweis von Membranen meist nur durch Anwendung; beson- 
derer Eingriffe kann hergestellt werden. So verhält es sich 
bei allen jungen in rascher Vermehrung sich bildenden Zellen, 
so weisen es ausnehmend deutlich alle Embryonalzellen auf, 
von den ersten aus der sich theilenden Eizelle hervorgehenden 
sogenannten „Furchungskugeln“ an bis zu der Anlage der Or- 
gane und ersten Diflerenzirung der Gewebe. Wenn so die ge- 
sammten Formelemente des sich bildenden Organismus, und 
ganze Kategorien im längst fertigen wie alle jungen zum 
Wiederersatz älterer bestimmten Zellen jenem Dogma von der 
Zellmembran sich nicht unterworfen zeigen, so folgt hieraus 
zweierlei: entweder ist das Continuitätsprincip (gegen welches 
auch sonst so vielfach gesündigt wird) hier aufzugeben. und 
der Organismus eine Zeit hindurch nicht aus Zellen, sondern 
etwa nur zellenähnlichen Elementen zusammengesetzt anzuneh- 
men, oder es muss der Begriff der Zelle dahin abgeändert 
werden, dass die „Zellmembran“ als etwas unwesentliches an- 
erkannt wird, wobei ihre Aufführung bei der Definition des 
Begriffes der Zelle wegfällt. Das Letztere hat neuestens wie- 
der M. Schultze (Reichert u. Dubois, Archiv für Anatomie 
u. Physiologie. 1861. p. 1) in einem beherzigenswerthen Auf- 
satze als nothwendig begründet, und zugleich den Vorschlag 
gemacht, den sogenannten Zelleninhalt, der doch mit dem 
Kerne das eigentlich Lebendige an der Zelle darstellt, mit dem 
früher schon von Remak in gleichem Sinne gebrauchten Na- 
men: „Protoplasma“ zu bezeichnen, ein Vorschlag, der gewiss 
alle Beachtung verdient. Jede Zelle bestände sonach aus einem 
Quantum lebena.er Substanz, nämlich dem Protoplasma und 
dem Kerne, der iıı letzterem eingebettet ist. Die äusserste 
Schichie dieses Protevlasma kann sich nun verdichten oder 
überhaupt in ein von de,u übrigen centralen Protoplasma phy- 


Ueber den Bau und die Entwickelung der Wirbelthiereier. 503 


sikalisch verschiedenes Verhalten eintreten, und diese Schichte, 
die nicht vom übrigen Protoplasma ausser Continuität gesetzt 
ist, bezeichnete man gewöhnlich als Zellmembran, wobei natür- 
lich vielfach ähnliche, aber nicht mehr mit dem Protoplasma 
continuirliche Membranen, blosse Abscheidungen des Protoplasma 
zusammen geworfen sind. Dass aber eine solche physikalisch 
veränderte Schichte am Protoplasma, auch an noch lebendigen 
Zellen vorkomme, zeigen u. A. die meisten Epithelien, und 
ich möchte deshalb nicht für alle Zellen eine vollkommene 
Gleichartigkeit des Protoplasma in der Oontinuität der Masse 
annehmen, und halte es für bedenklich, der Auffassung M. 
Schultze’s in diesem Punkte beizustimmen. Die Existenz 
einer differenzirten Membran scheint mir für den Zellbegriff 
nicht nothwendig, ohne dass ich deshalb allen Zellen das Vor- 
handensein einer äusseren vom übrigen Protoplasma verschie- 
denen Schichte in Abrede stellen kann. Und dass man diese 
äussere Schichte als Membran bezeichnet, scheint mir durchaus 
nichts widersinniges zu sein. Doch dies berührt hier zunächst 
nicht den zu} behandelnden Gegenstand, und ich wollte mit 
dem Vorstehenden nur entwickeln, dass Nichts im Wege steht, 
das primitive Ei, auch ohne dass es eine Membran besässe, 
als Zelle anzusehen. 

Wir haben also innerhalb des Follikels eine Epithellage, 
welche eine central gelagerte Zelle, die Eizelle, umschliesst, an 
der dasProtoplasma den Dotter, der Kern den Keimfleck darstellt. 
In dieser Weise fand ich die Eifollikel in den drei näher un- 
tersuchten Wirbelthier-Abtheilungen, und kann so diesen srühen 
Zustand zum Ausgange der specielleren Prüfung der einzelnen 
Theile des Follikelinhaltes wählen. 


1. Eizelle. 


a) Dotter. Diese anfänglich völlig homogene, nach aussen 
gegen das Follikelepithel niemals durch eine Membran abge- 
gränzte Substanz zeigt sehr bald Trübungen, indem die Ab- 
lagerung feiner Molekel auftritt. Die Contouren des Dotters 
stossen bald dicht an das Epithel, bald ist ein Raum zwischen 
Beiden bemerkbar, der je nach den Oberflächen-Verhältnissen 


504 C. Gegenbanr: 


des sehr häufig elliptischen oder unregelmässig ausgebuchteten 
Dotters verschieden gestaltet ist. Mit dem Auftreten von zahl- 
reicheren, stark lichtbrechenden Molekeln — den Dotterkörn- 
chen — gränzt sich eine äusserste Lage der Dottersubstanz 
durch geringeren Molekelgehalt von den inneren Theilen ab, 
und dies geschieht bei Vögeln wie bei Reptilien und Selachiern 
im Wesentlichen übereinstimmend (Fig. 8, 16e, 15c). Die 
Gränze kann zwar nicht als scharf bezeichnet werden, denn 
es liegen auch noch in der hellen Schichte immer einzelne Mo- 
lekel, und sie nehmen von aussen nach innen continuirlich zu, 
allein: die Schichte ist immer deutlich genug, um nicht als eine 
Täuschung angesehen zu werden, die etwa daraus hervorginge, 
dass man beim Einstellen des Focus auf die Peripherie des 
Eies hier immer auch einen weniger dicken und somit weniger 
Molekel enthaltenden Dottertheil vor sich habe. Alle darauf 
untersuchten Vögel liessen sie auch später noch an Eiern von 
verschiedener Grösse nachweisen. Bei der Weindrossel fand 
ich sie an Eiern von ?/,'' Durchmesser, beim Huhne ist sie 
sogar noch an Eiern von 2!/;—3‘“ deutlich sichtbar (Fig. 2e). 
Man kann sich dieselbe dann dadurch sichtbar machen, dass 
man einen Follikel durch Anstechen theilweise seines Inhalts 
beraubt, wo dann der eingefaltete Rand des Dotters der Beob- 
achtung leicht zugänglich wird. 

Es haben diesen hellen Saum auch Andere "beobachtet; so 
wohl H. Meckel, der ihn in einem Falle als Zona pellucida 
deutete (vgl. dessen Fig. 5d und Fig. 5*e). Auch Allen 
Thomson ist dieser Meinung gewesen. Seine Beobachtungen 
stimmen mit den meinigen bis auf die Angabe, dass der frag- 
liche Saum, einer Zona pellucida vergleichbar, in Eiern von 
1'' Durchmesser schon geschwunden sei. 

Ziehen wir die Dottermolekel in Betracht, so ist zunächst 
ein sehr differentes Grösse- und Mengeverhältniss bei den ein- 
zelnen Species auffallend, indem bei den Einen, z. B. bei Picus, 
Yunz, auch beim Huhne die Dotterkörnchen sehr früh schon 
relativ gross sind, und, dieht gelagert, durch ihre stark licht- 
brechende Eigenschaft den Dotter bei durchfallendem Lichte 
dunkel erscheinen lassen (Fig. 9), während bei Anderen, z. B. 


Ueber den Bau und die Entwickelung der Wirbelthiereier. 505 


beim Buchfink, Sperling, auch bei der Krähe, der Drossel und 
dem Bussard , feinere und weder so dicht gelagerte noch so 
stark lichtbrechende Körnchen die Dottermasse in den früheren 
Stadien weniger dunkel erscheinen lassen. Solche einfache 
Körnchen finden sich im primitiven Dotter aller Vögel vor. 
Dieser Zustand erscheint jedoch als ein bald vorübergehender. 
Eierstockseier- des Grünspechtes von !/,—?/,‘'' zeigen im Dotter 
zwischen ganz wenig Grundsubstanz zahlreiche Körnchen, die 
ein geringeres Refractionsvermögen besitzen, als nur um weni- 
ges kleinere, und in Eiern von !/,'' sieht man fast durchweg 
nur helle Bläschen dicht bei einander liegen, dazwischen nicht 
gar häufig ein dunkleres Körnchen. Haben sich die stark 
lichtbrechenden Körnchen aufgelöst und sind plötzlich hellere 
Bläschen an ihrer Stelle entstanden, oder gingen letztere nur 
aus einer Umwandlung ersterer hervor ? Die Beobachtung 
muss sich für den letzteren Fall der Alternative entscheiden, 
Die feinsten, im primitiven Dotter sich niederschlagenden Mo- 
lekel (Fig. 18a) wachsen in grössere Körnchen aus, und diese 
werden unter Zunahme ihres Volums und Abnahme ihres Re- 
fraetionsvermögens zu bläschenähnlichen Gebilden; diese finden 
sich dann um so häufiger, je mehr Erstere verschwinden. Die 
Continuität dieses Verhältnisses ist nicht schwer durch das 
Vorhandensein aller Uebergangsstufen nachzuweisen. 

Die einfachen Bläschen, wenn isolirt, völlig sphärisch, sonst 
polyedrisch comprimirt, sind gegen Wasser höchst empfindlich, 
bersten‘ rasch, indess sie während des früheren Zustandes in 
Wasser nicht verändert wurden. Sie erscheinen anfänglich 
homogenen Inhaltes, wasserklar. Aber bei nur um weniges 
grösseren Eiern trifft man auf Bläschen, deren Inhalt Molekel 
oder grössere Körnchen einschliesst (Fig. 15b). Man könnte 
versucht sein, zu glauben, dass diese Letzteren die von einer 
Membran umhüllten primären Dotterkörnchen seien, wenn man 
nicht fände, dass diese mit dem Auftreten der Bläschen ver- 
schwinden, und das Stadium der Bläschen ohne Inhalt zwi- 
schen jenem der blossen Körnchen und jenem der körnchen- 
haltigen Bläschen mitten inne läge. Die in den Bläschen zu- 
erst als feinste Molekel auftretenden Körnchen können daher 


506 C. Gegenbaur: 


nur als Neubildung gefasst werden, die innerhalb der Bläschen 
sich macht. Noch mehr wird diese durch die Thatsache be- 
stätigt, dass anfänglich nur ein Körnchen in einem Bläschen 
sich zeigt, und allmälig deren mehrere auftreten, so dass in 
einem späteren Stadium gegen 10 Körnchen und darüber von 
einem Bläschen umschlossen sind (Fig. 19). Dabei finden sich 
jene einfachen Bläschen und auch noch einzelne freie Körn- 
chen vor, so dass, wenn auch schon die bei Weitem vorherr- 
schende Form der Elementartheile in ein weiteres Stadium 
vorgeschritten ist, immer noch eine Neubildung der ersten An- 
fänge vor sich zu gehen scheint. In Dottern des Hühnereies 
von 2“! Grösse finden sich ausser spärlicher, fein moleculärer 
Grundsubstanz nur solche körnerhaltige Bläschen vor. Die Eier 
anderer Vögel bieten dasselbe bei entsprechender Grösse des 
Dotters. Die Körner sind von sehr verschiedener Grösse, meist 
ist eines die anderen weit übertreffend. Sie zeigen ähnliche 
Lichtbrechungsverhältnisse wie Fett, allein ihr Verhalten gegen 
Aether verbietet sie als Fetttröpfchen anzusehen. Bei Dottern 
von 2!/,' (vom Huhne) ist die Vermehrung der Körnchen in- 
nerhalb der Bläschen weiter gediehen, einzelne verhalten sich 
als ziemlich ansehnliche Tröpfchen (Fig. 19). 

Während bis jetzt die Dottersubstanz nach ihren Elementen 
als gleichartig bezeichnet werden kann, so tritt von nun an 
jener Scheidungsprocess ein, aus dem die weisse und die 
gelbe Dottersubstanz hervorgeht. Ein Theil der mehrfach 
erwähnten Bläschen bleibt in seinen allgemeinen Verhältnissen 
bestehen, und findet sich anfänglich vorzugsweise um das Keim- 
bläschen angehäuft. Er stellt am reifen Eie an den bekannten 
Stellen vorkommend den „Bildungsdotter“ dar. So lange das Ei 
vorzugsweise aus diesen Elementen besteht, erscheint es dem 
Auge immer heller, als später, grauweisslich, ja fast pellueid; 
so z.B. die Eier der Spechte, die, relativ am längsten (bis zu 
2‘'! Durchmesser), jene Dotterelemente wahren. 

Ein anderer Theil der Bläschen geht bezüglich seines In- 
haltes bedeutende Veränderungen ein. Die Körnchen und Tröpf- 
chen vermehren sich in ihnen beträchtlich, ohne dabei an- 
sehnliche Grössezunahme zu erfahren, ja es scheint sogar ein 


Ueber den Bau und die Entwickelung der Wirbelthiereier, 507 


Zerfallen der grösseren Tröpfehen in zahlreichere kleine statt- 
zufinden. Nur so lässt sich das Vorkommen der Letzteren 
erklären. Dabei verliert sich das starke Lichtbrechungsvermö- 
gen, wobei wohl auch eine Veränderung der homogenen Grund- 
substanz der Bläschen eine Rolle spielt. Bläschen mit mehr 
dunkeleontourirten Körnern und Tröpfchen enthalten häufig 
ausserdem noch eine verschiedene Zahl blasscontourirter, und 
erweisen so‘ den Zusammenhang der Erscheinung. Solche 
Bläschen messen beim Huhne 0,018 —.0,025‘'. Wiegen die 
helleontourirten Inhaltsbläschen (Fig. 3b) über die dunkleren 
Tröpfcehen vor, so ist zugleich die Färbung des Gesammtbläs- 
chens verändert, sie erscheint gelblich. Mit der Vermehrung 
der immer zahlreicher aber auch immer feiner werdenden In- 
haltsbläschen, die man jetzt wieder als Körnchen bezeichnen 
kann, entstehen jene Dottertheile, die den grössten Theil des 
reifen Vogeleidotters zusammensetzen (Fig. 4), nämlich die 
gelbe Dottersubstanz, oder der Nahrungsdotter. Der Nach- 
weis, dass die Elemente .des gelben Dotters aus einer Umwand- 
lung des früher vorhandewen weissen hervorgeht, ist wiederum 
durch die leichte Auffindung von Zwischenstufen begründet, so 
dass sich von dem einfachen Molekel an, durch die 
Bläschen ohne Inhalt, Bläschen mit Inhalt, bis zu 
den, feime Körnchen in dicht gedrängter Menge ent- 
haltenden Elementen des gelben Dotters eine conti- 
nuirliche Formenreihe zieht. — Die gelben Dotterbläs- 
chen sind zarter als ihre Jugendzustände. Das ganze Bläschen 
befindet sich in einem halbfüssigen Zustande; sie liegen so 
dicht bei einander, dass sie sich polyedrisch pressen (Fig. 3), 
und nur isolirt nehmen sie die rundliche oder ovale Form an, 
können dann aber auch leicht sich ausziehen, in längere Stras- 
sen ausfliessen, wobei dann einzelne Portionen sich wieder zu- 
sammenballen können, 

Die auch von Leuckart (l..eit. S. 793) erwähnte Bildung 
der Elemente des gelben Dotters aus Umwandlung des eine 
Zeit lang allein vorhandenen weissen Dotters ist an kein be- 
stimmtes Grössestadium des Eies gebunden, und bald zeigten 
kleinere Eier schon intensiv gelbe Färbung des Dotters, ‚und 


508 ©. Gegenbanur: 


die mikroskopische Untersuchung wies die erwähnten Elemente 
nach, bald waren um vieles grössere Eier derselben Vogelspe- 
cies noch pellucid oder nur schmutzig gelb gefärbt, und es war 
dem entsprechend auch die Umwandlung der Dotterelemente 
noch wenig vorgeschritten. Beim Huhne war das Grössemaxi- 
mum der über jenen Vorgang schon hinaus getretenen Eier in 
einem Durchmesser von 4—4!/,‘'! gegeben. 

Bezüglich des Ortes, an dem zuerst die Umwandlung er- 
folgt, ist es mir sehr schwer geworden, etwas Bestimmteres 
auszumitteln, und erst vielfache Versuche an verschieden prä- 
parirten Dottern liessen mich zu dem Resultate gelangen, dass 
es anfänglich eine der Peripherie zunächst gelegene Schichte 
ist, in der jener Vorgang erscheint; von da an greift er immer 
tiefer gegen die das Keimbläschen umgebende weisse Dotter- 
masse. Dabei vergrössert sich der gesammte Dotter, und um 
das Keimbläschen herum findet eine fortlaufende Neubildung 
der jüngeren Formen statt, die da, wo sie an die schon gebil- 
dete gelbe Dotterschicht gränzen, immer wieder in den Um- 
wandlungsprocess eingehen. Aus diesem Vorgange erklärt sich 
zugleich der Bau des reifen Dotters. | 

Während bei fast allen der untersuchten Vögel die Verän# 
derung der Dotterelemente anfänglich ganz continuirlich durch 
den gesammten Dotter vor sich geht, fand sich beim Wende- 
halse eine hiervon abweichende Eigenthümlichkeit. Bei Eiern 
von ?/;—1!/2“ Durchmesser bemerkt schon das blosse Auge 
durch den ziemlich pelluciden Dotter ein weisses Pünktchen 
hindurchschimmern, und das Mikroskop lehrt es als einen fast 
scharf umschriebenen runden Fleck kennen, der von einem 
Haufen dicht bei einander gedrängter Körnchen herrührt, jenen 
ähnlich, die anfangs in der ganzen Dottersubstanz auftreten. 
Der Fleck nimmt nahezu die Mitte des Dotters ein, oder liegt 
doch nur wenig excentrisch; mit dem Keimbläschen hat er 
keine Beziehung, denn dieses liegt immer entfernt von ihm. 
Um diesen Klumpen grösserer Körnchen, der in einer ganzen 
Reihe untersuchter Wendehalseichen niemals fehlte, wenn auch 
seine Grösse variabel war, lagert feinkörnige Dottersubstanz, 
in welcher wiederum jene grösseren Körnchen, jedoch nur zer- 


Ueber den Bau und die Entwickelung der Wirbelthiereier. 509 


streut, vorhanden sind, und so um den compacten Central- 
klumpen eine Art von Hof bilden, der, bei durchfallendem 
Lichte betrachtet, nach der Peripherie zu an Intensität der Fär- 
bung abnimmt. Fasst man den Centralklumpen näher in’s Auge, 
so findet man, dass die groben Dotterkörnchen nur eine Rin- 
denschichte darstellen, indem sie eine fein molekuläre oder fast 
homogene Masse umschliessen. Das Ganze ist sehr resistent, 
weicht selbst dem Drucke nur langsam, und kann nur gewaltsam 
in !einzelne Stücke getheilt werden. Was die Bedeutung die- 
ses constanten Gebildes angeht, so bleibt mir wenig darüber 
zu sagen. Offenbar gehört es in die Reihe jener Bildungen, 
die als „Dotterkern“* bezeichnet wurden, wie sie v. Wit- 
tich, v. Siebold und V. Carus bei Spinneneiern beobachtet 
haben. Von Letzterem, wie von Cramer (Müllers Archiv, 
1848) und Ecker (Icones physiologicae) sind sie auch für das 
Froschei erwiesen. Victor Carus (Zeitschr. f. wiss. Zool. 
Bd. I, S. 104) lässt beim Frosche die Entstehung der Dotter- 
masse aus jenem Dotterkern durch allmälige Ablösung seiner 
peripherischen Schichten hervorgehen, und auch in dem von 
mir beobachteten Falle dürfte kaum etwas anderes übrig blei- 
ben, als ihn auf ähnliche Weise zu deuten. Es würde so die 
Bildung der Dotterkörnchen in der Corticalschichte jenes feste- 
ren Kernes erfolgen, und von da aus würden sie sich allmälig 
durch den Dotter vertheilen. Was nach aussen von der Rin- 
denschichte sich ablöst, wird durch neue, darunter entstandene 
Körnchen ersetzt. 

Wenden wir uns zu der Frage, als was denn die mannich- 
faltigen, meist als Bläschenbildungen auitretenden Dotterele- 
mente des Vogeleies zu betrachten seien, so müssen wir zu- 
nächst jener Vorstellung begegnen, die ihre Bildung von Seite 
des Follikelepithels ausgehen lässt. Ich glaube, dass die ge- 
schilderten Thatsachen : das Entstehen der Formbestandtheile 
des Dotters im Inneren, die bis weit in das Stadium des Auf- 
tretens des gelben Dotters bestehende molekel- oder körnchen- 
freie äusserste Dotterschichte , die immer eine continuirliche 
Abgränzung für das gesammte Ei bildet, genügen werden, die 
genannte Annahme zu widerlegen. Diese Thatsachen berichti- 


510 C. Gegenbaur: 


gen aber zugleich auch jene Meinung, nach welcher die ge- 
sammten Dottertheile „Zellen“ seien. In der That, ausser 
der oberflächlichsten Aehnlichkeit mit Zellen, wie sie bei allen, 
vorzüglich aber beiden durch Haptogenmembranbildung entste- 
henden Bläschen vorhanden ist, besteht keine einzige Eigenschaft, 
die jene Bildungen als Zellen deuten liesse. Molekel wachsen 
zu grösseren Körnchen heran, diese vergrössern sich, bilden 
sich unter beständiger Volumzunahme zu Bläschen um, in wel- 
chen von Neuem solidere Producte entstehen, die unter Mas- 
senzunahme sich in feinere Körnehen auflösen. Solche erfüllen 
dann dicht die relativ grossen Formbestandtheile des gelben 
Dotters. Die nicht in das letztere Stadium übertretenden Bläs- 
chen mit nur einigen stark lichtbrechenden Körnern oder Tröpf- 
chen, bilden den weissen Dotter. Was man bei ganz ober- 
flächlicher Betrachtung als Kern bezeichnen könnte, das zu 
gewissen Zeiten in den hellen Bläschen vorhandene festere 
Gebilde, ist in Form, Zahl und Grösse unendlich variabel, erst 
fehlt es, dann, wenn eines aus dem Wachsthume eines Molekel 
sich heran gebildet, bleibt es nur selten auf längere Zeit allein, 
denn bald treten daneben mehrere auf, die dann in der Bil- 
dung des gelben Dotters wieder in zahllose feine Granula sich 
umbilden. So zeigen diese Theile das gerade Gegentheil von 
den Eigenschaften, die man von einem Zellenkerne beanspru- 
chen darf. 

Bei den Reptilien ist die Entwickelung und Zusammen- 
setzung der Dottersubstanz kaum anders als bei den Vögeln. 
Meine Untersuchungen erstreckten sich hier auf Emys euro- 
paea, Alligator lucius, Lacerta agilis und Coluber natrix. Für 
Emys kann ich das, was in Agassiz’s Werk von Clark über 
das Schildkrötenei angeführt wird, soweit es reine Thatsachen 
sind, fast völlig bestätigen, und will, da so umfangreiche 
Untersuchungen und das kleinste Detail erläuternde Abbildun- 
gen vorliegen, nur bemerken, dass von dem den Dotter zu 
äusserst umgebenden Epithel, der sogenannten Embryonalmem- 
bran, mir Nichts vorgekommen ist. Was die Deutung der 
Dotterelemente angeht, so ist schon aus der in genannter Ab- 
handlung gegebenen Darstellung zur Genüge evident, dass es 


Ueber den Bau und die Entwickelung der Wirbelthiereier. 511 


sich da ebensowenig um „Zellen“ handelt, als beim Dotter des 
Vogeleies, wie auch die Ergebnisse meiner Untersuchungen mich 
zu demselben Urtheile führten, wie es vorhin für den Vogel- 
dotter ausgesprochen ward. Die homogenen Dotterkörnchen 
entwickeln sich im Schildkröteneie ebenso zu bläschenartigen 
Bildungen, diese lassen dann in sich festere Producte, die so- 
genannten Dotterplättchen (Olark’s Mesoblasten) entstehen und 
diese bilden dann unter Vermehrung und mit neuen Differen- 
zirungen im Inneren (woraus die Entoblasten und Entostho- 
blasten hervorgehen), der Inhalt der Dotterbläschen. Die fe- 
steren Doitterplättchen erscheinen zugleich als eine Eigenthüm- 
lichkeit der Schildkröteneier. 

Was die Eier des Kaiman betrifft, so schliessen sich diese 
bezüglich der Dottersubstanz mehr an die Eier der Vögel an. 
In den beobachteten kleinsten Follikeln (von 0,02‘) ist das 
äusserst feinkörnige membranlose Protoplasma des Dotters von 
der Epithelschichte des Follikels unmittelbar umgeben und erst 
bei Eiern von 0,08—0,15'' beginnt mit dem Auftreten grösse- 
rer Körnchen die oben bei den Vögeln ausführlicher beschrie- 
bene Randschichte sich zu differenziren. Die Vermehrung der 
Dottermasse scheint nun eine längere Zeit hindurch stattzu- 
haben, ohne dass die Körnchen sich weiter bilden. Eier von 
!/;—1"' im Durchmesser bestehen noch vorwiegend aus fast 
homogener oder äusserst fein moleculärer Grundsubstanz, die 
undurchsichtig und trübe erscheint, und nur spärliche grössere 
Körnchen enthält. In Eiern von 2'' Grösse zeigen sich neben 
den Körnchen noch Bläschen, die von nun an bis zu 0,006 
bis 0,008 wachsen, und im Inneren völlig homogen sind. 
In wenig grösseren Eiern treten im Bläscheninhalte Körnchen 
auf (Fig. 11d.a), oder auch secundäre Bläschen, die durch 
geringere Lichtbrechung von den Ersteren unterschieden sind. 
Von da aus lassen sich die Theile der Dottersubstanz leicht 
in die späteren Zustände des Eies verfolgen. Die grössten 
Eierstockseier, die ich untersuchen konnte, maassen ?/,' im 
Durchmesser, waren von schmutzig-gelber Färbung, und der 
Dotter hatte dieselbe Consistenz, wie jener vom Vogeleie. Die 

Dottermasse bestand bei nur spärlicher Grundsubstanz fast ganz 


“ 


512 " C. Gegenbaur: 


aus 0,015 — 0,035! grossen Bläschen (Fig. 11b.e). Dazwi- 
schen fanden sich kleine Tröpfehen und Körnchen,, die ich 
als Inhalt zerstörter Bläschen, nicht als frei zwischen letzteren 
vorkommende Theile annehmen muss. Dieselben Formelemente 
fanden sich nämlich beständig auch innerhalb der Bläschen, 
sie messen 0,001—0,006‘', und zeigen einen Stich ins Gelbliche. 
Ausser den gefüllten Dotterbläschen kamen noch solche vor, 
die homogenen Inhaltes sind, oder nur vereinzelte, stark licht- 
brechende Tröpfchen enthielten. 

Dieselbe Umwandlung der Molekel und Körnchen des pri- 
mitiven Dotters in Bläschen, in denen zum Theil wieder neue 
Formbestandtheile entstehen, ist auch bei der Eidechse und 
Natter zu beobachten. Die untersuchten kleinsten Eierstocks- 
eier dieser Thiere, von 0,04—0,06”' messend, besitzen ein völlig 
homogenes Protoplasma, in dem der vorhin beschriebene Vor- 
gang beginnt und zu dem nämlichen Ziele führt. 

Was endlich die Eier der Selachier betrifft, von denen zu- 
erst Leydig (Beiträge z. mikrosk. Anat. der Rochen u. Haie. 
1852) ausführlichere Mittheilungen in histiologischer Hinsicht 
brachte, so habe ich Folgendes hervorzuheben: Bei Raja ist 
das an den kleinsten Eierstockseiern vorhandene Dotterproto- 
plasma schon durch seinen Reichthum an gröberen Körnchen 
ausgezeichnet, schliesst sich so an die Dotterverhältnisse der 
Vögel an, während bei Haien (Acanthias. Mustelus) der Dotter 
noch länger pellucid bleibt, oder durch Molekel doch relativ 
nur wenig getrübt wird. Eier von Acanthias von 1‘ Durch- 
messer enthalten im Protoplasma ausser feinen Körnchen und 
kleineren Bläschen (Fig. 20 a) auch noch grössere Bläschen, 
welche je ein fettartig glänzendes Tröpfchen umschliessen, 
Nicht selten ist dieses gedoppelt oder wie mit einem convexen 
Aufsatze versehen (Fig. 20b). Dass diese Gebilde nicht aus 
einer Theilung hervorgegangen sind, lehrt die vergleichende 
Betrachtung der einzelnen Formen, aus der sich nachweisen 
lässt, dass der Aufsatz durch allmälige Apposition hervorgeht. 
In Eiern von 2—3‘'! sind dieselben Bläschen, nur etwas grös- 
ser, vorhanden, das festere Körperchen ist gewachsen, und 
bricht das Licht sehr stark. Von nun an nehmen sowohl die 


Ueber den Bau und die Entwickelung der Wirbelthiereier. 513 


Bläschen, als auch ihr festerer Inhalt zu, und:letzterer erscheint 
mehr‘ würfelförmig, mit abgerundeten Kanten’ und Ecken, oder 
oblong; endlich sogar tonnenförmig; gestaltet (Fig. 20 c). Die 
Oberfläche ist völlig glatt und’ eben, die Masse vollkommen 
gleichartig, bald den grössten Theil des zartwandigen Bläschens 
erfüllend.. In Eiern von 4—5'" (Acanthias) beginnt ander 
Oberfläche ‚dieses Körperchens eine Furchung sich zu zeigen, 
die: schliesslich zu einer förmlichen Zerklüftung führt (Fig. 
20d.e.f), und damit gehen diese Gebilde in die im reifen Eie 
längst bekannten Formen der sogenannten „Dotterplättchen* 
über. Auch noch zu dieser Zeit ist die Membran des ursprüng- 
lichen Bläschens um das Dotterplättchen ‘vorhanden. Freilich 
verlieren ‘sie viele während der Untersuchung , so dass. es 
scheint, als‘ ob die Plättchen frei im’ Dotter lägen. Wo ich 
aber die Sache genauer nahm, fand ich, dass sie in den meisten 
Fällen sich nachweisen lässt und sorgfältig ausgebreitete und 
in einer Gummilösung vertheilte Dottermasse liess die Dotter- 
bläschen ‘unversehrt erkennen. Wie beim Vogel- und Repti- 
lienei' gezeigt ward, gehen auch beim Selachierei nicht alle 
Bläschen in das letzte Stadium über, in jenes nämlich, welches 
‚das einfache Körnchen in das Dotterplättchen umwandelt. : Am 
reifen Eierstockseie findet man um das Keimbläschen, und von 
da aus: noch über einer grösseren’ Strecke der Dotteroberfläche 
blasse‘, entweder völlig homogene ‚oder rundliche Körnchen 
umschliessende Bläschen vor, ‘dieselben Verhältnisse 'bietend, 
wie auf einer früheren Bildungsstufe des Dotters die gesamm- 
ten Formbestandtheile aufwiesen, so dass also auch hier die 
Bildung) des gelben und weissen Dotters innerhalb der gleichen 
Entwiekelungsreihe liegt, wie bei den Vögeln und Reptilien. 
' Von dem aus den vorstehenden Thatsachen sich ergebenden 
Gesichtspunkte aus können auch die von de Filippi (Zeitschr. 
f. wiss. Zool. Bd. X 8. 15) mitgetheilten ‘Beobachtungen »be- 
urtheilt werden. De Filippi hat dort‘ eine nähere Untersu- 
chung der Dotterkörperchen an Eiern von Coditis mitgetheilt 
und an diesen gezeigt, dass die von Radlkofer für Krystall- 
bildungen erklärten Gebilde nicht so’ angesehen werden könn- 
ten, womit ich, ‘soweit ‘dies meine Untersuchungsobjecte be- 
Beichert's u, du Bois-Reymond’s Archiv. 1861. 34 


514 = ultladı? 7 eb Bußöagenba uk: ! mb edel] 


rührt, ‚übereinstimmen zu können glaube. Anders verhält: es 
sich mit der Deutung der Dotterbläschen als Zellen. Es’ ist 
offenbar, dass, abgesehen von den Grösseverhältnissen zwischen 
den Eiern der Knochenfische und: der Selachier nicht jene Dif- 
ferenz im Baue besteht, wie man vermuthen möchte, Die 
ganze von de Filippi gegebene Darstellung der Dotterbläs- 
chen von Coditis stimmt so sehr mit dem, was ich an Sela- 
chiereiern sah, überein, dass es wohl erlaubt sein wird, diesel- 
ben Bedenken, die sich gegen die Zellnatur der Dotterelemente 
der Selachier erheben, auch gegen jene vom Cobitisdotter zu 
hegen. So interessant es ist, zu erfahren, dass die Dotter- 
körperchen von Cobitis mit einer Membran umgeben seien, wie 
jene bei den Selachiern, so wenig kann aus dem blossen Vor- 
handensein der Membran auf die Zellnatur geschlossen werden. 
Die Membran bedingt aber nur den Begriff des Bläschens, und 
ein Bläschen ist noch keine Zelle. Was nun die nicht: blos 
mit Kernen verglichenen, sondern als solche erklärten Körper- 
chen angeht, so sind gerade die wesentlichsten Eigenschaften 
des Kernes an ihnen nicht mit Bestimmtheit nachgewiesen, 
nämlich die Beziehungen zu einer Vermehrung, der sogenannten 
„Plättchenzellen“. Dass 2 oder 3 der Plättchen in ‚einem Bläs- 
chen vorkommen, braucht keineswegs aus einer Theilung eines 
ursprünglich vorhandenen einzigen abgeleitet zu werden, und 
ebensowenig ist ein zwingender Umstand vorhanden,, die Bläs- 
chen, die „wie im Anfange einer Theilung begriffen waren“, 
als wirklich sich theilende anzusehen. Wenn so Nichts: direet 
für die Bläschen als Zellen spricht, so spricht Manches dage- 
gen: ihre Beschaffenheit, namentlich in späteren Stadien, die 
ganz ungeheure , sonst nie vorhandene Unbeständigkeit der 
Form, und vor Allem die Unmöglichkeit, nach jener Auffas- 
sung auf eine unseren. jetzigen. Anschauungen angemessene 
Weise die Entstehung, dieser Elemente zu erklären. — | 

Dottermembran. . In den frühesten Zuskiiaela ist Er 
Vögeln, Reptilien und Selachiern (wie bei allen übrigen: Wir- 
belthieren) keine Spur einer Membran um den Dotter. wahr- 
zunehmen, und der Dotter stösst entweder unmittelbar. an ‚die 
Epithelschichte des Follikels , oder er ist durch einen, wie. es 


Ueber den Bau und die, Entwickelung der Wirbelthiereier. 515 


scheint, Flüssigkeit führenden ‚, niemals jedoch ‚beträchtlichen 
Zwischenraum. von jener ‚getrennt. ..Von der Oberfläche des 
Dotters kann man so das Dotterprotoplasma ohne jegliche Ab- 
gränzung, ‚bis. in; die Mitte des Dotters, verfolgen. ; Eine Ab- 
gränzung tritt in gewissem Maassstabe mit der Differenzirung 
der  äussersten Dotterschichte auf, deren schon oben für die 
Vögel mehrmals erwähnt wurde, und die auch bei den übrigen 
hier abgehandelten Wirbelthieren -deutlichst vorhanden ist. Mit 
der Vermehrung, der Dotterkörnchen, Bläschen u. s. w.: bleibt 
eine; peripherische dünne Schichte, ausser dem. Bereiche dieser 
Veränderungen , nur aus der ursprünglichen Grundsubstanz, 
dem eigentlichen Protoplasma des: Dotters, bestehen. Wenn 
auch in Continuität mit dem: übrigen Dotter, gränzt sie sich 
doch durch eine immer deutlicher und schärfer werdende Linie 
gegen den körnigen Ei-Inhalt ab, und wenn man auch anfäng- 
lich noch feinste Molekel in dieser Schichte bemerkt, so sind 
diese später nicht mehr vorhanden, so, dass Eier z. B. vom 
Huhne, von 22,,''! Durchmesser mit einer fast völlig homogenen 
Dotterumhüllung (Fig. 2c) versehen sind. _ Die Abgränzung 
gegen den Dotter hin ist weniger. scharf als jene nach aussen, 
so. :dass die auch von mir eine Zeit: lang gehegte Meinung, 
dass diese Schichte vom Follikelepithel abgesondert sein könnte, 
dadurch sich als irrig erwies. Auch bei den sorgfältigsten 
Präparirversuchen. stellt sich: die Membran höchst ‚schwer tra- 
ctabel heraus, und ist mir in diesem Stadium, ohne. dass Dot- 
tertheile daran blieben , nie darstellbar gewesen. Sie kann 
daher für jetzt nicht als eine völlig gesonderte Dotterhaut an- 
gesehen werden. Etwas ältere Eier, z. B. solche von 4—6‘'' 
vom Huhne, zeigten jene äusserste Schichte nicht: nur nicht 
mehr gegen den Dotter: zu abgegränzt, sondern zugleich von 
grösserer Resistenz. Von.da ab ist es klar, dass man es mit 
der Dottermembran zu thun hat, denn bis zur. völligen 
Reife, vermag man sie nicht nur leicht in allen Zwischenstufen 
zu verfolgen, sondern es geben sich auch sehr bald alle Eigen- 
schaften kund, wie sie an der Dotterhaut des reifen Eies sich 
zeigen. Als Unterschied der Membran bei Eiern von 5— 8!" 
Durchmesser _ von der Membran reiferer Eier kann ich nur 
34* 


516 C. Gegenbaur: “b adelg 


eine relativ grössere Dicke und das leicht erfolgende Aufquel- 
len beim Zusammenbringen mit Wasser hervorheben. "Ein 
Zerfallen in einzelne, wenn auch nur entfernt zellenähnliche 
Theile habe ich niemals gesehen und muss überhaupt die di- 
recte Betheiligung von Zellen, die H. Meckel auch hier in 
Anspruch nimmt, da er die Dotterhaut aus „verklebten Zellen“ 
entstehen lässt, auf das Bestimmteste in Abrede stellen. Eine 
andere Frage ist es, ob das Follikelepithel durch Abscheidung 
einer homogenen Schichte nicht mittelbaren Antheil nimmt und 
um die von Seite der äussersten Schichte des Dotters gebildete 
Membran nicht eine zweite Schichte absetzt, die dann mit 
Ersterer sich vereinigt. Ich hahe zwar, so sehr ich auch mein 
Augenmerk darauf richtete, Nichts gefunden, was mir directe 
Anhaltepunkte verschafft hätte, allein der Umstand, dass am 
reifen Eie des Huhnes die Dottermembran (abgesehen von der 
Chalazenhaut) aus zwei ganz deutlichen, ziemlich fest mit ein- 
ander verbundenen Lamellen besteht, lässt mich einige Be- 
denken tragen, die gesammte Membran von dem Dotter allein 
abzuleiten. Möglich ist jedoch immer, dass in der letzten Zeit 
die anfänglich bestimmt einfache, aus der äussersten Schichte 
des Dotterprotoplasma hervorgegangene Membran sich spaltet. 

Günstigere Beobachtungsobjecte für die Entwickelung der 
Dotterhaut finden sich unter den Reptilien. Ich hebe die 
Eier der Eidechse hervor. Die Differenzirung der Dotterhaut 
ist schon bei Eiern von 0,4"' deutlich, doch ist da die Gränze 
gegen den körnigen Dotter hin noch nicht bestimmt, und es 
besteht nur eine als zarter Randsaum auf dem Querschnitts- 
bilde erscheinende Schichte von homogener Beschaffenheit (Fig. 
13c). In Eiern von 1'" erscheint diese Schichte als ein 0,001" 
breiter Saum, in dem selbst das kleinste Molekel fehlt, und 
der beim Zerreissen durch das stattfindende Ausströmen der 
Dottersubstanz eine festere Beschaffenheit kundgiebt. Man sieht 
dabei, wie die äusserste Schichte, wenn man überhaupt bei so 
continuirlichen Dingen von einer Schichte sprechen darf, die 
resistenteste ist, und wie nach innen zu die gleichwohl noch 
homogene Masse an Resistenz abnimmt, indem Dotterkörnchen 
sich in sie eindrücken, oder gar Theile davon mit wegreissen 


Ueber den Bau und die Entwickelung der Wirbelthiereier. 517 


können. Auch bei den Eiern der Natter habe ich solches 

“ beobachtet (Fig. 15ec), und auch hier schon bei solchen von 
1“, besser bei 1!/,‘' grossen, die dicht unter dem Follikel- 
epithel liegende, nach innen continuirlich in den Dotter über- 
gehende ‚Membran gesehen. 

An 0,1—0,3'" grossen Eierstockseiern des Kaiman verhält 
sich der helle Saum ähnlich wie bei der Eidechse und Natter, 
doch ist er nicht so ganz molekelfrei, und es zeigen sich in 
ihm sogar einzelne Bläschen, so dass der allgemeine Eindruck 
nicht im dem Grade der einer Abgränzungsschichte ist, wie bei 
anderen Reptilien. Eier von 0,5’ zeigen ihn viel bestimmter, 
und er erscheint hier als eine den körnigen Dotter umgebende, 
völlig homogene Schichte. Aeltere Eier bieten ein eigenthüm- 
liches Verhalten dar. Schon solche von 1!/,' ergeben, dicht 
an dem: Follikelepithel‘ (Fig. 10b) , eine der vorerwähnten 
ähnliche homogene Membran von 0,004—0,006’' Durchmesser 
(Fig. 10e), und unter dieser noch ein besonderes, ganz scharf 
ausgeprägtes Stratum, welches bei mässiger Vergrösserung eine 
radiäre feine ‚Strichelung zeigt, heller ist als die nach innen 
gelegene Dottermasse, dunkler jedoch als die homogene äus- 
serste Umhüllung.  Stärkere Vergrösserungen lösen die feinen 
Striche in Contouren dieht bei einander stehender feiner Stäb- 
ehen auf. (Fig. 10 f), die ich mit nichts Besserem vergleichen 
kann, als mit den wimperartigen Stäbchen, in welche der Deckel 
mancher :Darmepithelialzellen zerfällt. Zuweilen, namentlich 
bei Flächenansichten (Fig. 10f'), hat es den Anschein, als ob 
zahlreiche feine Röhrchen oder Poren eine Membran durch- 
setzten. Profilbilder stellen dies jedoch nicht blos in Frage, 
sondern geben auch die Entscheidung für die Stäbchen ab. 
Diese zunächst der eigentlichen Dottersubstanz aufliegende 
Stäbchenschichte scheint von nun an einen bleibenden Bestand- 
theil des Eies auszumachen, sie findet sich ohne auffällige Ver- 
änderung noch an Eiern von 3''‘ Durchmesser und an noch 
grösseren Eiern, die ich, allerdings etwas spät (nachdem sie 
nicht mehr frisch waren), darauf untersuchte, habe ich wenig- 
stens noch Spuren davon bemerkt. Es dürfte sich nun um die 
Deutung dieser beiden Schichten handeln, und da möchte ich 


518 43 + N ir ©. Gegenbaur: i ef uf 457 


denn ‘die Stäbehenschichte 'als die aus dem Dotterprotoplasma 
hervorgegangene, der Dötterhaut der übrigen Reptilien analoge 
Schichte ansehen, während die homogene äussere (Fig. 10e) 
mehr äls Eiweisshülle, der Zonä pellueida des Säuge- 
thiereies gleich, sich darstellt. - Dass sie nicht aus dem 
hellen 'Randsaum des Dotters hervorgeht, also nicht jenen der 
Vögel, der Eidechse ‘und der 'Natter gleich zu’ erachten 'ist, 
schliesse ich daraus, dass sie wie bei Eiern von 1“‘ Durch- 
messer, wo sie um vieles dünner erscheint, schon von der hel- 
len Randschiehte des Dotters durch eine deutliche Contour ge- 
schieden ist, auch zeigt sie’in späteren Zuständen eine entschie- 
dene’Schichtung, und löst sich bei’ Eiern 'von 2 -5' sehr leicht 
von der Stäbehenschichte streckenweise ab. | 
Was (die Eier der 'Selachier hinsichtlich der Dotterhaut’an- 
Be so'ist auch hier wieder die Differenzirung einer Rand- 
schichte äusserst deutlich (Fig: 16 c); später, bei Raja an Eiern 
von 1-2, erscheint dann eine homogene Membran, die durch 
eine ganz zarte Contour nach aussen , durch eine sehr scharfe 
jedoch nach innen abgegränzt ist, und so nicht continuirlich in 
die Gränzschichte des Dotters überging. Bei Acanthias (Fig. 
16 e) erreicht sie eine’sehr ansehnliche Dicke, und misst bei 
Eiern von 4-5‘ 0,08" im Durchmesser. Ausser dieser schon 
von Leydig"als Eiweissschichte angeführten Membran habe 
ich bei Acanthias keine zweite Hülle bemerkt, und dicht unter 
ihr fand ieh: immer''die Substanz des Dotters, die’ nach innen 
zu’ immer: grössere Körnchen und Bläschen 'aufwies. Es: liegen 
hier'wohl bei den Selachiern andere Verhältnisse vor ‘als bei 
den‘ Vögeln und Reptilien, und eine Dotterhaut, wie sie dort 
von Seite des Dotters durch Umwandlung seiner peripherischen 
Schichte zu Stande kam, kommt hier wohl nicht vor, sondern 
der Dotter bleibt auf dem früheren Stadium der Differenzirung 
bestehen, dagegen bildet sich eine Hülle von aussen her, wozu 
wahrscheinlich die Zellen‘ des Follikelepithels das Material ab- 
scheiden, wenn man den Vorgang der Bildung jener Membran 
nicht auf die Oberfläche des Dotters selbst verlegen will. —: 
b) Keimbläschen,: Unter 'allen Theilen‘ ‘des primitiven 
Eies erleidet das'Keimbläschen die ‘geringsten Veränderungen. 


Ueber den Bau und die Entwickelung der Wirbelthiereier. 519 


Bei Vögeln, Reptilien und Selachiern liegt es anfänglich, wie 
auch’ Andere dies schon angegeben haben, mitten im Dotter- 
protoplasma. Dass es zu diesem sich als Kern verhält, bedarf 
wohl keiner näheren Begründung mehr. Bei den Vögeln nimmt 
es eine excentrische Lage ein, sobald eine reichlichere Körn- 
ehenbildung im Dotter Platz greift (Fig. 8.k.k), und dann 
wird es’ ganz oder theilweise in seinem Umfange von Dotter- 
körnchen bedeckt und entzieht sich so zuweilen dem Auge. 
Eine 'ganz auffallend excentrische Lage habe ich bei Eiern 
vom Buntspechte gesehen. Die dunkle Körnermasse des Dot- 
ters umgab ?/, des Keimbläschens, und mit dem freien Theile 
stiess es nahe an die Oberfläche des hier fast körnerlosen Dot- 
terprotoplasma. Diese Lagerungsweise, die ganz beständig 
vorkommt, ist kein für sich stehendes, unwesentliches Factum, 
denn sie zeigt hier die selbständig und unabhängig vom Keim- 
bläschen vor sich gehende Bildung der Formelemente des Dot- 
ters, ähnlich wie es (noch auffallender) beim Wendehalse vor- 
kommt und oben angezeigt wurde. Der Inhalt des Keim- 
bläschens ist beiallemuntersuchten Gattungen, ohne 
Spur von sogenannten „Keimflecken*, völlig homo- 
gen. Er erscheint als eine zähe Flüssigkeit, in der nur bei 
nicht mehr frischen Eiern feine Krümel oder Körnchen als 
Niederschläge vorkommen. Erst später treten constanter festere 
Theile auf, doch zeigen hierin die einzelnen Vogelgattungen 
manche Verschiedenheiten. Beim Wendehalse findet man in 
1a" grossen Eiern durch das ganze Keimbläschen zerstreute 
Punkte, die sich auf unregelmässige Gruppen vertheilen kön- 
nen, oder, wie ich mehrmals sah, in fast spiralig gewundenen 
Figuren zusammenreihen. Die Membran des Keimbläschens 
ist hier schon deutlich doppeleontourirt, ebenso bei ?/,"' 
grossen Eiern des Grünspechtes. ‘Auch hier fehlen wirkliche 
Keimflecke später noch, und dasselbe muss ich vom mittleren 
Buntspechte und vom Huhne behaupten, obgleich Ecker von 
letzterem aus einem frühen Stadium sogar den Keimfleck ab- 
gebildet hat: (vergl. Icones physiologicae Taf. 22 Fig. V g.). 

Bei Hühnereiern habe ich 'von der ersten Anlage bis zu einer 
Grösse von 3''' niemals etwas’ derartiges sehen können, wenn 


520 «sis: cr ro Areigenbauss has ml nah acer 


das Ei .aus dem ‚eben. erst, getödteten Vogel genommen: ward: 
Trübungen, Granulirung etc., partielle wie: totale, sind dagegen 
an.'den Eiern ‚schon länger‘ getödteter: Thiere ‚äusserst. häufig 
und: mannichfach ‚vorhanden. —. Eine andere Abtheilung von 
Vögeln. besitzt im Keimbläschen, wie. es’ schien, ‚ganz normal 
festere Elemente. Ich habe'solche beim Buchfioken, Sperling, 
und ..bei der Weindrossel: gesehen. . Beim Buchfink ‚und: Sper- 
ling; ‚waren sie dem; von-Meckel dargestellten ähnlich, 10-20 
kleine helle. Bläschen ‚zwischen denen. äusserst zarte Molekel 
sich finden... Die, der Weindrossel waren äusserst zahlreich, 
und |ünenädlieh. zart: :: In beiden »Fällen. waren sie durch die 
gesammte' Masse des: Keimbläschen-Inhaltes vertheilt.: : Wegen 
dieses Fehlens ‚bei den Einen und: Vorkommen bei den Anderen, 
sowie.in Betrachtnahme des. beständigen Fehlens in den frühe- 
sten Stadien, und. 'der variablen Formen, möchte ich vorläufig 
all.diese sogenannten Keimfleckbildungen nur als'gewisse Form- 
zustände eines Theiles des Keimbläschen-Inhaltes ansehen und 
ihnen ‚durchaus keinen höheren Werth, etwa. für, die Leitung 
der Lebensvorgänge im Keimbläschen, oder gar im. Eie,-bei- 
messen. IuıE 
‚Die folgenden Yorändläiunden des Kleinihlädohens schien 
nur in: einer Grössezunahme und einem Diekerwerden seiner 
Wandung, und so kann man:dies Gebilde bis in den Zustand 
im;reifen Ei verfolgen. 1. air 
: Für: die Reptilien. habe ich nur weniges anzuführen. In 
jüngeren » Eiern liegt ‚das: Keimbläschen wie: bei den. Vögeln 
mehr nach. der Mitte des Eies zu, und rückt wie dort allmälig 
an. die Oberfläche heran, so dass es am reifen Eie fast.dicht 
unter der Dotterhaut zu’ finden ‚ist, umgeben von- einer; Lage 
der oben erwähnten Elemente, des weissen Dotters... Natter, 
Eidechse und Kaiman verhielten sich hierin gleich. Bei Letz- 
terem besitzt es schon: in Eiern von 0,5—-0,6“!) sehr: deutliche 
Doppelcontouren, es misst :hier 0,08—0,11‘'.- Nach: innen:ra- 
gen von'der Wand 30—50. kurze konische Zapfen, die bei 'der 
Fläechenansicht sich! wie runde ‚Bläschen darstellen (Fig. 12), 
und als.einfache, strueturlose ‘Verdickungen der Wandung er- 
scheinen. Die gleichen ganz den; Gebilden , die H. Meckel 


Ueber den Bau und die Entwickelung der Wirbelthiereier. 521 


vom, Keimbläschen des Cyprinvs. auratus beschrieb, und die 
ähnlich auch bei den Batrachiern vorkommen, und wohl eher 
als constante Gebilde angesehen werden dürfen, als die viel- 
fach variirenden Klümpchen und Körnerhaufen, die im Inneren 
des Keimbläschens zuweilen sich vorfinden. können. Diese 
Keimbläschenpapillen gehören nicht der Wandung; des Keim- 
bläschens. ‚gleichmässig an, sondern sind. Wucherungen einer 
inneren Lamelle derselben, die ich bei 0,1—0,3‘'" grossen Bläs- 
chen immer. zweifellos unterscheiden konnte. Sie wachsen und 
vermehren sich mit der zunehmenden Grösse des Bläschens, 
In den Eiern der Eidechse sind die „Keimflecke* ohne in- 
nigere' Beziehung zur -Wandung des Keimbläschens , sodass 
sie in jene Abtheilung, fallen, in der.auch. die Keimflecke meh- 
rerer Vögel stehen. | Es sind in der Regel 4—8 runde, meist 
nahe. bei einander liegende Bläschen von; 0,0012 — 0,0024! 
Grösse, zwischen denen meist noch körnige Masse: gelagert ist. 
Jüngere Eichen, , solche von 0,1—0,2' , zeigen Keimbläschen 
homogenen Inhalts, an älteren Eiern, wie solchen mit Keim- 
bläschen von 0,08—0,12‘'', waren bei sehr starken Vergrösse- 
rungen kleine , stets der Wand eng; angelagerte. Körperchen 
von 0,0005—0,0008‘', und ausser diesen feinen Elementen noch 
im Inneren einige Bläschen sichtbar, die mit den wandständi- 
gen in keiner Beziehung zu stehen scheinen. Ich möchte daher 
die feinen wandständigen für die eigentlichen, denen .des Kai- 
man gleichkommenden Keimflecke, das: übrige für;inconstante 
Inhaltsumwandlungen ansehen. Bei Coluber fehlen Keimflecke, 
und ‚unter den Selachiern habe ich bei Raja in keinem; Sta- 
dium bis zu Eiern von 8'' Keimfleckbildungen auffinden kön- 
nen. . Das Keimbläschen: (Fig. 16k) erschien ı frisch immer 
völlig wasserklar, und enthielt nur an nicht mehr ganz frischen 
Präparaten Trübungen oder wolkige Niederschläge, zuweilen 
sogar Körner oder kleine Bläschen, .die ich jedoch sämmtlich 
als Zersetzungsproducte ansehen: muss. Bei “Acanthiaseiern 
enthielt das Keimbläschen ebenfalls nie wandständige Keim- 
bläschen,, dagegen häufig frei im Inneren liegende Bläschen 
von verschiedener Grösse, oft sogar einen sphärischen Klum- 
pen formirend. Obgleich diese Gebilde selbst an frisch unter- 


522 side Vob BnGegenbäur, bu: 5 Wr 


suchten’ Keimbläschen sich vorfanden, möchte ich mich doch 
hüten, ihnen vorläufig irgend welche ber PEN 'bei- 
. | FDRRAOTER 
"Aus einer’ näheren Würdigung des KeimbläschenInhaltes 
dürfte also das zunächst hervorgehen, dass man als Keimflecke 
sehr verschiedene Dinge bezeichnet hat, und dass’ Keimflecke 
keineswegs zu den constanten Theilen des Eies gehören. Ein- 
mal sind es Verdickungen,, oder konische Wucherungen ‘der 
Wand des Keimbläschens, und dann sind es wieder freie Bläs- 
chen, 'Körnchen und dergleichen, diese jedoch immer in solchen 
wechselnden Zahlen- und Grösseverhältnissen, dass’ sie :wohl 
am wenigsten für die Lebensverhältnisse des Keimbläschens 
von Belang erscheinen, ünd, bis gewichtigere Thatsachen vor- 
liegen, als unwesentliche Dinge zu betrachten sind. "Dasselbe 
möchte ich auch von den wandständigen erachten, die'nur 
durch ‘die Regelmässigkeit ihres Vorkommens sich auszeich- 
nende Eigenthümlichkeiten. der Wandung des Keimbläschens sind. 


2. Vom Follikelepithel. 


Sowohl bei Vögeln, Reptilien und Selachiern, wie auch’ bei 
allen übrigen Wirbelthierabtheilungen in der ersten Entwicke- 
lungsstufe des Eifollikels, bildet das Epithel eine einfache Lage 
von Zellen rings um das Dotterprotoplasma. Bei den Vögeln 
zeichnet sich die gesammte Epithellage in den früheren Stadien 
durch die Helligkeit ihrer Zellen aus. Fast ganz  glashelle 
Epithelzellen besitzen Turdus, Picus und Yunz. Bei diesen, 
wie bei den anderen von mir untersuchten Gattungen sind die 
Epithelzellen anfänglich gleich hoch wie breit (Fig. 8b), die 
Kerne rundlich; Theilungszustände der Kerne wie der Zellen 
&ehören zu den häufigen Vorkommnissen‘). Die Grösse der 


1) Bei den gar nicht selten im Eierstocke des Huhnes beobach- 
teten Follikeln mit 2 Eiern (Fig. 8) setzt sich das Epithel» nie zwi- 
schen die beiden oe fort, sondern diese berühren: sich. dieht ‚mit 
einer verschieden grossen Fläche. Es giebt dies zugleich einen Be- 
weis dafür ab, dass die Oberfläche ‚des Dotterprotoplasma, schon hier 
sich membranartig verbalten muss, denn sonst würde ich keinen Grund 
sehen, wärum nicht ein Zusammenfliessen beider Dotter 'erfolgt, 


Ueber den Bau und die Entwickelung der Wirbelthiereier. 523 


Zellen: schwankt zwischen 0,004-—-0,007°, ‘Beim Bussard fand 
ich sie auch noch bei Eiern von 1/3], in der ursprünglichen 
Form, während sie beim Buchfink, beim Sperling (Fig. 1b), 
der Elster, der Krähe und beim Huhne (Fig. 2b) schon sehr 
frühe: deutlich‘ in die’ Länge gestreckt erschienen, so dass die 
gesammte Schichte durch ein schönes Cylinderepithel reprä- 
sentirt war.” Von der Fläche aus gesehen, stellt es ein zier- 
liches Mosaik vor. | gie 9 
'Die Verbindung der Epithelzellen scheint anfänglich mit 
der Follikelwand inniger zu sein als später; sie erscheinen hier 
auch abgeplattet, während die gegen den Dotter gerichtete 
Fläche der Zellen immer gewölbt ist. Bei allen Vögeln zeigt 
das Epithel lange prismatische Zellenformen, wenn der Dotter 
!/, des definitiven Durchmessers erreicht hat. Zugleich trübt 
sich damit der Zelleninhalt, 'und der Kern erscheint mehr läng- 
lich, ‘oval. Immer bleibt aber die Schichte einfach, 
und alle Theilungen der Zellen sind Längstheilungen. 
Unter den Reptilien fand ich beim'Kaiman in Eiern von 
24 eine einfache Lage niedrig’ cylindrischer Zellen vor (Fig. 
10'b), deren Länge die Dieke wenig übertraf. Die Kerne sind 
von ansehnlicher Grösse, alle'mit einem hellglänzenden Kör- 
perchen (Nucleolus!) versehen. Auch bei grösseren Eiern traf 
ich die Epithelschichte noch einfach, und immer zeichnete sich 
das Epithel durch inniges Zusammenhalten der Zellen aus, 
so' dass ‘grössere 'Stücke' der Lage "leicht für sich dargestellt 
werden konnten. ‘Mehr rundlichere Formen besitzen die Zellen 
bei der Eidechse (Fig.'13b), sie liegen zugleich‘ weniger re- 
gelmässig, so dass grössere und kleinere, nebeneinander vor- 
kommend, sich mehrfach übereinander schieben; bei Eiern von 
2'"! habe ich solche theilweise Mehrschichtigkeit des Epithels 
bestimmt gesehen. ‘Besonders ausgezeichnet sind die Kerne, 
die helle, einen grossen Theil der’ Zelle erfüllenden Bläschen 
darstellen, und erst bei’ Behandlung mit Essigsäure sich schär- 
fer abgränzen (Fig. 14). Hier, wie auch bei der Natter (Fig. 
15b), ist die eigentliche Zellmembran nur sehr schwer unter- 
scheidbar, ünd ohne Reagentien ist auch der Kern höchst un- 
deutlich sichtbar‘, 80 dass man leicht ein in jedem Kerne be- 


BA saw 55h & Gegenbaur: ! do 


findliches stärker lichtbrechendes Tröpfchen, das zuweilen: auch 
doppelt, vorhanden ist, für den Kern halten könnte... „> 
‚. Beiden Selachiern ist die einfache Epithellage jüngerer 
Stadien ‚durch‘ den körnigen Inhalt der Zellen ausgezeichnet, 
Die Zellen: sind platt, etwas breiter als dick. : Besonders auf- 
fallend ist dies bei Raja (Fig. 16 b). Grössere Eier, von.!/,'' 
an, zeigen cylindrische 'Zellenformen, jedoch bei weitem: nicht 
so regelmässig als bei den Vögeln. Die Cylinder sind von 
ansehnlicher Länge, und bilden auch kein ganz einfaches Stra- 
tum ‚.da, wie ich bei: Acanthias fand , zwischen einzelne, die 
Gesammtdicke durchsetzende, noch kürzere Zellen von Spindel- 
form sich 'einschieben (vgl. Fig..17b); das Verhalten der 'Epi- 
thelzellen hat: so einige Aehnlichkeit mit dem Bewripskn Darm- 
epithelien. | 
‚Ueber .die' ferneren Schicksale dieser Bpithelzellen: Habe ich 
ui Vogeleie einige nicht. unwichtige Thatsachen gefunden, 
Die Form .der Epithelzellen ‘besteht nämlich bis zur völligen 
Reife des'Eies nicht gleichmässig, fort, und: Eier, ‚die der. Reife 
nahe sind, besitzen im Follikelepithel keine langgezogenen Oy- 
linderzellen mehr, sondern solche, .die' entschieden kürzer und 
gedrungener gestaltet sind.. Man vergleiche die in Fig. 2b und 
Fig. 5. dargestellten Epithelzellen: vom Huhne; der Zelleninhalt 
ist: dabei trüber geworden, und ein vermehrtes Auftreten feiner 
Molekel macht ihn fast undurchsichtig, so dass inur,noch der 
Raum, den der Kern einnimmt, als. eine hellere Stelle.erscheint. 
Durch diese ‚Vorgänge erhält, die ganze Epithellage ein mehr 
weissliches, Aussehen. . Allmälig lockert. sich der. 'Zusammen- 
hang zwischen. den einzelnen Zellen, und. sie nehmen: ‚eine 
sphärische Gestalt an (Fig. 6), bis endlich unter Vermehrung 
der Körnchen :und mit dem’ "Auftreten der Fetttröpfehen die 
Zellen nur noch den Kern umgebende Körnchengruppen.:idar- 
stellen: (Fig. 7):  So.habe ich 'es beim Huhne continirlich.ver- 
folgt, auch beim Bussard und der Elster gesehen.  Der'ganze, 
zweifelsohne als Fettmetamorphose desFollikelepithels 
sich ‚herausstellende Vorgang, führt offenbar zu einer leichteren 
Trennung; des. Eies von dem Follikel, und muss als eine den 
Austrittdes Bies aus: der T:heca befördernde Erschei- 


Ueber den Bau und die Entwickelung der Wirbelthiereier. 595 


nung angesehen werden. Nach dem Austritte eines Eies be- 
merkt män’auch im Calyx jedesmal die Reste des Epithels als 
eine weissliche, rahmähnliche Masse, deren Elementartheile wie- 
der den obenerwähnten und Fig. 7 en ähnliche Körn- 
chenhaufen sind. e- | | in 

In wiefern dieser Vorgang eine weitere Verbreitung besitzt, 
namentlich "bei Reptilien und Selachiern sich findet, muss ’ich 
dahin gestellt sein lassen, soviel aber ist sicher, dass a priöri 
kein Grund besteht zur Annahme, dass bei dem gleich con- 
struirten Follikelinhalte dem Austreten des Eies auf eine andere 
als auf die genannte Weise Vorschub geleistet werde. Für die 
Selachier möchte ich nur das noch anführen, dass bei Eiern, die 
wegen ihrer Grösse sich als reife annehmen liessen, die langen 
Spindel- oder Oylinderzellen ausserordentlich weich und hin- 
fällig waren, so dass eine ähnliche en wie bei den 
Vögeln zu erwarten stand. | 

Ausser den Veränderungen des Epithels finden wir solche 
noch am Follikel. Es liegt nicht in meiner Absicht, alle die 
mit der Entwickelung des Eies am Follikei eintretenden Bau- 
und Gewebsveränderungen anzuführen, von denen ich vor Al- 
lem die Bildung grossartig erweiterter Capillarnetze und fast 
wundernetzartig geformter Venengeflechte zu nennen hätte, 
sondern ich will nur die dicht aussen am Epithel liegende 
Follikelschichte in Betracht ziehen. Bei allen Eiern aus jün- 
geren Stadien wird der Follikelraum durch einfach faseriges 
Bindegewebe abgegränzt. Sobald bei Vögeln die Bildung von 
Dotterbläschen erfolgt, ist nach aussen vom Epithel eine be- 
sondere Gränzmembran an der Bindegewebsschichte gebildet, 
die man zuweilen mit dem Eie aus dem Follikel lösen kann. 
Von einem ?/,“' grossen Sperlingseie habe ich in Fig. la diese 
Membran abgebildet, wie sie, an einer Stelle geborsten, das 
zum Theil noch von cylindrischem Follikelepithel umhüllte Ei 
austreten lässt. Auch bei der Krähe und dem Huhne habe 
ich sie gefunden, und sie dürfte wohl auch bei anderen nicht 
vermisst werden. Bei der Krähe ist sie nicht völlig structurlos, 
denn einzelne inregelmässigen Abständen lagernde spindelförmige 
Verdickungen nehmen sich ganz so aus wie eingelagerte Kerne. 


56 irre ” C. Gegenbaur: ss nah 1 


‘Mit-dem Wachsthume des Eies gewinnt die Gränzmembran 
an Dicke, und nimmt beim Huhne, wo ich sie genauer, verfolgt 
habe, ‚elastische Eigenschaften an, Amireifen Follikel erscheint 
sie mit einem Durchmesser von 0,0004 — 0,0005''.. ‚Sie ‚hängt 
da sehr fest und innig mit der Follicularwand zusammen, und 
bleibt nach dem Bersten der Theca im Calyx zurück, ‚wo: sie 
eine in zahllose bizarre Faltungen gelegte Membran bildet, die 
nicht schwer sich abpräpariren lässt. Ihre Färbung ist gelb- 
lich, ihre Elastieität leicht nachweisbar, ihre Dicke um’s,Dop- 
pelte gewachsen. Die elastische Beschaffenheit dieser Membran 
kann gleichfalls als ein die Ablösung ‘des Eies beförderndes 
Moment angesehen werden, wenn man sich vorstellt, dass sie 
von der Rissstelle aus über den Dotter hinweg sich gegen den 
Stiel der Theca zu zusammenzieht, und so die Wand des Fol- 
likels über dem Eie zurückzieht, wobei die schon in der Auf- 
lösung begriffene Epithelschichte der Lösung des Zusammen- 
hanges kein Hinderniss mehr setzt. 


. Wenn ich die Resultate vorstehender Untersuchung zusam- 
menfasse, so möchte ich sie in Folgendem wiedergeben: 


1) An der Zusammensetzung des Dotters der Eier mit par- 
tieller .Furchung betheiligen sich die Epithelzellen des 
Follikels in keiner Weise. Sie bilden vielmehr eine von 
der Oberfläche des Dotters scharf abgegränzte Schichte. 


2) Ebensowenig besteht zu irgend einer Zeit eine besondere 
Epithelschichte unter der Dotterhaut, | 
3) Der Dotter enthält niemals Zellen; die sogenann- 
ten „Dotterzellen“* sind nur Umbildungsproducte der 
schon sehr frühe vorhandenen Molekel und Körnchen. 
4) Der sogenannte „Nahrungsdotter* ist, das Product 'einer 
‚weiteren Entwickelung des Dotterbläschen ; der: soge- 
nannte „Bildungsdotter* wird durch jüngere: Dotterele- 
mente repräsentirt, die den früheren Zuständen. des. gel- 
.... ben Dotters entsprechen. 
5) „Keimflecke* können nicht als integrirende er er 
; des Eies betrachtet werden. 


Ueber den Bau und die Entwickelung der Wirbelthiereier. 527 


6) Die „Dottermembran* entsteht durch Umwandlung nor 
 » äussersten Schichte des Dotterprotoplasma. 

7) Die Eier der Wirbeltbiere mit partieller Furchung sind 
somit keine wesentlich zusammengesetzteren Gebilde als 
die der übrigen: Wirbelthiere, sie sind nichts. Anderes 

‚. als zu besonderen Zwecken eigenthümlich umgewandelte 

kolossale Zellen, ‚die aber nie diesen ihren Charakter 
aufgeben. — 

Dadurch wird der Gegensatz, den man zwischen. den 
Eiern der Säugethiere und Amphibien einerseits und. jenen 
der Vögel und Reptilien andererseits erhob, und von dessen 
Annahme auch ich mich nicht freisprechen ..darf, (vgl: meine 
Vergl...Anat. S. 593 Anmerk.), vollständig aufgehoben. Das 
Ei des Vogels ist, wie das eines Säugethiers, eine Zelle, die 
Keimzelle. Nur die Follikelverhältnisse sind etwas verschie- 
den, wenn sie auch ursprünglich bei Allen völlig gleich sind. 
Beim Säugethier wächst der Follikel, ohne dass das Eichen 
damit gleichen Schritt hielt. Es wuchert das anfänglich wie 
beim Vogel ete. einfache Epithelstratum und im Centrum ‚des 
Follikels entsteht ein mit Fluidum sich füllender Hohlraum. 
Das relativ klein bleibende Ei, das sich auch bezüglich seiner 
inneren Verhältnisse nur wenig von seinen frühesten Zuständen 
entfernt, bleibt der Wandung des Follikels nahe in die Epithel- 
schichte gebettet. Beim Vogel, Reptil und Selachier ist es die 
Epithelschichte, die bei ihren früheren Zuständen beharrt, zwar 
ihre Elemente etwas verändert, sie beträchtlich vermehrt, immer 
jedoch eine einfache Zellenlage darstellt. Dagegen wächst mit 
dem kolossal sich vergrösserndem Follikel gleichmässig das Ei, 
und seine Inhaltstheile sind es, die Veränderungen eingehen, 
aus Körnchen zu Bläschen werden mit vielfältig ‘verschiedenen 
Contenten. Vermittelnd zwischen. beiden Formen halten sich 
Knochenfische und Amphibien, bei denen weder. jene mächtige 
Vergrösserung der Eizelle, noch jene ige des Follikel- 
epithels gegeben ist. 

Aber der Furchungsprocess, die erste Bildung der Ecibryo. 
nalzellen, ist doch in beiden Abtheilungen so beträchtlich ver- 
schieden? Bei der Einen wird das ganze Eimaterial in Zellen 


598 isicadiW ob ag Gegenbaur: 


zerlegt, bei der anderen nur ein relativ sehr geringer Theil, 
indem die an der Oberfläche von der gesammten Eizelle sich 
abschnürenden Zellen gegen die Masse des zusammenbleibenden 
Dotters unansehnlich ist. Diese bis jetzt nur beim Huhne durch 
Coste und bei den Schildkröten durch Clark in Agassiz’s 
Werke bekannt gewordene partielle Dottertheilung ist jedoch 
keineswegs so sehr gegen die totale contrastirend. Man kann 
sagen, dass wir auch hier, wie so oft, die Extreme vor uns 
haben, und’ dass die Folgezeit die Verbindungen, die durchaus 
nicht ausserhalb des Reiches der Wahrscheinlichkeit liegen, auf- 
decken wird. Etwas Vermittelndes ist schon längst bekannt, 
es findet sich in dem Furchungsprocesse ‘des Amphibieneies. 
Wir sehen da die eine, kleinere Hälfte des Eies in rascherer 
Theilung, energischer im Aufbaue von Embryonalzellen begrif- 
fen als die andere grössere Hälfte, die mit ihren Segmentatio- 
nen nur langsam folgt, und schliesslich von der ersteren über- 
wachsen wird. So ist es auch bei Peiromyzon durch Max 
Schultze bekannt geworden. Die rascher sich in: kleine 
Zellen umwandelnde Partie des Eies stellt offenbar den soge- 
nannten Bildungsdotter des Vogel- u. Reptilieneies vor, die an- 
dere entspricht dem Nahrungsdotter, und so kann selbst auf 
dem Böden der bis jetzt bekannten Thatsachen das Band zur 
Vereinigung jener beiden Extreme zu einer 'einzigen continuir- 
lichen Reihe gefunden werden. | 


Tafel-Erklärung. 


Fig. 1. . Eierstocksei von °/4‘‘ vom Sperling. a Gränzmembran 
des Eifollikels, b Follikelepithel, ce Dottersubstanz, k Keimbläschen. 
Die Gränzmembran ist geborsten und lässt das Ei sammt Follikelepi- 
thel austreten. Der Epithelialüberzug ist gleichfalls an einer Stelle 
gerissen, und da drängt sich ein Theil des Dotters mit dem Keimbläs- 
chen vor (schwache Vergrösserung): 

Fig. 2. Von einem Eie von 21/2‘ Durchmesser ‚vom Hata, 
b Follikelepithel, c heller Saum, der zur Dottermembran wird, d Dotter. 

‘ Fig. 3. Elemente des Dotters eines 4 grossen he Die 
mit vielen Körnchen und Bläschen ausgestatteten Dotterbläschen sind 
gelblich ‘gefärbt, die übrigen pellucid. | 


Ueber den Bau und die ‚Entwickelung der Wirbelthiereier. 529 


Fig. 4. Gelbes Dotterbläschen aus einem grösseren Eie (Huhn). 
Fig. 5. Epithelzellen eines Eies von 8‘ Durchmesser (Huhn), 
Fig. 6. Epithel von einem reifen Follikel. 

Fig. 7. Epithelzellen in der Rückbildung. 


Fig. 8. Follikel mit doppeltem Dotter (Huhn). a Bindegewebe 
des Eierstocks, b Epithel, c heller Rand des Dotterprotoplasma, K 
Keimbläschen. 

Fig. 9. Eierstocksfollikel vom Wendehalse ohne Ei. 

Fig. 10. Durchschnittsbild von der Peripherie eines Eies vom 
Kaiman. b Epithel des Follikels, e Eiweissschichte, d Dotter, f Stäb- 
chenschichte ; bei f’ schräg von der Fläche gesehen. 

Fig. 11. Dotterelemente des Kaiman. a, b, c, d verschiedene 
Bläschenformen des Dotters. 

Fig. 12. Keimbläschen von einem 0,4’ grossen Bie des Kaiman. 

Fig. 13. Durchschnittsbild eines Theiles der Peripherie eines 1‘ 
grossen Eies der Eidechse, b Epithelzellen, d Dotter, e Dotterhaut. 

Fig. 14. Epithelzellen von demselben nach Behandlung mit Essig- 
säure. k Kern, k’ Glänzendes Körperchen. Ä 

Fig. 15. Durchschnittsbild von der Peripherie eines !/2''' grossen 
Eies der Ringelnatter. b Epithel des Follikel, ce äusserste fast 
körnchenfreie Dotterschiehte, bei ec‘ in die Lücke der Epithellage vor- 
dringend. 

Fig, 16. Eifollikel vom Stachelrochen. a, b,rc, d, e wie bei 
Fig. 8. 

Fig. 17. Durchschnittsbild von der Peripherie eines 3'' grossen 
Eierstocksfollikel vom gemeinen Dornhai. a, b, d wie bei Fig. 8. 
e Eiweissschichte. * 

Fig. 18. Dotterelemente eines 1’ grossen Eies vom Huhne. 
a Körnehen, mehr peripherisch gelegen, b Bläschen mit Körnchen- 
Inhalt. 

Fig. 19. Dotterelemente eines 21/2” grossen Eies vom Hubne. 

Fig. 20. Dotterelemente vom Ei des Dornhai. a von einem 
1“ grossen Ei, b von einem 31/2‘! grossen, c von einem 9 grossen 
Eie, d, e, f Dotterplättchen in verschiedenen Zerklüftungszuständen 
von einem reifen, Eie. 


Jena, den 16. März 1861. 


Reiehert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv. 1861. 35 


5, Bi E. Weber: 


Entgegnung auf Volkmann’s Abhandlung: „Con- 
trole der Ermüdungseinflüsse in Muskelversuchen.“ 


Als Nachtrag zur dritten Erwiederung, S. 248. 


Von 
EDUARD WEBER. 


(Hierzu Taf. XII, Fig. 18.) 


Da die obige Erwiederung Anfangs December des vorigen 
Jahres der Redaction übergeben worden war, so hat Volk- 
mann’s Abhandlung über „Controle der Ermüdungseinflüsse 
in Muskelversuchen“, welche im Schlusshefte desselben Jahres 
enthalten und nach dem Anfange dieses Jahres erschienen ist, 
darin noch nicht erwähnt und berücksichtigt werden können. 

Volkmann hat nämlich daselbst in weiterer Verfolgung des 
Satzes, auf den ich ihn anfangs zum Zwecke der Aufklärung 
seiner bekannten a- und b-Differenzen aufmerksam gemacht 
hatte, „es sei die Ermüdung nicht blos von der Dauer 
desthätigen Zustandes, sondern auch von der Grösse 
der Anstrengung des Muskels während desselben 
abhängig“!), auf die Ungleichheit der Anstrengung des Mus- 
kels beim Wechsel der Belastungsgewichte und die dadurch 
erzeugte Ungleichheit des Fortschritts seiner Ermüdung, welche 
durch das angewandte Compensationsverfahren nicht beseitigt 
werde, als eine Fehlerquelle in meinen Versuchen aufmerksam 
gemacht. | | 

Da es hiernach leicht den Anschein gewinnen könnte, als 
hätte dieselbe Fehlerquelle, welche, wie ich nachgewiesen habe, 
die Ursache der bekannten Volkmann’schen a- und b-Diffe- 


1) Siehe meine erste Erwiederung, Archiv 1858, S. 509. 


Entgegnung auf Volkmann’s Abhandlung: „Controle ete. 531 


renzen ist, nämlich die Störung der Regelmässigkeit des Fort- 
schritts der Ermüdung, unter etwas anderen Verhältnissen auch 
in meinen eigenen Versuchen Eingang gefunden, was aber in der 
That gar nicht der Fall ist; so erlaube ich mir in Beziehung 
auf diese Arbeit noch folgende kurze Erläuterung zu geben. 

Zunächst muss ich bemerken, dass die in den von Volk- 
mann angegebenen Verhältnissen begründete Fehlerquelle von 
mir nicht übersehen worden ist. Ganz abgesehen nämlich 
davon, dass dies aus der oben angeführten Erklärung klar von 
selbst hervorgeht , ergiebt es sich aus der Rücksicht, die ich 
bei der Einrichtung meiner Versuchsreihen darauf genommen 
habe, den Einfluss solcher Störungen möglichst zu beschränken, 
Dahin gehört vor Allem die Beschränkung der Differenz 
der Belastungsgewichte, welche die zu messenden Deh- 
nungsgrössen der Muskeln erzeugten, auf eine sehr geringe 
Grösse. Unter den als für die Untersuchung geeignet erach- 
teten, deshalb in der Reihenfolge vorangestellten Versuchsreihen 
A, B,C,D,E (8. 74 meiner Abhandl. über Muskelbewegung) 
sind daher nur solche aufgenommen und daher auch nur zur 
Benutzung bestimmt worden, in denen die bezeichnete Diffe- 
renz nicht mehr als 5 Gramm beträgt. Von allen anderen 
Versuchsreihen , in denen diese Grösse der Differenz über- 
schritten worden war (die Reihen F, G,H, I, K,L,M), ist 
dagegen, ungeachtet sonst Nichts gegen sie einzuwenden war, 
kein Gebrauch gemacht worden und sie sind nur, weil ich das 
disponible Material vollständig und unausgesucht vorlegen 
wollte, Ersteren nachstehend beigefügt worden. Wenn Volk- 
‚mann daher statt der von mir gebrauchten Gewichtsdifferenz 
von 5 Gramm die 4 und 6 mal grössere Differenz von 0 und 
20 Gramm und von O0 und 30 Gramm (siehe 8. 728 und 729) 
in Anwendung gebracht hat, so bezweckte er damit ‚wohl nur 
die Wirkung der Fehlerquelle handgreiflicher darzustellen. — 
Eine zweite Rücksicht, die ich genommen, ist die Beschrän- 
kung der Zahl der Spannungsgewichte auf das drin- 
gend Nothwendige, da die aus Messungen genommenen Mittel 
um so unvollkommener ausfallen, je weiter die ersteren in der 
Reihe von einander abstehen. 

35* 


532 73 wong band, Weber: 


Um einfach die Elastieität des Muskels zu bestimmen, sind 
nur zwei verschiedene Spannungsgewichte erforderlich: daher 
sind auch der ersten Versuchsreihe A nur diese zwei nothwen- 
digen um 5 Gramm differenten Spannungsgewichte zu Grunde 
gelegt. Um aber die Elastieität des Muskels bei grösserer und 
geringerer Belastung desselben vergleichen zu können, sind 
doppelte Elastieitätsbestimmungen und daher wenigstens.drei 
Spannungsgewichte erforderlich, wo dann aber das mittlere 
Spannungsgewicht für beide Elastieitätsbestimmungen zugleich 
benutzt werden muss: in der zweiten Versuchsreihe B sind 
demnach drei um je 5 Gramm differente Belastungsgewichte 
zu Grunde gelest worden. Um ferner die Elastieität der Mus- 
keln auch bei grosser Differenz der Belastungsgewichte ver- 
gleichen zu können, sind vier Spannungsgewichte nothwendig, 
nämlich je zwei um 5 Gramm differente Belastungsgewichte 
für die bei hoher und die bei geringer Belastung auszuführende 
Elastieitätsbestimmung, welche demnach die Versuchsreihen D 
und E aufweisen, deren Anordnung ohne. diesen Zweck gar 
keinen Sinn hätte. Um endlich die Aenderung, die die Elasti- 
eität des Muskels durch die Belastung erfährt, in einer länge- 
ren zusammenhängenden Reihe von Glied zu Glied verfolgen 
zu können, sind in der C-Versuchsreihe ausnahmsweise 
möglichst zahlreiche Spannungsgewichte, welche alle gleich- 
mässig um 5 Gramm differiren, in Anwendung gebracht wor- 
den. Es leuchtet daher ein, dass die Nachtheile der grossen 
Zahl von sechs Belastungsgewichten in dieser O-Versuchsreihe, 
nur um den obigen speciellen Zweck zu erreichen, in Kauf 
genommen worden sind und werden mussten, so dass die in, 
ihr zu Mitteln benutzten Messungen allerdings bis 10 Stellen 


weit auseinanderliegen. Eben diese Reihe hat aber Volk- 


mann vorzugsweise für seine Kritik benutzt. 
Volkmann kommt nun durch diese seine Betrachtungen 
am Schlusse seiner Abhandlung zu dem Resultate: 
„Es leuchtet ein, dass das von Weber vorge- 
schlagene (angewendete) Ausgleichungsverfahren 
gar keine Macht über diejenigen Ermüdungs- 
verlängerungen hat, welche von der Zahl der 


Entgegnung auf Volkmann’s Abhandlung: „Controle ete. 533 


Versuche unabhängig sind.: Jenes Ordnen der 

' Versuche, durch welche man Muskellängen 
eombinirt, deren eine von der Ermüdung um 
eben so viel weniger vergrössert ist, als. die 
andere mehr vergrössert ist, als die im Mittel- 
falle befindliche Muskellänge, dies, ist der 
Natur der Sache nach nur da möglich, wo die 
Längen mit den Versuchen und wie die Ver- 
suche wachsen. Nun tritt aber in der Ermü- 
dungsverlängerung belasteter Muskeln ein 
Glied d auf, welcheseine dem Einfluss der Be- 
lastungsgewichte offen stehende Seite hat, und 
da dasMehr und das Weniger solcher Einflüsse 
mit der chronologischen Folge der Versuche 
gar nichts zu thun hat, so kann auch das Ord- 
nen der Versuche, mit dessen Hülfe das Aus- 
gleichungsverfahren operirt, und hin und wie- 
der seinen Zweck erreicht, in diesem Falle zu 
Nichts führen. Die Ermüdungsdifferenzen 
sind, insofern sie von der Verschiedenheit der 
Belastungsgewichte abhängen, überhaupt nicht 
ausgleichbar.“ (Siehe S. 767.) 

Volkmann hat aber, indem er so über mein Compensa- 
tionsverfahren abspricht, nicht durchschaut, dass dasselbe in 
der von ihm angezogenen Versuchsreihe nur noch nicht ganz 
zu Ende geführt worden ist, dass nämlich, um die Ausgleichung 
der Zahlenwerthe wirklich principiell zum Abschluss zu brin- 
gen, noch die zweiten Mittel genommen werden müssen, wo- 
durch die Differenzen, an denen er Anstoss genommen, voll- 
ständig ausfallen, und demnach sich das ganze obige Raison- 
nement in Dunst auflöst, Es sind nämlich in den reducirten 
Messungstabellen (Seite 79-—81 meiner Abhandlung über Mus- 
kelbewegung) zwar alle Zahlenwerthe auf gleiche Art compen- 
sirt, aber die den Ermüdungsstufen entsprechenden Reihen der- 
selben immer abwechselnd in umgekehrter Ordnung. 
Während z. B. in der ersten Zahlenreihe der von Volkmann 
eitirten C-Tabelle der Werth der Muskellänge bei 5 Gramm 


534 E. Weber: 


Belastung unmittelbar gemessen worden ist und die Werthe 
der Muskellängen für die grösseren Belastungen der Reihe 
nach aus immer weiter von einander abstehenden Messungen 
ermittelt worden sind, ist dagegen in der zweiten Zahlenreihe 
derselben der Werth der Muskellänge bei 30 Gramm Bela- 
stung unmittelbar gemessen und die Werthe der Muskel- 
längen für die der Reihe nach kleineren Belastungen aus 
immer weiter von einander abstehenden Messungen ermittelt 
worden und so immer abwechselnd weiter. Um die Compen- 
sation daher vollständig durchzuführen, und demnach jede prin- 
cipielle Ungleichartigkeit der Zahlenwerthe zu beseitigen, muss 
natürlich auch dieser Gegensatz der abwechselnden Reihen 
noch aufgehoben werden, was, wie auf der Hand liegt, ganz 
einfach durch die zweiten Mittel bewirkt wird, zu denen man 
in. der Regel dann zu schreiten pflegt, wenn die ersten noch 
nicht schon genügten, wodurch aber, wie leicht zu übersehen 
ist, alle Differenzen, welche aus jener abwechselnden Umkeh- 
rung des Compensationsverfahrens in den aufeinander folgenden 
Reihen entspringen können, als gleiche aber entgegengesetzte 
Grössen, wechselseitig sich aufheben und daher verschwinden 
müssen. Die von Volkmann behandelten Differenzen sind 
aber lediglich dieses Ursprungs, daher auch, wie er selbst aus- 
einandersetzt, in den wechselnden Reihen entgegenge- 
setzter Grösse und verschwinden demnach, sobald man im 
Compensationsverfahren noch zu den zweiten Mitteln über- 
geht, vollständig. 

Die Resultate meiner Messungsreihen werden natürlich 
von diesen Differenzen gar nicht berührt: denn da die zweiten 
Mittel nur dazu dienen, die in einer Messungsreihe enthaltenen 
Gesetzmässigkeiten deutlicher erkennbar zu machen, so kann. 
die Unterlassung dieses Hülfsmittels wohl den Vorwurf be- 
gründen, ein Resultat, das die ersten Mittel noch nicht erken- 
nen liessen, übersehen zu haben: unerhört aber wäre es, auf 
Grund von Differenzen, die durch die zweiten Mittel ganz aus- 
fallen, Resultate anzweifeln zu wollen, die schon aus den er- 
sten Mitteln völlig klar hervorgehen und also nach Beseitigung 
jener Differenzen in den zweiten Mitteln natürlich nur um so 


Entgegnung auf Volkman’s Abhandlung: „Controle ete. 535 


glänzender hervortreten müssen. — Auch ist es übrigens sonst 
für diese Resultate gleichgültig, dass der Maassstab der Ermü- 
dung sich als wachsender, nicht als gleichbleibender, herausstellt, 
da in denselben hierüber weder etwas ausgesagt noch voraus- 
gesetzt ist. 

Zur leichteren Uebersicht des Gesagten habe ich die auf 
gleiche Ermüdungsstufen redueirte C-Versuchsreihe mit den 
ausgeführten (durch kleineren Druck bezeichneten) zweiten 
Mitteln gleich nachstehend beigefügt. Natürlich entsprechen 
diese Letzteren auch den mittleren Ermüdungsstufen in der 
letzten Columne. 


MessungsreiheC aus der Abh. über Muskelbew. 9. 80. 


No.|5Gramm| 10Gr. | '15Gr. | 206r.. | 25 Gr. | 30Gr. .|No- 
mm mm mm | | | 
3.127,1 27,0 27,0 
26,275 25,900 25,475 mm mm mm 
8. 125,45 24,8 23,95 22,8 21,35 18,7 
24,625 23,650 22,325 20,350 18,225 15,825, 
13. 129,8 22,9 20,7 1.059 15,1 12,95 
23,075 21,175 18,200 15,125 12,150: 10,075 
18. 122,35 119,75 15,7 12,35 9,2 
21,625 18,800 13,850 10,550 7,800 
23. 20,9 17,85 12,0 8,75 6,4 
20,600 16,350 10,750 7,725 5,625 
28. 120,3 14,85 9,5 6,7 4,85 3,9 
20,600 13,550 8,375 5,875 4,200 3,400 30.5 
33. 19,7 12,25 7,25 | 5,05 3,55 2,9 
19,250 11,300 6,625 4,550 3,025 2,400|35,5 
18,8 10,35 6,0 4,05 2,9 1,9 
18,350 9,375 5,325 3,575 2,300 1,750|40.5 
43. 17,9 8,4 4,65 Sl 2,1 1,6 
| 17,575 7,9251 4,350 2,500 1,900 1,45045.5 
17,25 7,45 | 4,05 1,9 1.7 1 les 


9.5 


10,5 


| 
\ 
| 


15.5 


Ir | 
6,375 20.5 


B) 


4,125 95.5 


38. 


[eo] 


48. 


Zugleich benutze ich die Gelegenheit, diese Messungsreihe, 
welche Volkmann so schwer verunglimpft hat, auf Taf, XII 
Fig. 15 graphisch darzustellen, wobei die Belastungsgew ichte 
durch die Abseissen, die Muskellängen durch die Ordinaten') 
ausgedrückt sind, und glaube, dass auch der strengste, aber 
sachverständige und unparteiische Kritiker mit den Leistungen 


1) Das Liniennetz repräsentirt daher in Ersteren das Grammge- 
wicht, in Letzteren das Millimetermaass, 


536 E, Weber: 


dieser Messungsreihe völlig zufrieden sein wird, zumal wenn 
er die ausserordentliche Variabilität und -Vergänglichkeit, der 
zu messenden Kraft und auch die Einfachheit der. mir damals 
zu Gebot gestandenen Versuchsapparate in Erwägung: zieht, 
da sich die Einflüsse der Belastung und der Ermüdung auf .die 
Dehnung des ‘Muskels in der That so glatt und: deutlich aus- 
gedrückt haben, wie man es nur irgend erwarten konnte. Ob 
aber ein aus derselben berechnetes Gesetz sich ‚wie 
Volkmann (siehe Archiv 1858 8. 222) versucht hat; gleich- 
falls mit Vortheil geometrisch darstellen lässt, ist, da es von 
dessen Beschaffenheit abhängt, nicht meine Sache zu 
vertreten, sondern des Darstellers. Die Zahlenwerthe der 
berechneten Tabelle (S. 114 meiner Abhandlung) wenigstens 
zeigen einen sehr deutlichen gesetzlichen Zusammen- 
hang, namentlich auch durch die sehr auffällige diagonal ver- 
laufende Stellung der deshalb auch unterstrichenen Maximal- 
grössen der Columnen. Vielleicht hat aber derselbe gerade in 
dem negativen Erfolge des Versuchs seine Befriedigung 
gefunden, da jene graphische Darstellung ausgesprochener Maas- 
sen zu zeigen bestimmt war nicht, was die Versuchsreihe leiste, 
sondern was sie nicht leiste. i 

Dass ich mich aber endlich in meiner Abhandlung mit den 
ersten Mitteln begnügt habe, ungeachtet sich die Resultate aus 
den zweiten noch reiner und eleganter herausgestellt haben 
würden, hat einen sehr einfachen und natürlichen Grund. : Da 
mir nämlich während der Herausgabe der Abhandlung das 
Material unter den Händen noch immerfort anwuchs, und ich 
deshalb mit dem Drucke, der mich eingeholt hatte, in’s Ge- 
dränge kam, so habe ich das Üapitel über die Elastieität der 
Muskeln überhaupt sehr abkürzen müssen. Die Berechnungen 
der Muskelelastieität aus den einfacheren Messungsreihen haben 
daher, weil sie noch unvollendet waren, ganz wegbleiben müs- 
sen, und es haben nur die Blastieitätsberechnungen gerade aus 
der allercomplieirtesten Messungsreihe C, weil sie ‚bereits voll- 
ständig ausgeführt vorlagen, mitgetheilt werden können : gewis- 
sermaassen. nur als Schema meiner, Behandlungsweise dieser 
Aufgabe überhaupt: die Berechnungen dieser ‚letzteren waren 


Ed. Claparede: Beitrag zur Kenntniss der Gephyrea. 537 


aber auf die ersten Mittel gegründet worden und hätten zum 
Zwecke der Benutzung der zweiten Mittel erst ganz von 
Neuem ausgeführt werden müssen. 

Somit glaube ich gezeigt zu haben, dass Volkmann ’s Be- 
mühungen, die Mangelhaftigkeit und Unbrauchbarkeit meiner 
Bemühungen nachzuweisen, auch diesmal ganz fruchtlos geblie- 
ben sind. Gewiss wäre es dankenswerth, wenn er versucht hätte, 
noch bessere als meine immerhin der Vervollkommnung fähigen 
Messungen zuStande zu bringen, und so aus verbesserten Elemen- 
ten noch schärfere und vollkommnere positive Resultate zu er- 
zielen, als es auf den ersten Anlauf vor 15 Jahren möglich gewe- 
sen ist: allein Volkmann ist stets nur auf blos negirende 
Resultate immer und immer wieder erfolglos ausgegangen. — 
So fruchtlos mir aber auch der ganze Streit immer erschienen 
ist, so habe ich doch geglaubt, wenigstens einen nicht uner- 
heblichen Schaden desselben durch Aufdeckung der Blössen 
der Opposition vorbeugen zu müssen, weil, wenn ich still ge- 
schwiegen hätte, bei Vielen die Vorstellung entstanden sein 
würde, es sei überhaupt auf diesem Felde wegen der ver- 
wickelten Natur der Verhältnisse Nichts zu machen. 


Zur Berichtigung. 


Seite 257 Zeile 10 sind nach dem Absatze vor den Worten: „die 
Anstrengung“ die Worte einzuschalten: „Um diese Schlussfolgerung 
zu rechtfertigen, schritt er zu folgender, mit sich selbst in Widerspruch 
befindlichen Hypothese: “, 

Seite 248 Zeile 20 lies „heben“ statt „habeu“, 


- 25° - 15 und 17 lies „Untersuchung“ statt „Darstellung“. 
- 259 - 21 lies „endlich“ statt „nämlich“. 
- 264 - 41 lies „Aenderung“ statt „Anordnung“. 


267 - 30 lies „jene“ statt „eine“ 


538 Ed. Claparede: 


Beitrag zur Kenntniss der GepAyrea. 


Vou 
Dr. Ep. CLAPAReDE zu Genf. 


(Hierzn Taf. XII Fig. 1—11). 


Während meines Aufenthaltes auf der schottischen Küste 
im Spätsommer 1859 hatte ich Gelegenheit, zwei Würmer aus 
_ der Abtheilung der Gephyrea zu untersuchen, welche sich beide 
als neue Species herausgestellt haben. Es weichen dieselben 
durch die innere Organisation von einander sehr bedeutend ab, 
und es scheint mir, als ob manche anatomische Verhältnisse 
derselben nicht ohne Interesse sein dürften. Allerdings hat die 
Anatomie der Sipunculoiden durch die Untersuchungen von 
Grube, Peters, Krohn, Quatrefages, Müller, Schmidt, 
Lacate-Datleiers, und neuerdings wiederum durch die noch 
sehr unvollständig bekannt gemachten Beobachtungen von 
Ehlers und Keferstein!) bedeutende Fortschritte gemacht. 
Allein wir sind auf diesem Gebiete noch nicht so weit gekom- 
men, als dass nicht jeder Beitrag zur Erweiterung unserer 
anatomischen Kenntnisse über diese so eigenthümlich daste- 
hende Ordnung der Annulaten willkommen sein sollte. | 

Die erste Art wurde mitten im Auftriebe des kleinmaschi- 
gen Netzes bei der pelagischen Fischerei in Lamlash-Bay zwi- 
schen Holy Island und Arran, also im Firth of Clyde aufge- 
funden. Dieser Wurm ist sehr klein, der kleinste sogar unter 
allen bis jetzt beschriebenen Sipunceuloiden, da seine Länge 
kaum über 1 Millimeter beträgt. Merkwürdiger Weise war 
die ganze Leibesoberfläche mit einem Wimperüberzug besetzt. 


1) Nachrichten von der G.-A.-Universität und der K. Gesellschaft 
der Wissenschaften zu Göttingen. November 13, 1860. 


Beitrag zur Kenntniss der Gephyrea. 539 


Diesem Umstande ist wohl das seltsame Vorkommen des Wur- 
mes zuzuschreiben, welcher, wie schon angedeutet, auf der 
Oberfläche des Meeres frei schwimmend angetroffen wurde. 

Der Körper des Wurmes (Fig. 1) ist beinahe cylindrisch, 
mit einem kurzen, wulstigen Halstheile und einem schräg auf- 
gesetzten Tentakelkranz. Am hinteren Ende ist eine kleine 
blasige Auftreibung bemerkbar, welche den seltsamen, weiter 
zu beschreibenden, herzartigen Apparat birgt (Fig. 18). Die 
vom Tentakelkranze umgebene Mundöffnung (Fig. 3) führt un- 
mittelbar in einen eylindrischen, musculösen, sehr breiten Pha- 
rynx (Fig. 1a), der in einen geräumigen Magen (Fig. 1b) 
mündet. Es erstreckt sich dieser Magen bis zum hinteren 
Leibesende, wo er am breitesten erscheint. Seine Wandung 
ist braun gefärbt. Vom hinteren Magentheile entspringt ein 
zuerst birnförmig anschwellender, dann röhrenförmig werdender 
Darm (ce), welcher vorne auf dem Rücken, dicht hinter dem 
Tentakelkranze, nach aussen mündet (d). 

Das Gefässsysteni bildet ein völlig geschlossenes, mit rothem 
Blute erfülltes Röhrensystem. Die Farbe des Blutes rührt 
nicht von der Blutflüssigkeit selbst, sondern von kleinen zelli- 
gen Körperchen (Fig. 4) her, wie dies schon von Herrn Rou- 
get!) bei anderen Gephyreen (Sipunculus nudus, Sip. commu- 
nis, Sıp. [Aspidosiphon Dies.] ciavatus etc.) beobachtet wurde. 
Das Gefässsystem besteht aus einem Bauch- (Fig. le) und 
einem Rückengefässe (f), die vorn durch eine einzige grössere 
Schlinge in einander übergehen. An der Uebergangsstelle im 
hinteren Leibesende sieht man eine grosse Anzahl kleiner, 
blindgeschlossener, gefässartiger Anhängsel (Fig. 2), die in die 
Gefässsehlinge münden. Diese höchst contractilen, mit Blut er- 
füllten Organe stellen einen herzartigen Apparat dar. Jeden 
Augenblick sieht der Beobachter einen oder mehrere Schläuche 
sich lebhaft zusammenziehen und zwar so, dass das Lumen 
sich verengt, während sich zugleich der gefässartige Schlauch 


1) V. Rouget, note sur l’existence de globules du sang colores 
chez plusieurs especes d’animaux invertebres. Journal de la physio- 
logie etc., 1859, p. 660. 


x 


540 a CTaparede: 


beinahe bis zum Verschwinden verkürzt. ‘Durch das’ äusserst 
lebhafte Spiel dieser Organe wird das Blut in Bewegung ge- 
setzt, und "zwar so, dass es im Rückengefässe vom Schwanz- 
zum Kopfende und im Bauchgefässe umgekehrt fliesst. 

"Ein solcher Apparat steht in der Abtheilung. der Sipuncu- 
loiden bis jetzt ganz vereinzelt da und ich wüsste kaum dem- 
selben eine gleiche Bildung bei anderen 'Thieren zur Seite zu 
stellen,‘ Ob vielleicht die sogenannten respiratorischen An- 
hängsel am Hinterleibe von Priapulus einen ähnlichen en 
De 

‘Die Leibeshöhle des Wurmes ist mit einer farblosen Flüs- 
sigkeit erfüllt, worin zahlreiche, sowohl runde als en 
Körperchen (Fig. 9) schwimmen. 

Auf der Bauchseite, von der Flüssigkeit der Leibeshöhle 
umspült, wenn schon der Leibeswand angewachsen, beobachtete 
ich ein pechschwarzes rundliches Organ (Fig. 1 ), worin rund- 
liche, farblose, bei 300 maliger Vergrösserung (Fig. a. leicht 
erkennbare Körperchen eingebettet waren. 

Möglicher Weise war dieses Wesen noch nicht ausgebildet. 
Es sprechen wenigstens sowohl das Flimmerkleid wie die Ab- 
wesenheit von geformten Geschlechtsprodueten dafür. 

Die zweite mir vorgekommene Art wurde bei Ebbezeit in 
einer Felsenritze am Ufer bei Kilmore (Sky) am Sound of 
Steat entdeckt. Sie gehört, wie die vorige, zu den kleinsten 
bis jetzt beobachteten, da sie im geschlechtsreifen Zustande eine 
Länge von nur wenigen Millimetern erreicht. Sie ist birnför- 
mig gestaltet (Fig. 7) und mit einem tentakellosen Rüssel ver- 
sehen. Die Haut ist mit kleinen flachen Warzen (Fig. 10 bei 
250maliger Vergrösserung) besetzt, deren jede in der Mitte 
eines viereckigen Feldes sitzt. Diese Warzenbildung ist na- 
mentlich am Halse sehr ausgeprägt. Die subeutane Musculatur 
besteht überall zuerst aus einer dicht unter dem Corium gele- 
genen Schicht Querfasern und darauf nach innen zu folgt eine 
Schicht Längsfasern. 

Der Darmkanal ist äusserst ckelt, eine Eigenthümlich- 
keit, die bekanntlich auch anderen Sipunculoiden zukommt. 
Auf der Fig. 8, welche den mittelst des Compressorium flach- 


Beitrag zur Kenntniss der G@ephyrea. ‚541 


gedrückten Wurm. darstellt, ist, der ganze Verlauf des Darm- 
kanales, da die auf einander folgenden Abschnitte desselben 
durch eine Reihe von Buchstaben (a bis m) bezeichnet sind, 
leicht zu verfolgen. Man ersieht aus dieser Zeichnung, dass 
dieser Speisekanal an zwei von einander sehr entfernten Stel. 
len (cd und i):magenartig, erweitert ist. Die eine Hälfte der 
ersten Erweiterung zeigt eine tief braun gefärbte Wandung, 
als ob dieselbe zugleich als Leber fungirte. Der zweite Magen 
enthielt mehrere wurmförmige, plattgedrückte, 0,078 Mm. lange, 
sich langsam hin und her schlängelnde Schmarotzer, die ich 
gern für Gregarinen gehalten, wenn ich nicht den sog. Kern 
bei denselben vermisst hätte. Vielleicht waren dieselben sehr 
unvollständig gebildete Larven von Nematoden. — Der ganze 
Darm des Sipunculus flimmert auf der Innenfläche. Der After 
liegt an der Basis des Halstheils. 

Das einzige von mir untersuchte Individuum enthielt zahl- 
reiche in der Flüssigkeit der Leibeshöhle frei schwimmende 
Eier. Ehlers und Keferstein haben neuerdings — trotz 
der entgegengesetzten Angabe Krohn’s — behauptet, Sipun- 
culus nudus sei ein Zwitter. Bei meinem Wurme indessen habe 
ich Nichts wahrgenommen, was mich auf die Vermuthung 
hätte bringen können, dieses Individuum sei etwas anderes als 
ein Weibchen. Die Eier bilden sich in einem doppelten, flachen 
Organ (Fig. 80), das zwischen den Darmwindungen unweit 
vom After liegt. ‘Es wird dasselbe sowohl am Darme,: wie 
auch — so schien es mir — an der Leibeswand durch ein mit 
zahlreichen Zellkernen besprenkeltes Mesovarium befestigt. Die 
kleinen Eier fallen, wahrscheinlich durch einfaches. Ablösen 
vom Eierstock, in die Leibeshöhle, wo sie allmählig bis zu einer 
ansehnlichen Grösse (0,28 Mm.) anwachsen. Die Flüssigkeit 
der Leibeshöhle enthält ausserdem . zahlreiche , farblose , im 
Durchschnitt 0,17—0,28 Mm. breite, scheibenförmige Körper- 
chen (Fig. 9). | 00 h 

"Trotz der grössten Auimerksamkeit konnte ich keine Spur 
von Getässen entdecken. Das Nervensystem ist mir nicht klar 
geworden. 


542 Ed. Clapare£de: 


Erklärung der Abbildungen. 

Fig. 1. Der Sipunculus aus Lamlash Bay, circa 150 Mal ver- 
grössert. a Rachenhöhle, b Magen, c Darm, d After, .e Bauch, 
f Rückengefäss, g der den herzartigen Gefässapparat enthaltende An- 
hang, m pechschwarzes unerklärtes Organ. 

Fig. 2. Hinteres Ende desselben, um den contractilen Gefässap- 
parat bei stärkerer Vergrösserung zu zeigen. 

Fig. 3. Vorderes Ende desselben mit der Mundöffnung und dem 
Tentakelkranz. 

Fig. 4. Blutkörperchen desselben, Vergr. 250. 

Fig. 5. Körperchen aus der Leibeshöhle, Vergr. 250. 

Fig. 6. Farblose Körperchen mitten in der dunklen Gruudsub- 
stanz aus dem räthselhaften Organ, Vergr. 250. 

Fig. 7. Der Sipunculus aus Kilmore (Sky), natürliche Grösse. 

Fig. 8. Derselbe comprimirt und vergrössert. a bis m Speise- 
kanal, o Eierstock, p in der Leibeshöhle frei schwimmende Eier. 

Fig.9. Körperchen aus dessen Leibeshöhle, Vergr. 250. 

Fig. 10. Ein Stück Haut vom Halse desselben, Vergr. 250. 

Fig. 11. Ein im Magen des Sipunculus lebender Schmarotzer, 
Vergr. 500. 


Ueber Polydora cornuta Bose. 


Von 
Dr. ED. CLAPAREDE zu Genf. 


(Hierzu Taf. XIII Fig. 12—17). 


Bei einem Aufenthalte in Kilmore, unweit des Schlosses 
Armadale (Sky), im Spätsommer 1859, bin ich mehrmals bei 
Ebbezeit auf einen interessanten Borstenwurm gestossen, der 
unter dem Geschiebe am Gestade häufig vorzukommen scheint. 
Dieses 1!/, Centimeter lange Wesen richtet sich bei jedem An- 
griff sogleich in die Höhe und zwar so, dass es nur mittelst 
des hintersten Endes — etwa wie ein Egel mittelst seines 
Saugnapfes — dem Steine aufsitzt. Trotz dieses seltsamen 
Gebahrens ist dieses Geschöpf ein der Familie der Spioidea 
angehöriger Borstenwurm, der mit der Polydora cornuta Bose 
generisch ganz gewiss und wahrscheinlich sogar specifisch 
identisch ist. 

Bosc beobachtete seinen Wurm auf der Küste vom Staat 
Carolina, und es ist derselbe, so viel mir bekannt, von Nie- 
mandem seitdem beobachtet worden. Bosc’s Figur!) ist nicht 


1) V. Bose, Histoire naturelle des vers. Paris, an X, Tome I, 
p- 150. 


Ueber Polydora cornuta Bose. 543 


zu erkennen, und wenn schon seine Beschreibung sehr sorg- 
fältig und genau ist, erscheint es mir dennoch nöthig, seine 
Angaben in mancher Beziehung. zu vervollständigen oder we- 
nigstens zu erweitern. « 

Die Aricieen besitzen durchgängig einen nur schwach be- 
waffneten Mond. Polydora insbesondere ermangelt jeder Mund- 
bewafinung und sogar eines ausstülpbaren Rüssels. Die Mund- 
öffnung stellt eine unter dem Kopfe zwischen drei Lippen ge- 
legene Spalte dar. Die beiden hinteren Lippen (s. Fig. 12) 
convergiren wie die Schenkel eines lateinischen V gegen ein- 
ander, und begrenzen in dem Winkel den Eingang in den 
Rachen. 

Die Oberlippe wird vom vorderen Kopftheil gebildet, der 
nach vorn zu einen eckigen Vorsprung bildet. Die Hinterlip- 
pen sind wulstig und können sich nach auswärts zurück- 
schlagen. 


Auf der Rückseite des Kopfes (Fig. 13) fallen dem Beob- 
achter vier kleine Augenpunkte sogleich auf. Es bilden die- 
selben ein Viereck, an dessen Seiten links und rechts zwei 
dicke, sehr contractile Tentakeln entspringen, die sich bis zum 
Viertel der Gesammtlänge des 'T'hieres ausdehnen können und 
beinahe ein Drittel der Dicke des Leibes im Durchmesser er- 
reichen. Diese ausserordentlich biegsamen Organe werden bald 
geschlängelt bald spiralig zusammen gewunden. Es scheint 
mir wahrscheinlich, dass sie als Kiemen fungiren, wenigstens 
enthalten sie ein Gefäss und sind dieselben wie die eigentlichen 
Kiemen, nur auf der Seite, welcher das Gefäss aufliegt, stark 
beflimmert. Das Gefäss ist einfach, endigt blind, und es 
schwankt das Blut hin und her in demselben. 


Ich zählte in den Polydoren aus den Hebriden bis 61 Seg- 
mente, während Bose bei den Exemplaren aus Üharleston nur 
24 zählte. Im vorderen Leibestheil trägt Jedes mit der Aus- 
nahme des fünften zwei Paar Höcker oder Zapfen, deren ober- 
stes (Rückenpaar) länger ist und die rudimentäre Kieme dar- 
stellt. Jede Kieme enthält eine einfache Gefässschlinge ohne 
Verästelung. » Die dem (Grefässe entsprechende Seite dieses 
Rückenhöckers trägt lange flimmernde Wimpern. Dem fünften 
Segment fehlen, wie gesagt, sowohl die Rücken- wie die Bauch- 
oder Fusshöcker. Im mittleren Theile des Leibes verkümmern 
die beiden Höckerpaare allmählig und vom 25. Segment an wird 
keine Spur derselben mehr angetroffen. Jedes Segment mit 
Ausnahme des ersten und hintersten trägt 2 Paar Borstenbün- 
del im Rücken- und im Bauchpaar. In allen Segmenten sind 
die Rückenborsten einfach pfriemenförmig und zwar zu je 5 
oder 6 vereinigt. Im fünften Segment allein sind die Rücken- 
borsten ganz anders beschaffen. Die Bauchborsten der sechs 
vordersten Leibesringe sind ebenfalls pfriemenförmig (Fig. 16); 
vom siebenten Segmente an sind dagegen die Bauchborsten ha- 


544 Ed. Clapare&de: Ueber Polydora cornufa Bose. 


kenförmig und zwar mit drei Widerhaken versehen ‘und: ge- 
wöhnlich zu je 5 vereinigt (Fig. 15 und. 15a). iu. vi 

Der fünfte Leibesring ist viel länger als die anderen :und 
bietet jederseits eine tiefe Tasche, worin sehr eigenthümliche 
Borsten enthalten sind, die als Rückenborsten angesehen: wer- 
den müssen. In jeder Tasche besteht das Borstenbündel aus 
sechs dicken Haupt- und aus drei oder vier rudimentären: Ne- 
benhaken. Es unterscheiden sich diese Haken von den Bauch- 
haken der folgenden Ringe sowohl durch ihre Gestalt, als durch 
ihre viel ansehnlichere Länge und Dicke. Einem jeden Haken 
liegt eine dünne Borste dicht an, der mit einer fiachen: Aus- 
breitung frei endigt. Eine gleiche überzählige Borste liegt vor 
dem: ganzen Bündel (Fig. 17). Diese eigenthümliche Bewaff- 
nung, sowie auch der Mangel der Rücken- und Fusshöcker, 
deuten auf eine eigene Function: dieses ausserdem ansehnlich 
grösseren fünften Leibesringes. Vielleicht übernimmt derselbe 
irgend eine Rolle bei der Paarung beider Geschlechter. Diese 
Eigenthümlichkeiten sind Bose nicht entgangen, da derselbe 
sagt: „Le Seme anneau n’a ni houppes, ni pedoncules , ‚mais 
une esp&ce de nageoire placee en dessous et formee de poils.“ 

Eine letzte Eigenthümlichkeit der Polydora verdient eine 
ganz. besondere Aufmerksamkeit. Das hinterste Segment bildet 
eine schwarz gefärbte, wulstige Scheibe, die. dem Thiere. als 
Saugnapf zur Anheftung an fremde Gegenstände dient.. Dieser 
Saugnapf steht etwas schief, so dass er, von der ‘Seite betrach- 
tet, einem Pferdehuf ähnelt (Fig. 14). Seine Ooncavität sieht 
nach dem Rücken zu. Auch diese Eigenthümlichkeit hat Bosc 
schon gesehen, da er Folgendes schreibt: „Queue terminee 
en un demi-cercle sup&rieur et musculeux par lequel l’animal 
s’attache aux corps exterieurs en absorbant l’air.“ 


Erklärung der Abbildungen. 


Fig. 12. Vordertheil der Polydora cornuta Bose, von unten ge- 
sehen. Mässige Vergrösserung. 
Fig. 13.: Kopftheil derselben, von oben gesehen. o Tentakelgefäss,. 
Fig. 14. Hintertheil von derselben, Seitliche Ansicht. er 
Fig. 15. Ein Bauchborstenbündel mit einem drüsigen Organ, wel- 
ches an jedem Bündel vom 7. bis zum 15. Segment vorkommt. 
Fig. 15a. Die Borsten desselben Bündels, stärker vergrössert. 
Fig. 16. Pfriemenförmige Borsten, wie sie an den Rücken - und 
an den 6 ersten Baachbündeln vorkommen. 
+» Fig. 17.  Rückenborsten des 5. Leibessegmentes. 


A.Schmidt: Ueber d. Faserstoff.w. d. Ursachen seiner Gerinnung. 545 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner 


Gerinnung. 


Von 


Dr. ALEX. SCHMIDT zu Dorpat. 


So zahlreich die Untersuchungen sind, die man zur Beant- 
wortung. der uralten ‚Frage nach Ursache und Wesen der Ge- 
rinnungsvorgänge angestellt hat, so wenig sichere Erfolge 
haben sie. der Wissenschaft zu liefern vermocht.. Es fehlt zwar 
nicht an Theorieen der. verschiedensten Art, aber: keine von 
ihnen hat sich einer allgemeinen Anerkennung und Annahme 
zu erfreuen gehabt, weil. es keiner‘ einzigen möglich gewesen 
ist, sich, wenigstens die Hauptpunkte anlangend, über das Ni- 
veau der. Hypothese zu erheben und das zahllose Heer der 
sich. gegen sie erhebenden ‚Widersprüche zu zerstreuen.: In 
neuerer Zeit ist es zwar Brücke gelungen, wichtige‘ einschlä- 
gige Thatsachen zu constatiren, aber dieselben beziehen: sich 
nur auf die negative Seite der Frage; wir;erfahren durch sie, 
was. die Gerinnung innerhalb des ‚Körpers behindert, ohne 
freilich von der Natur der hemmenden Kräfte eine Ahnung 
zu besitzen, aber wir erfahren nicht, wodurch 'sie ausserhalb 
des Körpers bewirkt wird. Hier sich beider Anschauung be- 
ruhigen, dem präexistirenden Faserstoff inhärire nun einmal 
als ursprüngliche Eigenschaft die Fähigkeit und das Bestreben 
aus dem flüssigen Aggregatzustande spontan in den festen über- 
zugehen, hiesse sich neuen Hypothesen in die Arme werfen. 
Es blieb immer des Versuches werth, zu ermitteln, ob die 
Frage nicht auch ihre positive Seite hat, ob es nicht :ausser- 
halb des Faserstoffes ein, wirksames Prineip giebt, das seine 


Ausscheidung; verursacht und wo dasselbe zu suchen: ist. 
Beichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv 186% 36 


546 u: A. Schmidt: 


Wenn alle bis jetzt zur Ergründung der Gerinnungsphä- 
nomene eingeschlagenen Wege nicht zum Ziele geführt haben, 
so ist es erlaubt, neue zu versuchen, auch wenn man dabei 
Nichts als Vermuthungen für sich hat und auf die Gefahr hin, 
bald wieder umkehren zu müssen. Die Ergebnisse meines 
Versuches will ich im Nachstehenden der Wissenschaft anheim- 
geben; ich erkläre zum Voraus, dass ich noch weit von der 
Lösung des Räthsels entfernt bin, dass mir dieselbe in man- 
cher Beziehung jetzt noch mehr als früher in die Ferne ge- 
rückt zu sein scheint; aber ich hoffe einige neue Thatsachen 
mittheilen zu können, die vielleicht dazu beitragen werden, 
das widerspruchsvolle Material unter einzelne leitende Gesichts- 
punkte zu bringen und diejenigen Momente hervorzuheben, 
welche die Forschung vor Allem in Angriff nehmen muss, um 
ihr Ziel zu erreichen. 

Ich will in Kürze die Ideen, von welchen ich bei meinen 
Untersuchungen ausging, wiedergeben. Zuerst leitete mich die 
Vorstellung von den gerinnungshemmenden Kräften der leben- 
den Gefässwandungen auf die Vermuthung, dass das gerin- 
nungserzeugende Princip in den gerinnenden Substanzen selbst 
enthalten sei, dass es in ihnen ein besonderes Agens gebe, dass 
sie gerinnen macht und auf dessen Action sich die hemmenden, 
neutralisirenden Wirkungen der Gefässwände bezögen. Alle 
Flüssigkeiten, denen die Gerinnbarkeit als constante Eigen- 
schaft zukommt, besitzen in grosser Anzahl zellige Elemente; 
über die Thätigkeiten derselben sind wir noch so sehr im 
Dunkeln, dass die Annahme, sie spielten vielleicht bei der Ge- 
rinnung, als Träger oder Erzeuger einer die Fibrinausscheidung 
bewirkenden Substanz, eine Hauptrolle, mir eigentlich durch 
Nichts unmöglich gemacht zu werden schien. Wir wissen, wie 
sehr Blut einerseits und Chylus und Lymphe andererseits in 
der Art ihrer Gerinnung sich von einander unterscheiden, wir 
betrachten aber auch als das eigentlich Charakteristische, als 
den specifischen Bestandtheil dieser Flüssigkeiten ihre zelligen 
Elemente. Es ist oft hervorgehoben worden, dass Chylus und 
Lymphe vor ihrem Durchgange durch die betreffenden Drüsen 
eine geringere Gerinnbarkeit zeigen als nach demselben, Manche 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 547 


haben daraus geschlossen, dass der Faserstoff erst dort ihnen 
' beigegeben werde; sicher wissen wir nur, dass sie reicher an 
Zellen die Drüsen verlassen. — Ueber die Art einer solchen 
Zellenwirkung standen mir natürlich nur unbestimmte Hypo- 
thesen zu Gebote, aber es kam auch vor Allem nur darauf 
an, das Factum zu constatiren. Ich ging dabei von dem Ge- 
danken aus: wenn es die Zellen sind, aus deren Action die 
Gerinnung resultirt, so braucht das von einander abweichende 
Gerinnungsverhalten von Blut, Chylus und Lymphe nicht auf 
inneren Unterschieden ihres Faserstoffes zu beruhen; die ver- 
schiedene Natur der Zellen würde die Thatsache erklären. 
Dann mussten aber auch, und das war die Probe, die langsam 
gerinnenden Substanzen, Chylus und Lymphe sich wie das Blut 
verhalten, also schnell gerinnen, wenn man sie denselben Ein- 
flüssen unterwarf, welchen die Blutflüssigkeit unter allen Um- 
ständen ausgesetzt ist. 


1. Einwirkung des Blutes auf den Chylus. 


Der erste Versuch, den ich in diesem Sinne anstellte, ge- 
lang vollkommen; ich entnahm einem Pferde unmittelbar nach 
der Tödtung aus dem Ductus thoracicus etwa drei Unzen Chy- 
lus; derselbe war vollkommen milchweiss und blutkörperchen- 
frei; ich theilte ihn in zwei Theile und setzte zu dem einen 
eine drei Mal kleinere Quantität defibrinirten Blutes von dem- 
selben Pferde. Nach 2—3 Minuten war das Gemenge so voll- 
kommen geronnen, dass das Glas ohne Gefahr umgekehrt 
werden konnte; der unvermischte Chylus gerann erst nach 25 
Minuten. In einem zweiten Versuche machte ich zu Hunde- 
chylus einen Zusatz von ausgepresstem, bereits zwei Tage al- 
tem Pferdeblut; der Erfolg war derselbe, während der reine 
Chylus erst nach 1!/, Stunden gerann. Die Erfahrung, dass 
faserstofifreies Blut die Gerinnung des Chylus in hohem Grade 
beschleunigt, hat sich mir auch in allen späteren ‚Versuchen 
ausnahmslos bestätigt. Es fragt sich nun, ob zu dieser Wir- 
kung des Blutes die Gegenwart der Blutkörperchen absolut 
nothwendig sei. Reines, blutkörperchenfreies Serum erhielt 
ich dadurch, dass ich Pferdeblut in einem hohen und schmalen, 

36* 


Er A. Schmidt: 


in eine Kältemischung von Eis und Kochsalz gestellten Cy- 
linderglase auffing und es dann an einem ruhigen, keiner Er- 
schütterung ausgesetzten Orte in der Kältemischung sich selbst 
überliess. Während der langen Dauer des Flüssigbleibens; ge- 
winnen die Blutkörperchen Zeit, sich vollkommen zu senken, 
was sich nicht senkt, wird von dem ausgeschiedenen Faserstoff 
eingeschlossen, so dass das nach einigen Stunden spontan aus- 
gepresste Serum, namentlich wenn es vorsichtig. mit einer Pi- 
pette von oben abgehoben wurde, sich unter dem Mikroskop 
ale gänzlich frei von zelligen Elementen erwies. Das Experi- 
ment ergab, dass auch solches Serum, im Vergleich zur nor- 
malen Chylusgerinnung, den Vorgang bedeutend beschleunigte, 
aber das aus dem entsprechenden Oruor ausgepresste Blut that 
dieses in viel höherem Maasse. Serum mit einer geringen 
Quantität Blut versetzt, wirkte schneller als reines Serum, 
langsamer als Blut. Da es in Betreff der Schnelligkeit der 
Gerinnung sehr auf die Mengenverhältnisse der zusammenge- 
mischten Substanzen ankommt, so muss man natürlich bei An- 
stellung solcher vergleichenden Versuche Sorge tragen,. dass 
auch in dieser Beziehung Gleichheit der Bedingungen herrscht. 
Aber man kann immerhin an der Möglichkeit zweifeln, in der 
angegebenen Weise das Serum von seinem Gehalt an zelligen 
Elementen absolut zu befreien. Ich habe deshalb bei späteren 
Versuchen Blutserum von Rindern und Pferden durch thierische 
Membranen filtrirt und es auch dann noch wirkungsfähig ge- 
funden. | 
Nach Blutzusatz entspricht der Gerinnungsvorgang im Chylus 
dem im Blute nicht blos in Bezug auf die Schnelligkeit. Der 
Kuchen ist auch viel fester und besitzt ein grösseres Contrac- 
tionsvermögen als der im reinen Chylus entstandene. In zwei 
Fällen war die Neigung des letzteren, zu gerinnen, so schwach, 
dass es gar nicht zu einem wirklichen Festwerden der Flüssig- 
keit kam, es bildeten sich nur schlaffe, lose Gerinnsel und das 
Gefäss konnte in keinem Augenblicke umgekehrt werden; 
dieses konnte ohne Anstand mit den Portionen geschehen, 
denen Blut beigemengt war. , Der ausgeschiedene Faserstoff 
schloss alle färbenden Elemente in sich ein, der Kuchen con- 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 549 


trahirte sich schnell und schwamm nach 2—3 Stunden als 
kleiner rother Klumpen mit scharf umgrenzten Rändern in der 
ausgepressten, opalisirenden Flüssigkeit. Ich wusch ein solches 
Coagulum möglichst gut aus und brachte es in Salpeterwasser ; 
selbst nach Verlauf von 3 Monaten hatte noch keine bemerk- 
bare Auflösung stattgefunden. 

' Gewiss musste jetzt die Vermuthung auftauchen, dass das 
Blut diese seine unzweifelhafte Wirkung auf den gerinnenden 
Chylus 'vielleieht vermöge seines Gehaltes an Sauerstoff aus- 
übe. Auch 'die’geringere, aber doch eintretende Wirkung des 
Blutserums konnte in diesem Sinne gedeutet werden. Wenn 
aber die schnelle Gerinnung des Chylus durch den Sauerstoff 
der Blutzellen veranlasst wurden, so musste man annehmen, 
dass der reine Chylus nur deshalb langsamer gerinne als das 
Blut, weil er nicht, wie dieses, einer doppelten, einer äusseren 
und einer inneren, energischeren Sauerstoffeinwirkung ausge- 
setzt ist, sondern nur der äusseren atmosphärischen. Dann 
musste aber bei vollkommnem Luftabschluss der Chylus flüssig 
bleiben und es musste andererseits möglich sein, durch andere 
mit Sauerstoff gesättigte, an und für sich indifferente Flüssig- 
keiten denselben Effect zu erzielen, wie durch Blut. Eigentlich 
machte der Umstand, dass die Blutzellen die Fähigkeit, den 
Sauerstoff an sich zu binden, sehr lange bewahren, diese ganze 
Anschauung von vornherein ziemlich unwahrscheinlich , aber 
ich hielt es gegenüber der Rolle, die die Sauerstofftheorie in 
der Gerinnungsfräge gespielt hat, doch nicht für rathsam, vom 
Experiment abzusehen. 

‘Man hat es häufig genug versucht, die Gerinnung bei Ab- 
schluss der Luft oder im luftleeren Raum zu beobachten und 
hat dann meist eine Verlangsamung bemerkt, aber man hat 
dazu meines Wissens immer nur das Blut benutzt; diese Ver- 
suche konnten jedoch für die Theorie nicht von entscheidendem 
'Werthe sein, weil im Blute selbst eine grosse Menge Sauer- 
stoff enthalten ist. Man konnte-sich denken, dass die Blut- 
körperchen bei ihrem Untergange den Sauerstoff frei gäben 
und so eine wenn auch späte Gerinrung, wie sie z. B. in un- 
terbundenen Gefässen stattfindet, veranlassten. Vom Chylus 


SE n EN A. Schmidt: 


konnte ich in dieser Beziehung zuverlässige Resultate erwarten, 
aber ich "musste anch dem Einwande möglichst begegnen, dass 
es. sehr schwierig sei, den Contact mit der atmosphärischen 
Luft gänzlich zu vermeiden. Der Apparat, den ich mir. zu 
diesem Zwecke construirt habe, besteht aus einer Spritze aus 
Glas mit lang ausgezogener Spitze und gut schliessendem 
Stempel. Ziemlich in der Mitte der Spitze befindet sich 'ein 
luftdicht eingeschliffener Hahn. Man nimmt den Stempel her- 
aus, schliesst den Hahn, füllt die Spritze bis zum Ueberfliessen 
mit ausgekochtem destillirtem Wasser, drückt dann den Stempel 
drauf, öffnet den Hahn und spritzt das Wasser aus; auf diese 
Weise hat man in demjenigen Theil der Spritze, in welchem 
der Stempel nicht eindringen kann, die Luft durch Wasser 
verdrängt. Da aber beim Zurückziehen des Stempels. durch 
den luftleeren Raum leicht kleine Luftmengen zwischen Stempel 
und Spritzenwandung; angesogen werden, namentlich wenn die 
durch die Spitze aufzunehmende Flüssigkeit sich erschöpft, so 
füllt man das Rohr über dem Stempel etwa einen Zoll hoch 
gleichfalls mit ausgekochtem destillirtem Wasser. _ Nachdem 
diese Vorbereitungen - getroffen sind, unterbindet man den 
ductus thoracicus, durchschneidet ihn 1—1!/, Zoll stromabwärts 
von der Ligatur und führt die Spitze in den Gefässstumpf, der 
sich fest um sie zusammenzieht; man legt über die Spitze eine 
zweite Ligatur an, öffnet die erste und zieht nun vorsichtig 
eine beliebige Menge Chylus in die Spritze; darauf dreht man 
den Hahn zu, schliesst die Ligatur, öffnet die andere und nimmt 
die Spritze heraus, die man zur weiteren Sicherheit auch noch 
unter Wasser oder Oel aufhängen kann. Da der Apparat aus 
Glas besteht, so kann man den Eintritt der Gerinnung, ohne 
ihn: zu Öffnen, wahrnehmen, wobei das in ihm enthaltene 
Wasser von grossem Nutzen ist; bei langsamer Füllung der 
Spritze mengt sich dasselbe nicht mit dem Chylus, sondern 
schwimmt als getrennte Schicht oben auf demselben und behält 
diese oberste Lage bei jeder- Bewegung ; dieses hört auf, so- 
bald die ersten durch die Gerinnung bedingten Veränderungen 
der Flüssigkeit sich einstellen. 

Ich habe drei Versuche mit dieser Spritze angestellt, zwei 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 551 


Mal an Chylus von Pferden und ein Mal von einem Hunde; 
der Luftabschluss gelang jedesmal so vollkommen, dass nicht 
das kleinste Luftbläschen im Inneren der Spritze sich zeigte, 
aber die Gerinnung des Chylus blieb kein Mal aus, sie ging 
nur langsamer von Statten, als in den in offenen Gefässen auf- 
gefangenen Portionen; die Verzögerung betrug 1'/,, 2 und 2!/, 
Stunden; sie hat, wie ich glaube, und ich werde sogleich auf 
diesen Punkt zurückkommen, ganz andere Gründe als den einer 
behinderten Einwirkung des Luftsauerstoffes. 

Ausserdem stellte ich noch folgende Gegenversuche an: ich 
mengte zu gleichen Quantitäten Chylus und destillirtes Wasser, 
durch welches ich zwei Stunden lang "Sauerstoffgas geleitet 
hatte. Allerdings nimmt Wasser nur sehr wenig Sauerstoff 
auf, aber wenn man, wie ich später zeigen werde, durch Zu- 
satz von einem Tropfen Blut oder von ein Paar Tropfen Se- 
rum schon verhältnissmässig ausserordentlich grosse Wirkungen 
erzielt, so kann wohl mit Recht gefragt werden, wie gross 
dann die Sauerstoffmenge sein könne, die in so geringen Quan- 
titäten dieser Flüssigkeiten enthalten sei. : Der Gerinnungs- 
process erlitt keine Abweichung, er begann zu derselben Zeit 
wie in reinem Chylus und war auch gleichzeitig beendet. 

Ferner evacuirte ich Pferdeblutserum unter der Luftpumpe 
und verglich die Wirkung desselben mit der des nicht evacuir- 
ten Serums; auch hier stellte sich kein Unterschied heraus. 

Es befindet sich aber noch eine andere Gasart im Blute 
und zwar in grösserer Menge im venösen, die Kohlensäure. 
Ein Versuch mit destillirtem Wasser, das mit Kohlensäure ge- 
sättigt worden (3 Th. Chylus und 2 Th. Wasser), ergab eine 
Verzögerung der Gerinnung um 2!/, Stunden, dabei bildete 
sich nur ein unvollkommenes, weiches, klumpiges Coagulum; 
das destillirte Wasser an sich hatte keinen Antheil an dieser 
Wirkung, da es in denselben Verhältnissen, mit Chylus ge- 
mischt, den Gerinnungsvorgang in Bezug auf die Zeit gar nicht 
abänderte; auch war hier die ganze Flüssigkeit zu einem frei- 
lich gallertartigen Coagulum geronnen. 

Nach dieser Erfahrung lag es nahe, den Unterschied in der 
Gerinnungszeit des venösen und arteriellen Blutes von dem 


552 R sie 1309 A. Schmidt: 


grösseren.Gehalt ‚des: ersteren an Kohlensäure abzuleiten;',es 
kam.also ‚darauf an, den Einfluss dieses Gases »auch ‚auf Blut 
zu: eonstätiren.' Zu dem Ende: erhielt ich Pferdeblut aus der 
vena jügularis ducrh eine Kältemischung flüssig und brachte. 
gleiche Mengen vom Plasma ‘in zwei sehr hohe und. schmale, 
ebenfalls in Eismischungen: stehende Cylindergläser ‚ etwa 1!/y 
Unzen: in. jedes.‘ Durch ‚die eine Flüssigkeit leitete ich einen 
langsamen Strom: von Kohlensäure; wegen der Zähigkeit des 
Plasma und des dadurch ‘bedingten Aufschäumens darf das 
Gefäss höchstens bis zu‘ !/;, ‘seines ‚Inhaltes gefüllt sein, aus 
demselben Grunde muss der Gasstrom ein sehr langsamer sein, 
auch weil ‚durch‘ die Bewegung, in welche ein starker Strom 
die Flüssigkeit versetzt, nur zu leicht, trotz der Kältemischung 
partielle Fibrinausscheidungen bewirkt werden. Unterdess sorgte 
ich 'stets-für Gleichheit der Temperatur in: den Eismischungen.. 
Nachdem ‘die-Gasdurchleitung 25: Minuten gewährt, entfernte 
ich.den. Kohlensäureapparat, hob beide Gefässe aus ihren Eis- 
mischungen und brachte: sie in eine umgebende "Temperatur 
von 10°, , ‚Hier gerann die eine Flüssigkeit nach 20: Minuten, 
die andere mit: Kohlensäure: behandelte blieb aber noch 15 Mi- 
nuten länger;' also im Ganzen 35 Minuten: flüssig; dann gerann 
sie fast plötzlich. 

Es schien mir jetzt unzweifelhaft zu sein, dass der Kohlen- 
BER des Blutes, je nach seiner Grösse, den Gerinnungs- 
vorgang desselben zu modifieiren vermag. Daran knüpfte sich 
jedoch: noch-eine andere Erwägung: es ist häufig genug, und 
zwar. zu Gunsten der Sauerstoiltheorie : hervorgehoben ‚worden, 
dass, Blut im «abgeschlossenen  Raume ’ langsamer 'gerinnt als 
in.offenen  Gefässen, und ich konnte diese Erfahrung auch ‚in 
Betreff .des;Chylus bestätigen; ‚ebenso. häufig hat man in..dem- 
selben. Sinne, darauf :hingewiesen, ‚dass die Schnelligkeit, der 
Gerinnung sehr. .davon-abhänge, ob das Blut in einem hohen 
und schmalen oder in einem flachen-und breiten Gefäss aufge- 
fangen. werde. Aber in! beiden:Fällen ist es ja: nicht blos. der. 
Zutritt des Sauerstoffes ‚der "behindert: oder ‚erschwert wird, 
sondern !ebenso auch: der ‚Verlust an Kohlensäure, die Gasdif- 
fusion ‚überhaupt wird unterbrochen oder verlangsamt; nach 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 553 


den’ negativen Resultaten, die mir meine Versuche mit Sauer- 
stoff lieferten "musste ich aber gerade auf diese Kohlensäure- 
entweichung Gewicht legen. Ich sog erkältetes Pferdeblut- 
plasma in eine in'zwei sehr dünne Röhren auslaufende Glas- 
kugel' und’ schmolz die Röhren zu; eine kleine Luftblase blieb 
in der’ Kugel, die mir zur Bestimmung des Gerinnungsmomentes 
diente. ‘Die Einsaugung war nur wenige Augenblicke nach 
der Entleerung des Blutes aus dem Körper geschehen, so dass 
unmöglich ein 'erheblicher Kohlensäureverlust bereits stattge- 
funden haben konnte; in einer äusseren Temperatur von 12° 
erfolgte die Gerinnung in der Kugel 8 Minuten später als im 
offenen Gefäss. Jetzt wiederholte ich denselben Versuch in 
der Weise; 'dass’ich zuerst das in die Glaskugel zu füllende 
Plasma in‘ der früher angegebenen Weise mit Kohlensäure 
behandelte; die Glaskugel, den Rest der kohlensäurereichen 
Flüssigkeit und eine dem letzteren entsprechende Quantität vom 
ursprünglichen Blutplasmä brachte ich in eine Temperatur von 
6°; die Gerinnungen traten in Intervallen von ca. 20 Minuten 
ein; der gesteigerte Kohlensäuregehalt verzögerte auch hier die 
Gerinnung’und zwar am meisten in der Glaskugel, wo ausser- 
dem’ die Möglichkeit zur Gasdiffusion abgeschnitten war. Es 
sind’ mir keine Gasanalysen des Chylus bekannt, aber wenn, 
wie es’doch sehr wahrscheinlich ist, derselbe einen Gehalt an 
Kohlensäure besitzt, so findet die von mir gemachte Beobach- 
tung über seine langsame Gerinnung in der Spritze in diesen 
Thatsachen ihre Erklärung; ich muss hinzufügen, dass unter 
den drei Fällen zwei Mal die in der Spritze entstandenen Coa- 
gula ganz’ demjenigen ‘entsprechen , welches sich im Chylus 
nach Zusatz von 'kohlensäurehaltigem Wasser entwickelt hatte; 
aus der Spritze'in: eine Schale gegossen , breiteten sie sich 
flach und formlos aus. “Das dritte Mal’ zeigte das Gerinnsel 
in:der Spritze'zwar 'eine verhältnissmässig bedeutende Festig- 
keit, es behielt die Form’ der Spritzenhöhlung auch nach der 
Entleerung bei, aber gerade dieses Mal enthielt der Chylus 
eine bedeutende Beimengung von Blutkörperchen, die ihm eine 
starke röthliche Färbung gaben ; dieselben konnten, bei dem 
vorsichtigen Zuge, den ich ausgeübt hatte, und bei dem Um- 


554 | A. Schmidt: 


stande, dass das aus der durchschnittenen Gefässwandung 
stammende Blut mit dem Chylus. des Stumpfes fortgeschwemmt 
wurde, während ich die Spitze des Instrumentes tief in den 
lezteren einführte, nur dem Chylus selbst angehören. 

Es giebt eine Beobachtung, die der von mir supponirten 
Wirkung der Kohlensäure zu widersprechen scheint: manche 
Forscher erwähnen nämlich, dass Blut im luftleeren Raum 
langsamer gerinnt, als unter gewöhnlichen Bedingungen. Ich 
habe über diesen Punkt keine Erfahrungen gesammelt; es 
scheint mir jedoch, dass hier manche die Abweichung bedin- 
genden Ursachen zusammentreffen können ; so z. B. findet im 
Vacuum eine Temperaturerniedrigung Statt; ferner bewirkt die 
Evacuation auch einen Wasserverlust, also eine Concentration 
der Flüssigkeit, und ich habe die wiederholte Erfahrung ge- 
macht, auf die ich im weiteren Verlauf zurückkommen werde, 
dass die Verdichtung der Flüssigkeit ihre Gerinnung unter 
Umständen erschwert ; allerdings kann wegen der Kürze der 
Zeit der bei der Evacuation stattfindende Wasserverlust nicht 
erheblich sein, aber es handelte sich auch immer nur um eine 
sehr unbedeutende Verzögerung der Gerinnung, zuweilen fehlte 
sie ganz. Das Factum scheint mir übrigens nicht ganz sicher 
zu sein, Scudamore!) behauptet geradezu, das Blut gerinne 
im Vacuum schneller als sonst, ebenso Richardson und 
Lehmann.?) 

Da der Chylus eine viel geringere Neigung zu gerinnen 
besitzt als das Blut, so übt jedes den Gerinnungsvorgang hem- 
mende Moment auf ihn auch einen viel stärkeren Einfluss aus 
als auf letzteres. So verhält es sich mit der Kohlensäure, so 
auch mit der Kälte. Eine langsame Temperaturerniedrigung 
von wenigen Graden genügt, um die Gerinnung des Ohylus 
bedeutend zu verzögern, während die des Blutes, namentlich 
des arteriellen, oft selbst nicht durch Eismischungen aufzuhal- 
ten ist. Dieser Umstand muss bei.allen Versuchen mit Chylus, 


1) Scudamore, Ein Versuch über das Blut, aus dem Englischen. 
Würzburg 1826. Versuch 5 u. 6. 
2) Lehmann, Lehrbuch der phys. Chemie, 1850, Bd. II, 8.187. 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 555 


namentlich wenn man ihm andere Substanzen beimengt, mit 
in Rechnung gebracht werden. 


2. Einwirkung des Blutes auf die Transsudate. 


Aber wenn es so wahrscheinlich wurde, dass im Blute, ein 
ganz specifischer Stoff enthalten sei, durch dessen Einwirkung 
auf die fibrinogene Flüssigkeit die Ausscheidung des Fibrins 
bewirkt werde, wenn hieraus auf ein ähnliches Verhalten bei 
Chylus und Lymphe geschlossen werden konnte, dann musste 
auch die Serosität der durch die Gefässwandungen transsudir- 
ten Ernährungsflüssigkeiten zweifelhaft werden; die Annahme 
drängte sich auf, dass dieselbe während ihrer Transsudation 
keineswegs ihre fibrinöse Natur, ihre Gerinnbarkeit einbüssten, 
dass sie aber factisch nicht gerinnen, weil ihnen jener speci- 
fische Körper mangelte, der in den in geschlossenen Bahnen 
kreisenden Flüssigkeiten enthalten ist; sie mussten dann, wenn 
man diesen Mangel künstlich ersetzte, sich wie die letzteren 
verhalten. 


In der That bestätigte sich mir diese Anschauung gleich 
durch die ersten Versuche in sehr glücklicher Weise. In einer 
ganz klaren, 5,5°/, Alb. enthaltenden, also sehr concentrirten 
Hydroceleflüssigkeit entstand, nachdem ich etwa 2 Theile der- 
selben mit 1 Theil aus dem noch warmen Kuchen gepressten 
Ochsenblutes versetzt hatte, in weniger als einer Minute eine 
so feste Fibrinausscheidung, dass ich das Glas umkehren 
konnte ; bald darauf begann die spontane Contraction des 
Gerinnsels , wobei ein vollkommen klares Serum ausge- 
presst wurde und das Coagulum nach Verlauf einiger Stunden 
auf ungefähr !/, seines ursprünglichen Volums zusammen- 
schrumpfte. In einer Temperatur von 8—12° aufbewahrt, trat 
die Fäulniss in dieser Flüssigkeit erst nach Verlauf von mehr 
als 4 Wochen ein und dann erst verlor sie ihre Gerinnungs- 
fähigkeit, aber niemals während dieser ganzen Zeit hatte sich 
in. ihr auch nur, die geringste spontane Fibrinausscheidung 
eingestellt. Von da an hat mir eine grosse Reihe von Ver- 
suchen wesentlich dieselben Resultate gegeben; die Bedingungen 


336 PAULUS Talk WORAN 9 ı aab aa 


zum Gelingen des m sind nur bald _— m 'we- 
niger günstige. KEN " 

In einer vorläufigen Mittheilung an die königl. Akademie 
zu Berlin’) habe ich die Zahl. der von. mir untersuchten Trans- 
sudate auf 68 angegeben; ich kann diese Zahl jetzt auf mehr 
als 80 erheben; ich wiederhole, dass es mir in der bei weitem 
grössten Zahl der Fälle gelungen ist, durch Blutzusatz Gerin- 
nung zu bewirken. Wo dieses nicht eintraf, da hatten bereits 
erschöpfende Fibrinausscheidungen innerhalb des Körpers oder 
ausserhalb desselben bei nachweisbarem durch die Operation 
bedingten Blutzutritt stattgefunden. Auch bei Eröffnung der 
serösen Höhlen bei Leichen gelingt es nicht immer, die Ver- 
unreinigung der Flüssigkeiten durch Blut zu en Aus- 
serdem sind die fibrinösen Substanzen in den Cadavern der 
Einwirkung des nach der Gerinnung des Blutes nun durch ab- 
gestorbene Gefässmembranen hindurch sickernden ‚Serums aus- 
gesetzt. 

Es stellte sich nun zuerst heraus, dass so wie im Blute, 
so auch in den anderen spontan gerinnenden Flüssigkeiten, 
Chylus, Lymphe und Eiter, ein gerinnungserzeugendes Prineip 
vorhanden ist, aber von sehr viel geringerer Energie. Um ein 
Beispiel von den Unterschieden zu geben, die ich beobachtet 
habe, führe ich folgende Versuche an: | 
" Eine Hydroceleflüssigkeit, welche nach Zusatz von frischem 
Rinderblut in’ ungefähr 5 Minuten fest wurde, gerann nach 
Hinzufügung einer dem Blutquantum gleichen Menge frischen 
ausgepressten Hlundechylus erst nach 3!/, Stunden. 

‘Die aus’ einem strotzenden Halslymphgefäss desselben Hun- 
des stammende Lymphe bedurfte , "um dieselbe Wirkung zu 
äussern, sogar eines Zeitraumes von 5 Stunden, obgleich’ ihre 
eigene Gerinnung schneller von Statten ging als die des Chy- 
lus." In beiden Fällen waren die ‘gebildeten 'Gerinnsel' sehr 
weich und leicht zerreisslich. 

Ich liess frischen , rahmigen , nach dem äusseren Ansehen 
wenigstens vollkommen’ blutkörperchenfreien Eiter einige Stun- 


1) Gbsammtsitzung der Akademie vom 7. März 1861 (Monatsbe- 
sicht U.8. w., 1861 8. 360. 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 557 


den in einem hohen und schmalen Standgefäss abstehen; die 
im Eiter schwimmenden Faserstoffklumpen wurden herausge- 
gefischt. Mit einer Pipette hob ich etwas von .der obenste- 
henden Flüssigkeit ab, schüttelte dann den Rest wieder durch- 
einander und mischte nun in gleichen Mengenverhältnissen 
Eiter sowohl als Eiterserum mit jener ersten von mir unter- 
suchten , so überaus leicht gerinnenden Hydroceleflüssigkeit. 
Sie coagulirte in 1!/, resp. 4 Stunden und die Gerinnsel be- 
standen aus einer weichen, zitternden Gallerte, die sich auch 
bei längerem Stehen gar nicht zu contrahiren vermochte. 

Es ist ferner interessant, dass auch die Ergebnisse der mit 
ausgepresstem Pferdeblut angestellten Experimente vollkommen 
dem bekannten Gerinnungsverhalten desselben entsprechen. 
Niemals erreicht dasselbe die. Wirksamkeit des Rinder- und 
Schweineblutes.. Da es jedoch, wenn auch hauptsächlich, so 
doch nicht allein auf die Beschaffenheit des Blutes ankommt, 
indem auch die der Transsudete, namentlich ihr Faserstoffge- 
halt und der Grad ihrer Ooncentration von Einfluss auf. die 
Art ihres Gerinnungsprocesses ist, so ist es durchaus nöthig, 
bei den vergleichenden Versuchen mit verschiedenen Blutarten 
an einem: und demselben Transsudat zu operiren. Niemals 
ging, selbst bei Anwendung von frischem Pferdeblut, der Pro- 
cess schneller als in 10—15 Minuten von Statten, häufig lang- 
samer'), während bei Rinder- und Schweineblut die Gerinnungs- 
zeiten bei günstigen fibrinösen Flüssigkeiten zwischen 1 und 5 
Minuten schwankten. _Hiernach konnte geschlossen. werden, 
dass auch die langsamere Gerinnung .des Pferdeblutes selbst 
nicht abhängig ist von einer besonderen Beschaffenheit der 
fibrinogenen Substanz, sondern eben von der geringeren Energie 
des Gerinnungserregers. Bei dem ersten Versuch, den ich in 


1) Die Zeit reichte fast immer aus zur gänzlichen Senkung der 
Pferdeblutkörperchen; dann bildete sich auch eine vollkommne Speck- 
haut; dieselbe lässt sich aber auch mit jedem anderen Blute erhalten, 
wenn man nur die Bedingungen einer langsamen Gerinnung herstellt. 
Die Bildung einer Speckhaut begleitete immer die Einwirkung eines 
alten, heruntergekommenen Blutes, sie entstand um so leichter, je 
fibrinreicher die Flüssigkeit war. 


558 A. Schmidt: | 


diesem Sinne anstellte, verfuhr ich in der Weise, dass ich 
Blut aus der Jugularvene eines Pferdes in zwei Gefässen auf- 
fing, von welchen das eine mit defibrinirtem Rinderblut zu !/, 
gefüllt war. Aber gerade dieses Mal gerann das unvermischte 
Pferdeblut, was ich übrigens auch sonst oft gesehen habe, mit 
solcher Geschwindigkeit, dass es mir unmöglich wurde, eine 
Zeitdifferenz zu constatiren. Ausserdem leitete mich eine an- 
dere Erwägung dazu, das Experiment zu modificiren. Ich fand 
nämlich bei meinen künstlichen Gerinnungsversuchen , dass 
durch den Act der Gerinnung selbst eine bedeutende Erschö- 
pfung des angewandten Blutes herbeigeführt wird und zwar 
dieses um so mehr, je grösser der Fibringehalt der Flüssigkeit 
war. Dasselbe muss nun auch wohl von der ersten, spontanen!) 
Gerinnung des Blutes gelten; erwägt man ausserdem den 
grossen Fibringehalt des Blutes, so kann der Kraftverlust, den 
es bei dieser Leistung erleidet, kein geringer sein. Demgemäss 
kann man auch nur sagen und die Erfahrung bestätigt es, dass, 
so gut wie Ochsenblut spontan schneller gerinnt als Pferdeblut, 
so auch dasselbe Verhältniss sich bei den durch diese Blutarten 
künstlich bewirkten Gerinnungen wiederholt; aber eine durch 
Ochsenblut bewirkte künstliche Coagulation geht doch meist 
nicht so schnell oder gar schneller von Statten als der spon- 
tane Process im Pferdeblut, und wenn dieses hin und wieder 
der Fall ist, so darf man die verhältnissmässige Fibrinarmuth 
der meisten Transsudate nicht ausser Acht lassen. Man kann 
also auch nicht erwarten, wenigstens nicht unter gewöhnlichen 
Verhältnissen, die Gerinnung im Pferdeblut durch Zusatz von 
defihrinirtem, also bereits geschwächtem Rinderblut erheblich 
zu steigern. Aber man kann den spontanen Vorgang durch 
Vermehrung der Gerinnungswiderstände beliebig herabsetzen 
oder ganz hindern und dann das Verhalten der fibrinogenen 
Substanz gegen die Einwirkung verschiedener Blutarten be- 
stimmen. Zu dem Ende hinderte ich Pferdeblut durch eine 
Kältemischung am Gerinnen, vertheilte nach vollendeter Sen- 


1) Ich bediene mich des Ausdruckes „spontan“ jetzt und des Wei- 
teren nur im Gegensatze zu der Bezeichnung „künstlich“. 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnuhg. 559 


kung der Blutkörperchen 3 gleiche Quantitäten vom Plasma in 
3 Reagensgläser und brachte dieselben in eine umgebende Tempe- 
ratur von 5°, Nachdem ich zu der einen Flüssigkeit einige Tropfen 
Oehsenblut, zu der anderen die gleiche Menge Pferdeblut (beide 
24 Stnnden früher entleert, aber unmittelbar vor dem Experi- 
ment ausgepresst) hinzugefügt hatte, erfolgte die Gerinnung nach 
drei resp. 15 Minuten, im reinen Plasma erst nach einer halben 
Stunde. — Zu einem anderen Versuche benutzte ich statt der 
Kälte eine Lösung von Bittersalz; der Widerstand, den eine 
solche Lösung der Gerinnung entgegensetzt, wird zwar durch 
nachträgliche Verdünnung mit Wasser wieder beseitigt, aber 
nur langsam und häufig auch unvollständig, insofern auch nach 
längerer Zeit nur eine partielle Fibrinausscheidung Statt ge- 
funden hat!). Der Process verläuft jedoch schnell und in er- 
schöpfender Weise, wenn man nach der Verdünnung mit Wasser 
Blut hinzusetzt?). Setzte ich nun zu durch Bittersalz flüssig 
erhaltenem Pferdeblutplasma nach der Verdünnung ausge- 
presstes Pferde- und Rinderblut, so erhielt ich dieselben Re- 
sultate, wie bei Anwendung der Kälte. — Diese Ergebnisse 
sprechen gewiss nicht dafür, dass die langsame Gerinnung des 
Pferdebluts in einer besonderen Beschaffenheit seines Faser- 
stoffes begründet sei. Ich kann es Jeden überlassen, die An- 
wendung auf andere speckhäutige Blutarten selbst zu machen. 


8. Bedingungen des Gerinnungsvorganges. 


Es kommt nun, was die Einwirkung des Blutes auf fibri- 
nöse Flüssigkeiten anbetrifft, zuerst auf die Mengenverhältnisse 
au. Im Allgemeinen: je kleiner die Menge des zu einer und 
derselben Flüssigkeit zugesetzten Blutes, desto langsamer die 


1) Den Beweis für eine unvollständige, theilweise Gerinnung ent- 
nehme ich nicht nur aus einer äusserlichen Abschätzung der ausge- 
schiedenen Massen, sondern daraus, dass durch Blutzusatz noch wei- 
tere Ausscheidungen herbeigeführt werden. 

2) Der Erfolg ist geringer, wenn man vor der Verdünnung das 
frische Blut hinzusetzt, und zwar um so geringer, je länger man dann 
mit der Verdünnung zögert. Es ist, als ob die schwefelsaure Mag- 
nesia durch das Wasser erst unschädlich gemacht werden müsste. 


560 dnanilsd 2 ‚A. Schmidt: a har 


Ka a 2 iR 


Gerinnung, desto weicher, gallertartiger, contractionsunfähiger 
der ausgeschiedene Faserstoff. Aber es ist nicht immer leicht, 
die Zeitdifferenz zu constatiren, namentlich wenn man zu den 
Versuchen ganz frisches Blut anwendet. Dasselbe wirkt auch 
in den kleinsten Mengen mit solcher Schnelligkeit, dass es, 
wenn die gerinnbaren Flüssigkeiten nicht sehr concentrirt und 
faserstoffreich sind, oder wenn man nicht über grössere Men- 
gen derselben verfügt, häufig schwer fällt, einen deutlichen Un- 
terschied in der Gerinnungszeit wahrzunehmen ; dagegen lassen 
sich in solchen Fällen die bezüglichen Consistenzdifferenzen 
immer leicht beobachten. Wenn man, wie ich aus Rücksichten 
sowohl der Bequemlichkeit als der Sparsamkeit gethan habe, 
in Reagensgläsern operirt, so muss man den Blutzusatz tropfen- 
weise abmessen; auch dann wird bei leicht gerinnenden ‚Sub- 
stanzen häufig ein einziger Tropfen in ebenso kurzer Zeit eine 
Gerinnung herbeiführen, als eine grössere Anzahl; aber-an der 
Zartheit, an der gallertartigen Beschaffenheit erkennt man die 
schwächere Einwirkung; dennoch kann in beiden Fällen der 
Faserstoffgehalt der Flüssigkeit vollkommen. erschöpft sein. In 
einem besonders ausgezeichneten Falle benetzte ich das Ende 
eines Glasstabes mit frischem Rinderblut, zog mit demselben 
an. der inneren Wandung eines Reagenglases einen Strich, 
füllte letzteres zur Hälfte mit einem pericardialen 'Transsudat 
von 2°/, Alb. und vertheilte das Blut durch Schütteln in der 
Flüssigkeit. Nach 1'/; Minuten war dieselbe geronnen, aber 
nur zu einer gelatinösen zitternden Masse, das Glas konnte 
nicht umgekehrt werden, wie das bei einem anderen, blutrei- 
cheren Gemenge möglich war. Ich drückte das gallertartige 
 Coagulum aus und versetzte einen Theil der ausgedrückten 
Flüssigkeit von Neuem mit Blut; es erfolgte hier keine Fibrin- 
ausscheidung, mehr, wohl aber geschah dieses innerhalb 10 Mi- 
nuten in dem ursprünglichen Transsudat, zu dem ich den an- 
deren Theil gegossen hatte; es war also nicht blos alles Fibrin 
ausgeschieden worden, sondern auch noch ein Ueberschuss an 
Kraft vorhanden, trotz der geringen Menge des ursprünglich 
zugesetzten Blutes. Da die gelatinöse Beschaffenheit des Coa- 
gulum’s nicht auf eine nur partielle Fibrinausscheidung, bezogen 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 561 


werden konnte, so muss ich, nachdem eine grosse Reihe von 
wiederholten Versuchen mir stets dasselbe Resultat gegeben 
haben, schliessen, dass die Beschaffenheit des ausgeschiedenen 
Fibrins, namentlich seine Zähigkeit und Contractionsfähigkeit 
abhängig ist von der Menge, in welcher die fibrinoplastische 
Substanz!) in der Flüssigkeit vorhanden ist. Dieses Gesetz 
erklärt es mir, weshalb ein zu reichlicher Blutzusatz die Beob- 
achtung beeinträchtigt, insofern es dann häufig den Anschein 
gewinnt, als finde gar keine oder nur eine sehr unvollkommene 
Gerinnung Statt; man erwartet dann vergeblich das Gestehen 
der Flüssigkeit, das Ganze bleibt flüssig, sieht man jedoch ge- 
nauer zu, so findet man am Boden des Glases ein kleines Ge- 
rinnsel, das nur den geringsten Theil der Blutkörperchen ein- 
schliesst oder in anderen Fällen nur ein ganz kleines festes 
Faserstoffklümpchen, das man leicht mit einem Haufen zusam- 
mengeklebter Blutkörperchen verwechseln könnte, wenn es 
sich nicht beim Schütteln der Flüssigkeit unverändert erhielte; 
und doch ist in beiden Fällen die Flüssigkeit defibrinirt. Der 
eigentliche Gerinnungsvorgang, die schichtweisen, anfangs an der 
Gefässwandung anhaftenden und allmählig sich von ihr loslö- 
senden Ablagerungen, die um so deutlicher hervortreten, je 
mehr man den Process verlangsamt, ist hier, für die Augen 
wenigstens, geradezu auf Null redueirt, man hat es nur mit 
dem Endresultat des Processes zu thun. Zuweilen habe ich 
jedoch auch das Gegentheil gesehen, die ausgeschiedenen Mas- 
sen überall in der Flüssigkeit gleichmässig vertheilt ohne Oon- 
tractionsfähigkeit; es ist dabei die durch grossen Blutzusatz 
bedingte Volumsvergrösserung der Flüssigkeit, gewissermaassen 


1) Ich werde mich des Ausdruckes „fibrinoplastische Substanz“ 
für dasjenige, was die Fibrinausscheidung bewirkt, und „fibrinogene 
Substanz“ für das, was Fibrin wird, bedienen, hauptsächlich weil es 
sehr schwer ist, von Dingen zu reden, die keinen Namen haben. Ich 
habe ausserdem die Ueberzeugung, dass die Fibrinausscheidung abhän- 
gig ist von der Einwirkung einer besonderen , in den gerinnbaren 
Flüssigkeiten enthaltenen Substanz; wen jedoch die mitgetheilten 
und noch mitzutheilenden Thatsachen zu einer anderen Ansicht leiten, 
der kann ja immerhin den Ausdruck in seinem Sinne interpretiren. 

Reichert’s u, du Bois-Reymond’s Archiv. 1561. 37 


562 A. Schmidt: 5; 


die Verdünnung der vorhandenen fibrinogenen Substanz zu be- 
rücksichtigen. Das auf diese Weise ohnedies in feinster Ver- 
theilung ausgeschiedene Fibrin wird nun noch durch die Masse 
der Blutkörperchen, die es in solchen Fällen einschliesst, an 
jeder Contraction behindert, es entsteht so ein sehr volumi- 
nöses, aber fast flüssiges, oft sehr schwer sichtbares Coagulum. 
In welcher Weise nun auch der Process verläuft, es ist bei 
der Undurchsichtigkeit des Gemenges immer sehr schwer, auch 
nur mit annähernder Genauigkeit den Zeitpunkt zu bestimmen, 
wann diese unscheinbaren Faserstoffausscheidungen stattgefun- 
den haben. Zuweilen, namentlich wenn die angewandte fibri- 
nöse Flüssigkeit im Verhältniss zu ihrer Concentration sehr 
wenig Fibrin lieferte, ist es mir sogar erschienen, als ob sie 
später als nach einem geringen Blutzusatz eintreten; es mag 
dabei noch ein anderer Umstand mit in Betracht kommen: da 
die Transsudate in der grössten Zahl der Fälle bei Weitem 
diluirtere Flüssigkeiten darstellen als das Blut, so wird durch 
eine reichliche Beimengung von letzterem jenes Missverhältniss 
zwischen Concentration und Gehalt an fibrinogener Substanz 
noch bedeutend gesteigert. Es hat sich mir aber aus anderen 
Verhältnissen herausgestellt, dass bei gleichem Gehalt an letz- 
terer die Widerstände für ihre Ausscheidung wachsen in gera- 
dem Verhältniss zu der Concentration der Flüssigkeit. 

Bei der so sehr wechselnden Beschaffenheit der Substanzen 
und somit der Gerinnungsbedingungen ist es nicht möglich, in 
zuverlässigen Zahlen dasjenige Mischungsverhältniss anzugeben, 
bei welchem man auf ein möglichst ungetrübtes Resultat rech- 
nen kann; in jedem einzelnen Falle muss eben der Versuch 
darüber entscheiden. Im Allgemeinen kann ich sagen, dass bei 
den am leichtesten zu erlangenden Transsudaten aus dem Peri- 
cardium und dem Peritoneum, deren Gehalt an organischer 
Substanz ich in einer ziemlich grossen Anzahl von Fällen 
zwischen 1 und 3°/, schwankend fand, das Verhältniss von 
1 Tropfen frischen Rinderbluts zu 1—-1'!/, Cubikcentimeter 
Transsudat dasjenige war, bei welchem ich die bestmöglichen 
Resultate erzielte, dagegen kann ich aus diesen Fällen das 
Verhältniss zu gleichen Theilen als ein ungünstiges weil zu 
starkes bezeichnen. | 


‘Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 563 


Es giebt zwar Fälle von grossem Fibrinreichthum, in wel- 
chen man ohne sehr grosse Mengen von Transsudat zu be- 
dürfen zu den Versuchen über die Gerinnungsgeschwindigkeit 
frisches Blut anwenden kann, aber dieselben sind selten; meist 
thut man besser , sich dazu solchen Blutes zu bedienen , das 
bereits durch Stehen an der Luft geschwächt ist, oder man 
hält sich an das Blutserum, das man nöthigenfalls beliebig mit 
Wasser verdünnen kann; auf diese Weise lässt sich der Ge- 
rinnungsvorgang auf eine Dauer von vielen Stunden und selbst 
mehreren‘ Tagen ausdehnen und es wird leicht, die Abhängig- 
keit der Gerinnungszeit von der Grösse des Blut- oder Serum- 
zusatzes zu constatiren. Uebrigens kann man aus solchen 
Versuchen ersehen, in wie ausserordentlich geringen Quantitäten 
die fibrinoplastische Substanz immer noch ihre Wirksamkeit 
äussert. Ich habe Blutserum mit dem 10fachen Volum destil- 
lirten Wassers verdünnt; ein Tropfen hierron genügte, um in- 
nerhalb 12 Stunden 1 Cem. einer allerdings eiweissarmen Flüs- 
sigkeit aus. dem Peritoneum gerinnen zu machen. Dagegen 
konnte ich aus derselben Quantität einer sehr concentrirten, 
aber wenig Fibrin liefernden Hydroceleflüssigkeit durch einen 
Tropfen unverdünntes Serum auch nach 24 Stunden keine Aus- 
scheidung erhalten; 5 Tropfen wirkten hier erst in 3 Stunden, 
2 Tropfen Blut in 40: Minuten. Ein grosser Fibrinreichthum 
bedingt an’ und für sich keine langsame Gerinnung ; solche 
fibrinreiche Flüssigkeiten, die nach meinen Erfahrungen übri- 
gens stets auch die concentrirtesten waren, bedürfen nur, um 
ebenso schnell zu gerinnen, wie die fibrinarmen und zugleich 
diluirten, eines grösseren Zusatzes von Blut, oder dasselbe 
muss sehr frisch und kräftig sein. Das für den Gerinnungs- 
vorgang ungünstigste Verhältniss, Fibrinarmuth bei relativ hoher 
Concentration, habe ich hauptsächlich bei solchen Flüssigkeiten 
beobachtet, in welchen inner- oder ausserhalb des Körpers 
bereits partielle spontane Fibrinausscheidungen stattgefunden 
hatten. 

Die. durch Blutserum erzeugten Coagula entsprechen in 
ihrer Beschaffenheit ganz den durch Zusatz sehr geringer 
Quantitäten Blut bewirkten. Sie besitzen ein sehr geringes 

37* 


1 A Schmidt: 


Contractionsvermögen, sind weich, gelatinös, zerfallen und zer- 
reissen leicht; sie haben in ihrem äusseren Ansehen die grösste 
Aehnlichkeit mit den in den Flüssigkeiten seröser Höhlen 
ausser- oder innerhalb der Leiche spontan auftretenden Aus- 
scheidungen. Die letzteren kehren häufig wieder, nachdem 
man sie durch Filtriren oder mit dem Glasstabe aus der Flüs- 
sigkeit entfernt hat. Ich glaubte hierin nur einen künstlich 
unterbrochenen, äusserst langsam fortschreitenden Gerinnungs- 
process zu sehen, hervorgerufen durch eine im Verhältniss zur 
Menge der vorhandenen fibrinogenen Substanz äusserst geringe 
Beimengung von fibrinoplastischer Substanz. Ich versuchte 
daher diesen Vorgang nachzuahmen, indem ich zu 15 Ccm. 
einer unter günstigen Verhältnissen sehr schnell gerinnenden 
Herzbeutelflüssigkeit von 2°/, Alb. 4 Tropfen Pferdeblutserum 
setzte; letzteres war schon 2 Tage alt. Darauf goss ich von 
der Flüssigkeit etwa 4 Ccm. in ein 'Reagensglas ab. und 
stellte dasselbe bei Seite. Am Abend desselben Tages befand 
sich in dem grösseren Gefäss ein schwer sichtbarer, aber beim 
vorsichtigen Uebergiessen der Flüssigkeit in ein anderes Gefäss 
aus dem plötzlichen Hinüberstürzen deutlich erkennbarer Gal- 
lertklumpen ; abfiltrirt hinterliess er einen fast spurlosen, mem- 
branartig über die Spitze der Trichterhöhle ausgespannten Rück- 
stand. Am Morgen des zweiten Tages war eine neue Aus- 
scheidung sichtbar, die ich auf dieselbe Weise entfernte; dieses 
wiederholte sich gegen Abend, dann am folgenden dritten Mor- 
sen, zuletzt aber erst zu Mittag des vierten: Tages. Kleine 
Proben der Filtrate gerannen stets nach Zusatz eines Tropfens 
Blut, lieferten aber von Mal zu Mal weniger Fibrin. Bei dem 
Filtrat vom vierten Tage fand dieses gar nicht mehr Statt, der 
Process war demnach beendet, und es stellte sich auch ‘eine 
weitere Ausscheidung in der Flüssigkeit nicht mehr. ein., In 
der im Reagensglase ruhig sich selbst überlassenen Portion 
hatte sich unterdess ein aus 3 einander einkapselnden, in.der 
Reihenfolge von innen nach aussen immer zarter und durch- 
sichtiger werdenden Schichten bestehendes Coagulum, gebildet 
auch hier liess sich aus der Flüssigkeit kein Fibrin mehr ..ge- 
winnen. Der Rest der ursprünglichen Substanz blieb ‚noch 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 565 


8 Tage nach Beendigung dieses Experimentes gerinnbar, ohne 
zu gerinnen und ging dann in Fäulniss über.') Wer sollte 
nicht die Analogie dieser an einer und derselben Flüssigkeit 
gemachten Beobachtungen mit den bekannten Fällen von Vir- 
chow und Polli sehen? Und doch konnte derselbe Faserstoff 
unter Umständen sich schnell ausscheiden, wie jeder andere. 
Ich habe diesen Versuch 4 Mal bei Flüssigkeiten verschiedener 
Coneentration mut. mut. wiederholt, stets mit demselben Erfolge; 
er gelingt unter geeigneten Verhältnissen ebenso gut bei An- 
wendung von Blut?), als von Serum. -— Ist auf diesem lang- 
samen Wege aller Faserstoff aus der Flüssigkeit entfernt, die- 
selbe also nun wirklich serös geworden , so verhält sie sich 
auch darin wie Blutserum, dass sie ihrerseits andere fibrinöse 
Flüssigkeiten zum Gerinnen bringt; es ist fast, als ob man es 
mit einer fermentativen Bewegung zu thun hätte. ‘Aber es 
widerspricht der Natur eines fermentativen Vorganges, dass 
dieses Pseudoserum viel schwächer wirkt als das ursprüngliche; 
wollte ich durch ersteres den Gerinnungsvorgang auf einen 
anderen Theil desselben Transsudates übertragen, so musste 
ich, um überhaupt ein Resultat zu erzielen, jetzt den Zusatz 
10 -20 Mal grösser machen, als beim ersten Mal, und zugleich 
eine höhere Temperatur zu Hülfe nehmen. Trotzdem gelang 
mir auf diese Weise nur Ein Mal die vollständige: Ausschei- 
dung sämmtlicher Fibrins, wo ich die Uebertragung weiter 
fortsetzen konnte. Im einen oder anderen Falle, nach der 
zweiten oder dritten Uebertragung, hörte der Process, nachdem 
sich ein oder mehrere ausserordentlich schwache Gerinnsel ge- 
bildet hatten, gänzlich auf, ohne dass alles Fibrin ausgeschieden 


1) Ich hebe hier hervor, dass ich bei allen künstlichen Gerinnungs- 
versuchen stets einen Theil der Transsudate, so wie sie aus dem 
Körper kamen, zur Controlle bei Seite gestellt habe. Diese Vorsicht 
ist durchaus nöthig, da spontane Gerinnungen in ihnen keinesweges 
selten sind. 

2) Es ist bezeichnend, dass in der Beschreibung des Virchow’- 
schen Falles sehr protrahirter Gerinnung, wo sich innerhalb 12 Tagen 
7 Gerinnsel gebildet hatten (Gesammelte Abhandlungen S. 115), aus- 
drücklich angegeben wird, die Flüssigkeit sei sehr eiweissreich gewesen 
und habe ziemlich viel Blutkörperchen enthalten, 


5. | A. Schmidt: 


worden wäre; die 'von dem letzten Gerinnsel abfiltrirte, noch 
immer gerinnbare Flüssigkeit veränderte sich gar nicht mehr 
bis. zum Eintritt der gewöhnlichen Zersetzungserscheinungen, 
es war also die wirksame Substanz vollkommen verbraucht. 
_ Dasselbe hat man Gelegenheit, an den aus serösen Höhlen von 
Leichen entnommenen Transsudaten zu beobachten. . Sehr ge- 
wöhnlich treten hier nach einigen Stunden oder Tagen schwache 
Fibrinausscheidungen auf, und zwar je später desto schwächere, 
aber meist hält der Process über kurz oder lang stille, ge- 
wöhnlich ohne die Fibrinosität der Flüssigkeit merkbar ‚herab- 
gesetzt zu haben. Niemals gelingt es, durch Zusammenmischen 
zweier fibrinöser, an und für sich nicht gerinnender Transsu- 
date aus verschiedenen Körperhöhlen Gerinnung zu bewirken, 
aber dieselbe stellt sich jedesmal ein, wenn in einer von beiden 
Flüssigkeiten alles Fibrin spontan inner - ‘oder ausserhalb des 
Körpers bereits ausgeschieden ist, wie ersteres namentlich bei 
hydropischen Flüssigkeiten in der Leiche vorkommt ; es ist 
nur in solchen Fällen meist nöthig, sehr lange auf das Resultat 
zu warten. Diese Möglichkeit des Verbrauchs der fibrinopla- 
stischen Substanz, die Proportionalität zwischen Ursache und 
Wirkung, wie sie sich in Betreff der Gerinnungszeiten, der 
Menge und der Beschaffenheit der ausgeschiedenen Massen 
beobachten lässt, sprechen wohl nicht für die fermentative 
Natur des Vorganges. 

Blut sowohl als Serum, längere Zeit sich selbst überlassen, 
verlieren zwar unter gewissen Umständen gänzlich ihre Fähig- 
keit, Gerinnungen zu erzeugen, aber es gelingt nur selten beim 
Blute , diesen totalen Verlust so, wie beim Serum ,. speeciell 
durch den Gerinnungsact selbst, also durch functionelle Er- 
schöpfung oder durch Verbrauch herbeizuführen. Ich habe 
diese Versuche so angestellt, dass ich nach jedesmaliger Ge- 
rinnung mich zuerst durch Prüfung des flüssigen Theiles ihrer 
Vollständigkeit versicherte, dann durch Zerdrücken und Zer- 
kleinern des Coagulums seinen Inhalt möglichst wieder frei- 
machte und nun, um jeden Verlust an fibrinoplastischer Sub- 
stanz zu vermeiden, die ganze Masse mit Einschluss der Faser- 
stofftrümmer zu einem jedesmal ‚gleich grossen Quantum des 


Ueber den Fasersioff und die Ursachen seiner Gerinnung. 567 


ursprünglichen Transsudates setzte. Der Process verlief zwar 
von Mal zu Male immer langsamer, die Wirkung wurde also 
immer schwächer, und ich kam häufig, da die Flüssigkeit trotz 
eingetretener Ausscheidungen sich anhaltend fibrinös erhielt, in 
Versuchung, an eine endlich eingetretene Erschöpfung zu glau- 
ben. Aber bei längerem Zuwarten wurde zuletzt doch aller 
Faserstoff ausgeschieden. Allerdings besassen die Flüssigkeiten, 
die mir zu diesen Versuchen gerade zu Gebote standen, nur 
einen geringen Gehalt an organischer Substanz, zwischen 1'/, 
und 2!/, %,. In einem Versuche nahm ich beim zweiten Male 
das Doppelte, beim dritten Male das Dreifache u. s. f. derje- 
nigen Quantität des Transsudates, die beim ersten Male zur 
Anwendung kam. Ich begann mit 1!/,;, Ccm. vom letzteren 
und 1 Tropfen frischen Rinderblutes ; die Gerinnungszeiten 
betrugen: 3 Minuten, 20 Minuten, 24 Stunden und 12 Tage; 
ich gebe hier die Zeitpunkte an, wo sich die Flüssigkeiten 
erst als vollständig defibrinirt erwiesen, die Ausscheidungen 
begannen immer einige Zeit früher. Nach der fünften Ueber- 
tragung trat keine Gerinnung mehr ein, aber ich konnte hier- 
aus keinen sicheren Schluss ziehen , insofern ich nach obiger 
Progression die folgende Gerinnung erst nach sehr langer Zeit 
erwarten konnte, die früher eintretende Fäulniss aber ihre Ge- 
rinnbarkeit aufhebt. Zur Ergänzung dieser Versuche führe ich 
2 zufällig gemachte Beobachtungen an: das eine Mal geriethen 
mir aus Versehen einige Tropfen nicht ganz frischen Blutes in 
etwa 2 Unzen einer sehr concentrirten und fibrinreichen Hy- 
droceleflüssigkeit ; ich glaubte dieselbe schon verloren, aber 
am anderen Morgen fand sich auf dem Boden des Gefässes 
nur ein ganz unbedeutendes, die Blutkörperchen einschliessendes 
Gerinnsel, das bei leichter Bewegung in Trümmer zerfiel, eine 
weitere Fibrinausscheidung als Folge dieser Blutbeimengung 
stellte sich in der immer noch stark fibrinösen Flüssigkeit nicht 
mehr ein. Ein anderes Mal erhielt ich eine grosse Quantität, 
etwa 12 Pfund Pleuraflüssigkeit, die sich im Vergleich zu den 
meisten anderen von mir untersuchten Transsudaten als sehr 
eiweissreich erwies; sie enthielt 4,2°/, Alb. Die ganze Flüs- 
sigkeit war durchsetzt von den Trümmern einer stattgehabten 


568 A. Schmidt 


Fibrinausscheidung in Form von trübenden Partikeln und 
Flöckchen; auf dem Boden lagen grössere Flocken und Klum- 
pen, untermischt mit einer verhältnissmässig nur sehr geringen 
Menge von Blutkörperchen. Das Filtrat gerann nach einigen 
Stunden noch ein Mal spontan, aber das nächste Filtrat nicht 
mehr , obgleich ich künstlich schwache Fibrinausscheidungen 
darin hervorrufen konnte. Diese Beobachtungen sprechen da- 
für, dass auch bei Gegenwart von Blutkörperchen ein durch 
den Gerinnungsvorgang selbst bedingter Verbrauch des Ge- 
rinnungserregers eintreten kann und zwar dieses um so eher, 
je grösser die Masse der auszuscheidenden Substanz ist. Künst- 
lich lässt sich auch immer wenigstens die Schwächung deutlich 
nachweisen. Man kann die letztere nicht von einer im Laufe 
der Zeit eingetretenen Fäulniss des angewandten Blutes ab- 
leiten; altes, ganz faules Blut wirkt, sofern man es vor der 
Einwirkung gewisser schädlicher Momente bewahrt hat, mit 
bedeutend grösserer Energie als ein viel jüngeres Blut, wenn 
letzteres bereits einen doppelten oder dreifachen Gerinnungs- 
process durchgemacht hat. 

Für die Deutung pathologischer Vorkommnisse ist es ge- 
wiss von Belange, dass man es eben mit zwei Gerinnungsfac- 
toren zu thun hat und dass nicht alle Abweichungen im Ge- 
rinnungsverhalten des Blutes einseitig auf Veränderungen des 
einen Factors, des Faserstoffes, zu beziehen sind; es kann 
krankhaft eine Verminderung der fibrinoplastischen Energie 
des Blutes sieh entwickeln und solche Fälle kommen gewiss 
vor; man kann sich aber auch eine abnorme Steigerung der- 
selben denken. 

Als die allgemeinste Form der Gerinnung muss die Schich- 
tenablagerung gelten; dieselbe entzieht sich nur um so mehr 
der Beobachtung, je schneller der Process verläuft. Ich habe 
sie in allen Flüssigkeiten, vorausgesetzt, dass ihr Fibringehalt 
überhaupt gross genug war, um solche Unterscheidungen zu 
gestatten, beobachtet, wenn ich die Bedingungen einer lang- 
samen Gerinnung herstellte und den Process. nicht gewaltsam 
unterbrach. Selbst unter Anwendung von Blut habe ich bei 
einer Dauer des Processes von !/,—1 Stunde häufig dasselbe 
gesehen, 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 569 


Man hat auch die leichte Zerfallbarkeit und Auflöslichkeit 
der in den Transsudaten auftretenden Gerinnsel als eine ihnen 
besonders zukommende Eigenschaft angesehen und mit daraus 
auf die Präexistenz chemisch verschiedener Faserstoffarten ge- 
schlossen. Es verhält sich mit diesen Unterschieden wie mit 
den anderen ; aus einer und derselben Flüssigkeit kann man 
willkürlich sehr dauerhaften und leicht zerfallenden Faser- 
stoff gewinnen. Bei successive fortschreitenden Ausscheidungen 
können die ersten einen ziemlichen Grad von Consistenz dar- 
bieten, während die letzten bei der leichtesten Bewegung zer- 
fallen und ihre Trümmer sich bald auflösen. Diese Unter- 
schiede sind nur begründet im physikalischen Moment der 
Dichtigkeit des ausgeschiedenen Fibrins!) und diese hängt eben 
gleichwie die Schnelligkeit der Ausscheidung in erster Instanz 
ab von der Grösse der fibrinoplastischen Einwirkung. Es ist 
begreiflich, dass in der grösseren Anzahl der Fälle die spontan 
entstandenen Gerinnsel der Transsudate diese Eigenthümlich- 
keit der leichten Zerfallbarkeit darboten; man findet aber auch 
die Angabe, dass sie sich in dieser Beziehung wie Blutfibrin 
verhalten haben, 


4. Steigerung des Gerinnungsvorganges, 


Es giebt Momente, welche, ohne sich an und für sich als 
Gerinnungserreger zu verhalten, den Gerinnungsprocess zu be- 
schleunigen und die Ausscheidung eines relativ festen Faser- 
stoffes herbeizuführen, d.h. die fibrinoplastische Einwirkung 
zu steigern vermögen. Solche Momente sind die Bewegung 
und die Wärme. —- Niemals gelingt es, eine reine, d. h. spon- 
tan nicht gerinnende Flüssigkeit durch Schlagen zu Ausschei- 
dungen zu bewegen ?), aber dieselben zeigen sich bald, wenn 
entsprechende Erscheinungen über kurz oder lang auch in 
der Ruhe auftreten. Bei dem geringen Fibringehalt der mei- 
sten Transsudate ist das Schlagen übrigens gewöhnlich ein zu 


1) Virchow, Gesammelte Abhandlungen, S. 92. 
2) In einigen Fällen trat in den geschlagenen Flüssigkeiten die 
Fäulniss ein Paar Tage früher ein als in den nicht geschlagenen. 


570 | A. Schmidt: 


rohes Verfahren, um so ‚mehr, wenn der der Flüssigkeit mit- 
getheilte Gerinnungsimpuls nur ein sehr schwacher ist; man zer- 
stört dabei zugleich schon im Beginn die zarten Ausscheidungen. 
Ihre Entwickelung geht wegen ‚der sanfteren Bewegung unge- 
störter von Statten, wenn man durch die Flüssigkeit ‚einen 
langsamen Gasstrom leitet; es scheiden sich dann, ‚bald wäh- 
rend der Gasdurchleitung, bald einige Zeit später, entweder 
vereinzelte oder in einander verfilzte Fäden und Flocken aus, 
die sich von den in derselben Flüssigkeit in der Ruhe auftre- 
tenden Gerinnseln sehr durch ihre bedeutendere Zähigkeit, ihre 
viel geringere Zerfallbarkeit unterscheiden. Ich habe diese 
Erscheinungen zuerst ‚bei Anwendung des Sauerstoffes beob- 
achtet, aber jeder Gedanke an eine specifische Einwirkung 
dieses (Gases wurde. dadurch beseitigt, dass Wasserstoff und 
sogar Kohlensäure sich ebenso verhielten und dass ein Paar 
Tage später sich in dem bei Seite gestellten Rest der Flüs- 
sigkeit, eine ganz schwache spontane Fibrinausscheidung ein- 
stellte, der keine zweite mehr nachfolgte. Auf den Vergleich 
mit dem in Ruhe befindlichen Theil der Flüssigkeit allein 
kann man sich übrigens nicht mit voller Sicherheit verlassen; 
ich habe nämlich zuweilen Flüssigkeiten aus Leichen erhalten, 
in welchen zwar bei Gasdurchleitung 'sich Ausscheidungen ein- 
stellten, aber nicht in der Ruhe; das Gerinnungsprineip ‘war 
in denselben so schwach vertreten, dass sogar die gewöhnliche 
Zimmertemperatur zu niedrig war und den Process hemmte; 
brachte ich dann die Flüssigkeit in eine höhere "Temperatur, 
gewöhnlich von 23—28°, so stellte er sich doch ein, war aber 
dann immer ‚sehr. geringfügig;; ‚solche Fälle waren übrigens 
selten. — Da die fibrinoplastische Energie des Blutes einer 
endlichen Grenze unterworfen ist, so ınuss die Bewegung, ‚in- 
dem sie die Einwirkung steigert, ohne selbst eine Quelle ‚für 
sie abgeben zu können, indem sie also einen vermehrten Ver- 
brauch .an fibrinoplastischer Substanz bedingt, auch andererseits 
eine relative Erschöpfung der eigentlichen Quellen des Gerin- 
nungsprincips herbeiführen. !) Hieraus erkläre ich mir die 


1) Manche Gründe ‚machen es wahrscheinlich, dass es nicht so- 


Ueber den Faserstoff und ‚die Ursachen seiner Gerinnung. 571 


ausnahmslose und mir lange räthselhaft bleibende Thatsache, 
dass ausgeschlagenes Blut viel langsamere ‚Gerinnungen . be- 
wirkt als ausgepresstes. Ich habe die betreffenden Vergleiche 
stets an solchem ‚Blute angestellt, das von einem und demsel- 
ben Thier gleichzeitig entnommen war ; ich habe dazu fri- 
sches und altes Blut ‘benutzt, stets mit demselben Erfolge. 
Es lässt sich kein bestimmtes Maass für die Differenzen ‚an- 
geben ; häufig betrugen sie 1—2 Stunden, oft weniger, in eini- 
gen Fällen von ganz frischem Blute 'schrumpften sie ‚auf 
!/, Stunde zusammen; noch unbedeutendere Unterschiede habe 
ich nicht beobachtet. 

Wie mit:der Bewegung, so verhält es sich auch mit ‚der 
Wärme‘; auch sie beschleunigt die -Gerinnung und. befördert 
die Bildung eines festen, consistenten Gerinnsels, aber niemals 
bringt sie an und für ‚sich Fibrinausscheidungen zu’ Wege. 
Die Möglichkeit der Täuschung in dieser Hinsicht, die nament- 
lich bei Leichenflüssigkeiten eintreten kann, vermeidet man 
am besten, wenn man zur Beobachtung concentrirte, möglichst 
reine Flüssigkeiten wählt und den gänzlichen Verbrauch eines 
etwaigen ‚Gehaltes an fibrinoplastischer Substanz durch spon- 
tane Abscheidungen, die man durch eine geringe T’emperatur- 
erhöhung befördern kann, abwartet. Man erhält dann nach 
ein- oder mehrmaligem Abfiltriren zuletzt eine ‘Flüssigkeit, 
welche bei Blutzusatz sich wie gewöhnlich verhält, aber durch- 
aus nicht durch Temperaturerhöhung zum ‚Gerinnen gebracht 
werden kann. Von Lebenden habe ich Transsudate erhalten, 
welche, insofern ein Blutzutritt ‘bei der Operation ‚vermieden 
worden war, von vorne herein durch Temperaturerhöhung ‚gar 


wohl das Moment der Bewegung als das der vielfachen Berührung 
mit einem fremden Körper ist, was den Gerinnungsprocess steigert. 
Auch die aufsteigenden Badbiisen können als fremde Körper gelten. 
Ist dieses richtig, so,würde die Theorie von den gerinnungshemmen- 
den. Wirkungen der ‚Gefässwandungen durch den Umstand keinen 
Stoss erleiden, dass fremde in den Blutstrom gebrachte Körper ohne 
Alteration der Gefässwände Fibrinausscheidungen bewirken; es fände 
eine locale Steigerung der fibrinoplastischen Einwirkung Statt, die das 
Maass der normalen Widerstände überschritte. ‘Das kreisende Blut 
steht eben unter dem ‚Einflusse: von Wirkungen und Gegenwirkungen. 


572 AuSchinidt: i 


nicht verändert wurden und dennoch in hohem Grade: fibrinös 
waren; dies war namentlich bei Hydroceleflüssigkeiten der Fall. 

Die durch Temperaturdifferenzen bedingten Unterschiede im 
Gerinnungsverlaufe treten um so deutlicher auf, je kleiner..der 
Blutzusatz oder je älter und 'geschwächter das Blut ist, be- 
ziehungsweise je grösser die in der Flüssigkeit selbst gesetzten 
Gerinnungswiderstände sind. Es handelt sich dann nicht um 
Eis- und Körpertemperaturen, es handelt sich um den Unter- 
schied von wenigen Graden. In einem geheizten Zimmer bei 
Benutzung der Umgebung des Ofens und des Fensterbrettes 
erhielt ich Differenzen in den Gerinnungszeiten, die sich nach 
Stunden abmessen liessen; in einem Zimmer von 17° gerann 
eine Flüssigkeit in 5 Minuten, die es in einem anderen von 
13° cet. par. erst in 20 Minuten that. Bei Versuchen mit 
altem Blute habe ich nie eine andere "Temperatur in Anwen- 
dung gebracht als die im Laboratorium in der Umgebung eines 
geheizten eisernen Schrankes herrschende, die sich ziemlich 
constant auf 25—-30° belief; hier erhielt ich Fibrinausschei- 
dungen in einigen Stunden in 'denselben Mischungen, in wel- 
chen sie sich bei einer durchschnittlichen Zimmertemperatur 
von 10—13° erst nach 1—2 Tagen einstellten. Es kam auch 
bei künstlichen Gerinnungsversuchen der bei Gelegenheit der 
spontanen Fibrinausscheidungen angeführte Fall vor, dass die 
Gerinnung wegen zu grosser Schwäche der fibrinoplastischen 
Einwirkung bei gewöhnlicher Temperatur gar nicht eintrat, 
sondern nur, wenn auch bisweilen erst nach 24 —48 Stunden 
bei erhöhter. — Um den Einfluss zu beobachten, welchen noch 
höhere Wärmegrade auf den Gerinnungsvorgang ausübten, und 
um dabei möglichst genau und vergleichend zu verfahren, er- 
wärmte ich Transsudat und frisches Rinderblut, jedes für sich 
im Wasserbade und mischte sie, nachdem sie gewisse Tempe- 
raturhöhen erreicht hatten, zusammen, jedes Mal natürlich in 
derselben Proportion der Mischungsbestandtheile. In dieser 
Weise beobachtete ich den Gerinnungsvorgang in verschiedenen 
Flüssigkeiten bei 15°, 25°, 35°, 45°, 55° und 65°. Bei 35° 
verlief, der Process durchschnittlich 5—10 Mal schneller .als 
bei 15%, dabei war dort das Gerinnsel um die Hälfte kleiner 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 573 


aber im entsprechenden Grade fester als hier. In noch hö- 
herer Temperatur bei 45° trat dasselbe ein, was ich nach 
einem zu starken Blutzusatz bei gewöhnlicher Temperatur beob- 
achtet hatte, die Flüssigkeit gerann scheinbar gar nicht, indem 
aller Faserstoff, wenige Momente nach dem Zusammenmischen, 
sich in Form eines kleinen, am Boden des Gefässes liegenden 
Klümpchens ausgeschieden hatte. Bei einem sehr wässerigen 
peritonealen Transsudate von 1,4°/, Alb. sah ich dieses schon 
bei 35° eintreten. Eine Temperatur von 55° schien aber wirk- 
lich einen nachtheiligen Einfluss auf den Gerinnungsvorgang 
auszuüben, in dem erst nachträglich, nach dem Erkalten, Fibrin- 
ausscheidungen eintraten und zwar sehr unbedeutende, leicht 
zerfallende. Bei 65° blieb die Gerinnung ganz aus, ebenso bei 
60°. Aber der Grund zu dieser letzteren Erscheinung liegt 
nicht in einer durch die hohe Temperatur bedingten Zerstörung 
der fibrinoplastischen Substanz des Blutes, es ist vielmehr die 
Gerinnbarkeit der fibrinösen Substanzen, die dadurch aufge- 
hoben wird. Blut, welches schnell auf 45° erwärmt worden 
war, zeigte nach dem Erkalien keine Veränderung in Bezug 
auf sein Verhalten gegen normale, nicht erwärmte Transsudate, 
aut 55° erwärmtes Blut zeigte sich‘ zwar schon geschwächt, 
die Wirkung verspätete sich meist um '/,; Stunde, bei Anwen- 
dung einer Temperatur von 65° betrug die Verspätung mehre 
Stunden, aber selbst bis auf 70° erwärmtes Blut erwies sich 
noch als wirksam. Dagegen verlor jede fibrinöse Flüssigkeit, 
Ein Mal auf 60° erwärmt, ihre Gerinnbarkeit ganz und zwar 
ohne sich ‘dabei äusserlich sichtbar zu verändern. Es muss 
der verändernde Einfluss höherer Wärmegrade auf die fibrino- 
gene Substanz an eine ziemlich scharfe Grenze gebunden sein; 
eine Temperatur von 45° übt, wie sich nach dem Erkalten 
zeigt, gar keinen nachtheiligen Einfluss auf ihre Gerinnbarkeit 
aus, bei 50 und 55° erschien dieselbe bald mehr oder weniger 
herabgesetzt, bald auch gar nicht, aber bei 60° war sie jedes 
Mal ganz geschwunden. 


Hi A; Schmidt: 


9. Verlust der Wirksamkeit des Blutes, 


So gross die Energie ist, mit welcher ganz frisches, wo 
möglich noch aus dem warmen Cruor gepresstes Blut fibrinöse 
Substanzen gerinnen macht, so schnell nimmt. dieselbe beim 
Stehen an der Luft ab und zwar um so schneller, je mehr man 
den Contact mit der letzteren befördert. Man: braucht nur 
Blut, dessen Wirksamkeit man unmittelbar ‘nach: dem Aus- 
pressen geprüft hat, einige Stunden in einer offenen flachen 
Schale bei gewöhnlicher Zimmertemperatur stehen zu lassen, 
um die bedeutende Schwächung, welche es dadurch erlitten 
hat, zu erfahren. Rinderblut, das in ganz frischem Zustande 
in ein Paar Minuten Gerinnung bewirkte, bedurfte dazu, nach- 
dem es 24 Stunden’ in einer flachen Schale bei 13—-15° ge- 
standen hatte, eines Zeitraums von 1—1!/, Stunden. Bei 
Pferdeblut stellte sich unter denselben Bedingungen gewöhn- 
lich das Verhältniss von 10° Minuten zu 3—4 Stunden heraus: 
Dabei sind die durch abgestandenes Blut erzeugten Gerinnsel 
immer sehr unvollkommen entwickelt, bei fibrinreichen Flüs- 
sigkeiten findet häufig nur eine partielle Ausscheidung Statt 
und man ist genöthigt, noch viel länger zu warten, ehe sie 
erschöpfend geworden ist. Von Tag zu Tage wird die Schwä- 
chung’ des Blutes grösser, zuletzt gerinnen die Gemenge: in 
gewöhnlicher Temperatur gar nicht mehr, sondern nur in er- 
höhter. Dennoch dauert es 6—10 Tage, ehe, trotz des Con- 
tactes mit der atmosphärischen Luft, das Blut sich vollkommen 
unwirksam erweist. Je nachdem ich das Blut in dünnen oder 
dieken Schichten in einer Schale oder in einem Cylinderglase 
‘- aufbewahrte, stellten sich wiederum Differenzen in den Gerin- 
nungszeiten heraus, die nach Verlauf einiger Tage eine oder 
mehre Stunden betrugen. Pferdeblut, welches ich in einem 
bis zum Rande gefüllten Reagensglase in Zimmertemperatur 
aufbewahrte, hatte nach 3 Wochen seine Wirksamkeit noch 
nicht ganz verloren. Bei gänzlicher Absperrung der atmo- 
sphärischen Luft ist es mir überhaupt gar nicht gelungen, ein 
vollkommen unwirksames Blut zu erhalten. In luftdicht ver- 
schlossenen und versiegelten Fläschchen in gewöhnlicher Tem- 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 575 


peratur aufbewahrtes Blut erzeugte auch nach Verlauf von 5 
bis 7 Wochen Gerinnungen und zwar verhältnissmässig schnell, 
durchschnittlich in 3—6 Stunden. Aber man mag noch so 
vollkommen die Luft absperren , das Ein Mal ausgepresste 
Blut erhält sich in Bezug auf seine fibrinoplastische Wirksam- 
keit doch niemals so gut, als wenn es bis zum Moment der 
Benutzung im Kuchen gelassen worden ist; es muss hier ein 
anderer günstiger Umstand ausser der blossen Luftabsperrung 
hinzukommen. Blut von einem Schweine 10 Tage lang bei 
10—13° im Cruor und in einer wohl verkorkten und versie- 
gelten Flasche aufbewahrt, wirkte in 10 Minuten, resp. 2'/, 
Stunden. So konnte ich mit einem und demselben Blute sehr 
lange operiren, indem ich den Kuchen unter dem eigenen Se- 
rum an einem kühlen Orte aufbewahrte und zu jedem einzel- 
nen Versuche ein kleines Stück desselben abriss und mit der 
Hand auspresste. Allerdings zeigte sich auch dann eine all- 
mählige Schwächung des Blutes, man muss von Zeit zu Zeit, 
um die gleiche Wirkung zu erzielen, den Blutzusatz vergrös- 
sern, aber selbst nach Verlauf von 4—8 Wochen bedurfte 
solches Blut zu 1 Theil mit 2 Theilen Transsudat gemengt, 
nicht mehr als 10—20 Minuten zur Aeusserung seiner Wirk- 
samkeit. | ya 

Es giebt ausser der atmosphärischen Luft noch einen: an- 
deren, die fibrinoplastische Substanz des Blutes schnell zerstö- 
renden Factor, die Wärme. Eine schnell vorübergehende 
Temperaturerhöhung übt, wie ich bereits angeführt, selbst 
wenn sie 50°% erreicht, keinen nachtheiligen Einfluss auf das 
Blut, aber eine länger dauernde Einwirkung einer Temperatur 
von nur 15— 25°, setzt in demselben Maasse die gerinnung- 
erzeugende Kraft des Blutes herab, wie sie den Gerinnungs- 
process selbst steigert. Frisches in ein Reagensglas gefülltes 
und 24 Stunden einer Temperatur von 28° ausgesetztes Blut 
wirkte erst nach Verlauf von 4—6 Stunden; nahm ich zu die- 
sen Versuchen statt des Reagensglases ein flaches Gefäss, so 
schwand die Wirksamkeit des Blutes in 1—3 Tagen gänzlich. 
Andere Proben desselben Blutes, ebenso lange bei 4—8° auf- 
bewahrt, wirkten fast mit ungeschwächter Energie, d. h..in 


576 | | A. Schmidt: 


wenigen Minuten. Ueberhaupt stellte sich in so niedriger Tem- 
peratur eine bemerkbare Schwächung des der Lufteinwirkung 
exponirten ausgepressten Blutes erst nach Verlauf von einigen 
Tagen, selbst von einer Woche ein. Man darf sich dadurch 
nicht täuschen lassen , es existirt auch hier eine ziemlich 
scharfe Grenze, da bei einer nur wenig höheren Temperatur 
von 10—12° die nachtheiligen Einflüsse sieh sehr bald geltend 
machen!); aber auch in diesen anderen Temperaturen treten 
die durch die Art der Aufbewahrung bedingten Unterschiede 
dann endlich doch ein. Ich fing Rinderblut in 2 Gefässen 
auf, presste den einen Kuchen aus und füllte mit seinem In- 
halte ein Porcellanschälchen, ein sehr schmales Reagensgläs- 
chen und eine Flasche, welche letztere ich verkorkte und ver- 
siegelte. Alle drei nebst dem anderen heilen Blutkuchen liess 
ich 5 Wochen in einer zwischen 2° und 5° schwankenden Tem- 
peratur stehen. Zu je 15 Tropfen zu 25 Tropfen Hydrocele- 
flüssigkeit gesetzt, verhielten sich die Gefinnungszeiten folgen- 
dermaassen: Blut aus dem Cruor 20 Minuten, aus dem Fläsch- 
chen 1'/, Stunden, aus dem Reagensglase 2 Stunden; das im 
Porcellanschälchen aufbewahrte Blut war vollkommen unwirk- 
sam geworden.?) Diesen Erfahrungen gemäss übt auch Ge- 
frieren des Blutes gar keinen Einfluss auf seine fibrinoplastische 
Energie aus. 

Wie das Blut verhält sich in allen obigen Beziehungen 
auch das Serum; nur machen sich hier, entsprechend der ge- 


1) Bedenkt man, dass durch niedere Temperaturen einerseits der 
Gerinnungsvorgang gehemmt, andererseits die fibrinoplastische Wirk- 
samkeit des Blutes erhalten wird, so springt die Congruenz obiger am 
faserstofffreien Blute gemachten Erfahrungen mit folgender Angabe 
Brücke’s in die Augen: „Die Zeit, während welcher das Blut flüssig 
bleibt, nimmt mit steigender Temperatur langsam ab bis 10° C., von 
da ab aber rascher.“ (Archiv für pathol. Anatomie u. Physiologie, 
1857, 8. 83.) Also hier dieselbe Grenze. 

2) Es ist aus leicht zu ersehenden Gründen schwer, mit absoluter 
Sicherheit von einer vollkommenen Unwirksamkeit des Blutes zu 
reden ; ich habe dieselbe dort angenommen, wo in den Flüssig- 
keiten bis zum Eintritt der Fäulniss keine Spuren einer Gerinnung 
sichtbar wurden. 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 577 


ringeren Wirksamkeit die schädlichen Einflüsse von Luft und 
Wärme in höherem Grade geltend. — Alle durch die verschie- 
denen Arten oder die verschiedene Behandlung des Blutes be- 
dingten Differenzen schrumpften übrigens auf ein um so klei- 
neres Maass zusammen, je mehr man den künstlich bewirkten 
Gerinnungsvorgang selbst durch Temperaturerhöhung steigert. 

„Es ist unumgänglich nothwendig , ‚diese Verhältnisse na- 
mentlich bei vergleichenden Versuchen zu berücksichtigen; die 
zu vergleichenden ' Substanzen müssen genau von gleichem 
Alter, in gleicher Temperatur und in Gefässen gleicher Form 
aufbewahrt worden sein. So werden leicht gerinnende Trans- 
sudate durch ganz frisches Rinderblutserum durchschnittlich 
in 10—20 Minuten zum Gerinnen gebracht, also immerhin 
9—20 Mal langsamer als durch ebenso frisches Rinderblut; 
vergliche man jedoch solches Serum mit Blut, das bereits 
einen Tag lang oder gar noch länger im Zimmer gestanden, 
so fände man leicht das umgekehrte Verhältniss. 

Ich liess Blut in dünne Schichten bei einer Temperatur 
von 0—3° eintrocknen. In 2—35 Tagen, bevor noch eine 
fibrinoplastische Schwächung desselben eingetreten sein konnte, 
war es in eine harte, hornartige Masse verwandelt ; dieselbe 
wurde, nachdem ich noch einige Tage gewartet hatte, so 
spröde, dass ich sie zu einem feinen Pulver zerreiben konnte. 
Es scheint, dass das Blut im getrockneten Zustande seiner 
Fähigkeit, Gerinnung zu erzeugen , überhaupt gar nicht ver- 
lustig geht. Ich brachte etwas von jenem-Pulver in 1 Cem. 
Liquor pericardii und sorgte durch Umrühren und Schütteln 
für Verthegjlung des Pulvers in der Flüssigkeit; nach einer 
Stunde war letztere vollkommen geronnen, das Gerinnsel 
schloss alle festen Partikel in sich ein, bald contrahirte sich 
die Placenta und schied ein ganz klares durchsichtiges, aber 
durch ausgetretenes Hämatin schön roth gefärbtes Serum aus. 
Nach zwei Monaten gab mir der nicht pulverisirte Rest jenes 
getrockneten Blutes, das ich nun bei gewöhnlicher Temperatur 
aufbewahrt hatte, dasselbe Resultat, ebenso nach 3!/, Monaten. 
Wie das Pulver verhielt sich auch das filtrirte Wasserextract 


desselben. Es war jedoch eine bedeutende Menge wieder auf- 
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv 18€1, 38 


578 | A. Schmidt: 


gelöstes Serumeiweiss in das Filtrat übergegangen ; ich füllte 
ein Uhrschälchen mit demselben und brachte es in’s Vacuum 
über Schwefelsäure, der Rückstand betrug etwa ?/; des Uhr- 
schälchens. Um das Serumalbumin bis zur möglichst voll- 
kommenen Unlöslichkeit zu trocknen und dann die Substanz’ 
noch ein Mal mit Wasser zu extrahiren, liess ich das Schäl- 
chen 6 Wochen im Vacuum über Schwefelsäure stehen; ich 
erhielt so eine poröse, zwischen den Fingern leicht zu einem 
feinen und weichen Pulver zu zerreibende Masse, die sich je- 
doch mit grosser Leichtigkeit, ohne einen Rückstand , selbst 
ohne Trübungen zu hinterlassen, in destillirtem Wasser wieder 
auflöste; die Lösung verhielt sich gegen fibrinöse Substanzen 
wieder ganz wie das ursprüngliche Filtrat. Es ist mir aber 
eben auf diesem Wege nicht gelungen , das Mithinübergehen 
des Serumeiweisses in die Lösungen oder die Trennung des- 
selben von der supponirten fibrinoplastischen Substanz zu be- 
werkstelligen. Und doch sprechen andere Erfahrungen, auf 
die ich später zurückkommen werde, dafür, dass die fibrino- 
plastische Wirkung nicht nothwendig an die Gegenwart von 
gelöstem Serumeiweiss gebunden ist. 

Einige Versuche mit dem Wasserextracte von Blutasche 
gaben negative Resultate. 


6. Die Kohlensäure. 


Ich habe bereits die am Chylus und am Blute gemachten 
Erfahrungen mitgetheilt, aus welchen ich schliessen musste, 
dass der Kohlensäuregehalt dieser Flüssigkeiten einen hemmen- 
den Einfluss auf ihre Gerinnung ausübe; es fragte, sich nun, 
wie hoch dieser Einfiuss unter normalen Verhältnissen im ar- 
teriellen sowohl als im venösen Blute anzuschlagen und ob 
derselbe auf die fibrinoplastische oder auf die fibrinogene Sub- 
stanz zu beziehen sei, ob die Wirksamkeit der ersteren oder 
die Gerinnbarkeit der letzteren durch die Kohlensäure vermin- 
dert werde. — Ersteres anbelangend, ging aus allen Versuchen 
hervor, dass der Widerstand, den die Kohlensäure der Gerin- 
nung entgegen zu setzen vermag, immer nur ein verhältniss- 
mässig sehr schwacher, so lange das angewandte Blut in 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnuhg. 579 


fibrinoplastischer Beziehung nur noch einiger Maassen kräftig 
ist. In einer Reihe von Versuchen sättigte ich arterielles Rin- 
derblut mit Kohlensäure, während ich andere Portionen des- 
selben Blutes ihres natürlichen Kohlensäuregehaltes durch 
Durchleiten von Sauerstoff und Wasserstoff möglichst zu be- 
rauben suchte und bestimmte dann durch den Vergleich mit 
dem normalen Blute die durch den veränderten Gasgehalt be- 
dingten Abweichungen im fibrinoplastischen Verhalten des Blu- 
tes. Aber das Blut ist gar nicht im Stande, so viel Kohlen- 
säure aufzunehmen, als nöthig wäre, um seine Wirksamkeit 
im frischen Zustande erheblich herabzusetzen. Die Gerinnung 
erfolgte gewöhnlich ganz gleichzeitig mit der durch normales 
Blut bewirkten, höchstens fand ich zuweilen eine Verzögerung 
von kaum !/; Minute; das durch kohlensäurereiches Blut er- 
zeugte Gerinnsel zeichnete sich jedoch abgesehen von seiner 
dunkleren Färbung durch seine grössere Weichheit aus; es 
schloss selten alle färbenden Elemente in sich ein und schwamm 
gewöhnlich als schlaffer Klumpen in der Flüssigkeit, wenn 
durch Einwirkung normalen Blutes ein fest an der Wandung 
anhaftendes Coagulum entstanden war. Die Unterschiede ent- 
sprachen also ganz denjenigen, die den Gerinnungsvorgang im 
arteriellen und im. venösen Blute charakterisiren. Da die 
grösstmögliche Vermehrung der Kohlensäure im Blute nur ein 
so geringes Hinderniss für die Gerinnung abgab , so konnte 
auch die durch Sauerstoff- oder Wasserstoffdurchleitung her- 
beigeführte Verminderung des ursprünglichen Kohlensäurege- 
haltes nicht bemerkbar den Process befördern. Nur in Betreff 
der Consistenz des Gerinnsels wnrden die bezüglichen Diffe- 
renzen sichtbar. | 

Der Widerstand, den die Kohlensäure der Gerinnung ent- 
gegensetzt, tritt aber um so entschiedener hervor, je mehr die 
fibrinoplastische Energie desselben verloren gegangen ist. Lei- 
tete ich Kohlensäure durch solches defibrinirtes Blut, welches 
bereits einige Zeit der Einwirkung der atmosphärischen Luft 
exponirt gewesen war, so bewirkte ich dadurch eine sehr 
deutliche Verzögerung der Gerinnung, die häufig 20—30 Mi- 
nuten betrug; nahm ich dagegen zu diesen Versuchen Blut, 

38* 


580 A. Schmidt: 


das 2--4 Wochen: in einer  luftdicht verschlossenen Flasche 
gestanden, wo also neben der fibrinoplastischen Abschwächung 
eine Anhäufung von Kohlensäure stattgefunden hatte,’ so konnte) 
ich durch Durchleiten. von Sauerstoff ‘oder: Wasserstoff die 
fibrinoplastische Wirkung desselben um eben so: viel: beschleu- 
nigen. Diesen Erfahrungen am schwach wirkenden Blute ent-: 
spricht die Thatsache, dass die Kohlensäure die Gerinnung 
des Chylus so bedeutend zu verzögern vermag. "Wie:..der 
Chylus verhält sich gegen Kohlensäure auch der Eiter, der ja 
gleichfalls nur eine geringe fibrinoplastische Energie besitzt. 
Nach Behandlung mit Kohlensäure betrug die Verspätung der 
durch Eiter bewirkten Gerinnung 40 Minuten; durch Behand- 
lung mit Sauerstoff und Wasserstoff wurde sie um 20 Minuten 
beschleunigt. — Alle diese Angaben haben nur Bedeutung, 
insofern sie sich auf Vergleiche beziehen, die unter sonst 
gleichen Verhältnissen angestellt worden sind; mit der Aende- 
rung der letzteren ändern sich natürlich auch die Differenzen, 
sie verschwinden um so mehr, je grösser der Blutzusatz ist. 
Weil das Blut nur ein beschränktes, seinem Volum entspre- 
chendes Quantum an Kohlensäure aufzunehmen vermag, so'.ge- 
stalten sich die Verhältnisse für die Gerinnung noch ungün- 
stiger, wenn man statt des Blutes die fibrinöse Flüssigkeit mit 
Kohlensäure sättigt: und nun eine möglichst geringe Menge 
Blut, etwa 1 Tropfen auf 2 Cem. zusetzt. Auf diese Weise 
ist es mir gelungen, selbst wenn das Blut frisch war, die Ge- 
rinnung um !/; — 1!/; Stunden zu verlangsamen. Auch bei 
dieser Methode bedurfte es jedoch der äussersten Grade der 
Bluterschöpfung, um durch Kohlensäure die Gerinnung ganz 
hintanzuhalten. 

Wendet man diese Erfahrungen auf das aus der Ader ge- 
lassene Blut an, so kann man unmöglich von dem Kohlen- 
säuregehalt desselben, auch wenn gar keine Verluste in dieser 
Beziehung stattfänden, eine bedeutende Hemmung der Gerin- 
nung erwarten; solche Verhältnisse, wie sie sich künstlich zur‘ 
Steigerung der Kohlensäureeinwirkung herstellen lassen, kom=: 
men im normalen Blute nicht vor. Die fibrinoplastische Ener- 
gie desselben ist vielmehr eine sehr grosse und gewiss ist sie: 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 581 


in dem unmittelbar aus dem Körper kommenden, noch nicht 
geronnenen Blute viel bedeutender noch, als sie sich später 
in dem ausgepressten Blute erweist. Man kann von dem ver- 
schiedenen Kohlensäuregehalt wohl die geringen Differenzen 
ableiten, die sich bei der Gerinnung des arteriellen und venö,-, 
sen Blutes herausstellen, man kann die von diesem Gase ab- 
hängigen Gerinnungswiderstände dadurch steigern, dass man 
durch luftdichten Abschluss der spontan gerinnenden Flüssig- 
keiten jeden Gasverlust behindert, und man versteht dann auch, 
warum eine solche Behandlung die Gerinnung des Chylus in 
höherem Grade beeinträchtigt, als die des Blutes, aber man 
kann unmöglich, wie es Scudamore gethan hat, in dem Ent- 
weichen der Kohlensäure die Ursache der Gerinnung erblicken, 
was so viel heissen würde, als dass dieses Gas das Blut im 
Körper flüssig erhielte.e Um auch letzterem Umstande, der 
Entweichung des Gases, zuvorzukommen, stellte ich einige 
Versuche mit dem in Fig. 1 abgebildeten Glasapparate an, des- 
Fig. 1. 


sen Construction ich Herrn Prof. Hoppe verdanke Die 
Spitze a tauchte ich in frisch ausgepresstes Schweineblut und 
sog von. b.aus ein Paar Ccm. desselben in die Kugel A, 
kehrte darauf den Apparat um, so dass das Blut nach B 
hinüberfloss und füllte dann in umgekehrter Richtung saugend, 
die. Kugel C mit der fibrinösen Flüssigkeit. Der Apparat 
wurde nun mit den kleinen Kugeln nach unten aufgestellt und 
ein langsamer Strom von Kohlensäure 2!/, Stunden lang in 
der Richtung von b nach a durch die Flüssigkeiten geleitet. 


582 Ä Ä. Schmidt: 


Darauf wurden die beiden Röhren a und b bei fortgehendem 
Gasstrom rasch zugeschmolzen und durch vorsichtiges Neigen 
des Apparates das Blut von B nach © hinübergeleitet; letz- 
teres geht namentlich bei enger Verbindungsröhre meist 'schwie- 
rig von Statten, man känn jedoch den Uebertritt des Blutes 
dadurch beliebig befördern und mässigen, dass man die Kugel 
A mit der Hand erwärmt, resp. sich abkühlen lässt. Ich liess 
immer nur wenige Tropfen Blutes hinübergehen. Die Flüssie- 
keiten waren nun möglichst mit Kohlensäure gesättigt, sie be- 
fanden sich ganz in einer Atmosphäre von diesem Gase; den- 
noch trat Gerinnung ein, meist nach Verlauf von !/,—1 Stunde. 
Wenn ich die angewandten Flüssigkeiten in denselben Ver- 
hältnissen der Quantitäten, ohne vorherige Behandlung mit 
Kohlensäure , in einem offenen Gefäss ng so 
gerannen sie in circa 9—15 Minuten. 

Nach Brücke’s Angabe tritt die Gerinnung”des BAIERRENN: 
wenn sie ein Mal durch verdünnte Essigsäure auf einige Stun- 
den behindert worden ist, nachträglich beim Neutralisiren der 
Essigsäure mit Ammoniak nicht mehr ein. Bei sehr hochgra- 
diger Verdünnung, wenn ich concentrirte Essigsäure mit dem 
25—35dfachen Volum destillirten Wassers versetzte, fand ich 
jedoch, dass die Wirkung ganz der der Kohlensäure entsprach ; 
der Process wurde nur verlangsamt, freilich in höherem Maasse 
als durch die Kohlensäure; einige Tropfen einer solchen Essig- 
säurelösung zu 1— 2 ÜÖcm. einer fibrinösen Mischung gesetzt, 
verzögerte die Gerinnung immerhin um 1—3 Stunden. Aber 
man hat es in seiner Hand, die Bedingungen so zu stellen, 
dass beide Säuren ganz das gleiche Resultat geben. Ich glaube 
daher, dass diese beiden Säuren sich in Bezug auf ihr Ver- 
halten gegen gerinnende Substanzen nicht qualitativ, sondern 
quantitativ von einander unterscheiden ; die Kohlensäure ist 
eben eine viel schwächere Säure, auch sie vermag ja unter 
Umständen die Gerinnung gänzlich zu behindern. In Betreff 
der Phosphorsäure erwähne ich, dass es bei gleicher Verdün- 
nung grösserer Quantitäten derselben bedurfte, um „> 
Effect zu erzielen, wie durch Essigsäure. 

In welche Verbindungen nun auch die Kohlensäure im 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 583 


Blute treten mag, es liegt am Nächsten, sich von dem Gerin- 
nungshemmniss, das sie abgiebt, die Vorstellung zu machen, 
dass ihr, in. letzter Instanz wenigstens, ein verändernder Ein- 
fluss auf einen der beiden Gerinnungsfactoren zusteht. Man 
kann ‘jedoch mit Kohlensäure behandeltem Blute seine ur- 
sprüngliche Wirksamkeit wiedergeben, wenn man die Kohlen- 
säure durch andere Gase wieder austreibt; das Analoge habe 
ich bei Versuchen mit verdünnter Essigsäure gefunden, wenn 
ich sie nachträglich durch verdünntes Ammoniak neutralisirte; 
es ist nur nöthig, hierbei sehr genau zu verfahren, damit kein 
Ueberschuss von Ammoniak in der Flüssigkeit bleibt. Man 
kann danach annehmen, dass der. eigentliche Angriffspunkt für 
diese Säuren in. der fibrinogenen Substanz liege; ich setzte 
daher gerinnbare Flüssigkeiten ihrer Einwirkung aus, allein 
auch hier stellen sich nach ihrer Entfernung oder Neutralisi- 
rung die ursprünglichen Verhältnisse, d. h. die frühere Ge- 
rinnbarkeit wieder ein. Bei dieser Gleichheit der Resultate 
liess sich auf diesem Wege wenigstens nicht entscheiden, wo- 
rauf die Wirkung der Säuren zu beziehen sei. Jedenfalls ist, 
wenn einer der Gerinnungsfactoren durch sie verändert. wird, 
diese Veränderung keine wesentliche, bleibende. 


7. Der Sauerstoff. 


Noch entschiedener als aus den Erfahrungen am Chylus 
musste ich aus dem Verhalten der Transsudate die Ueberzeu- 
gung: gewinnen, dass der Sauerstoff der atmosphärischen Luft 
beim Gerinnungsvorgange unbetheiligt bleibt. Wenn Flüssig- 
keiten, die unter Umständen ganz wie Blut oder Chylus ge- 
rinnen, wochenlang an der Luft stehen können, ohne sich im 
mindesten zu verändern, wie soll da die Luft die eigentliche 
Gerinnungsursache sein? Alle Gründe, die für eine Sauer- 
stoffeinwirkung sprechen können, sind nur scheinbare; so wenn 
das bei längerem Aufenthalte in unterbundenen lebenden Her- 
zen seines Sauerstoffes zur Bildung von Kohlensäure beraubte 
Blut sehr langsam gerinnt; hier ist es nicht das Fehlen des 
Sauerstoffes, sondern die Anhäufung der Kohlensäure, die 
meiner Ueberzeugung nach zugleich mit einer fibrinoplastischen 


gs se | A, Schmidt: ia ade 


Schwächung des Blutes complieirt ist, was diesen Effect 'be- 
dingt. Ebenso verhält es sich mit der Beobachtung, dass bei 
der Punction seröser Höhlen häufig Flüssigkeiten entleert wer- 
den, die mehr oder weniger schnell an der Luft gerinnen, ob- 
gleich sie im Körper bis zuletzt und zwar oft während eines 
sehr langen Bestandes flüssig blieben ; hier ist es der dürch 
die Operation selbst bedingte Blutzutritt, der bis ag keine 
Berücksichtigung gefunden hat.!) 

Je besser der Blutzutritt vermieden worden ist, desto se- 
röser ist scheinbar die Flüssigkeit, desto fibrinöser ist sie aber 
in Wahrheit. Wenn die fibrinoplastische Energie des Blutes 
auf seinem bedeutenden Sauerstoffgehalt beruhte, so müsste 
man annehmen, dass der Grad der Einwirkung des Blutes in 
direetem Verhältnisse stände zu der Menge des darin enthal- 
tenen Sauerstoffes, man müsste die Wirkung beliebig steigern 
oder herabsetzen können, indem man dem Blute Sauerstoff 
zuführt oder entzieht. Dieses ist keineswegs der Fall. Aus- 
geschlagenes Blut ist immer viel heller roth, also sauerstoff- 
reicher, als ausgepresstes und wirkt doch langsamer; lässt man 
dunkles ausgepresstes Blut einige Stunden oder Tage an der 
Luft stehen, so wird. es durch Sauerstoffaufnahme hellröth, 
büsst aber gleichzeitig seine fibrinoplastische Energie ein; da- 
gegen erhält sich dieselbe sehr lange in luftdieht verschlossenem 


1) In Virchow’s gesammelten Abhandlungen finden sich 4 Fälle 
beschrieben (S. 96, 109, 111 u. 115), wo flüssige Exsudate mehr‘oder 
weniger schnell nach ihrer Entleerung aus dem Körper ‚gerannen! 
Unter diesen 4 Fällen wird. von 2 ausdrücklich, angegeben, dass :sie 
leicht blutig gefärbt gewesen, von 2 heisst es wenigstens, dass sie 
Blutkörperchen enthalten hätten. Zwei dieser Flüssigkeiten stammten 
ausserdem aus Leichen, von welchen die eine 36 Stunden nach dem 
Tode secirt wurde, die andere, nach 14 Stunden geöffnete, einem 
unter den Erscheinungen des Skorbuts Verstorbenen angehörte. Ich 
muss ferner bemerken, dass das Blut noch langsamere Gerinnung 
zn bewirken vermag, wenn man es in so geringer Quantität zusetzt, 
dass es nur eine sehr wenig bemerkbare blutige Färbung bedingt; in 
übelriechenden, mit Zersetzungsproducten geschwängerten Flüssigkeiten 
bewirken selbst grössere Blutmengen nichts mehr als eine Missfärbung; 
dennoch erfolgt Gerinnung, 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 585 


Blute, selbst wenn es bereite schwarz geworden, obgleich der 
Sauerstoff während der Zersetzung verbraucht wird und kein 
Ersatz stattfinden kann. Es hat häufig den Anschein, als 
könne man durch Sauerstoffdurchleitung die Wirksamkeit des 
Blutes erheblich steigern ; ich habe bereits angegeben, dass 
mir dieses nur bei altem, sehr kohlensäurereichem Blute vor- 
gekommen ist. Dass diese Wirkung des Sauerstoffes nur eine 
scheinbare, negative ist, wurde, abgesehen davon, dass ich 
denselben ‚Effect auch durch Wasserstoffdurchleitung erzielen 
konnte, auch dadurch- bestätigt, dass evacuirtes Blut seine 
fibrinoplastische Wirksamkeit nicht im mindesten eingebüsst 
hatte. Ich füllte zu dem Zwecke die Kugel A des Glasappa- 
rates: Fig. 2 zur Hälfte mit frischem Blute, schmolz dann die 
| Fig. 2. 


schmale Röhre:a zu und verband die Röhre b durch einen Kaut- 
schukschlauch mit einer Luftpumpe. Wenn beim Auspumpen die 
Blasenbildung träge wurde, stellteich den Apparat in ein Wasser- 
bad von 45°. Das Aufkochen wird dann wieder sehr heftig und 
ich musste ausserordentlich vorsichtig verfahren, um das Hin- 
übertreten der Flüssigkeit in die Luftpumpe zu verhüten. Nach 
dem Aufhören der Blasenbildung, wobei das Blut schwarz und . 
theerartig geworden war, wurde: die Röhre b in ihrer Mitte 
zugeschmolzen. Das seiner Gase beraubte Blut konnte so bis 
zum Momente: des Versuches im luftleeren Raume aufbewahrt 
werden. Dann wurden die Spitzen a und b rasch abgebrochen 
und beliebige Quantitäten Blut durch Lufteinblasen zum Trans- 
sudat.. gespritzt. » Die Gerinnung erfolgte ebenso schnell, wie 


586 > 00A, Schmidt: 


die durch das ursprüngliche Blut bewirkte, unter 5 Fällen 
2 Mal sogar um einen Moment schneller, was, wenn nicht ein 
Fehler beim Abmessen der  Quantitäten stattgefunden : hatte, 
sich wohl aus der gleichzeitigen Entfernung der Kohlensäure 
erklären lässt. Allerdings kam das Blut vom Moment seiner 
- Ausspritzung an wieder mit: der Luft in Berührung , die Blut- 
körperchen konnten den Verlust an Sauerstoff wieder-ersetzen, 
aber dieses geschieht nur sehr langsam, das Blut bleibt stun- 
denlang schwarz, es müsste sich also wenigstens eine bedeu- 
tende Verlangsamung der Gerinnung herausstellen; dieselbe 
fand jedoch ‘in wenigen Minuten Statt, das Coagulum war 
gleichfalls schwarz und röthete sich erst nachträglich und lang- 
sam. Mit Rücksicht auf diesen Einwand stellte ich aber den 
Versuch auch noch in anderer Weise an. Ich setzte dazu die 
Bedingungen einer langsamen Gerinnung, indem ich zu etwa 
12 Cem. filtrirten,, leicht gerinnenden Liquor pericardii von 
2°/, Alb. 3 Tropfen frisches Rinderblutserum brachte ; gleich 
darauf sog ich einen Theil der Flüssigkeit in obigen Glasap- 
parat und verfuhr nun ganz so wie bei der Evacuation des 
Blutes; den anderen Theil liess ich im offenen Glase an der 
Luft stehen. Bei gleicher Temperatur trat die Gerinnung so- 
wohl im Glasapparat als im offenen Gefäss ein und zwar in 
beiden gleichzeitig, beim ersten Versuch nach 8, beim zweiten 
nach 14 Stunden; aber das Gerinnsel im Glasapparat war un- 
deutlicher und schwächer entwickelt; dieses lag jedoch, wie 
ich aus anderen Versuchen ersehen konnte, nur in der durch 
die Eyacuation mitbedingten Ooncentrirung; der fibrinösen Flüs- 
sigkeit ohne gleichzeitige Steigerung der fibrinoplastischen Ein- 
wirkung. — Nach Hiss kann man das Blut durch Durchleiten 
von Kohlenoxydgas vollkommen seines Sauerstoffgehaltes be- 
rauben. Ich habe eine Glasglocke von ungefähr 4 Liter mit 
diesem Gase gefüllt und diese ganze Masse durch ein Reagens- 
glas voll frischen, zufällig sehr dunklen Blutes geleitet ; die 
dunkle Farbe machte bald der durch Kohlenoxyd bedingten 
hellrothen Platz, aber die durch dieses Blut herbeigeführte Ge- 
rinnung war nicht blos nicht verlangsamt, sondern sogar um 
einige Augenblicke beschleunigt und das Coagulum auffallend 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 587 


fest ; das Resultat war also dasselbe, wie nach Behandlung 
von kohlensäurereichem Blute mit Sauerstoff oder Wasserstoff. 

Der indifferente Sauerstoff ist es demnach gewiss nicht, 
dem die fibrinoplastische Einwirkung zugeschrieben werden 
"kann; man könnte in Betreff derselben nur noch an einen in 
innigerer Verbindung im Blute existirenden und durch die obi- 
gen Methoden nicht zu entfernenden Rest dieses Gases denken. 
Manche Thatsachen : erinnern an das Ozon, Ich zersetzte 
Baryumhyperoxyd in Wasser durch Durchleiten von Kohlen- 
säure. Die nach dem Niedersinken der festen Bestandtheile 
von oben abgehobene Flüssigkeit gab auf Jodstärkepapier die 
gewöhnliche Ozonreaction. Das so dargestellte Wasserstoff- 
hyperoxyd übte. wenigstens auf fibrinöse Substanzen keinen 
coagulirenden Einfluss aus; dagegegen vernichtete es sehr 
schnell die fibrinoplastische Wirksamkeit ‘des Blutes: Ich 
mischte 2 Theile Rinderblut mit 1 Theil dieses Wassers, eine 
andere Portion desselben Blutes verdünnte ich in derselben 
Proportion mit destillirtem Wasser. Bei dem unmittelbar nach 
dem Ozonzusatz angestellten vergleichenden Versuche ergab 
sich keine Differenz in der Gerinnungszeit; nach 2 Stunden 
betrug dieselbe jedoch schon eine halbe Stunde; am folgenden 
Tage wirkte das gewässerte Blut in einer Stunde, das ozon- 
haltige erst nach Verlauf von mehr als 3 Stunden, Die’ wei- 
tere Beobachtung war ich aufzugeben gezwungen. 

Aus den Erfahrungen an evacuirtem Blute geht hervor, 
dass die wirksame Substanz überhaupt nicht gasförmiger Natur 
ist, man kann also auch nicht wohl den bei Contact mit der 
atmosphärischen Luft stattfindenden Verlust derselben auf ein 
gasförmiges Entweichen beziehen; es scheint mir wahrschein- 
licher, dass, wie das Ozon die fibrinoplastische Substanz schnell 
zerstört, der atmosphärische Sauerstoff dasselbe langsam thut. 


. (Fortsetzung folgt.) 


588 F, Leydig: 


Die Augen und neue Sinnesorgane der Egel. 


Von 


FRANZ LEYDIG in Tübingen. 


1. Die Sehorgane. 


Die Augen des Blutegels sind, was Zahl und Stellung be- 
trifft, bekanntlich schon seit langem von den Zoologen bemerkt 
worden, und die Zweifel, welche von mancher Seite, selbst 
von dem ersten Entdecker dieser Gebilde, Braun (1805), sich 
erhoben, ob die als; Augen gedeuteten schwarzen Punkte auch 
in der That Sehorgane seien, verschwanden durch die Unter- 
suchungen E. H. Weber’s. Dieser ausgezeichnete Naturfor- 
scher, dem auch die vergleichende Anatomie eine: Menge .der 
schönsten Beobachtungen verdankt, theilte 1827 mit!), dass die 
Augen, junger : Exemplare von Hirudo medicinalis eylindrisch 
seien, zum Theil wie eine Warze über die Oberfläche. des 
Thieres hervorragten, im übrigen in ‚das Innere des 'Thieres 
sich erstreckten. Das warzenförmige Ende der cylindrischen 
Augen sei mit einer convexen Haut überzogen, die sich durch 
ihren grösseren Glanz von der Haut des übrigen Körpers un- 
terscheide, sehr durchsichtig sei und für eine Hornhaut gehal- 
ten werden müsse; unter ihr liege an dem Ende jedes Auges 
eine schwarze Platte, weit intensiver schwarz als andere 
schwarze Flecken des Thieres, und welche vielleicht eine 
Blendung vorstelle; der untere Theil der Cylinder ‚habe dieses 
schwarze Gebilde nicht. 

Brandt?) bestätigte Weber’s Angabe, nur besteht nach 
ihm der grösste Theil des Auges aus der schwarzen dunklen 


1) Isis 1827 S. 395, und Meckel’s Archiv 1827 S. 301. 
2) Medic. Zoologie S. 251. 


Die Augen und neue Sinnesorgane der Egel. 589 


Haut; ihr sei nach vorn und aussen die gewölbte, durchschei- 
nende Hornhaut eingefügt. Brandt konnte mit Sicherheit ein 
Nervenfädchen „im Auge* verfolgen, aber nichts Bestimmtes 
von einer im. Auge enthaltenen Flüssigkeit, dieBraun gesehen 
hatte, wahrnehmen. "Auf Grund dieser Mittheilungen sprach 
dann Joh. Müller!) die Ansicht aus, es möchten die Augen 
des 'Blutegels weder Linse noch Glaskörper haben, sondern 
wahrscheinlich bilde eine blosse Anschwellung des Sehnerven 
den Inhalt des Auges. 

Ein wesentlicher Schritt in der Kenntniss unseres Organes 
kündigte sich dadurch an, dass R. Wagner?) einen wirklichen 
Glaskörper, besonders deutlich in den grösseren Mittelaugen, 
gesehen zu haben glaubte, ja es schien ihm sogar am Glas- 
körper vorn ein Abschnitt, wie eine Linse, zu stehen. Somit 
durfte man, entgegen der Meinung Müller’s, sagen, die Augen 
seien glocken- oder beeherförmige Organe, versehen mit einem 
Nerven, einer Choroidea und einem Glaskörper. 

Meines Wissens sind die voranstehenden Beobachtungen die 
einzigen gewesen, welche bisher für die Beschreibung der Seh- 
organe des Blutegels in den Lehrbüchern die Basis abgegeben 
haben, und es konnte wohl als wünschenswerth erscheinen, 
fragliche Gebilde einer erneuten Untersuchung zu unterwerfen. 
Indem ich dieses that, sehe ich mich veranlasst, Folgendes 
darüber zu berichten. 

Ich bemerke vor Allem, dass ich nur erwachsene Exem- 
plare von Sangwisuga medicinalis und Haemopis vorax Brandt 
vor mir hatte, während Weber und Wagner ihre Studien 
an jungen, aus dem Cocon herausgenommenen oder eben aus- 
geschlüpften Thieren gemacht haben. Es mögen solche junge 
Blutegel, „da sie noch nicht so schwarz gefleckt und undurch- 
sichtig sind, als die alten“, viel leichter zu untersuchen sein, 
doch hatte ich leider keine Gelegenheit, mir dergleichen aufzu- 
treiben. An ausgewachsenen Egeln, namentlich am Pferdeegel, 


1) Archiv für Anatomie und Physiologie, 1834, Jahresb. S. 65. 
2). Vergleichende Anatomie, 1834, S, 428 ; Icones physiol., 1839, 
Tab. 28, Fig. 16. ki 


590 F. Leydig: 


treten wegen des vielen Hautpigmentes die Augen am’ unver- 
letzten Thier für die Betrachtung mit: der Lupe keinesweges 
sehr hervor, und ich finde begreiflich, wenn in manchen: zoo- 
logischen Schilderungen es heisst, die Augen seien „undeutlich“. 
Führt man aber mit einem scharfen Messer Schnitte durch den 
Kopf, in der Richtung der Augenpunkte, so wird man sich 
rasch überzeugen, dass man es mit deutlichen Organen zu thun 
habe. Ebenso. markiren sie sich auf’s Schärfste an Egeln, die 
in Glycerin aufbewahrt werden, 

Was die Methode meiner Untersuchung betrifft, so habe ich 
sowohl frische Thiere, als auch solche, die in Weingeist er- 
härtet waren oder in Essigsäure einige Tage gelegen hatten, 
angewendet. Vortrefflich für die Erkenntniss der Theile sind 
Längs- und Querschnitte. 

Jede der beiden Blutegelarten besitzt 10 Augen, die huf- 
eisenförmig gestellt, auf der Oberseite des Kopfes sich finden. 
Die Vertheilung bei Sanguisuga medicinalis ist so, dass der 
erste Kopfring sechs Augen trägt, die übrigen vier folgen auf 
dem zweiten und dritten Ring!'). Die Gestalt des einzelnen 
Auges, welche die einer länglichen Glocke ist, wird am deut- 
lichsten an Schnitten, die senkrecht durch die Augenpunkte 
geführt werden, wobei sich auch zeigt, dass die Augen ziemlich 
tief in die Musculatur des Kopfes sich einsenken. Dergleichen 
Präparate, auf den feineren Bau besehen, weisen zunächst eine 
abschliessende helle Haut, eine Art Sklerotika auf, welche aber 
nicht nach aussen vom Pigment liegt, sondern nach innen von 
diesem. Die Haut, welche ich soeben einer Sklerotika 
verglich, erscheint auf gut gelungenen Schnitten als eine Fort- 
setzung oder Einstülpung von der unterhalb der Epidermiszellen 
sich ausbreitenden Körperhaut, also des Coriums. Nach aussen 
von ihr liegt die Pigmenthülle, welche, was beachtenswerth, 


1) Der zweite und dritte Ring zerfällt übrigens bei genauerer Be- 
sicehtigung selbst wieder in zwei secundäre Segmente, und im Falle 
man diese bezüglich der Stellung der Augen berücksichtigt, so stände 
das siebente und achte Auge auf dem vorderen Segment des zweiten 
Ringes und das neunte und zehnte auf dem hinteren Segment des 
dritten Ringes. 


Die Augen und neue Sinnesorgane der Egel. 591 


durch keine neue Haut abgeschlossen wird, sondern im Gegen- 
theil in direeter Verbindung steht mit den verzweigten Pig- 
mentablagerungen der Umgebung. Man kann demnach an dem 
Pigmentbecher oder der Choroidea des Auges unterscheiden: 
die inneren, dicht beisammen liegenden, rundlichen Pigment- 
zellen und die peripherischen verzweigten netzförmig zusammen- 
hängenden. Dass die Hauptmasse des Augenpigmentes in rund- 
lichen, verhältnissmässig kleinen Zellen enthalten ist, wird be- 
sonders klar, wenn durch Kalilauge das Pigment selbst gelöst 
wurde. An jedes Auge heran und zwar an das hintere ge- 
wölbte Ende tritt, wie sich durch scharfe Schnitte genau sehen 
lässt, ein Nerv, der aus einer Anzahl von Primitivfasern und 
der gemeinsamen Scheide besteht. Die Augennerven sind 
Zweige der vom oberenSchlundganglion entspringenden Stämme, 
welche indessen nicht ausschliesslich die Augen versorgen, son- 
dern auch zu den nachher zur Sprache kommenden, von mir 
aufgefundenen Organen gehen und ausserdem noch feinere 
Zweige absenden, die, wie es den Anschein hat, der Haut des 
Kopfes angehören. So bemerkt man, namentlich gern unmit- 
telbar vor dem Eintritt des Augennerven in den Pigmentbecher, 
einen Zweig, einen oder mehre Primitivfasern enthaltend, welche 
unter Verästigung in ganz feine Ausläufer sich verlieren. 
Recht merkwürdig stellt sich das Innere des Auges dar. 
Schon bei Betrachtung des Kopfendes eines in Weingeist ge- 
tödteten medieinischen Blutegels, im Falle die Augen nicht 
allzusehr zurückgezogen sind, unterscheidet man mit der Lupe 
innerhalb des Pigmentfleckes eine graue centrale Partie, die, 
wenn wir sie auf Längs- und Querschnitten näher kennen zu 
lernen suchen, sich aus eigenthümlichen, zelligen Elementen 
zusammengesetzt zeigt. Dieselben sind gross, hell, brechen 
das Licht ziemlich stark; sie besitzen ferner eine dicke, etwas 
glänzende Membran, scharf abgeschieden von dem inneren 
Hohlraum. Der Kern ist, wie bei verschiedener Einstellung 
sicher ausgemittelt werden kann, mit der dicken Zellwand in 
continuirlichem Zusammenhang, derart, dass er eigentlich einen 
kugligen, von der Zellwand in’s Innere vorspringenden, an 
der Wurzel eingeschnürten Körper vorstellt. Die Zellen neh- 


592 F, Leydis: 


men an Grösse gegen den ‚Grund des Augenbechers: zu ab, 
hingegen wird hier im Kern noch ein Nucleolus sichtbar. Am 
vorderen Ende des Augenbechers stossen diese Zellen unmit- 
telbar an die Epidermiszellen der Kopfhaut. Machen wir uns 
Querschnitte der Augen, so finden wir, dass die fraglichen Zel- 
len das Innere des Auges nicht vollständig erfüllen, sondern 
dass sie die Achse des Augenbechers frei lassen und hier ein 
gewisses centrales Gebilde umstellen. Es bietet demnach ein 
Querschnitt des Auges folgende Zonen dar: zu äusserst, den 
Pigmentring, dessen Peripherie mit den ästigen Pigmentfiguren 
der Umgebung sich in Verbindung setzt, dann folgt der helle, 
schmale Ring der Sklerotika, hierauf der breite Gürtel der 
grossen vorhin bezeichneten Zellen, und zu innerst ein unter 
diesen Umständen kleinkörniges Achsengebilde. Die Bedeutung 
dieses letzteren klärt sich auf an Augen, die von Längsschnit- 
ten getroffen worden sind, da sich jetzt kundgiebt, dass das: 
selbe ein Strang feiner Fasern ist, die als Fortsetzung der 
Sehnervenfasern mitten im Auge aufsteigen, wobei noch zu 
bemerken, dass die Fasern des Achsenstranges feiner sind 
als die Elemente des Opticus vor dem Eintritt in’s Auge. 
Was im Voranstehenden über die Structur des Auges aus- 
gesagt wurde, ergiebt sich bei obiger Untersuchungsmethode 
ohne besondere Mühe. Aber ist man einmal soweit gekommen, 
so will man auch wissen, wo und wie enden die Fasern des 
Achsenstranges, d. h. die Elemente des Sehnerven, und dieser 
Punkt ist schwieriger zu erledigen. Zuerst hegte ich die Ver- 
muthung, es möchten die Fasern des Achsenstranges während 
ihres Aufsteigens im Inneren des Auges sich mit den hellen, 
glänzenden Zellen, von denen sie rings umstellt sind, verbin- 
den, allein ich habe einen solchen Zusammenhang auch bei 
der mannigfaltigsten Präparationsweise und dem sorgfältigsten 
Zusehen nie mit Bestimmtheit erblicken können. An zerzupf- 
ten Augen schien es mir zwar öfters, als ob sich von den Zel- 
len ein feines Stielchen wegzöge, aber es wollte sich niemals 
eine unbezweifelbare Verbindung mit den Achsenfasern zeigen. 
Nach Allem, was ich sehen konnte, muss ich vielmehr anneh- 
men, dass der Achsenstrang bis zum oberen Ende des Auges 


Die Augen und neue Sinnesorgane der Egel. 593 


einfach heraufsteigt und hier ganz frei und unbedeckt endet, 
eine Auffassung, die sich ausser auf Längs- und Querschnitte 
noch auf folgende Präparationsweise stützt. Man trage mit 
einer scharfen Scheere die Haut des Kopfes’ da, wo Augen 
stehen, durch flache Schnitte ab und betrachte genau und ohne 
Druck anzuwenden, die Oberfläche der Haut. Wo ein Auge 
eingepflanzt ist, erscheint die Haut zu einer runden Grube ver- 
tieft, ringsum von dem durchschimmernden Augenschwarz be- 
grenzt; indem man jetzt durch verschiedene Einstellung des 
Focus vom Rand der Grube bis hinab in deren Grund Alles, 
was vorliegt, durchmustert, so findet man, dass am Rand der 
Grube, gleichwie auf der übrigen Fläche der Kopfhaut die 
Epidermiszellen in Trupps beisammenstehen, dann, dass diese 
‚Zellen an der Grubenwand von cylindrischer Gestalt sind, und 
im Grunde der Grube sich wieder verkürzt haben. Am wich- 
tigsten ist aber für uns der Mittelpunkt im Boden der Grube, 
denn hier ist die Stelle, nach der die Achsenfasern des Auges 
zustreben. Und was sieht man da? Ich glaube mit Sicherheit 
wahrzunehmen, dass diese Stelle nicht von Epidermiszellen ge- 
deckt wird, sondern erblicke hier einen eigenthümlichen Fleck, 
etwas breiter im Umfang als der Achsenstrang des Auges im 
Querschnitt. An günstigen Präparaten meine ich auch den di- 
reeten Zusammenhang des Achsenstranges und dieses im Profil 
schwach warzenförmigen Fleckes zu erkennen, über dessen 
nähere Natur noch bemerkt sein mag, dass er an frischen 
Thieren wie aus hellen, etwas glänzenden Kügelchen (den 
Endknöpfehen der Nervenfasern?) besteht, während er in Rea- 
gentien nur eine blassgranuläre Beschaffenheit darbietet. 

Aus meinen Beobachtungen, wenn man sie zusammenhält 
mit den Angaben der oben genannten Forscher, erhellt, dass 
das, was Braun als „Flüssigkeit im Auge“, und R. Wagner 
als „Glaskörper* (eine Bezeichnung, die ich nur vorläufig bei- 
behalte) beschrieben haben, existirt: es ist die Masse der eigen- 
artigen, hellen zelligen Gebilde. Wenn aber der letztgenannte 
Zootom noch von einem linsenartigen Abschnitt spricht, der 
vorne am Glaskörper stehe, und wenn Weber mittheilt, dass 


die Augen wie Warzen über die Oberfläche des Thieres erha- 
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv. 1861. 39 


594 F. Leydig: 


ben und hier mit einer convexen Haut überzogen seien, durch 
grösseren Glanz von der Haut des übrigen Körpers verschie- 
den, so möchte ich auf Grund des von mir Gesehenen anneh- 
men, dass es sich hier um unrichtige Auslegung des Beobach- 
teten handelt. Ich vermag auch nicht die leiseste Spur eines 
linsenartigen Abschnittes oder einer Hornhaut wahrzunehmen, 
jedes Auge zeigt sich mir als eine glockenförmige Einstülpung 
der äusseren Haut, so, dass das Corium der Haut zur Sklero- 
tika wird, die Choroidea eine angehäufte Pigmentmasse eben- 
desselben Coriums ist, weshalb auch, was anfänglich sehr auf- 
fällt, in Verbindung bleibend mit den übrigen Pigmentfiguren 
der Haut. Die Epidermiszellen stossen unmittelbar an die 
Zellen des „Glaskörpers“ an, und ich halte letztere vom mor- 
phologischen Standpunkte aus nur für umgebildete Epidermis- 
zellen. Der Sehnerv, am Auge angelangt, steigt mitten durch 
den „Glaskörper“ durch und endet frei im Grunde des Augen- 
einganges. So wenig diese Darstellung auf die in Rede ste- 
henden Weber-Wagner’schen Angaben zu passen scheint, 
so werden sich diese vielleicht doch erklären lassen. Bedenke 
man zuerst, dass beide Männer, wie aus ihren Abbildungen 
hervorgeht, nur sehr geringe Vergrösserung angewendet haben, 
dann, dass sie lebende junge Thiere vor sich hatten. Weber 
bemerkt nicht bloss, dass die Augen warzenförmig vorstehen, 
sondern , dass sie auch eingezogen werden können. Meine 
Auseinandersetzung über die Structur des Auges bezieht sich 
lediglich auf eingezogene Augen. Vergegenwärtigt man sich 
nun den vorderen Theil des Auges aus einer Grube umge- 
wandelt in eine Warze, so wird die letztere von einem Theil 
der hellen, glänzenden Zellen des „Glaskörpers“ gebildet er- 
scheinen, und ich habe die Vermuthung, dass Weber dadurch 
zur Annahme einer Hornhaut geführt wurde und Wagner 
darin einen linsenförmigen Abschnitt zu erkennen glaubte. 
Unter den Egeln unseres Landes besitzen noch die Gat- 
tungen Nephelis und Clepsine in bestimmter Anzahl Augen- 
flecken am Kopf, die man, obschon sie meines Wissens noch 
von Niemanden auf den eigentlichen Bau untersucht wurden, 
dennoch immer von einem richtigen Gefühl geleitet als Seh-. 


Die Augen und neue Sinnesorgane der Egel. 595 


organe ansprach. Ich habe jetzt Nephelis vulgaris, welche be- 
kanntlich acht Augen besitzt, und die mit zwei Augen ausge- 
stattete Clepsine bioculata mikroskopirt, insoweit es eben mög- 
lich ist, mit unseren Instrumenten dergleichen winzige Organe 
auf den feineren Bau zu prüfen. Im Anfange der Untersuchung 
glaubt man, dass es sich hier um einen anderen Typus handle, 
und ich war längere Zeit in dieser Ansicht befangen, bis mich 
eine vervielfältigte Methode das Richtige erkennen liess. Ich 
meine zu finden, dass die Augenflecken mit den Augen des 
Blutegels im Wesentlichen übereinstimmen. Was nun zunächst‘ 
Nephelis vulgaris betrifft, so sind die vier vorderen Augen 
grösser und nach vorne gerichtet, die vier hinteren kleiner und 
nach seitwärts und hinten gestellt. Sie haben alle eine rund- 
lich-ovale Gestalt. Hat man, um die Augen etwas klarer her- 
vortreten zu machen, einen leichten Druck auf das Kopfende 
wirken lassen, so scheint es, als ob jedes Auge von einer rings 
abschliessenden Haut begrenzt sei, die, insofern sie Pigment 
und alle übrigen Augentheile zu einem Ganzen zusammenfasst, 
eine echte Sklerotika wäre. Es scheint somit, dass das dunkelvio- 
lette Pigment nicht, wie beim Blutegel, den Sklerotikalbecher von 
aussen umlagere und sich daher auch nicht mit den umgeben- 
den Pigmentfiguren in Verbindung setze, und man ebendeswegen 
auch von einem vorderen Abschnitt der abschliessenden Haut 
einer Art Cornea, sprechen könne. Allein das ist, wie mich 
eine fortgesetzte Untersuchung belehrt, Täuschung. Auch bei 
Nephelis umfasst die Haut, welche ich der Sklerotika ver- 
gleiche, nur becherförmig den hinteren Abschnitt des Auges; 
vorn ragen die Augentheile frei heraus und nur durch die 
verschiebende Wirkung eines angebrachten Druckes kann sich 
der Contur der Sklerotika anscheinend zu einer Cornea fort- 
setzen. Das Pigment wird ebenfalls, wie beim Blutegel, nach 
aussen seine Stelle haben, trotzdem dass der erste Blick für 
die Lage nach innen besticht. Nach Entfernung des Pigmentes 
durch Kalilauge, theilweise auch schon ganz gut im frischen 
Zustande, kommt eine das Innere des Auges erfüllende helle 
Masse zum Vorschein, die dem zelligen Körper im Auge des 
Blutegels gleich ist, indem sie aus ähnlichen grossen klaren 
39* 


596 F. Leydig: 


Zellen besteht, die regelmässig um ein Centrum sich gruppiren, 
nur sind die Zellen weniger fest und daher leicht zerstörbar., 
Den Achsenkörper selber, obgleich wegen Kleinheit und zarter 
Natur des Objectes kaum weiter untersuchbar, halte ich nach 
dem, was sich darüber beim Blutegel erforschen lässt, für die 
Fortsetzuag und das Ende des Sehnerven. 

Die zwei Augen der Clepsine bioculata haben eine mehr 
birnförmige Gestalt, sonst aber einen mit Nephelis übereinstim- 
menden Bau, bestehen also 1) aus der das Auge hinten um- 
schliessenden Hülle; 2) aus Pigment, den Grund des Auges 
umgebend und wie bei Nephelis den vordersten Abschnitt frei 
lassend; auch sieht man das Augenpigment im Zusammenhange 
mit den bei manchen Individuen sehr spärlichen Pigmenthäuf- 
chen der Umgebung; 3) aus dem zelligen Körper, dessen Ele- 
mente ein centrales Gebilde umstehen, vorn aus dem Pigment 
herausragen, das Licht ziemlich stark brechen, aber (wie auch 
bei Nephelis) leicht in eine körnige Substanz sich umsetzen. 

Von ganz besonderem Interesse ist mir die Gattung Pisci- 
cola geworden. An Piscicola geometra‘), die ich früher in 
Würzburg untersuchte , hielt ich die Augenflecken für blosse 
Pigmentanhäufungen, hervorgegangen aus einzelnen verschmol- 
zenen Pigmentzellen. Die Augenflecken waren fast -in jedem 
Individuum anders gestaltet, bei den einen ziemlich scharf ab- 
gegränzt, in andern stark verzweigt, und durch Ausläufer selbst. 
mit anderen Pigmentzellen in Verbindung. Noch früher hatte 
schon Leo?) seine Zweifel darüber ausgesprochen, ob die so- 
genannten Augen des T'hieres wirklich Sehvermögen haben, 
da sie nicht einmal symmetrisch begrenzt seien, auch nicht 
tiefer als das übrige Hautpigment einzudringen scheinen, Meine 
neueren Erfahrungen haben mich eines anderen belehrt. Ich 
sehe, dass bei Piscicola respirans?) nicht nur die auf dem vor- 


1) Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie, Band I. 

2) Müller’s Archiv, 1835, 

3) Ich bemerke anbei, dass ich an den Fischen des Neckars hier 
bei Tübingen nur die von Troschel unterschiedene Piscicola respirans 
an Barben und Weissfischen im Frühjahr antreffe, die sich auf den 
ersten Blick von der von mir bei Würzburg früher untersuchten Art 


Die Augen und neue Sinnesorgane der Egel, 597 


deren Saugnapfe sich findenden vier Augenpunkte echte Augen 
vorstellen, sondern dass selbst die schwarzen augenähnlichen 
Punkte auf dem hinteren Saugnapfe denselben Bau haben, wie 
die des vorderen Saugnapfes, man also bei diesen Thieren 
ausser den Kopfaugen noch von Schwanzaugen zu sprechen 
habe. Zuvor sei noch bezüglich der Stellung der Kopfaugen 
gesagt, dass das vordere Paar nach vorn gerichtet und auch 
grösser ist, das hintere Paar nach hinten gekehrt erscheint. 
Es ist wahr, dass man bei der gewöhnlichen Untersuchung 
zu der Ansicht gelangt, wie ich sie über Piscicola geometra 
seiner Zeit äusserte. Am frischen Thier, auch an Piseicola 
respirans lässt sich schon mit der Lupe sehen, dass die Augen- 
punkte eigentlich nur durch ihre Grösse von den übrigen dunk- 
len Pigmentflecken des Kopfes verschieden seien, was bei 
stärkerer Vergrösserung seine Bestätigung insofern zu erhalten 
scheint, als man wahrnimmt, wie das Pigment der Augenflecken 
nach dem Rande hin sich verzweigt und durch Ausläufer mit 
den verästelten Pigmentflecken zusammenhängt. Von lichtbre- 
chenden Körpern zeigt sich unter diesen Umständen am vor- 
dersten Paar der Augenflecke keine Spur und am hinteren 
Paar andeutungsweise nur für Den, welcher durch andere Prä- 
parationsmethoden mit dem Bau fraglicher Organe schon ver- 
traut geworden ist. Ebensowenig sieht man unter den glei- 
chen Verhältnissen an den Augenpunkten der Schwanzscheibe 
lichtbrechende Elemente. Anders gestalten sich die Dinge bei 
folgendem Verfahren. Wir legen frische Thiere 1—2 Tage in 
eine sehr schwache Lösung von Kali bichromicum und setzen 
sie dann einen Tag lang der Einwirkung von Kalilauge aus. 
Das Pigment des Körpers und der Augenpunkte ist dadurch 
geschwunden und an dem abgeschnittenen Kopf erscheinen 
anstatt der dunklen Augenpunkte eigenartige helle Körper, die 
schon bei geringer Vergrösserung sich von den umliegenden 
Muskeln und einzelligen Hautdrüsen durch ihr helles, lichtbre- 
chendes Wesen ohne weiteres unterscheiden. Sie stehen an 


unterscheidet. An einem anderen Orte werde ich auf die Fauna un- 
serer Ringelwürmer überhaupt zurückkommen. 


598 F. Leydig: 


jedem Augenpunkt im Halbmond, in mehreren vielleicht zu drei 
Reihen, und entsprechen den hellen Zellen, welche oben vom 
Blutegel, Nephelis und Clepsine erwähnt wurden; der Kern 
liest im vorderen Theil der Zelle. Hat .man die Thiere in 
Essigsäure getödtet und Glycerinpräparate angefertigt, so neh- 
men die Körper einen gelblichen Ton an; im ganz frischen 
Zustande haben sie etwas weiches, gallertiges an sich. ' Eine 
Verbindung dieser Zellen mit anderen Elementen habe ich nicht 
wahrgenommen. Die, wie bemerkt, im Halbkreis aufgestellten 
Zellen sind nach hinten von der Pigmentschale umgeben, 
welche aus vielen dicht beisammen liegenden dunkelvioletten 
Zellen besteht und sich nach Behandlung mit das Pigment lö- 
senden Reagentien wie eine fasrige Zone ausnimmt, welche die 
lichtbrechenden Körper umgiebt, wobei es jedoch wahrscheinlich 
ist, dass ein Theil dieser fasrigen Umhüllung auf Rechnung 
einer „Sklerotikalschale* kommt. Wie sich die Nerven zum 
Auge verhalten, ist kaum völlig auszumitteln, da hierzu frische 
Thiere ganz unbrauchbar sind und an den mit Reagentien be- 
handelten die Nerven so sehr blass geworden sind, dass sie 
nur mit äusserster Mühe streckenweit verfolgt werden können. 
So viel ich, namentlich an Glycerinpräparaten, ersehen kann, 
ist der zweite von der oberen Hirnportion abgehende Nerv 
als der eigentliche Augennerv zu betrachten, wenigstens biegen 
von ihm Aeste ab, welche die Richtung zu den Augen nehmen. 

Die immer in der Zehnzahl vorhandenen Augenpunkte auf 
der Schwanzscheibe stimmen im Bau vollkommen mit den vier 
Augen des Kopfes überein. Sie bestehen aus den bogenförmig 
gestellten Reihen der hellen, lichtbrechenden Körper und dem 
diese letzteren in Form einer Schale umgebenden Pigment; ist das 
Pigment durch Essigsäure oder Kalilauge zerstört, so umzieht an 
ihrer Statt wie an den Kopfaugen ein Streifen fasriger Substanz 
die hellen Körper. Hat man die Organe aus der Schwanzscheibe 
isolirt vor sich und die Ansicht von oben, so scheint. es, als 
ob die lichtbrechenden Körper nicht sowohl halbkreisförmig, 
als vielmehr in wirklichem Kreis geordnet seien, wodurch die 
Aehnlichkeit mit dem Auge anderer Hirudineen sich: steigert. 
Am schwierigsten bleibt es auch an den Schwanzaugen zu be-. 


Die Augen und neue Sinnesorgane der Egel, 599 


stimmen, wie sich die Nerven verhalten. Durchmustert man 
die ganze abgeschnittene Schwanzscheibe eines Thieres, das in 
obiger Weise behandelt und einen Tag in Kalilauge gelegen 
war, bei geringer Vergrösserung und. so gelagert, dass die In- 
nenfläche der Scheibe sich dem Beschauer zukehrt, so sieht 
man leicht das längliche centrale Schwanzganglion und von ihm 
jederseits sieben Nerven in regelmässig strahliger Vertheilung 
abgehen. Ebenso erkennt man leicht, dass die Augen jeder- 
seits hart an den fünf hintersten Nerven der Schwanzscheibe 
liegen. Wendet man aber dann starke Vergrösserung an, so 
vermag man zwar einzelne Aeste der Nerven und deren feinste 
Vertheilung bis zum Scheibenrand zu verfolgen, sieht auch fer- 
ner deutlich, dass da und dort die Nerven gangliöse Einlage- 
rungen haben, aber der zum Auge gehende Zweig ist bei der 
Menge der umliegenden Muskel- und Hautdrüsen kaum mit 
Sicherheit wahrzunehmen. Durch Druck kann natürlich nichts 
verbessert werden, da die ohnehin äusserst blass gewordenen 
Nerven dann völlig schwinden. Auch Quer- und Längs- 
schnitte haben mir hierin noch keine Dienste geleistet. 


2. Eigenthümliche Sinnesorgane. 


Als ich an Sanguisuga und Haemopis die Augen studirte 
und die auffallenden Zellen kennen gelernt hatte, welche die 
Hauptmasse der Augencylinder bilden, sah ich nicht ohne 
Ueberraschung, dass sich am Kopfe zugleich mit den Augen 
ganz ähnliche helle Gebilde in Trupps beisammen und von 
einer pigmentfreien Hülle umschlossen noch einmal vorfinden. 
Ich ging der Sache weiter nach und der Erfolg war das Auf- 
finden von Organisationsverhältnissen, die bis jetzt unbekannt 
waren. 

Man kann sich schon mit der Lupe vom Dasein der jetzt 
zu beschreibenden Organe überzeugen, zu welchem Zwecke ich 
solche Exemplare des medieinischen Blutegels, die sich durch 
geringere Pigmentirung auszeichnen und in einer Lösung von 
Kali bichr. getödtet wurden, empfehle. Es zeigt sich, dass am 
Kopf ausser den zehn schwarzen Augen noch bestimmt be- 
grenzte Körper von meist grauer Farbe zugegen sind. Geringe 


600 F. Leydig: 


Vergrösserung thut dar, dass die Zahl dieser Organe eine sehr 
ansehnliche, ihre Gestalt verschieden gross und die Stellung 
der grösseren eine sehr regelmässige ist. In Menge besetzen 
sie namentlich den oberen, vorderen Lippenrand, wo sie dicht 
gedrängt stehen; oben am Kopf, nach aussen von den Augen, 
dann wieder innerhalb des von den Augen begrenzten hufeisen- 
förmigen Raumes, in der Mittellinie, vertheilen sich ohngefähr 
zwanzig grössere Organe, unter sich an Umfang etwas ver- 
schieden, doch die grössten etwa von der Hälfte eines Augen- 
eylinders. Im Ganzen schätze ich ihre Zahl am Kopf auf 60. 
Auch die Körperringe jenseits der Augen tragenden Segmente 
weisen noch einzelne dieser Organe auf. Wie weit sie viel- 
leicht vereinzelt nach hinten sich erstrecken, weiss ich nicht. 
Von der Schwanzscheibe kann ich sagen, dass mir dort keine 
Spur dieser Organe zu Gesicht gekommen ist. 

Während es leicht ist, die Existenz der bezeichneten Ge- 
bilde sich vorzuführen, so bedarf es einiger Mühe, etwelche 
Einsicht von ihrem Bau zu gewinnen. Die Frage, ob die Or- 
gane vielleicht Drüsen seien, ein Gedanke, der sich zunächst 
einstellt, muss bald verneint werden, da bei vergleichender Un- 
tersuchung sich ergiebt, dass weder die einzelligen kleinen 
Hautdrüsen, noch die grösseren, mit langem Gang an den Kie- 
ferwülsten mündenden Speicheldrüsen die entfernteste Aehn- 
lichkeit mit den neuen Organen haben. Um die Tracht dieser 
letzteren kurz anzudeuten,, erlaube ich mir an die Organe zu 
erinnern, welche ich vor langer Zeit bei Knochenfischen des 
Süsswassers entdeckte und unter der Bezeichnung „becherför- 
mige Organe* bekannt gemacht habe!). Mit diesen stimmen 
sie nicht nur im Habitus, sondern in manchen Einzelheiten 
des Baues überein. Auch die Organe der Egel stellen rund- 
lich-ovale Becher dar mit freier Mündung an der Haut; ihre 
Wand besteht aus langen, schmalen Zellen, welche als modificirte 
Epidermiszellen zu betrachten sind und trotzdem, dass sie ein 
geschlossenes Ganzes bilden, in ihrer Gesammtheit keinesweges 


1) Ueber die Haut einiger Süsswasserfische, Zeitschrift für wissen- 
schaftliche Zoologie, Band III, 1850, S. 3. 


Die Augen und neue Sinnesorgane der Egel, 601 


von einer bindegewebigen Haut umzogen werden. Den Grund 
des Bechers formiren die zelligen Körper, welche durch ihre 
Aehnlichkeit mit den Zellen des „Glaskörpers* im Auge mich 
zuerst auf unsere Organe aufmerksam werden liessen und in 
der That auch diesen fast als ganz gleichwerthig gelten kön- 
nen, was ich in meinen Notizen mir wiederholt angemerkt 
habe, ohne jedoch dabei gewisse kleine Unterschiede zu über- _ 
sehen. An Thieren z. B., die einige Tage in Essigsäure ge- 
legen hatten, waren die entsprechenden Zellen des Auges immer 
noch hell, die der Becher hingegen hatten etwas an ‚lichtbre- 
chender Eigenschaft eingebüsst. Die Zellen ordnen sich regel- 
mässig im Kreis, doch so, dass ein centraler Raum, der eigent- 
liche Boden des Bechers: frei bleibt. Während, wie gesagt, 
die langen eylindrischen, die Seitenwände des Bechers bilden- 
den Zellen von keiner Hülle umschlossen sind, umgiebt die 
jetzt in Rede stehenden eine bindegewebige Abgrenzung, was 
sich besonders deutlich zeigt, wenn man die Becher von unten 
ansehen kann. 

Um unseren Organen die Bedeutung von Sinnesapparaten 
beilegen zu können, ist es nöthig, ihren Zusammenhang mit 
Nerven nachzuweisen. Dies geschieht dadurch, dass man von 
der Kopfscheibe feine Flächenschnitte mit einem scharfen Messer 
abträgt, wodurch sich Präparate gewinnen lassen, die zweifel- 
los zeigen, dass die becherförmigen Organe wie Endknospen 
den Nerven angehören. Auf die feineren Verhältnisse unter- 
sucht, kommt dabei manches Eigenthümliche zum Vorschein. 
Die Nervenzweige für je ein Organ bestehen aus zwei bis 
drei Primitivfasern, von einer deutlichen Neurilemmscheide um- 
geben, die in ihrer Fortsetzung die mehrerwähnte binde- 
gewebige Kapsel jenes Theiles des Bechers ist, der von den 
grossen klaren Zellen gebildet wird. In der Nähe des Bechers 
verschmelzen die bisher deutlich gesondert gewesenen Primitiv- 
fasern zu einem einzigen nervösen Stück mit welligen Rändern, 
dessen Fortsetzung sich in den Boden des Bechers begiebt, um 
dort, innerhalb des von den glaskörperartigen Zellen übrig ge- 
lassenen centralen Raumes zu enden. Doch geschieht dies 
unter Veränderungen, denen schwer zu folgen ist. Man sieht 


602 F. Leydig: 


nämlich, wie der aus den verschmolzenen Primitivfasern her- 
vorgegangene nervöse Cylinder unmittelbar unter dem Becher 
nicht mehr eine glatte Oberfläche hat, sondern wie wenn er 
aus rundlichen Körpern oder aus gewundenen Faserstücken 
bestände; endlich beim Untersuchen frischer Objecte, indem 
man in’s Innere des Bechers sieht, glaube ich mit Bestimmtheit 
‚ auf dem Boden, umgeben von den radiär gestellten grossen 
hellen Zellen einen Büschel schmaler, senkrecht stehender und 
mit einem Endknöpfchen versehener Fasern zu erblicken. Diese 
Beobachtungen, mit einander verknüpft, scheinen mir bezüglich 
der Frage, wie sich die Nerven schliesslich verhalten, darzu- 
thun, dass, nachdem die 2—3 Primitivfasern zu einer Masse 
zusammengeschmolzen sind, aus dieser durch Zerspaltung neue 
Elemente entstehen, welche den glomerulusartigen Abschnitt 
unmittelbar am Grund des Bechers erzeugen, worauf sie feiner 
geworden und gerade gerichtet innerhalb des Bechers mit je 
einem Knöpfchen aufhören. 

Suchen wir uns ein Urtheil über die physiologische Bedeu- 
tung dieser neuen Sinnesapparate zu verschaffen, so fällt uns 
vor Allem die unverkennbare Analogie auf, welche im Bau 
zwischen ihnen und den Augen herrscht. Abgesehen von 
Grösse und Form scheint der Mangel des Pigmentes sie am 
meisten gegenüber von den Augen auszuzeichnen. Auch kom- 
men die Nerven der becherförmigen Organe und jene der Augen 
aus denselben Stämmen, aus den 3 Paar Kopfnerven nämlich, 
welche von der oberen Hirnportion entspringen. Doch giebt 
dies für das Ausfindigmachen der Function keinen Anhaltspunkt, 
denn von den gleichen Stämmen, gewöhnlich sogar noch un- 
mittelbar von den Sehnerven, gehen Zweige ab, die fein zuge- 
spitzt in der Haut enden. Man wird sich vielmehr besonders 
davon leiten lassen müssen, dass die Organe in grösster Häu- 
fung namentlich da stehen, wo, wie die Beobachtung des le- 
benden Thieres lehrt, eine feine Tastempfindung ihren Sitz hat. 
Von lange her gilt die Oberlippe der Blutegel, deren Nerven- 
reichthum schon anderen Forschern, wie z. B. Brandt bekannt 
ist, als Tastorgan. Wenn nun eine weiter vorgeschrittene Un-- 
tersuchung an den Enden dieser Nerven eigenthümliche Vor- 


Die Augen und neue Sinnesorgane der Egel. 603 


richtungen entdeckt, so darf man wohl mit einer gewissen Be- 
rechtigung dieselben für Tastorgane ansprechen. Und gleichwie 
die Tastempfindung die allgemeinste, gewissermaassen die un- 
terste der Sinnesempfindungen ist, aus der sich durch voll- 
kommnere Apparate die specifischeren Sinne erheben, so er- 
scheint beim Blutegel das Auge nach seinem Bau gleichsam 
auch nur eine höhere Stufe in der Organisation eben dieser 
Tastorgane vorzustellen!). Noch wäre vielleicht auch zu er- 
wägen, ob nicht die becherförmigen Organe des Blutegels Sitz 
des Geruchsinnes seien, denn der Umstand, „dass Egel an 
manche Personen und bei manchen Krankheiten nicht ansau- 
gen“, ferner, dass sie im freien Zustande die geeignete Nah- 
rung rasch wittern, scheint denn doch dafür zu sprechen, dass 
sie Geruchsinn besitzen. Wenn ich aber trotzdem einstweilen 
die Ansicht vorziehe, dass in Rede stehende Bildungen nicht 
Geruch-, sondern eher Tastorgane sind, so bestimmt mich 
hierzu auch die gar nicht abzuweisende, schon oben erwähnte 
morphologische Verwandtschaft zwischen den Organen der Egel 
und den von mir aufgefundenen der Fische. Und bei diesen, 
wo sie ebenfalls am zahlreichsten an den Lippen und Bartfäden 
vorkommen , wäre es überflüssig, sie für den Geruchsinn in 
Anspruch nehmen zu wollen, da dieser Thiergruppe ein nach 


1) Die Augen des Blutegels, obschon von ziemlich zusammenge- 
setzter Natur, scheinen aber doch nicht darnach angethan, Bilder der 
äusseren Gegenstände in ihrem Inneren entstehen zu lassen, vielmehr 
mögen die Leistungen nur so weit reichen, dass die Thiere Hell und 
Dunkel, Tag und Nacht zu unterscheiden im Stande sind. Eine solche 
Auffassung tritt dann auch keinesweges in Widerspruch mit dem, was 
Braun (Systematische Beschreibung einiger Egelarten, Berlin 1805) 
und Kuntzmann (Anat.-physiol. Untersuchungen über den Blutegel, 
Berlin 1817) vom Auge des Blutegels halten. Beide Beobachter sind 
durch wiederholte Versuche, die man in den citirten Schriften nach- 
lesen mag und mir ebenfalls von Gewicht zu sein scheinen, zu der 
Ansicht gekommen, „dass die Egel sich nicht des Sehens erfreuen 
können, wohl aber eines hohen Grades von feinem Gefühl.“ Der von 
mir auseinandergesetzte Bau der Augen und der neuen Organe deutet, 
— wie ich glaube —, darauf hin, dass die Blutegel mit ihren Augen 
das Licht „betasten“, ohne die Gegenstände selber unterscheiden zu 
können, 


604 | F. Leydig: 


Lage und Bau der Nase anderer Wirbelthiere entsprechendes 
Organ schon eigen ist. 

Was die Verbreitung derbecherförmigen Organe in der mei 
der Egel betrifft, so kann ich nach meinen bisherigen Erfahrungen 
soviel anführen, dass sie bei Nephelis vulgaris ebenfalls vor- 
handen sind und zwar abermals gehäuft an der Oberlippe, dann 
‘aber auch in Menge an der Unterlippe (wo sie bei Sanguisuga 
und Haemopis zu fehlen scheinen); auf der Oberfläche des 
Kopfes stehen sie zerstreut, aber in einer gewissen regelmässi- 
gen Vertheilung ; einzelne scheinen noch weit über die Kopf- 
region hinaus in der Körperhaut zu liegen. Hinsichtlich der 
Gattung Clepsine bin ich noch nicht ganz sicher, indessen meine 
ich bei Cl. bioculata an der Innenfläche der Oberlippe entspre- 
chende Bildungen wahrzunehmen. 

Bei Piscicola respirans und bei Branchiobdella fehlen frag- 
liche Organe. Doch bei dem Krebsegel (Br. astaci und Br. 
parasita stehen nicht nur an der Oberlippe Büschel feiner Här- 
chen, die sich vereinzelt über den ganzen Kopf erstrecken, 
sondern man sieht ausserdem an der Innenfläche der Oberlippe 
specifisch geartete, papillenähnliche Körper, die, quer abgestutzt, 
ebenfalls mit feinen Härchen am Rande besetzt sind und, von 
der Fläche angesehen, wie kleine Saugnäpfe sich ausnehmen. 
An Thieren, die in Essigsäure getödtet, darauf in Glycerin 
gelegt und einem leichten Druck ausgesetzt wurden, glaube 
ich ein vorn gezacktrandiges granuläres Gebilde innerhalb 
dieser Papillen wahrgenommen zu haben. 

Die Abbildungen zu den in diesem Aufsatze behamelallen 
Gegenständen werden an einem anderen ie zur Veröffent- 
lichung kommen. 

Das vor Kurzem erschienene Werk von Keferstein und 
Ehlers!) macht in mir die Vermuthung rege, dass bei Sipun- 
culus nudus ähnliche Organe sich finden, wie jene der genann- 
ten Egel. Es wird dort nämlich mitgetheilt, dass die Seiten- 
äste des Bauchmarkes in ihrer Mehrzahl in die Cutis dringen 


1) Zoologische Beiträge, gesammelt im Winter 185%co in Neapel 
und Messina. Leipzig 1861. 


Die Augen und neue Sinnesorgane der Egel. 605 


und daselbst in den „Hautdrüsen* enden, „von denen wir keine 
gefunden haben, die nicht an ihrem inneren Pol mit einer jener 
feinkörnigen Nervenfasern in Verbindung stand.“ Die Haut- 
drüsen selber werden beschrieben als kuglige oder ovale 
Schläuche, bestehend aus einer Tunica propria und ausgekleidet 
von Zellen, welche nur ein kleines Lumen übrig lassen. Der- 
artige „Hautdrüsen“, welche in so unmittelbare Beziehung 
zum Nervensystem treten, müssen billig Aufsehen erregen, da 
sich hierzu wohl kaum ein zweites Beispiel anführen lässt. 
Bedenkt man nun dieses, sowie den Umstand , dass unsere 
Beobachter von einer Schleimabsonderung der Haut, auf die 
sie, ihrer Angabe zufolge, allerdings nicht besonders achteten, 
Nichts wahrgenommen haben, so wird die von mir ausgespro- 
chene Vermuthung einigen Halt bekommen, vielleicht verstärkt 
noch durch eine Bemerkung Keferstein’s und Ehlers’, 
indem sie sagen, der zu jeder Hautdrüse gehende Nerv sitze 
an der Drüse so fest, dsss es aussehe, „als ob der Schlauch 
die Ausbreitung der Nervenwände wäre.“ 

Wahrscheinlich gehören die von Quatrefages'!) aus der 
Haut von Echiurus Gaertneri beschriebenen kleinen Gruppen 
von ovalen Körperchen, die er bei Mangel näherer Details 
einstweilen für schleimabsondernde Organe anspricht, mit den 
hier in Rede stehenden Sinnesapparaten in eine Reihe von 
Organen. | 


. 1) Ann. d. sc. nat, 1847, Tom. VII, Pl. VI, Fig. 2a. 


606 F. Leydig: 


Haben die Nematoden ein Nervensystem? 


Bemerkungen zu dieser Frage 


von 


FRANZ LeyDIG in Tübingen. 


Die Ansichten über das Nervensystem der Nematoden wa- 
ren im Laufe der Zeit mehrmals merkwürdigen Wandlungen 
unterworfen. Die Einen läugneten das Dasein von Nerven, 
die Anderen beschrieben Nervenstämme mit zahlreichen Seiten- 
ästen. Ohne mich an diesem Orte in eigentliche historische 
Erörterungen einzulassen, was ich mir für später verspare, be- 
merke ich doch soviel, dass sich die Untersuchungen der Na- 
turforscher, indem sie dem Aufspüren der Nerven zugewendet 
waren, immer um die seit alter Zeit an den Nematoden  wahr- 
genommenen Längslinien gedreht haben. Diese Bildungen 
fallen an den grösseren Arten schon dem unbewaffneten Auge 
zwischen der Längsmusculatur auf; es wurde bald: den einen, 
bald den anderen die Bedeutung von Nerven, oder von Tra- 
cheen, dann wieder von Muskeln beigelegt, und es muss für 
einen bedeutenden Fortschritt in der Kenntniss dieser Gebilde 
angesehen werden, als schon ältere Beobachter, wie Bojanus 
und Cloquet, nachwiesen, es seien die vier Längslinien unter 
sich wesentlich verschieden. Man erkannte bereits damals 
(1821), dass die Seitenlinien ein Gefässrohr enthalten, was 
nicht der Fall sei mit den Bauch- und Rückenlinien, welche 
hinwiederum dadurch ausgezeichnet erschienen, dass unzählige 
Fäden nach beiden Seiten von ihnen abgingen. Sind nun diese 
Längslinien und ihre Seitenstrahlen Nerven oder nicht? Na- 
türlich konnte man sich früher, zu einer Zeit, in der die For- 
scher mit den Geweben niederer Organismen noch weniger 
vertraut waren, bei Beantwortung einer derartigen Frage nur 


Haben die Nematoden ein Nervensystem? 607 


von gewissen allgemein morphologischen und physiologischen 
Gesichtspunkten leiten lassen, und man darf sich schwerlich 
wundern, dass die Meinung, ob bestimmte Theile Nerven oder 
etwas Anderes seien, hin und her schwankte. 

Der Erste, welcher mit histologischem Wissen und allen 
neueren Hülfsmitteln der Untersuchung ausgerüstet, das Ner- 
vensystem der Nematoden von Neuem prüfte, war Meissner 
(1853), und seine hierüber veröffentlichten Arbeiten haben durch 
die künstlerisch schönen Abbildungen und die detaillirtesten 
Angaben wohl überall freudiges Aufsehen erregt. Nach Un- 
tersuchungen des genannten Forschers an Mermis und Gordius 
sei das Nervensystem der Nematoden in hohem Grade ent- 
wickelt, die Grösse desselben so bedeutend, dass fragliche 
Thiergruppe hierin den anderen ÜUlassen der Würmer eher 
voran- als nachstehe. Bald folgten auch bestätigende und er- 
gänzende Mittheilungen anderer Beobachter und man durfte 
füglich einigermaassen erstaunt sein, wie man über derartige, 
in so bestimmter Weise entwickelte Organsysteme so lange im 
Zweifel sein konnte. Allein es will scheinen, als ob trotz aller 
Kenntnisse über die elementare Zusammensetzung der Gewebe, 
welche die neueren Beobachter vor den älteren voraus haben, 
sie doch in die früheren Irrthümer zurückgefallen sind. Musste 
es schon dem unbefangenen Beschauer der an’s Licht gestell- 
ten Zeichnungen auffallen, dass, wenn die Dinge in Wirklich- 
keit sind, wie sie dort abgebildet sich zeigen, es ja Thiere 
gäbe, bei denen die Nervenmasse das Muskelsystem an Aus- 
dehnung überrage, was von vornherein keine grosse Wahr- 
scheinlichkeit für sich hat, so konnte es auch nur Bedenken 
erregen, dass in den nächst verwandten Thieren die ganze 
Gruppirung des Nervensystemes so ungewöhnlich grosse Ver- 
schiedenheiten an sich tragen sollte. Als daher jüngst A. 
Schneider mit seiner Abhandlung „über die Muskeln und 
Nerven der Nematoden“ hervortrat (1860) und nachwies, dass 
die mitunter so plastisch gezeichneten Ganglien und Nerven- 
stränge entweder gar nicht existiren oder, wenn vorhanden, 
nicht Nerven, sondern Muskeln seien, so fühlte sich gewiss 
mancher Zootom, den die vorhandenen Bilder gestört und. be- 


608 " F. Leydig: 


unruhigt hatten, etwas erleichtert. Ich selber unterzog jetzt einige 
Nematoden und zwar den Ascaris lumbricoides des Menschen 
und den Gordius aquaticus einer Prüfung, wobei ich zu dem 
Resultate kam, dass das angebliche Nervensystem dieser Thiere 
kein solches sei, ja dass man überhaupt bei genannten zwei 
Würmern kein Nervensystem aufzufinden vermag, sie vielmehr 
für nervenlose Thiere anzusehen habe. 

Zur Untersuchung des Ascaris lumbricoides nahm ich 
frische Thiere, wovon die einen in Weingeist, die anderen in 
Essig geworfen wurden. Dass es dann auch hier wieder sehr 
förderlich sei, ausser der gewöhnlichen Präparationsweise sich 
‚durch Quer- und Längsschnitte zu unterrichten, will ich zu 
. bemerken nicht unterlassen. Macht man Querschnitte durch 
das ganze Thier, so lässt sich an solchen sofort feststellen, dass 
die zwei Seitenlinien in einem wichtigen Punkte von den 
zwei Medianlinien verschieden seien. Es entstehen zwar 
alle vier Linien zunächst so, dass die zwischen der Cuticula 
und der Längsmusculatur sich ausbreitende Hautlage, ihrer Be- 
deutung nach wohl die Matrix der Cuticula, zwischen die 
Muskeln hindurch nach innen dringt und hier einen verdickten 
Längsstreifen erzeugt; aber die Seitenlinien, schon für’s freie 
Auge breiter, als die Medianlinien,, schliessen noch ein eigen- 
wandiges Rohr in sich, das den Medianlinien fehlt. An die Me- 
dianlinien hingegen, also an die Bauch- und Rückenlinie, treten 
von den zwischen den vier Längslinien liegenden Muskelfeldern 
quere Streifen herüber, was nicht der Fall ist mit den Seiten- 
linien. Diese letzteren sammt ihrem inneren Rohr, über des- 
sen Bau und Bedeutung ich ein andermal berichten werde, 
berühren uns in der vorliegenden Frage nach dem Ner- 
vensystem nicht, wir haben nur die Medianlinien in Be- 
tracht zu ziehen. Ich erwähnte schon hinsichtlich der Form 
dieser Linien auf dem Querschnitt, dass sie nach innen merk- 
lich dicker sind, als nach aussen, an der Stelle des Uebergan- 
ges zur Matrix der Cuticula, und bemerke jetzt mit Rück- 
sicht auf ihre feinere Structur, dass sie im Wesentlichen mit 
der Matrix der Cuticula übereinstimmen. Gleich dieser haben 
sie keinen eigentlich zelligen Bau, sondern bestehen aus einem 


Haben die Nemätoden ein Nervensystem ? 609 


fein granulären Stoff, in welchem kleine Nuclei zerstreut ein- 
gebettet liegen, die leicht zu unterscheiden sind von den zahlrei- 
chen 'Fettkörnern und Fetttropfen , durch welche die ganze 
Haut das lebhaft weisse Aussehen erhält.!) Besonders zu be- 
achten ist aber, dass die Medianlinien nach dem Leibesraum 
hin’ sich 'etwas aufhellen und dabei eine andere Structur an- 
nehmen. Durch das an dieser Stelle erfolgende Auftreten klei- 
ner zelliger Elemente bildet sich gleichsam aus dem inneren 
Ende jeder Medianlinie ein besonderer kleinzelliger Strang 
hervor. : Derselbe entspricht wohl den Längsstämmen, welche 
Meissner bei; Mermis für Nerven erklärt, eine Bedeutung, 
die sie indessen unmöglich haben können, da sie zum Ansatz 
der zweifellosen Quermuskeln dienen. 

Damit wären wir bei den Organen angelangt, welche durch 
ihre,zum Theil eigenthümlichen Verhältnisse die Entdecker des 
vermeintlichen Nervensystems irre geführt haben. Die unter 
der Matrix der Cuticula herabziehende Leibesmusculatur be- 
steht nämlich aus Elementen, welche, allgemein gesagt, die 
Beschaffenheit breiter Bänder an sich tragen, so gestellt, dass 
ihre eine Kante gegen die Haut, die andere gegen die Leibes- 
höhle gerichtet erscheint. Diese bandartig platten Muskeln 
sind, auf ihren feineren Bau besehen, nicht homogen, sondern 
deutlich in eine helle Rinden- und in eine körnige Achsensubstanz 
differenzirt. Ferner lässt sich wahrnehmen, dass die Rinden- 
substanz nach ihrer ganzen Dicke in fibrilläre Längsabtheilun- 
gen sich gesondert habe, was Ursache wird, dass auf dem 
Querschnitt die Rindenlage des Muskels scharf quergestreift 
sich zeigt. Wichtig wird jetzt für uns, dass nach der ganzen 
Länge des Körpers diese Längsmuskeln querverlaufende Fort- 
sätze zu den Medianlinien entsenden, denn die Stellen, wo die 
Fortsätze abgehen, sind die Meissner’schen „terminalen Ner- 
vendreiecke* und die Wedl’schen „Ganglienzellen“. Meine 


1) Bei Thieren, welehe wochenlang in Essig gelegen haben und 
deren Haut dann leicht abstreifbar ist, bemerkt man in der Matrix 
der Cuticula ausserdem noch helle zellige Gebilde, in grossen Abstän- 
den aus einander, die vielleicht in die Reihe von Hautdrüsen gehören. 
Sie fehlen jedenfalls in den Medianlinien. 

Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv. 1861, 40 


610 F. Leydig: 


Beobachtungen stimmen daher, was die musculöse Natur der 
zu den Medianlinien tretenden Fortsätze betrifft, mit denen 
von A. Schneider überein und ich möchte hierzu noch Eines 
bemerken. Der eben genannte Forscher lässt die Quermuskeln 
nur aus der Marksubstanz der Längenmuskeln hervorgehen, 
was für Ascaris lumbricoides nicht durchweg richtig ist. Um 
sich hiervon zu überzeugen, trage man aus Thieren , die in 
Essig aufbewahrt waren und unter Wasser der Länge nach 
aufgeschnitten sind, mit der Scheere scharfe Schnitte von dem 
Balkenwerk der Muskeln ab, vermeide dann jeden Druck, und 
man wird sehen, dass viele Quermuskeln auf ihrem Querschnitt 
dieselbe Sonderung, wenn auch zarter, doch immerhin’ voll- 
kommen deutlich, wie die Längenmuskeln besitzen : nämlich 
eine Achsensubstanz, hier homogen, und eine querstreifige 
Rinde. Solche Quermuskeln stellen demnach Fortsätze oder 
Ausläufer des ganzen Muskels dar, nicht bloss eines Theiles 
desselben. Die merkwürdigen, beutelförmigen Organe hinge- 
gen, die schon so oft die Aufmerksamkeit der Beobachter er- 
regten, sind, wie es von Schneider angegeben wird, aus der 
Marksubstanz der Muskeln hervorgegangen. Querschnitte sind 
auch hierfür sehr belehrend, da sie zeigen, wie die querge- 
streifte Rinde des Muskels noch eine Strecke weit die Wand 
der Blase mitbilden hilft, dann aber unter allmäliger Verjün- 
gung aufhört, während der Blaseninhalt in Continuität zur 
Marksubstanz bleibt. Die Wand der Beutel bietet jetzt zwei 
Conturen dar; die äussere ist die Fortsetzung des Sarkolemma’s, 
die innere die Grenzlinie der Marksubstanz. Das Sarkolemma 
der Beutel spinnt sich noch innerhalb des Leibesraumes in ein 
feines Maschenwerk aus, zur Verbindung der Beutel unterein- 
ander sowie mit der Tunica propria der Eingeweide. Im vor- 
dersten Körperende, allwo die Entwickelung solcher blasiger 
Anhängsel der Muskeln noch unbedeutend ist, treten die Quer- 
muskeln mit dem kernhaltigen „Dreieck“ nur von den Längs- 
muskeln ab; sobald aber, wie dies allmälig nach hinten zu ge- 
schieht, die Beutel gross und zahlreich geworden sind, kommen 
die Quermuskeln auch von den Beuteln und wenden sich nach 
den Medianlinien hin. Auch ist es ein gar nicht seltenes Vor- 


Haben die Nematoden ein Nervensystem ? 611 


kommniss, dass die Beutel verschiedener Längsmuskeln unter 
sich durch quere' Muskeln verbunden sind. 

‚Fasst man näher in's Auge, auf welche Weise die Muskeln 
sich an die zwei Medianlinien ansetzen, so findet man, dass 
sie dort wie geflechtartig sich in einander schieben und sich 
zuletzt unter pinselförmiger Auflösung an den oben bezeichne- 
ten kleinzelligen Strang verlieren. Bei Betrachtung. sorgfältig 
präparirter Medianlinien, in der Lage, dass der: Leibesraum 
dem Beschauer sich zukehrt, erblickt man noch über den Mus- 
keln, also zu innerst ein feines Wabenwerk aus Bindegewebs- 
streifen, welches, wie schon vorhin gesagt, mit den Muskel- 
hüllen zusammenhängt, wobei hier noch insbesondere hervor- 
gehoben zu werden verdient, dass man in Glycerinpräparaten 
an den Quermuskeln nicht bloss Rinde und Mark, sondern auch 
die unter diesen Umständen deutlich abstehende Hülle unter- 
scheiden kann. Weiterhin bietet sich an solchen Präparaten 
noch etwas dar, was vielleicht zu Irrungen Anlass gab. Man 
glaubt nämlich zu beiden Seiten des Stranges, dem die Quer- 
muskeln zustreben, zwischen den Ansatzstellen der letzteren, 
grosse Zellen zu sehen, die an manche der Meissner’schen 
Figuren erinnern, in der That aber nur kleinere der erwähn- 
ten Beutel im scheinbaren Querschnitte sind. 

Das Ergebniss meiner Untersuchung ist daher, dass bei 
Ascaris lumbricoides die Bildungen,' welche von Anderen als 
Nerven und Ganglienzellen beschrieben wurden, nicht dieses, 
sondern Muskeln sind, folglich habe man den Theil der Me- 
dianlinien, an welchen sich die Quermuskeln ansetzen, als den 
festen Punkt zu betrachten, gegen den die Muskeln wirken. 

A. Schneider macht in seiner Abhandlung bei Ascaris 
lumbricoides noch auf „ein System von Fasern“ aufmerksam, - 
von denen er unentschieden lässt, ob es Gefässe oder Nerven 
oder keines von beiden seien, obschon er für sich eine gewisse 
Geneigtheit zugesteht, die „Fasern“ für Nerven zu halten. Ich 
möchte mit Rücksicht hierauf erklären, dass ich dieselben 
durchaus nicht für Nerven gelten lassen kann. Man führt sich 
fragliche Fasern am leichtesten an grösseren Hautstücken aber- 
mals von Thieren vor, die einige Tage’ in Essig gelegen haben 

40* 


612 ‘FF. Leydig: 


wo man sie in der Matrix der Cuticula verlaufen sieht, und 
zwar in ziemlich grossen Abständen quer oder schräg zwischen 
den Median- und Seitenlinien. In der hinteren Körperhälfte 
scheinen sie weniger zahlreich zu sein, als in der vorderen. 
Ihre Breite, ihr Aussehen und ihr ganzer Habitus erinnert mich 
an die „Wassergefässe“ und ich halte sie denn auch vor der 
Hand für Abzweigungen der in den Seitenlinien eingeschlosse- 
nen Längskanäle. 

Nun vom Gordius. Ich habe bisher zwar nur ein einziges 
aber frisch in Weingeist gelegtes Exemplar zur Zergliederung 
gehabt, glaube indessen im Hinblick auf das von Meissner 
beschriebene Nervensystem doch sagen zu dürfen, dass weder 
"im Thatsächlichen, noch in der Deutung des Gesehenen meine 
Beobachtungen mit denen des genannten Forschers überein- 
stimmen wollen. Ich kann vor Allem die Bemerkung nicht 
unterdrücken, dass Meissner selbst wohl kaum gewisse Theile, 
wie er gethan, als Nervensystem ausgegeben hätte, wenn ihm 
nicht seine früheren Mittheilungen über ein so hoch organisir- 
tes Nervensystem der Mermisarten gewissermaassen die Ver- 
pfliehtung auferlegt hätten, auch bei den so nah verwandten 
Gordien ein gleiches Organsystem nachzuweisen. Deshalb na- 
mentlich, wie mir scheint, beschrieb Meissner als solches 
einen „bandartigen, schmalen Strang“ in der Furche der Mit- 
tellinie des Bauches und festgeheftet an die untere Fläche des 
„Bauchstranges“. Der Nervenstrang sei hell, glänzend, zeige 
keine Zusammensetzung aus Fibrillen, sondern stelle ein homo- 
genes Band vor; auch die vom Stamm in kleinen Abständen 
entspringenden Aeste seien homogen und glänzend. Ich frage 
Jeden, der das Nervensystem wirbelloser Thiere untersucht 
hat, ob er ein Beispiel kennt, dass die nervösen Theile der- 
gleichen Eigenschaften an sich tragen. Schwerlich, — doch 
könnte es « priori immerhin ein solches Nervensystem geben. 

Meine Beobachtungen lassen mich die Dinge anders sehen 
als Meissner. Zunächst habe ich zu bemerken, dass ich den 
„bandartigen Nervenstrang“* nicht als etwas Selbständiges 
anzuerkennen vermag, sondern nur als einen integrirenden 
Theil des sogenannten Bauchstranges der Medianlinie, genauer. 


Haben die Nematoden ein Nervensystem? ..- 613 


gesagt, als einen Theil. der Scheide des Bauchstranges. Wenn 
ich auch noch so viele Querschnitte anfertige, immer stellt er 
sich mir in der angegebenen Weise dar, während Meissner 
in seiner ‘Abhandlung (Taf. III, Fig. 7 g,f, Zeitschr. für wiss. 
Zoologie, Bd. V) unter dem Bauchstrang noch den Nerven- 
strang als etwas von diesem Verschiedenes zeichnet. Ich sehe 
zwischen „Bauchstrang“* und „Nervenstrang* keine Grenzlinie, 
sondern mir erscheint der „Nervenstrang“ als die zwischen die 
Muskelfurche des Bauches sich einsenkende Hülle des „Bauch- 
stranges“. Der letztere würde eben in seiner Ganzheit einen 
rein eylindrischen Querschnitt haben, wenn nicht seine Hülle 
sich der Bauchfurche anzupassen hätte, mit anderen Worten, 
die Scheide des rundlichen Bauchstranges erhebt sich nach 
unten in einen Längskamm, der sich zwischen die Bauchfurche 
der Muskeln eindrängt. Damit steht denn auch ganz im Ein- 
klang, was man an dem leicht auf grössere Strecken der Länge 
nach isolirbaren Bauchstrang wahrnimmt. Nie wird man auch 
unter diesen Umständen den Meissner’schen Nervenstrang 
von dem Bauchstrang abgelöst als etwas Selbständiges zur An- 
sicht gewinnen können; vielmehr sieht man jetzt eben so deut- 
lich, namentlich wenn der Bauchstrang die untere Fläche dem 
Beobachter zuwendet, dass der vermeintliche Nervenstrang die 
kammartige Erhebung anscheinend des Bauchstranges selber 
ist und einen leicht gekräuselten Verlauf hat. Diese Erhebung 
hat ein glänzendes Aussehen, und von ihr weg gehen zahl- 
reiche scharfe, divergirende Querstreifen, aber sie hat nicht die 
entfernteste Aehnlichkeit mit Nervensträngen anderer Wirbel- 
losen. Und welche Bewandtniss hat es mit den Seitennerven, 
welche Meissner von dem centralen Strang entspringen lässt ? 
Ich erkläre mir sie so, dass die zahlreichen Querwülste, welche 
vom firstartigen Längskamm nach beiden Seiten des „Bauch- 
stranges“ abgehen und durch scharfe, an elastische Fasern erin- 
nerride divergirende Querstreifen mit bedingt sind, dafür ge- 
nommen wurden, wobei ich auf meinen obigen Ausspruch noch- 
mals zurückkommen möchte: ich glaube nicht, dass ein Unbe- 
fangener die geringste Veranlassung hätte, an dem frei vor ihm 
liegenden, die Bauchseite nach oben kehrenden Bauchstrang 


614 F. Leydig: Haben die Nematoden ein Nervensystem? 


die zahlreichen lichten, hellglänzenden, erhöhten Querstreifen, 
immer daneben die mit Schatten gefüllten Furchen, für. Ner- 
venfäden zu halten, ganz abgesehen davon, dass 'keiner dieser 
„Nerven“ über den Contur des Bauchstranges ‚hinausragt, son- 
dern unter allmäliger ‘Verbreiterung nach aussen, ohne ab- 
schliessende Linie, sich so in die Membran des Bauchstranges 
verliert, wie es eben ein der Oberfläche angehöriger Quer- 
streifen thun muss. sh 
Mit Rücksicht auf die Structur des „Bauchstrangs“, dessen 
Bedeutung noch unbekannt ist, will ich beifügen, dass. die ihn 
bildende, feinfasrige Masse zufolge des Ansehens,. welches 
Querschnitte haben, in einige bestimmte Längszüge gruppirt 
sein muss, denn die Fläche des Querschnitts ist so beschaffen, 
dass sie nicht eine gleichmässige Punktirung hat, sondern da- 
zwischen einige scheidewandartige Linien erkennen lässt. 'Jener 
Theil der Hülle, welcher kammartig in die Bauchfurche: sich 
einsenkt, zeigt nach Behandlung mit Essigsäure sehr ‚dicht sich 
folgende Querkerne, und endlich zum Schluss sei auch noch er- 
wähnt, dass vielleicht innerhalb des in der Bauchfurche herab- 
laufenden Längskammes ein Hohlraum existirt, dessen Wand 
eben die Scheide des Bauchstranges ist; hierfür sprechen we- 
nigstens einige Erscheinungen, ‘die mir sowohl an Querschnitten 
begegnen, als auch an Längsstücken des isolirten Bauchstranges. 


E. Reissner: Neurologische Studien, 615 


Neurologische Studien 


von 


Professor Dr. E. REISSNER in Dorpat. 


1. 
Ueber die Darstellung mikroskopischer Präparate 
des Nervensystems. 


Seitdem die Erforschung der histologischen Beschaffenheit 
des Nervensystems allgemeiner in Angriff genommen worden 
ist, haben sich auch die Angaben darüber beträchtlich vermehrt, 
. wie die Objeete am zweckmässigsten für die Untersuchung 
vorbereitet ‘werden. Wenn man alle Einzelheiten berücksich- 
tigt, giebt es nieht viel wenigere derartige Methoden, als Be- 
arbeiter der Structur und Textur des Nervensystems aufgetre- 
ten sind. Ein solches Verhältniss erscheint auch als in der 
Sache selbst begründet und folgt aus der Selbständigkeit der 
Forscher; wollte Jemand, der für seine wissenschaftlichen Lei- 
stungen Anerkennung verlangt, eine von ihm erfundene oder 
modificirte, besondere Vortheile gewährende Methode verschwei- 
gen, so würde er der strengsten Rüge von allen Seiten gewiss 
sein können. Ich bin indessen der Ueberzeugung, dass unter 
deutschen Gelehrten eine solche Geheimthuerei nicht ange- 
troffen wird, 

Aus den vielen vorliegenden Angaben hält es schwer, eine 
von vornherein als die beste zu bezeichnen, da fast jeder Autor 
seine Methode für die beste erklärt und als solche empfohlen 
hat; in der Regel findet man jedoch in den betreffenden Schrif- 
ten keine oder ‚nicht erschöpfende, vergleichende Erörterungen, 
aus&denen sich eine Begründung der Vorliebe für eine be- 
stimmte Methode herleiten liesse. Daher mag es denn gekom- 


616 E. Reissner: 


men sein, dass die eine oder die andere, sehr zweckmässige 
Angabe nicht die gehörige Beachtung und Verbreitung gefun- 
den hat. So wünschenswerth es nun auch sein mag, genaue 
Untersuchungen und ausführliche Erörterungen über alle vor- 
geschlagenen Methoden zu erlangen, so schwierig wäre es, 
hierbei allen Anforderungen nachzukommen, . Wollte man etwa 
die Erhärtung der Präparate durch Chromsäurelösungen prüfen, 
so würde es nicht genügen, blos die Concentration derselben 
genau zu bestimmen, man müsste z. B. auch die Menge der 
Flüssigkeit zur Grösse des Präparates berücksichtigen, ferner, 
ob das Präparat ein ganzer Theil des Nervensystems oder blos 
ein abgeschnittenes Stück desselben ist. Letztere Rücksicht 
scheint mir um so mehr der Beachtung werth, als man sich 
leicht davon überzeugen kann, dass Chromsäurelösungen kei- 
neswegs rasch und leicht grössere Theile durchdringen. Bei 
mehrfach wiederholten Versuchen, das kleine Gehirn des Men- 
schen mit der Medulla oblongata und einem Theile. der 'Me- 
dulla spinalis zu erhärten, habe ich immer gefunden, dass die . 
Medulla spinalis und Medulla oblongata nach einiger Zeit die 
erforderliche Härte erlangt hatten, während das kleine Gehirn 
nur an der Oberfläche fest geworden und das Innere desselben 
in Fäulniss übergegangen war.‘ Aehnliches erfährt man bei 
der Erhärtung des grossen Gehirnes vom Menschen und von 
grossen Säugethieren. Höchst wahrscheinlich ist es auch nicht 
gleichgültig, ob die Objecte von einem jüngeren oder älteren 
Körper hergenommen sind; gewiss wissen wir, dass das Rücken- 
mark verschiedener Thierspecies schon ursprünglich einen sehr 
verschiedenen Härtegrad darbieten kann und auch 'sehr' ver- 
schieden von Chromsänrelösungen erhärtet wird. Gewöhnlich 
findet man die Behauptung, dass das Rückenmark: kleinerer 
Thiere eine schwächere Lösung erfordere; ich muss jedoch ge- 
stehen, dass z. B. das Rückenmark der Maus, der Ratte, des 
Kaninchens u. s. w. mir selbst durch sehr schwache Lösungen, 
wenn endlich einmal die schnittfähige Härte eingetreten war, 
doch nicht so schöne Präparate geliefert hat, als z.B. das 
Rückenmark des Rindes, mochte dieses mit schwachen oder 
mit starken Ohromsäurelösungen behandelt worden’ sein. — 


Neurologische Studien, 617 


Die durch Chromsäurelösungen erlangte Härte ist wiederum 
eine sehr verschiedene, ‚ohne dass dafür ein Maass gefunden 
wäre. ‘Meist wird angegeben, es sollen die Stücke nicht brü- 
chig sein und sich leieht schneiden lassen; aber ich weiss auch, 
dass Objecte in einer Hand zerbröckeln, während sie in einer 
anderen brauchbare Präparate liefern. Bisweilen ist auch ein 
Stück des ‚centralen Nervensystems scheinbar sehr gut erhärtet 
und lässt sich leicht schneiden, während die mikroskopische 
Untersuchung des Segmentes lehrt, dass z. B. die Nervenzellen 
eine arge Verschrumpfung erfahren haben oder der Central- 
kanal des Rückenmarkes eine ganz abweichende Gestalt erlangt 
hat oder dessen Epithelialzellen bis zur Unkenntlichkeit ver- 
zogen sind, oder selbst die äussere Form des betreffenden 
Theiles wesentlich eine andere geworden ist. — Ebensowenig 
wissen wir etwas Positives über die Zeit, nach welcher die 
Einwirkung der Chromsäure beendet werden soll. Ueber alle 
diese und manche ähnliche Umstände bin auch ich nicht im 
Stande, eine,Reihe methodisch gewonnener Thatsachen vorzu- 
führen, aus:denen feste Regeln für die Vorzüge der einen oder 
der anderen Behandlungsweise abgeleitet werden könnten; doch 
habe ich theils allein, theils in Gemeinschaft mit meinen Schü- 
lern die meisten Methoden, welche in den letzten Jahren vor- 
geschlagen worden sind, einer anhaltenden Prüfung unterworfen 
und. werde demnach die Erfahrungen mittheilen, welche ich 
hierbei gewonnen habe, und vor Allem die Methode beschrei- 
ben‘, welche mir die vorzüglichsten Präparate geliefert hat. 
Ich fühle mich hierzu um so mehr gedrungen, als ich dadurch 
den Maasstab herzugeben glaube, nach welchem die Angaben 
zu beurtheilen sind, welche ich über das Nervensystem gemacht 
habe und noch zu machen beabsichtige. 

Als Erhärtungsmittel an und für sich haben der Alkohol 
und die Lösungen von chromsaurem Kali oder krystallisirter 
Chromsäure den gleichen Werth, wenn nur: die Theile des cen- 
tralen oder peripherischen Nervensystems, welche untersucht 
werden sollen, in unverletztem und frischem Zustande sind und 
einen nicht gar zu grossen Umfang haben. Anfänglich gab 
ich: dem Alkohol den Vorzug, weil er am schnellsten und auch 


618 »E, Reissner: 


in kurzer Zeit vollständiger die ausgewählten Theile durch- 
dringt als Chromsäurelösungen und eine reinlichere Behand- 
lungsweise abgiebt. Später jedoch habe ich ihn ganz aufge- 
geben, nachdem ich die Erfahrung gemacht hatte, dass sich 
bei seiner Anwendung kleinere und grössere, rundliche Con- 
eretionen bilden, welche die Nervensubstanz zerstören. : Bis- 
weilen waren solche Ablagerungen (im Rückenmark des Rindes) 
nur in geringer Menge vorhanden, in anderen Fällen aber so 
bedeutend, dass kein brauchbarer Schnitt für die mikroskopische 
Erforschung der Structurverhältnisse gewonnen werden konnte. 
Ganz eben solche Ablagerungen habe ich auch ‚in vielen Prä- 
paraten des Nervensystems, welche schon lange Zeit in der 
anatomischen Sammlung in Alkohol aufbewahrt ‚waren, be- 
merkt: es sind daher Spirituspräparate, wenigstens von höhe- 
ren Wirbelthieren und vom Menschen, nicht mehr brauchbar; 
um an ihnen histologische Beobachtungen anzustellen. Bei der 
Anwendung von Chromsäurelösungen habe ich Nichts der Art 
beobachtet, jedoch liefert auch hier die Erhärtung keineswegs 
immer untadelhafte Präparate. Oben habe ich bereits dessen 
erwähnt, dass Chromsäurelösungen nicht rasch und bei einiger 
Umfänglichkeit auch nicht vollständig die Theile durchziehen, 
wodurch oft werthvolle Stücke verloren gehen. Ferner findet 
man die graue Masse des centralen Nervensystems an Chrom- 
säurepräparaten bisweilen von zahlreichen, kleineren ‘oder grös- 
seren Lücken durchsetzt, das Gewebe vielfältig zerrissen : nicht 
selten sind grosse, mit blossem Auge sichtbare Höhlungen vor- 
handen; in anderen Fällen entstehen netzförmige und faser- 
ähnliche Bildungen, deren widernatürlicher Ursprung sich da- 
raus entnehmen lässt, dass sie in überaus variabler Weise 
auftreten. Als ein Beispiel will ich hierfür blos die graue 
Masse, welche den Oentralkanal im Rückenmark des Hechtes 
umgiebt, anführen. Gegenwärtig lässt sich wohl kaum schon 
eine ganz befriedigende Erklärung dieser Veränderungen geben; 
man könnte sich die Entstehung so denken, dass in der grauen 
Masse Continuitätstrennungen dadurch hervorgerufen werden, 
dass sie sich unter der Einwirkung der Chromsäure stärker 
contrahire, als die weisse Masse, aber doch mit dieser. untrenn- 


Neurologische Studien. 619 


ber zusammenhänge, indem sie entweder rings von ihr umge- 
ben oder über sie ausgespannt ist, oder dass die Chromsäure 
gewisse Stoffe der grauen Masse entziehe, um sich mit ihnen 
zu verbinden, und dadurch Lücken zurücklasse. — Oft zeigen 
sich die Lücken in der Umgebung von Zellen oder Kernen, 
die wie von einem lichten Hof umgeben sich ausnehmen; 
Lücken, welche blos Kerne enthalten, können bei flüchtiger 
Beobachtung leicht mit dem Zelleninhalt verwechselt werden. 
-:-.Ein anderer Uebelstand bei der Erhärtung durch Chrom- 
säurelösungen ist der, dass der Inhalt der Nervenzellen häufig 
unregelmässig contrahirt angetroffen wird; dann ist es nicht 
leicht zu ermitteln, welches die eigentliche Gestalt der Zellen 
war. Haben die Zellen dabei eine beträchtliche Grösse, so 
wird man in der Regel immer noch so viel mit Sicherheit be- 
stimmen können, dass wirklich ein Zelleninhalt vorhanden sei. 
Sind aber die Zellen klein, so wird die Sache oft sehr schwie- 
‚rig oder ganz unmöglich, wenn man nicht frische Präparate 
zu Rathe zieht. Die Markzellen aus Säugethierknochen sind 
z. B. solche Zellen, von denen man an Chromsäurepräparaten 
nur Kerne vor sich zu haben glaubt. Ebenso wie der Zellen- 
inhalt erscheinen auch die Zellenfortsätze an Chromsäureprä- 
paraten oft: nur in sehr ungenügender Weise; in anderen Fällen 
sind sie freilich auch nicht selten sehr schön erhalten und über 
weite Strecken zu verfolgen. Darf man, wenn solche Ver- 
schiedenheiten bei einer und derselben Thierspecies sich zeigen, 
den Grund: dafür in einer ursprünglichen, histologischen Ver- 
schiedenheit suchen? — Auch das Epithel, welches den Cen- 
tralkanal auskleidet, lässt oft sehr viel zu wünschen übrig. - 
Den angegebenen Uebelständen suche ich in folgender Weise 
zu entgehen; muss jedoch gestehen, ‘dass ich nicht immer zum 
Ziel gelangt bin. Wenn es irgend möglich ist, sollen die Cen- 
traltheile des cerebrospinalen Nervensystems ganz aus ihren 
Höhlen herausgenommen werden, damit die Chromsäurelösung 
von allen Seiten gleichmässig einwirken könne. Bei dem 
Rückenmark des Frosches und verschiedener Fische habe ich 
mich davon überzeugt, dass eine blosse Eröffnung des Rück- 
gratkanals meist nicht eine so gleichmässige und genügende 


620 E. Reissner: 


Erhärtung, als man sie verlangen muss, gestattet. — Oefter 
schien mir die Verschrumpfung der Nervenzellen dadurch ver- 
mieden zu werden, dass ich die betreffenden Stücke zuerst auf 
etwa 24 Stunden in Alkohol legte und dann erst in Chrom- 
säure; ferner dadurch, dass ich eine ganz schwache Lösung 
von einem Procent und weniger anwandte, sie aber oft er- 
neuerte und dabei die zu erbärtenden Theile absichtlich in eine 
andere Stellung brachte. Es versteht sich wohl von selbst, 
dass die Theile sich einander nicht drücken dürfen, sondern 
möglichst frei liegen sollen. 

Wenn nun die Objecte den erforderlichen Härtegrad, den 
man jedoch nicht anders mit völliger Sicherheit erfahren kann, 
als durch Herstellung mikroskopischer Präparate, erlangt haben, 
so lege ich sie in schwachen Alkohol, theils um sie von der 
Chromsäure, welche sich nicht mit ihnen verbunden hat, zu 
reinigen, theils, um sie für eine spätere Zeit aufzuheben. Sie 
können nun auch sogleich zur Anfertigung feiner Schnitte für 
die mikroskopische Untersuchung verwendet werden. Ich selbst 
habe zahlreiche Präparate der Art benutzt und muss gestehen, 
dass sie oft recht gut sind; allein sie halten einen Vergleich 
mit den durch Carmin gefärbten Präparaten nicht aus; diese 
sind viel schöner. Gewiss werden auch alle Histologen Ger- 
lach für die Einführung des Carmins in die Mikroskopie un- 
bedingt zum höchsten Dank sich verpflichtet fühlen. 

Um demnach die Objecte zu färben, bringe ich sie in rothe 
Dinte, wie diese in den Schreibmaterialienhandlungen unter 
dem Namen: „Oarmin fin“ oder „Carmin extra“ und dem 
Siegel: „Petite vertu. E. J. L. Guyot. Rue du Mouton No. 5.* 
zu haben ist. Diese rothe Dinte enthält nach einer chemischen 
Untersuchung, welche Prof. Claus auszuführen die Gefällig- 
keit hatte, durchaus kein Kali oder Natron, welche beiden 
Stoffe sonst zur Herstellung derselben bisweilen angewendet 
werden sollen, sondern blos Ammoniak und etwas Gummi. 
Die reine ammoniakalische Carminlösung, welche ich mir ‘oft 
bereiten liess, hat die Unbequemlichkeit, dass sie, auf feine 
Schnitte gebracht, Flocken bildet, welche das Präparat verun- 
reinigen und gewöhnlich nicht wieder ganz fortgeschafft werden 


Neurologische Ktudien. 621 


können. Ich habe übrigens die Färbung schon für das Mi- 
kroskop zubereiteter Schnitte durch Carmin aufgegeben oder 
nur auf frische, nicht mit Chromsäure behandelte Präparate 
beschränkt, nachdem ich einmal in Erfahrung gebracht hatte, 
dass auch grössere Stücke des Nervensystems in verhältniss- 
mässig kurzer Zeit von dem Farbstoff durchdrungen werden; 
auch kommt man so jedenfalls rascher zum Ziel, wenn man 
eine grössere Menge von Präparaten anzufertigen beabsichtigt. 
Ich kann freilich auch nicht verschweigen , dass man nicht 
selten, nachdem man von der Oberfläche eines gefärbten Stücks 
einige Schnitte abgetragen hat, die Entdeckung macht, dass in 
der Tiefe viel weniger oder gar kein Farbstoff aufgenommen 
ist. Allein dem kann man leicht dadurch abhelfen, dass man 
das Stück auf's Neue in die rothe Dinte legt. Je nach dem 
Umfange können die Stücke überhaupt 24 Stunden bis 14 Tage 
in der Färbelösung verbleiben, ohne dass dadurch Verände- 
rungen in den Texturverhältnissen eintreten; über eine längere 
Dauer besitze ich keine Erfahrungen. 

Sind die T'heile hinreichend gefärbt oder hält man sie da- 
für, so werden sie wieder in Alkohol gelegt, um den über- 
schüssigen Farbstoff zu entfernen und sie für die weitere Be- 
handlung durch Entziehen von Wasser vorzubereiten, 

Darauf geht man zur Anfertigung feiner Schnitte, wie sie 
die mikroskopische Untersuchung erfordert, über. Bekanntlich 
bedarf es dazu eines scharfen, hohlgeschliffenen Rasirmessers. 
Man kann nicht genug Sorgfalt auf das Messer verwenden, 
wird aber dabei auch bald die Ueberzeugung gewinnen, dass 
die Mühe reichlich belohnt wird; mit einem stumpfen, scharti- 
gen‘ Messer sind nimmer brauchbare Präparate zu erlangen. 
Stilling sagt in seinen „neuen Untersuchungen über den Bau 
des Rückenmarks“, Seite 1037: Das Messer „wird auf beiden 
Flächen (die von allen anhängenden Unreinigkeiten frei sein 
müssen) mittels eines Pinsels mit Alkohol befeuchtet, und aus- 
serdem wird auf die obere Fläche der Klinge vor dem Beginn 
des Schnittes möglichst viel Alkohol aufgetröpfelt, so dass auf. 
dieser gewissermaassen ein Strom der genannten Flüssigkeit 
befindlich ist.“ Dieses Verfahren scheint mir umständlich, un- 


622 E. Reissner: 


bequem und zeitraubend und kann leicht dadurch ersetzt wer- 
den, dass man das Rasirmesser in eine flache Schale mit Al- 
kohol taucht und von letzterem soviel mit der einen hohlen 
Fläche schöpft, als möglich ist oder für nothwendig erachtet 
wird. — Für kleine, besonders dünne Theile des Nervensy- 
stems ist Stilling’s Angabe (Seite 1039), dass man sie vor 
dem Schneiden in grössere, erhärtete Stücke eines’ Gehirns: 
oder Rückenmarkes, auf dessen Untersuchung eben nichts an- 
kommt, einklemme, sehr zu empfehlen. Es ist dann nicht blos 
bequemer, die betreffenden Theile zu handbaben, sondern es 
werden die Schnitte viel eher sehr dünn und gleichmässig, in- 
dem man oft, nachdem ein ebnender Schnitt durch die nmhül- 
lende Substanz und das Objeet der Untersuchung gemacht 
worden, noch ein, zwei, ja selbst drei Schnitte durch letzteres 
allein ausführen kann, während die Hülle, vom angesetzten 
Messer etwas comprimirt, zurückweicht, selbst nicht zerschnit- 
ten wird und dem Messer als leitende Stütze und Unterlage 
dient. — Hat man einen genügend erscheinenden Schnitt er- 
halten, so bietet die Uebertragung desselben auf das Objectglas 
bisweilen einige Schwierigkeiten dar, wenn nämlich der Alkohol 
während des Schneidens zum grössten Theil von dem Messer 
abgeflossen ist und der Schnitt daher dem Messer adhärirt. 
Man halte das Messer dann schräg, mit abwärts geneigtem 
scharfem Rande, auf dem Objectträger und lasse eine erforder- 
liche Quantität von Alkohol von dem anderen Rande her sich 
ergiessen ; in der Regel wird der Schnitt dadurch flott und 
schwimmt auf den Objeetträger. — Nun entferne man allen 
überschüssigen Alkohol und betrachte das Präparat bei einer 
geringen Vergrösserung, um etwaige Verunreinigungen zu ent- 
fernen. Baumwollen- oder Leinfäden, Härchen, Fragmente 
der zur Umhüllung gebrauchten Substanz u. s. w. lassen sich 
mit einer Nadel oder feinen Pincette fortnehmen oder durch 
einen auffallenden Tropfen Alkohol wegschwemmen. Bisweilen 
wird man zu einem Pinsel greifen müssen, der natürlich selbst 
vollkommen rein sein muss und nicht haaren darf. Jedenfalls 
gelingt das Reinigen jetzt viel eher als später. — Ist das Prä- 
parat soweit als brauchbar befunden, so wird man es oft so- 


Neurologische Studien: 623 


gleich zur histologischen Untersuchung bei starken Vergrösse- 
rungen verwenden. Es können solche Präparate nicht entbehrt 
werden, wenn es sich darum handelt, die Markhaltigkeit der 
Nervenfasern zu constatiren; auch eignen sie sich ganz beson- 
ders dazu, bei schwächeren oder stärkeren Vergrösserungen 
genau die Grenzen zwischen der grauen und weissen Masse 
der Centraltheile des Nervensystems festzustellen, was bei den 
noch weiter behandelten Präparaten nicht immer ganz leicht 
ist. — Um solche Präparate aufzubewahren, kann man sie im 
Alkohol liegen lassen oder statt dessen eine Chlorcaleiumlösung, 
welche freilich die schöne rothe Farbe etwas bläulich macht, 
aber nicht ganz zerstört, hinzuthun, die Präparate mit einem 
Deckgläschen bedecken und verkitten; Glycerin schien mir 
zu dem Zwecke, die Präparate unverändert zu erhalten, we- 
niger geeignet. 

Will man den Präparaten eine grössere Durchsichtigkeit 
geben, so muss man soviel als möglich von dem auf dem Ob- 
jeetträger befindlichen‘ Alkohol entfernen, natürlich mit der 
Vorsicht, dass nicht auf’s Neue Unreinigkeiten hinzukommen, 
und dann einen Tropfen Terpentinöl auf das Präparat selbst 
fallen lassen. Das Terpentinöl soll den Alkohol, welcher noch 
in dem Präparate enthalten ist, verdrängen. Dieses geschieht 
aber nur in der Weise, dass dem Alkohol Gelegenheit geboten 
wird, zu verdunsten. In Terpentinöl untergetauchte Schnitte 
werden mitunter selbst nach 24 Stunden noch nicht durch- 
sichtig. Man beschleunigt die Einwirkung des Terpentinöls 
dadurch, dass man den aufgefallenen Tropfen mit einer Nadel 
ausbreitet. Nach einiger Zeit, etwa nach 5—15 Minuten, wird 
man wahrnehmen, dass die Schnitte zuerst an einzelnen Stellen, 
dann ganz durchsichtig werden. Ist das Terpentinöl schon 
früher zum grössten Theil verdunstet, so muss es durch einen 
neuen Tropfen ersetzt werden. Die Schnitte dürfen ja nicht 
eintrocknen ; ist es aber dennoch geschehen und man benetzt 
sie dann mit Terpentin, so werden sie freilich im Moment ganz 
durchsichtig, aber man findet auch, dass sie durch das Ein- 
trocknen vielfältig zerrissen und meist zur weiteren Verwen- 
dung ganz unbrauchbar geworden sind. — Es ist gleichgültig, 


624 E. Reissner: Neurologische ‘Studien. 


ob man die Präparate in dem Zustande, welchen sie durch das 
Terpentinöl erlangt haben, untersucht, oder ob man zuerst noch 
auf sie einen Tropfen Canadabalsam, der mit etwas Terpen- 
tinöl versetzt war und an einem Glasstabe über einer kleinen 
Flamme erwärmt wurde, fallen lässt, ein erwärmtes Deckgläs- 
chen darüber legt und dann zur Untersuchung schreitet; im 
letzteren Falle stellen sich keine weiteren Veränderungen mehr 
ein. — An solchen durchsichtig gemachten oder geklärten Prä- 
paraten tritt vor Allem das Nervenmark zurück und zwar, 
wie ich glaube, blos dadurch, dass das Lichtbrechungsvermögen 
des Terpentinöls dem der Marksubstauz gleich oder fast gleich 
ist. Dagegen erscheinen nun die rothgefärbten Axencylinder, 
die Zellenfortsätze, die Blutgefässe, die Nervenzellen, nament- 
lich die kleinen und die Kerne oder Bindegewebskörper , so- 
wie die verschiedenen Streifungen der grauen Substanz. über- 
aus deutlich, jedenfalls viel deutlicher, als wenn man nicht 
mit Carmin gefärbte Präparate durch Schwefelsäure, Kali-, 
Natron- oder Chlorcaleiumlösungen aufzuhellen versucht hat. 
Bekanntlich hat Schröder yan der Kolk die Chlorcaleium- 
lösung besonders empfohlen; ich kann jedoch nicht umhin, zu 
gestehen, dass ich nur eine sehr geringe Klärung durch die- 
selbe hervorzurufen im Stande war und dass sie meinen Er- 
fahrungen nach nicht im Enferntesten dem Terpentinöl in der 
Wirksamkeit gleichkommt. Auch durch die Anwendung von 
Alkohol mit Essigsäure, welche nach Clark der Behandlung 
mit Terpentinöl vorausgehen soll, habe ich keine entschiedenen 
Vortheile erlangen können. 


Dorpat, den 15. Mai 1861. 


H. A. Pagenstecher: Ueber das Ei von Gale erminea. 625 


Ueber das Eı von @Gale ermineu. 


Von 
Dr. H. A. PAGENSTECHER in Heidelberg. 


(Hierzu Taf. XIVa.) 


Die Brunstzeit aller heimischen Marder, Iltisse und Wiesel 
fällt in den Ausgang des Winters. Im Allgemeinen geht die 
der grösseren Arten voran und beginnt wohl schon im Januar, 
wenigstens im Februar; die der kleineren Arten, besonders des 
Wieselehens und Hermelinchens , liegt erst im März. Die 
Paarung wird sogar in der Regel erst nach der Mitte des 
Märzes für dieselben stattfinden, weil die Wurfzeit Ende Mai 
fällt und selbst die grösseren Marder nur 8 oder 9 Wochen 
tragen, überall aber bei kleineren Arten gleicher Geschlechter 
die Dauer der Schwangerschaft geringer ist. Dadurch wird 
es dann gleichzeitig erreicht, dass für die verschiedenen Arten 
die Wurfzeit näher zusammenliegt als die Ranzzeit. 

Als ich nun am 4. März 1861 ein frisch geschossenes weib- 
liches Hermelinchen erhielt, welches im weissen Winterkleide 
das Haar noch vollkommen festsitzen hatte, konnte ich somit 
kaum erwarten, dass bei diesem Thiere schon die Brunst ein- 
getreten oder die Begattung vollzogen sei, obwohl die milde 
Frühlingswitterung diese Vorgänge etwas früher hätte eintreffen 
lassen können, 

Die Untersuchung der Begattungsorgane ergab denn auch 
nicht jene charakteristische Schwellung, Röthung und Be 
schmutzung dieser Theile, wie sie um die Brunstzeit, und be- 
sonders, wenn wirklich wiederholte Begattung stattgefunden 
hat, sich zeigen, so dass die Annahme soweit gerechtfertigt 


erschien, die Brunstzeit sei entweder wenigstens noch nicht 
Reichert’s u, du Bois-Reymond’'s Archiv. 1861. 4l 


BE are H. A. Pagenstecher: 


vollkommen eingetreten, oder sie sei schon seit einer Reihe 
von Tagen vollkommen abgelaufen und damit ihre Zeichen 
schon wieder verschwunden, welches letztere denn doch schon 
nach den oben gegebenen Daten weniger wahrscheinlich war. 
Weiter fanden sich allerdings die analen Drüsensäcke sehr voll- 
kommen gefüllt und der Inhalt derselben, bei leisester Berüh- 
rung vorquellend, von sehr starkem Bisamgeruch. Die Eier- 
stöcke, geschwellt und zierlieh von der stärker gewundenen 
Kreisfalte der Tuben eingerahmt, zeigten eine grosse Zahl hoch 
entwickelter Graaf’scher Follikel, zum Theile jedenfalls dem 
Platzen nahe. | 

Die Gebärmutterhörner waren mässig injicirt, aber in allen 
Dimensionen gross, die Uterindrüsen kräftig entwickelt'), die 
innere Oberfläche der Hörner durch wellige Längsfurchen ab- 
getheilt und von sammtartigem Ansehen. Eins der durch die 
Längsfurchen entstehenden langen, streifenartigen Felder der 
Innenwand jedes Hornes, und zwar dasjenige, welches aussen 
der Befestigungslinie und dem Gefässverlaufe entsprach, war 
durch quere Eindrücke in eine Anzahl fast quadratischer Feld- 
chen weiter eingetheilt. | 

In den Geschlechtswegen fand sich nirgend eine Spur von 
Samenelementen. Ä 

Es schien sich somit der Zweifel in Betreff der Brunst da- 
hin aufzuhellen, dass dieselbe erst in der Entwickelung begriffen 
gewesen sei. 

Nun fanden sich aber dennoch Benits im linken Uterin- 
horne drei Eichen vor und im rechten eins. Alle lagen nahe 
dem unteren Ende der Hörner und es war nur eins etwas an- 
geklebt, sich in die Tiefe einer der Längsfalten senkend; die 
übrigen lagen ganz frei und rollten leicht mit der auf der 
Schleimhaut liegenden Flüssigkeit auf die Glasplatte. Da die 
Eichen fast ein Millimeter maassen, so konnte nicht wohl. ein 
weiteres oder gar mehrere übersehen werden. Ich mache hier- 
auf aufmerksam, weil in der Regel die Anzahl der vom Her- 
melinchen geworfenen Jungen bedeutender ist, etwa fünf bis 


1) Taf. XIV, Fig. IN. 


Ueber das Ei von @ale erminea. 627 


acht, so dass auch hierin ein weiteres Motiv läge, die Brunst- 
zeit nicht als abgelaufen zu betrachten. 

Dagegen ergab die genauere Untersuchung, dass die Ent- 
wiekelung an allen vier Eichen ein Stadium erreicht hatte, 
dessen Zustandekommen man wohl in der Regel als nur nach 
der Befruchtung durch das Sperma möglich erachtet. Dieselben 
bestanden zunächst aus einer klaren Dotterhaut, welche sich 
schon bei der Betrachtung mit blossem Auge wahrscheinlich 
in Folge der nach Eröffnung der Uterinhörner eingetretenen 
Verdunstung, an allen Eiern, und auch wenn noch in situ, mit 
ein Paar in den grössten Kreisen liegenden, einander ziemlich 
senkrecht durchschneidenden Falten eingesenkt zeigte). Rich- 
tete man. auf diese Falten das Mikroskop, so trieben in den 
Furchen die feinen Molekeln des Uterinsekrets in rascher Jagd 
um das Eichen herum, ohne Zweifel bewegt durch die diosmo- 
tischen Vorgänge. Wenn die Eichen in Zuckerlösung gebracht 
wurden, so verschwanden diese Falten durch die Quellung des 
Eies; die Dotterhaut war dann durchaus prall und im Allge- 
meinen, mit den sehr sparsamen nachher zu erwähnenden Aus- 
nahmen , ganz glatt. Die Substanz der dünnen Dotterhaut 
selbst zeigte sich durchaus homogen. 

Aus diesem Verhalten der Dotterhaut vor Zusatz irgend 
einer Flüssigkeit und unter Entziehung solcher, die in ihr 
selbst enthalten war, durch Verdunstung, beweist sich auf das 
Sicherste, dass der sehr bedeutende Zwischenraum , welcher 
sich zwischen der structurlosen Dotterhaut und der zelligen 
Keimblase befand, und von welchem wir jetzt handeln wollen, 
kein Kunstproduct war. 

Es befanden sich nämlich die Eichen sämmtlich soweit fort- 
gebildet, dass die Keimblase, als einfache peripherische Zell- 
haut fertig gebildet, einen Hohlraum umschloss, welcher ausser 
einem Quantum von Flüssigkeit noch den sogenannten Rest 
von Furchungskugeln enthielt, welcher durch seine geringere 
Durchsichtigkeit sofort auffiel. So lange die Dotterhaut gefal- 
ten war, erschien auch die Keimblase durch die Verdunstung 


1) Taf. XIV, Fig. I. 
41* 


628 HB. A. Pagenstecher: 


etwas unregelmässig, bei Einlegung in Zuckerwasser aber 
zeigte sie sich unter dem Mikroskope #bei leichter Compression 
schön gerundet. Ihr Durchmesser betrug nur ein Drittheil des 
Durchmessers des von der Dotterhaut umschlossenen Raums 
und sie erschien in der krystallhellen umgebenden Flüssigkeit 
schon dem blossen Auge bei auffallendem Lichte als weiss- 
licher Kern im Ei, oder genauer, am Rande des Eies schwim- 
mend. Die Dicke der sehr stark ausgedehnten Dotterhaut war 
sehr unbedeutend. 

Die Vergleichung dieser in den Uterinhörnern nahe deren 
unterem Ende angelangten Eichen mit einem der grössten Ei- , 
keime aus einem stark geschwollenen Graaf’schen Follikel im 
Eierstoeke ergab folgende Maasse für die verschiedenen Eitheile: 


1. Eichen aus dem Eierstocke. 
Durchmesser des ganzen Eis . . . 0,0710 mm. 
Dicke der Dotterhaut oder Zona En 0,0140 mm. 
Durchmesser des freien Raums zwischen 

Zone und Potter ment, 0. UVOORT mE: 
Durchmesser des Dotters. . . . . . 0,0536 mm. 


2. Eichen aus dem Uterinhorn. 
Durchmesser des ganzen Eis . . . . 0,8700 mm. 
Dieke. der Dotterhaut, . ... . :.. ..u.. ...00055, am. 
Durchmesser des freien Raums zwischen 

Dotterhaut und Keimblase, bei centraler 
Lage letzterer . . . nn. 2, 0 20 Or 
Durchmesser der Khan 02. 02800 mm. 


Im Vergleiche mit dem Durchmesser des ganzen Eies er- 
scheint also die Dotterhaut der Eier im Uterus ausserordentlich 
verdünnt, sie ist sogar absolut auf ein Viertel der Dicke der 
Zona pellucida im Graaf’schen Follikel reducirt; berechnen wir 
jedoch ihr Volumen, so finden wir leicht, dass ihre Masse sich 
vom Eichen im Eierstocke an auf das 45fache steigern musste, 
um bei der grossen Ausdehnung des Eies auch nur diese Dicke 
zu bewahren. Die Massenzunähme der übrigen Eitheile ist na- 
türlich weit bedeutender. | 

Die mikroskopische Untersuchung der einzelnen Bestand- 


Ueber das Ei von Gale erminea. 629 


theile der Uterineier ergab, dass ausser sparsamen anklebenden 
Moleeulen an der äusseren Fläche der Dotterhaut hier und da 
sehr kleine Spitzchen, etwas gedrehten Fadenendehen ähnlich, 
aufsassen'!). Dieselben waren sehr selten und nur einmal fand 
sich ein solcher Auswuchs etwas grösser und ein wenig ver- 
ästelt?). An dem Rande von Fig. II ist fast Alles zusammen- 
gestellt, was sich von solchen Anhängen an den verschiedenen 
Eiern entdecken liess. 

Es unterliegt keinem Zweifel, dass wir hier die ersten An- 
fänge der Chorionzellen vor uns haben, 

Die die Keimhaut umgebende Flüssigkeit erschien ganz hell. 
Die Zellen selbst, welche die Keimhaut constituiren, besitzen, 
wenn auch blasse, doch deutliche, helle Membranen. Sie messen 
0,014—-0,02 mm. und sind mit stark lichtbrechenden Körnchen 
besetzt. Sie sind rundlich und in der zwischen ihnen blei- 
benden Masse liegen zahlreiche feine Molecule eingebettet. 

Solehe Molecule dürfen wohl als die im Lebensprocesse 
der einzelnen Zelle auf ihrer Oberfläche und in der Zellenver- 
mehrung auf der Oberfläche der Brut, also im Binnenraume 
der Mutterzelle abgeschiedene Auswurfstoffe betrachtet werden. 
Sie entstehen in Folge der Veränderungen, welche das umge- 
bende Fluidum durch die durch ihre Hülle hindurch sich näh- 
rende und mehrende Zelle erleidet, in Folge einer Art von 
Verdauung auf äusserer Fläche. Ein sehr ähnlicher Vorgang 
findet im Ei der Trematoden Statt, wo die Keimzelle aus dem 
ihr später zugelegten und dann in eine Schale mit ihr einge- 
schlossenen Dotter das Nährmaterial entnimmt, diosmotisch 
einen Theil verbrauchend, einen anderen zurücklassend, oder 
vielleicht richtiger, das Ganze in eine Verbindung niederen 
Ranges umwandelt. Die stärkere Lichtbrechung ist für solche 
gewissermaassen excrementielle Stoffe charakteristisch. 

In einem Falle war die intercellulare Substanz der Keim- 
haut bereits zu einem streifigen Ansehen gelangt, die Zellen 
in derselben waren etwas spindelförmig ausgezogen. 


1) Taf. XIV, Fig. IIa. 
2) Taf. XIV, Fig. IIb, 


630 H. A. Pagenstecher: Ueber das Ei von Gale erminea. 


Um den Rest von Furchungskugeln befand sich ein deut- 
licher. heller Saum. Eine Spur der Anlage eines Fruchthofes 
war nirgends zu entdecken. 

Die Uterindrüsen, bis zu 0,1 mm. lang, zum Theil einfach, 
zum Theil zu mehreren in gemeinsamer Mündung sich öffnend, 
waren in der Art geschwellt, dass ihre Contouren durch die 
überragenden Drüsenzellen höckrig erschienen. Aber nicht 
allein waren ihre Secretionszellen gross und zahlreich, es lag 
auch in ihrem Hohlraum bereits ein starker fettiger, hier und 
da etwas krümlicher Inhalt, wahrscheinlich durch die Abküh- 
lung nach dem Tode geronnen, während das aus den Drüsen 
ausgetretene Secret in zahlreichen, feinen Moleculen die Schleim- 
haut überdeckte. 

Dieses Secret der Uterindrüsen ernährt die Eichen, sowie 
die Milch, eine Absonderung analoger Drüsen, das geborne 
Junge, nur muss hier die Nahrung durch die für diosmotische 
Vorgänge sehr geeignete Dotterhaut filtrirt und dann von der 
Keimhaut verarbeitet werden. So darf man den grossen 
Zwischenraum zwischeu Dotterhaut und Keimhaut vielleicht 
als ein Reservoir betrachten, durch welches eine grössere Re- 
gelmässigkeit und Sicherheit dafür gegeben wird, dass die 
Keimhaut genügendes Nährmaterial um sich finde. 

Wenn wir bedenken, dass sonst das eingebrachte Sperma 
noch nach einer Reihe von Tagen im Uterus beobachtet wer- 
den kann, dass bei kleinen Säugern seine Menge verhältniss- 
mässig bedeutend ist (vergl. meine Mittheilung über die Be- 
gattung von Vesperugo pipistrellus!), und dass dagegen sich 
hier gar keine Spur von Samenflüssigkeit in den gesammten 
Geschlechtswegen vorfand, so dürfen wir wohl annehmen, dass 
in diesem Falle eine Begattung noch nicht stattgefunden habe. 
Denn der Zustand, in dem die Eichen sich befanden, hätte der 
Befruchtung noch zu nahe gelegen, falls diese überhaupt ein- 
getreten wäre, als dass seitdem ein Zerfall der Samenfäden 
bis zur vollständigen Unkenntlichkeit hätte geschehen können. 

Es bleibt uns demnach nur übrig, anzunehmen, dass bei 


1) Verhandl. d. naturh.-med. Vereins zu Heidelberg, Bd. I, S. 194. 


‘H. A. Pagenstecher: Ueber das Ei von Atherina hepsetus. 63] 


Gale erminea die Ausbildung der Keimhaut bis zu der beschrie- 
benen Beschaffenheit ohne Befruchtung stattfinden könne. 

Ob nun aber die starke Ausdehnung der Dotterhaut normal 
sei oder ob sie ein Zurückbleiben der Keimhaut in der Ent- 
wickelung bedeute und als ein hydropischer Zustand zu be- 
trachten sei, das zu entscheiden fehlt vorläufig der Anhalt, 
der nur durch Vergleich entsprechender Fälle gegeben wer- 
den kann. 

Ein solcher krankhafter Zustand könnte dann Folge der 
nicht eingetretenen Befruchtung sein, die Anheftung der Eier 
hindern und vielleicht schon bei einigen Eiern zum Platzen 
der Dotterhaut sich steigernd, deren Untergang herbeigeführt 
haben. Dadurch wäre dann freilich eine zweite Möglichkeit 
gegeben die geringe Eizahl zu erklären. Da auch später hy- 
dropische Zustände des Eies so gewöhnliche Folgen der Stö- 
rung seiner Lebensvorgänge, besonders der Ernährung sind, 
so kann gewiss auch diese Hypothese als vielfach gestützt be- 
trachtet werden. 


Ueber das Ei von Atherina hepsetus. 


Von 
Dr. H. A. PAGENsSTECHER in Heidelberg. 


(Hierzu Taf. XIVb.) 


Als ich im Frühjahr 1860 in Nizza verweilte, kamen in 
der ersten Hältte des Monats März sehr bedeutende Quantitäten 
der winzigen Atherina hepsetus') auf den Fischmarkt und bil- 
deten sowohl roh als zubereitet ein gesuchtes, wohlschmecken- 
des. Gericht. 


1) Beide Namen finden sich bei Aristoteles für Fische : «#eglvn 
und &ubnzos. 


632 H. A. Pagenstecher: 


Es ergab sich bei der Untersuchung alsbald, dass diese 
Fischehen den Strand aufgesucht hatten, um dort zu laichen 
und da sie lebend in meine Hände gelangten, setzten ‚einige 
die Eier noch im Pokale mit Salzwasser ab, in welchen ich 
sie gesetzt hatte. 

Die sonderbaren Gebilde, mit welchen die Schale dieser 
Eier bekleidet war, veranlassten mich schon damals, eine ge- 
naue Zeichnung eines solchen Eies zu machen, welche ich hier- 
mit veröffentliche‘). Erst jetzt fand ich Zeit, an den in Al- 
kohol aufbewahrten Exemplaren nachzusehen, wo und wie jene 
Schalengebilde wohl ihre Entstehung finden möchten, nachdem 
ich mich schon damals überzeugt hatte, dass sie an den Eiern 
im Ovarium fehlten. 

Die abgelegten Eier von Atherina hepseius haben, indem 
sie, beinahe kuglig, doch an einem Ende ein wenig gespitzt 
erscheinen, eine Form, welche am ersten mit der einer Erd- 
beere verglichen werden kann. Sie messen etwa 0,63 mm. 
in der Länge und ebensoviel in der grössten Breite, und sind 
weisslich und durchscheinend. Der grössere Theil des Ei-In- 
haltes ist ziemlich hell, aus grösseren Dotterkugeln bestehend, 
eine kleinere Schicht, welche am stumpfen Ende liegt, bräun- 
lich, mehr feinkörnig. Auf diesem stumpfen Ende sitzt ein 
Kranz von Fäden auf, ein Segment von 0,3 mm. an der Eihaut 
umfassend. Die Fäden sind 0,3—0,6 mm. lang, je 0,0036 mm. 
breit und bis zu einer Länge von über 0,1 mm. in der Art 
mit einander verwachsen, dass sie bis dahin ein sehr enges 
Netz bilden, dessen Maschen etwa 0,007 mm. Durchmesser 
haben und sich in der Höhe 6 oder 7 Mal auf einander folgen 
und aus welchem dann die Fäden einzeln austreten. So wird 
eine Art von Trichter auf dem Eipole gebildet. 

Wie es von vornherein gedacht werden musste, hängt dieses 
Fadennetz zusammen mit einem entsprechenden feinen Ueber- 
zuge der Eihaut, der sich durch seine Faserstrichelchen, be- 
sonders auf dem mehr durchsichtigen Theile des Eies, und 
zuweilen auch durch stärkere Falten zu erkennen giebt, und 


1) Taf. XIV, Fig. IV. 


Ueber das Ei von Atherina hepsetus, 633 


der also an dem stumpfen Pole, indem er als Netz sich ab- 
hebt, den Zugang zur Eihaut frei lässt. Die durch die umge- 
legte Schicht eingeschnürte Masse des Eies weicht etwas nach 
dem freien Pole aus und so entsteht die Erdbeerform. Durch 
diese Fäden bleiben die Eier an einander und an fremden Ge. 
genständen leicht hängen. 

Die Ovarien der jetzt untersuchten Fische fanden sich in 
verschiedenen Zuständen, entweder mit unreifen oder reifen 
Eiern angefüllt, oder entleert. Wie sich das bei Fischchen von 
nur etwa 5 Cm. Länge erwarten lässt, sind ihre Häute sehr 
fein, aber in den Eierstöcken, deren Eier noch nicht gereift 
sind, ist doch deren Entstehung auf quer geordneten zahlreichen 
Wülsten deutlich zu sehen. Die mit Eiern gefüllten Eierstöcke!) 
messen etwa 1 Cm. an Länge und enthalten zusammen etwa 
2000 Eier. Eine wirkliche Zählung bei einem Exemplar von 
ziemlicher Grösse ergab ein Geringes mehr. Die Eierstöcke 
sind wie der zwischen und unter ihnen liegende Darm?) mit 
starken Blutgefässen?) versorgt. Bei nicht vollkommener Ent- 
wickelung der Eier oder nach Entleerung derselben kann man 
von den Eierstöcken die Eileiter als engere Kanäle*) unterschei- 
den, während sie im anderen Falle durch die Ueberfüllung mit 
Eiern ganz mit den Eierstöcken zu einem Sacke verschmolzen 
erscheinen. Sie vereinen sich zu einem verschwindend kurzen 
gemeinsamen, medianen Gange, der gleich hinter dem After 
mit einer sehr deutlichen, bei Füllung des Abdomen spitz vor- 
ragenden Papille?) mündet. 

Da ich bemerkt hatte, dass die Eier im Ovarium jene An- 
hänge nicht besassen, so mussten die Organe zu deren Bildung 
an dem Ausgange der Eileiter gesucht werden und es liessen 
sich in der That an dieser Stelle Drüsen auffinden, die ohne 
Zweifel zu solchem Zwecke in Anspruch genommen werden‘), 


1) Taf. XIV, Fig. VIa. 

2) Taf. XIV, Fig. V u, Vle-f. 

3) Taf. XIV, Fig. VIb. 

4) Taf. XIV, Fig. Vb. 

5) Taf. XIV, Fig. V u. VId. 

6) Taf. XIV, Fig. V u. VIe u. Fig. VO. 


634 H. A. Pagenstecher: Ueber das Ei von Atkerina hepsetus. 


Man kann dieselben weit leichter darstellen, wenn die Ovarien 
nicht strotzend gefüllt sind. Sie bilden zwei Säcke, die in 
verschiedenen Stadien der Anhäufung gefunden werden, und 
deren stark lichtbrechendes Secret, wenn reichlich vorhanden, 
schlauchförmig angeordnet ist, ohne dass ich nun noch zu ent- 
scheiden vermöchte, wie weit das aus dem Bau der Drüsen 
oder der Art der Gerinnung abzuleiten sei. Sind sie leer, so 
scheint, wie das auch für die Eierstöcke gilt, der bei weitem 
grösste Theil des Epithels mit den gebildeten Producten aus- 
gestossen worden zu sein, ihre Wandung ist dann sehr fein, 
mit Körnchen besetzt, Zellen kaum erkennbar. Das Secret 
dieser Drüsen wird sich um jedes an ihrer Mündung vorbei- 
gehende Ei lagern und etwas ausgezogen, in seiner Erstarrung 
am hinteren Ende die Fadenanhänge bilden. 

Ob diese letzteren für die Eier von Atherina nur die Wir- 
kung haben, dass die zarten Eichen, in grösseren Massen zu- 
sammenbleibend und an fremde Gegenstände angeheftet, nun 
besser dem Wogenschlage Stand zu halten vermögen, oder ob 
die Bildung des Trichters für die Hinleitung des Sperma an 
an eine gewisse Stelle, ob das Freilassen einer Zone des Eies 
von einer festeren Umhüllung für die Athmung des Eies von 
Wichtigkeit sei, das bleibt vor der Hand vollständig Hypothese. 


Heidelberg, 30. April 1861. 


Erklärung der Abbildungen. 


Taf. XIVa. Fig. I. Ei von Gale erminea 50 Mal vergrössert. 

Fig WI. Dasselbe 150 Mal vergrössert. aa erste Anfänge der 
Chorionzellen, b eine solche Zelle schon etwas verästelt. 

Fig. III. Eine Gruppe von Uterindrüsen, 400 Mal vergrössert. 

Taf. XIVb. Fig. IV. Ei von Atherina hepsetus, 80 Mal vergr. 
Fig. V. Die Ovarien im Zustande der unfertigen Eientwickelung,; 
21/2 Mal vergrössert. aa die Ovarien, bb die Eileiter, ce die accesso- 
rischen Drüsen, d die Geschlechtspapille, e der Darm, f die After- 
öffnung. 

Fig. VI. Dieselben im gefüllten Zustande. Die Buchstaben haben 
dieselbe Bedeutung wie für Fig. V, nur bezeichnen bb die Arterien- 
stämme an den Eierstöcken. 

Fig. VII. Eine gefüllte accessorische Drüse, 30 Mal vergrössert. 


Ch. Aeby: Die glatten Muskelfasern in den Eierst. d. Wirbelth. 635 


Die glatten Muskelfasern in den Eierstöcken 
der Wirbelthiere. 


Vor 
Dr. Co. AepyY. 


(Hierzu Taf. XV.) 


Contractile Elemente in den Ovarien der Wirbelthiere sind 
eigentlich ein physiologisches Postulat; der Nachweis ihres 
allgemeinen Vorkommens hat aber bis jetzt gefehlt, und es 
schien deshalb nicht überflüssig, die Sache einer weiteren Prü- 
fung zu unterwerfen. 

Bei den Fischen wurden glatte Muskelfasern zuerst durch 
Leydig!) nachgewiesen, im Ovarium von Esoz lucius, Perca 
flwviatilis und Salmo salWwelinus, sowie im Mesovarium von 
Salmo fario. Später wurde dieser Befund von Rouget?) auf 
die Lampreten, die Schleihe und mehrere Squalusarten ausge- 
dehnt. Ein und dasselbe Verhalten scheint demnach der ganzen 
Classe eigenthümlich zu sein, doch hatte ich keine Gelegenheit 
zu eigenen Untersuchungen. 

Bei den Reptilien finden sich Muskeln in ausgezeichneter 
Entwicklung. Ich beobachtete sie zuerst beim Frosch, sowohl 
bei Rana temporaria als bei esculenta?). Man sieht hier von 


1) Leydig, Lehrbuch der Histologie des Menschen u. der Thiere. 
Frankfurt a. M. 1857, S. 508 u. 519. 

2) Charles Rouget, Recherches sur les organes £Erectiles de la 
femme etc. Journal de la physiologie, publie sous la direction de 
Brown-Sequard, Tome I p. 480, note. 

3) Eine vorläufige Notiz hierüber habe ich in diesem Archiv, 
Jahrgang 1859 S. 675, veröffentlicht. — Rouget sind sie auffallender 
Weise ganz entgangen: (a. a. ©. p. 483). 


EEG an Ch. Aeby: 


der Wirbelsäule her zwischen die Lamellen des Ovariums ver- 
hältnissmässig starke rundliche Stränge ziehn,, welche durch 
weissliche Färbung sich auszeichnen und in ihrem Inneren die 
arteriellen Gefässe des Organes enthalten, während die Venen 
oberflächlich verlaufen. Zusatz von Essigsäure lässt eine grosse 
Menge stäbchenförmiger Kerne hervortreten, die sämmtlich mit 
ihrer Längsachse parallel dem Verlaufe des Gefässes geordnet, 
die Querfaserschicht dieses letzteren um so schärfer hervor- 
heben (Fig. 1). Salpetersäure löst bei längerer Einwirkung 
das ganze Gewebe in lauter zierliche Spindeln auf, die sofort 
als glatte Muskelfasern sich erkennen lassen. Eigenthümlich 
ist vor Allem ihre scheidenförmige Anordnung um die Gefässe. 
Die Dicke der Scheide ist immer eine sehr beträchtliche, 
doch ohne zum Durchmesser des Gefässes in irgendeinem 
constanten Verhältnisse zu stehen. Im Allgemeinen schien 
sie ihm?! nahezu gleichzukommen,, übertraf ihn aber nicht 
selten selbst um das Doppelte. Nach innen stossen diese 
Längsfasern unmittelbar an die Ringfaserschicht an, nach aus- 
sen setzen sie in einer glatten Oberfläche sich ab. Es ist 
ziemlich gleichgültig, ob man sie als eine Art von Adventitia 
oder aber als gefässführenden Muskelstrang auffassen will; 
mit jener können sie schon deshalb nicht ohne Weiteres zusam- 
mengestellt werden, weil sie zugleich die Nervenstämme des 
Övarıums umschliessen. Das Aussehen der isolirten Zellen 
selbst variirt beträchtlich je nach der Jahreszeit. Im Sommer 
zeigen sie nur in dem zwischen Wirbelsäule und Aorta aus- 
gespannten Anfangstheile des Mesovariums ein normaleres Ver- 
halten. Ihre Länge beträgt 0,152 — 0,320 Mm. im Mittel 
(0,059 — 0,445 in den Extremen), ihre Breite etwa 0,0123 
(0,0099—0,0148) Mm. Sämmtliche Fasern sind ungefähr bis 
auf die Hälfte oder ein Drittheil ihrer Breite abgeflacht. In 
der Mitte, zuweilen etwas nach einem Ende gerückt, liegt ein 
schöner, stäbchenförmiger oder ovaler Kern, 0,013 (0,010 bis 
0,015) Mm. lang und 0,007 (0,005—0,010) Mm. breit. Gegen 
den eiführenden Theil des Ovariums zu werden die Zellen un- 
gemein schmächtig; auch der Kern verschmälert sich (0,0043 M.), 
erscheint jedoch in der dünnen, oft: fadenförmigen Zelle als 


Die glatten Muskelfasern in den Eierstöcken der Wirbelthiere. 637 


mehr oder minder scharf abgesetzte, spindelförmige Anschwel- 
lung (Fig. 2). Die Zellen selbst sind häufig durchaus klar, 
zuweilen mit einem centralen, opaken vom Kern ausgehenden 
Streifen. Merkwürdig werden sie durch ihre ausserordentliche 
Länge, die im Mittel 0,237 Mm. beträgt, aber bis zu 0,640 Mm. 
hinaufsteigt und nicht leicht unter 0,167 Mm. herabsinkt. In 
gleicher Weise verhalten sie sich bis zu ihren Endausbreitun- 
gen, welche mit den feinsten arteriellen Gefässen unmittelbar 
im Umfange der Eier liegen; hier schienen sie nicht selten 
büschelförmig in die Membran des Eierstockes auszustrahlen. 
— Untersucht man diese Gebilde zur Zeit der Eireife, so 
wird man von der Schönheit ihrer Entwicklung überrascht. 
Ohne Ausnahme haben sie sich zu breiten Bändern umgestaltet, 
die neben feinkörnigem Inhalt einen zierlichen ovalen Kern von 
0,019 (0,016—0,021) Mm. Länge enthalten. Mit No? isolirte 
Exemplare sind oft in Folge spiraliger Drehungen scheinbar 
varicös, die Ränder nicht selten mehr oder weniger regelmässig 
gekerbt. Die Länge fand ich gegen früher nicht verändert, 
0,280 (0,207—0,400) Mm. im Mittel, die Breite dagegen auf 
0,006 (0,005—0,008) Mm. vermehrt. Zugleich ist der Unter- 
schied zwischen Kernanschwellung und Zelle durchaus ausge- 
glichen, so dass das Breitenwachsthum zunächst auf Rechnung 
der letzteren zu setzen ist. Mehrmals glaubte ich Zellen mit 
getheilten Enden vor mir zu haben, am deutlichsten in dem 
unter Fig. 3a abgebildeten Falle. Meines Wissens sind der- 
artige glatte Muskelfasern bis jetzt noch nicht beobachtet wor- 
den und ich weiss recht wohl, wie leicht unvollständig isolirte 
Zellen zu dieser Täuschung Veranlassung geben können. In- 
dessen glaube ich um so weniger in eine solche verfallen zu 
sein, als in dem Gebilde deutlich nur Ein Kern enthalten war, 
während es sonst deren zwei hätte aufweisen müssen. Die 
Theilung reichte bis in die Nähe der Kernes. Vielleicht darf 
dabei an die in neuester Zeit beschriebenen getheilten Muskel- 
zellen im Herzfleische mancher Thiere erinnert werden ). — 


1) A. Weissmann, Ueber die Musculatur des Herzens beim 
Menschen und im Thierreiche. Dieses Archiv 1861, S, 41. — Eine 


638 ? .uCh..Aeby: 


Es ist somit klar, dass zur Laichzeit die Muskelzellen kräfti- 
ger und markiger werden. Dass damit auch eine Vermehrung 
derselben verbunden ist, bezweifle ich, weil jederzeit getheilte 
Kerne zu den grössten Seltenheiten gehören. Bald nach der 
Ausscheidung der Eier beginnt eine rasche Rückbildung. Die 
Zelle wird schmäler und mehr und mehr tritt der Kern.als 
Anschwellung hervor. Anfänglich finden sich auch hier im 
Zelleninhalt dunkle, scharf contourirte Körnchen (Fig. 3), die 
wohl wie in den Zellen des Uterus nach der Geburt als Aus- 
druck einer regressiven Entwicklungsphase aufzufassen sind. 
Später verschwinden sie und schon nach kurzer Zeit haben die 
Zellen eine Form angenommen, die von der zuerst beschriebe- 
nen nur durch noch etwas grössere Breite sich unterscheidet 
(Fig. 4), bis sie endlich vollständig in sie übergeht. 

Die morphologischen Verhältnisse, wie wir sie so eben beim 
Frosch kennen gelernt haben, können uns als Paradigma für 
die übrigen Repräsentanten der Reptilienclasse dienen. . Die 
Verhältnisse sind überall wesentlich dieselben, und nur die 
Menge der auftretenden contractilen Elemente ist verschieden. 
Besonders gross ist sie bei Testudo europaea, wo die Muskeln 
ausser zu (efässscheiden noch zu selbständigen Strängen sich 
anordnen und schon bei makroskopischer Untersuchung ihre 
Gegenwart verrathen. Besonders ist solches zur Zeit der 
höchsten Eientwicklung der Fall. Ueberhaupt gilt allgemein 
das Gesetz, dass die Entwikelung, der Muskeln von derjenigen 
der Eier abhängt. Je weiter diese gediehen ist, um so mehr 
gewinnen jene ein frisches, kräftiges Aussehen und einen schö- 
nen bläschenförmigen Kern, während sie im entgegengesetzten 
Falle mehr und mehr verkümmern und selbst zu. äusserst 
schmächtigen , spindelförmigen Gebilden mit kleiner Kernan- 
schwellung sich umwandeln, deren wahre Natur ohne die zahl- 
reichen und allmähligsten Zwischenstufen gar nicht oder nur 
schwer zu erkennnen wäre. Ueberall finden wir als besonders 
bemerkenswerth, dass die Spindelzellen bis unmittelbar an den 


ganz ähnliche Zelle wie die unsrige hat dieser Autor auf Taf. I, Fig. 
2b abgebildet. 


Die glatten Muskelfasern in den Eierstöcken der Wirbelthiere. 639 


Umkreis des Eies, bis an die Theca follieuli herantreten. 
Letzteres wird auch von Rouget!) für Lacerta viridis ange- 
geben.: Nach ihm sollen bei diesem Thiere im Mesovarium 
die Muskelbündel netzartig sich verbinden. . Meine Beobach- 
tungen beziehen sich noch auf eine Bufo, auf Coluber natriz, 
Tritonen. und Lacerta agilis. Von den beiden Letzteren. be- 
sitze ich Messungen. Bei einem Triton mit ziemlich weit 
entwickelten Eiern betrug die Zellenlänge 0,201 (0,125—0,275) 
Mm., während der Kern 0,028 (0,020—0,035) Mm. lang und 
0,009 ‚(0,005 — 0,010) Mm.. breit war. Bei der Eidechse da- 
gegen, die hirsekorngrosse Eier trug, erreichte die Zelle nur 
0,160 (0,099—0,248) Mm., der Kern 0,010 Mm. Länge. Bei 
der Verschiedenheit der untersuchten Thiere dürfte der Schluss 
nicht ungerechtfertigt erscheinen, dass glatte Muskelfasern in 
den verschiedenen Abtheilungen des Ovariums Eigenthum 
sämmtlicher Reptilien sind. 

Bei den beiden besprochenen Wirbelthierelassen bilden die 
musculösen Partieen gleichsam die Grundlage, das Gebälke, 
durch welches die membranartigen Theile gestützt werden. 
Anfänglich zu einzelnen grösseren Stämmen. vereinigt, wer- 
den im weiteren Verlaufe durch Theilung die Ausstrahlung 
schmächtiger , bis sie endlich vollständig sich verlieren, 
Verfolgen wir nun die morphologischen Verhältnisse gegen die 
höheren Ulassen hin, so sehen wir das Hauptgewicht auf eine 
allmählige Sonderung des. keimführenden Theiles von demje- 
nigen fallen, welcher diesen letzteren mit benachbarten Theilen, 
besonders der Wirbelsäule, verknüpft. Wir sehen ein Ovarium 
im ‚engeren Sinne des Wortes von einem Mesovarium. sich 
scheiden. Das Erstere wird zugleich compacter, reicher an 
festem Stroma. Den Uebergang bilden die Vögel und erst bei 
den Säugethieren tritt der Unterschied in voller Schärfe her- 
vor. Die wesentlichen Structurverhältnisse bleiben aber. die- 
selben; überall ziehen die Gefässe durch das Mesovarium zum 
Ovarium, von mehr oder minder mächtigen Zügen glatter Mus- 
kelfasern begleitet. 


1) A.a. ©. p. 483. 


640 C. Aeby: 


Bei den Vögeln sind sie bereits von Rouget!) erkannt 
worden. Ich selbst untersuchte sie bei der Taube und beim 
Huhne und fand in beiden Fällen zahlreiche contractile Ele- 
mente, deren Hauptmasse an der Wurzel des Mesovariums lag 
und die gegen die Eifollikel zu allmählig spärlicher wurden, ohne 
jedoch in ihnen ganz zu fehlen. Im Allgemeinen waren es 
schmächtige' Spindeln, die zu einem feinfasrigen Stroma, das 
theilweise unregelmässig zwischen die Gefässe sich einlagerte, 
zusammentraten. 

Schwieriger gestalten sich die Verhältnisse bei den Säuge- 
thieren, obgleich wir schon der Analogie wegen berechtigt sind, 
auch hier dieselbe Bildung zu erwarten. Muskelzellen waren 
bis vor Kurzem nur für das Mesovarium?) bekannt. Aber 
schon Kölliker?) war das eigenthümliche Aussehen des Eier- 
stockstromas aufgefallen und er bemerkt, dass man oft meine, 
es müssten glatte Muskelfäden darin enthalten sein, dass es 
aber nicht gelinge, mit Hülfe von Salpetersäure zu einer ent- 
scheidenden Ansicht zu gelangen. Meines Wissens ist Rou- 
get*) der Einzige, der sie mit Bestimmtheit angiebt, aber nicht 
näher beschreibt; sie sollten nach ihm mit den Gefässen durch 
den Hilus eintreten. Trotzdem wird ihr Vorkommen von Lud- 
wig°) in Frage gestellt und von Funke‘) des Bestimmtesten 
negirt. Die Arbeit des französischen Forschers kam mir erst 
nach Abschluss meiner Untersuchungen zu Gesicht und es ist 
deshalb um so mehr zu beachten, dass ich zu denselben Re- 
sultaten wie er gelangt bin. Die fächerförmige, vom Hilus 
gegen die Peripherie ausstrahlende Form des Stroma ist zu 
bekannt, als dass ich mich bei dessen Beschreibung aufhalten 
sollte. Wird dasselbe im getrockneten Zustande in dünne 


1) A.a.0O. p. 484. 

2) Kölliker, Beiträge zur Kenntniss der glatten Muskeln. Zeit- 
schrift für wissensch. Zoologie, Bd. I, 8. 73. 

3) Kölliker, Mikroskopische Anatomie, II. 2, S. 432. 

4) A.a.0. S. 737 u. 738. 

5) Ludwig, Lehrbuch der Physiologie des Menschen, 2. Auflage, 
2. Band, S. 442. ’ 

6) Funke, Lehrbuch der Physiologie, 3. Auflage, 3. Bd., S. 72. 


Die glatten Muskelfasern in den Eierstöcken der Wirbelthiere. 641 


Schnittehen zerlegt, so erkennt man unter dem Mikroskop nach 
Wasserzusatz fein längsgestreifte Bündel, die vorzugsweise an 
die Gefässe sich anschliessen. Essigsäure lässt in ihnen sofort 
eine grosse Menge feiner stäbchenförmiger Kerne auftreten, die 
auf den ersten Blick an Muskelkerne erinnern und sich leicht 
von den rundlichen oder eckigen Kernen des übrigen Stromas 
unterscheiden lassen. Salpetersäure lässt sie als Gefässschei- 
den erkennen, die aus feinen Spindelzellen zusammengesetzt 
sind, Eine vollständige Isolirung derselben ist in den meisten 
Fällen mit grossen Schwierigkeiten verknüpft, da sie ausser- 
ordentlich fest zusammenhängen und eine vollständige Macera- 
tion vermieden werden muss, um nicht auch die Muskelzellen 
der Gefässe selbst frei zu legen; in diesem Falle ist es eben 
unmöglich, zu entscheiden, was dem Stroma und was dem Ge- 
fässe angehört. Doch habe ich beim Menschen, beim Schwein, 
bei der Kuh und Anderen sie isolirt erhalten. Von grösster 
Wichtigkeit ist hierbei, dass sie nur in solchen Eierstöcken 
wohl ausgebildet sind, wo auch die Follikel sich gut entwickelt 
finden, während sie sonst sehr kümmerlich aussehen. So zeich- 
nete sich besonders der Eierstock eines während der Menstrua- 
tion gestorbenen Weibes durch ihre schöne Ausbildung aus, 
während ich sie in demjenigen einer 63 jährigen Frau und in 
einem zweiten, der aller grösseren Follikel entbehrte, anfäng- 
lich vollständig übersah. Isolirt stellen sie ausserordentlich 
niedliche spindelförmige Zellen dar, von blassem schwach ge- 
trübtem Aussehen (Fig. 5). Nach zwei Seiten laufen die oft 
gewundenen Ausläufer mit glatten Rändern spitz zu. Sie sind 
sämmtlich ziemlich stark abgeflacht und zeigen ohne Ausnahme 
in der Mitte einen deutlichen ovalen oder stäbchenförmigen 
Kern von 0,0124 (0,0080—0,0145) Mm. Länge und 0,0032 Mm. 
Breite. Die Länge der Zelle variirte zwischen 0,0322 und 
0,0806 Mm.; im Mittel betrug sie 0,0508 Mm. Am zahlreich- 
sten fand ich sie in dem mit vielen grossen Follikeln besetzten 
Eierstocke eines grösseren Säugers, wahrscheinlich eines Schwei- 
nes. Mit Leichtigkeit liessen sie bis in die Theca follieuli 


sich verfolgen und ohne Zweifel sind sie das, was an dieser 
Reichert's u. du Bois-Reymond’s Archiv. 1861, 42 


642 Ch. Aeby: 


Stelle von Kölliker!) als junge Bindegewebszellen und als 
spindelförmige Bildungszellen angeführt wird. Ihre Länge 
betrug 0,0713 (0,0483 —0,0967) Mm. ; davon kamen auf den 
0,0019 Mm. breiten Kernabschnitt 0,0129 Mm. Es darf nicht 
unbemerkt bleiben , dass sämmtliche Zellen durchaus regel- 
mässig mit ihren Längsachsen einander parallel liegen. Die 
von ihnen gebildeten Scheiden sind nach aussen nicht so scharf 
abgegränzt, wie diejenigen der niedrigeren Thiere. Wo die 
Eibildung nicht eine energische ist, da werden sie so unan- 
sehnlich, dass nur die Bekanntschaft mit den ausgebildeteren 
Formen ihre wahre Natur erkennen lässt. Ebenso scheinen 
sie in kleinen Ovarien unbedeutender entwickelt, wenigstens 
erschien es mir so bei der Katze und bei dem Kaninchen, ob- 
wohl die Eibildung in vollem Gange war. Ausser den bereits 
genannten Thieren habe’ich noch das Schaaf, den Hund und 
einen Affen (Inuus cynomolgus) untersucht und überall dasselbe 
Resultat erhalten. Ich glaube mich deshalb zur Annahme be- 
rechtigt, dass diese Zellen allen Säugethieren gemeinsam sind. 

Schwieriger als die einfache Constatirung ihres Vorhanden- 
seins gestaltet sich die Frage nach ihrem physiologischen 
Werthe, die Frage, ob wir es mit contractilen Elementen zu 
thun haben, oder nicht. Die Beantwortung fällt um so schwie- 
riger, als wir beinahe ganz auf indireete Beweismittel ange- 
wiesen sind. Lebhafte Contraction dürfen wir wohl a priori 
von solchen schmächtigen Dingern nicht erwarten, und galva- 
nische Reizung am frischen Kaninchenovarium hat mir eben- 
sowenig als Pflüger ein bestimmtes Resultat geliefert. Die 
Form allein aber ist nicht entscheidend, denn an und für sich 
könnte sie ebensowohl einer Bindegewebs- als einer Muskel- 
zelle angehören. Unter diesen Umständen erscheint mir vor 
Allem die Thatsache wichtig, dass die genannten Elemente 
sich durchaus analog den unbezweifelbaren Muskelfasern der 
übrigen Thiercelassen verhalten, wie denn auch bei diesen alle 
möglichen Uebergänge zu Formen gefunden werden, die mit 
den in Frage stehenden durchaus übereinstimmen. Dann ist 


1) A.2.0. S. 428. 


Die glatten Muskelfasern in den Eierstöcken der Wirbelthiere, 643 


nicht zu übersehen, dass diese ebenso wie jene zur Ovarial- 
thätigkeit in naher Beziehung zu stehen scheinen. Mit Berück- 
sichtigung dieser Verhältnisse stehe ich nicht an, sie für con- 
tractil zu halten und den glatten Muskelfasern beizuzählen. 
Freilich drängt sich uns da unwillkürlich die Frage nach dem 
gegenseitigen Verhältniss zwischen glatter Muskelfaser und 
Bindegewebszelle auf, und die Erwägung der Möglichkeit, ob 
beide durch eine scharfe Gränze getrennt sind oder nicht. Von 
Tag zu Tage mehren sich die Beispiele, dass Oontraetilität 
nicht allein der wahren Muskelsubstanz zukommt; man hat 
solche selbst an Zellen beobachtet, die noch allgemein der 
Gruppe der Bindesubstanz beigezählt werden. Bei den glatten 
Muskelfasern haben wir auch im Ovarium das schon von an- 
ders her bekannte Phänomen beobachtet, dass der contractile 
Inhalt je nach dem physiologischen Bedürfniss sich mehrt oder 
schwindet und es liegt gewiss kein Grund vor, weshalb unter 
gegebenen Umständen ein solches Schwinden nicht bis zum 
vollständigen Verschwinden sich steigern kann. Wir dürfen es 
beinahe als gewiss betrachten, dass die Hülle an den animalen 
Erseheinungen der Zelle sich nicht betheiligt. Schwindet daher 
in der glatten Muskelfaser der Inhalt, so bleibt als Ueberrest 
eine contractionsunfähige Hülle, die sich von der Bindegewebs- 
zelle in keiner Weise unterscheidet und nur contractilen Inhalt 
wieder aufzunehmen braucht, um jeden Augenblick von Neuem 
zur wahren Muskelfaser zu werden. Wenn ich daher die ge- 
“ sehilderten Spindelzellen in die Reihe der Muskelfasern gestellt 
habe, so soll damit doch nicht ihre jederzeitige Contractions- 
fähigkeit ausgesprochen sein, vielmehr halte ich es für möglich, 
dass letztere zeitweise vielleicht vollständig schwindet. Es würde 
dies dann geschehen, wenn kein physiologischer Process ihrer 
thätigen Beihülfe bedarf und wir haben sie auch in der That bei 
mangelnder Ovarialthätigkeit ausserordentlich klein und ver- 
kümmert gefunden. Von dem berührten Gesichtspunkte aus 
wäre wohl auch die Frage des sogenannten unreifen Bindege- 
webes in normal ausgebildeten reifen Organen einer erneuten 
Prüfung nicht unwerth. Zugleich erhielte aber auch der alte, 
seit Langem verpönte Ausdruck des „contractilen Bindegewebes“ 
42° 


644 Ch. Aeby: 


zz 


von Neuem Sinn, indem die glatten Muskelfasern an und 
für sich als solches müssten aufgefasst werden. Sie werden 
zwar in allen Handbüchern in Verbindung mit der querge- 
streiften Muskelfaser abgehandelt. Mit der letzteren aber ver- 
bindet sie nur das physiologische Moment der Contractilität, 
und wenn auch bei ihnen Uebergänge zur Querstreifung be- 
schrieben werden, so beweist das vor der Hand nur so viel, 
dass ‘die contractile Substanz in jeder Form eine Querstreifung 
annehmen kann. Was aber die wichtigste Beziehung, nämlich 
die Genese anbetrifft, so schliesst sich das glatte Muskelgewebe 
unmittelbar an das Bindegewebe an, während es meiner Ansicht 
nach von der quergestreiften Muskelfaser durch eine weite 
Kluft getrennt wird. Es ist hier nicht der Ort, auf diesen 
Punkt näher einzugehen. 

Ueberblicken wir schliesslich die geschilderte Musculatur in 
ihrer Gesammtheit, so finden wir durchgehends die bekannte 
Erscheinung, dass im Generationsapparate die glatten Mus- 
kelzüge in ihrem Verlaufe sich gerne an die Gefässe an- 
schliessen‘). — Physiologisch ist sie bereits von Rouget?) 
in geistreicher Weise verwerthet worden, und wir können uns 
‚deshalb darüber um so eher kurz fassen, als wir seiner Dar- 
stellung nichts Neues hinzuzufügen hätten. Die Bedeutung der 
contractilen Elemente im Ovarium und seinem Gekröse ist eine 
doppelte; einmal als Mittel zur Ortsveränderung des ganzen 
Organes und dann als actives Agens bei der Ausstossung der 
Eier. Peristaltische Bewegungen des ganzen Eierstockes sind 
bereits von Pflüger?) beim Frosche beschrieben worden. Ich 
selbst habe die Sache sehr oft und zu jeder Jahreszeit beob- 
achtet, und fast an jedem Frosch gelingt es, zu sehen, wie 
nach der Eröffnung der Bauchhöhle das Ovarium gegen seine 
Anheftungsstelle an der Wirbelsäule sich zusammenzieht. Am 
ausgezeichnetsten fand ich die Erscheinung unmittelbar nach 
der Laichzeit, wo, wie wir gesehen haben, auch die Muskelfasern 


1) Virchow, Cellularpathologie, 2. Auflage, Berlin 1859, S. 105. 

2) A.a.O. p. 738 u. ff. 

3) Pflüger, Ueber die Bewegungen der Ovarien. Bitch Archiv 
1859, S. 30. 


Die glatten Muskelfaserr in den Eierstöcken der Wirbelthiere. 645 


in ihrer Entwickelung am weitesten gediehen sind. Spontane 
Bewegung habe ich ausserdem noch bei Testudo europaea be- 
merkt. Auch beim Kaninchen war in einem Falle, wo ich 
darauf achtete, die Contraction der Ovarialbänder theils spon- 
tan, theils auf galvanischen oder mechanischen Reiz eine sehr 
ausgezeichnete. In Beziehung auf die Bedeutung dieser Bewe- 
gungen begnügen wir uns, auf Rouget hinzuweisen. Für die 
Sprengung des Follikels und die Austreibung des Eies sind 
musculöse Elemente jedenfalls von der höchsten Bedeutung, um 
so mehr, als sie bis in die Theca folliculi sich erstrecken. 
Dass durch Vorgänge rein mechanischer Art dieser Process 
erst vorbereitet werden muss, versteht sich von selbst; für den 
Act der Ausstossung selbst aber stimmen wir vollständig Rou- 
get bei, dass er viel sicherer im richtigen Momente von einer 
durch eontraetile Elemente vermittelten Reflexaction, als vom 
blossen Zufalle herbeigeführt werde. In Folge der Contraction 
wird die Wandung des Follikels gespannt und somit zum 
Platzen prädisponirt. Ist diese Anschauungsweise richtig, so 
muss ein solehes Platzen auch willkürlich vermittelst des In- 
ductionsapparates herbeigeführt werden können. Meine in dieser 
Absicht an Kaninchen angestellten Versuche haben bis jetzt zu 
keinem Resultate geführt. Dabei ist jedoch daran zu erinnern, 
dass nicht allein der Kanincheneierstock wegen seines geringen 
Gehaltes an Muskelzellen ein schlechtes Object ist, sondern dass 
auch bei der pygmäenartigen Beschaffenheit dieser letzteren’ im 
Säugethierovarium überhaupt nur bei sehr reifen Follikeln mit 
bereits stark verdünnter Membran ein günstiges Resultat darf er- 
wartet werden. — Basel, im Juni 1861. 


Erklärung der Abbildungen. 


Fig. 1. Ein arterielles Gefäss aus dem Ovarium des Frosches in 
seiner Muskelscheide ; mit Essigsäure behandelt. Das aus der Tiefe 
durchschimmernde Gefäss: ist an seinen quergestellten Kernen leicht 
zu erkennen. 

Fig. 2—4. Glatte Muskelfasern aus dem Froschovarium: Fig. 2. 
Im Sommer und Winter. — Fig. 3. Kurz nach der Laichzeit, mit 
Körnchen, theils von der Fläche, theils von der Kante gesehen, manche 
gedreht ; eine getheilte. — Fig.4. Etwa 3 Wochen nach der Laichzeit. 

Fig. 5. Spindelzellen aus dem Ovarium einer während der Men- 
struation verstorbenen Frau, einige von der Kante gesehen, 


646 er R.:Hartmann: 


Bemerkungen über die elektrischen Organe 
der Fische. 


Von 
Dr. RoBERT HARTMANN in Berlin. 


(Hierzu Taf. X VI.) 


Wenige Theile der vergleichenden Histologie sind so häufig 
und so gründlich untersucht worden, als der feinere Bau der 
elektrischen Organe der Fische. Dennoch sind viele einzelne 
Punkte dieses interessanten und schwierig zu erforschenden 
Gegenstandes noch nicht mit hinreichender Sicherheit aufgeklärt. 
Nachstehende Bemerkungen, welche zum grossen Theile wäh- 
rend der Reise des verstorbenen Freiherrn Adalbert von 
Barnim in Nordostafrika von mir aufgezeichnet wurden, ver- 
öffentliche ich weniger in der Absicht, neue Gesichtspunkte 
für die Erkenntniss jener Apparate aufzustellen, als vielmehr, 
um die Aufmerksamkeit der Fachgenossen von Neuem auf 
diesen Gegenstand hinzulenken. 


l. Mormyrus oxyrhynchus. 

Ueber die elektrischen Organe im Schwanze der Mormyriden 
sind von Erdl u. Gemminger!), Kölliker?), Markusen?), 
Kupfer und Keferstein®), von Munk’°), sowie von Ecker 
und Bilharz‘) Untersuchungen angestellt worden. Während 
eines mehrwöchentlichen Aufenthaltes zu Cairo im Winter des 


1) Gelehrte Anzeigen der Kgl. Bayer. Akademie, 23. Bd., S. 405. 

2) Bericht von der Königl. zootom. Anstalt zu Würzburg. Zweiter 
Bericht für das Schuljahr 18%/ss. Leipzig 1849. Ueber die elektri- 
‘schen Organe des Morm. longipinnis Rüp. S. 9. Taf. I Fig. 1—4. 

3) Gazette medic. de Paris, Tome VIH, No. 9, p. 136, und Bul- 
letin de la classe physico-mathematique de !’Academie Imp. d. Sciences 
de St. Petersbourg, T. XII, p. 265. 

4) Zeitschrift für rationelle Mediein. III. Reihe, 2. Band, S.»44, 
Taf, VI.u.. Vo. 

5) Nachrichten von der G.-A.-Universität und der Königl. Gesell- 
schaft zu Göttingen. Vom J. 1858, No. I. 

6) Berichte der. Gesellschaft für Beförderung der Naturwissen- 
schaften zu Freiburg. in Br., Bd.I, 8. 176 u.472, Taf. XIL. A. Ecker: 
Untersuchungen z.Ichtbyologie. Freiburg in Br. 1857. 4, S. 29, Taf. Il. 


Bemerkungen über die elektrischen Organe der Fische. 647 


Jahres 1859 gelang es mir zweimal, frische, erst kurz zuvor 
abgestorbene Exemplare von Mormyrus oxyrhynchus Geoffr. 
zu erwerben. Die an Letzteren gemachten Beobachtungen 
habe ich, nach ‚meiner Rückkehr nach Berlin, an in Solut. Kali 
bichrom.!) trefflich conservirten Organen derselben Species 
nochmaliger eingehender Prüfung unterzogen. Auch hatte Herr 
Reichert die Güte, mir die in der Berliner zootomischen 
Sammlung befindlichen Weingeistexemplare von Mormyrus an- 
guilloides Linn., M. cyprinoides Linn., M. elongatus Rüpp., 
M. dorsalis Geoffr., M. disorhynchus Pet., M. longirostris 
Pet., M. macrolepidotus Pet. zur Benutzung zu überlassen. 
Die Mormyriden besitzen auf jeder Seite des Schwanzes 
ein oberes und ein unteres elektrisches Organ. Die intermus- 
culären Bänder der Seitenmuskeln bilden im Schwanzabschnitte 
des Körpers nach und nach immer stumpfere Winkel, die 
zwischen ihnen befindlichen Muskelfascikel hören in der Rich- 
tung von vorn nach hinten allmählig auf und nehmen statt 
ihrer die elektrischen Organe ober- und unterhalb der beide 
Seitenmuskeln trennenden Längsfurche ihre Plätze ein. Diese 
Organe stellen längliche, walzenförmige Körper mit stumpf- 
spitzigen Enden dar, welche mit ihrer etwas gewölbten Aussen- 
fläche dicht unter der Haut liegen, mit ihrer leicht abgeplat- 
teten Innenfläche dagegen die Körper- und Dornfortsätze der 
Schwanzwirbel bedecken. Die verjüngten Vorderenden der 
Organe sind ober- und unterhalb von Muskelbündeln begrenzt; 
nach hinten allmählig an Dicke zunehmend, füllen dieselben 
bald den zwischen der seitlichen Längsfurche und dem Rücken 
einerseits und den zwischen derselben Furche und dem Bauch 
andererseits befindlichen Raum völlig aus und verdrängen hier 
die Muskelsubstanz. Die beiden Seitenmuskeln spitzen sich nach 
hinten zu; die hintersten Bündel liegen dicht zusammengedrängt, 
werden von den Intermuscularbändern in ganz schräger Rich- 
tung durchsetzt und laufen endlich je in eine starke Sehne 
aus. Diese Sehnen begeben sich, die Randpartieen der elek- 
trischen Organe bedeckend, längs der Seitenfurche an die Kör- 
per und Ursprünge der Dornfortsätze der letzten Schwanz- 
wirbel und heften sich an ihnen fest. Die Intermuscularbänder 
dieser verschmälerten Schwanzportionen der grossen Seitenmus 
keln verlängern sich nun über die Ränder der Letzteren hinaus, 
spannen sich als glatte, sehnige Bänder über die den Muskeln 
unmittelbar anliegenden elektrischen Organe hinweg und befesti- 
gen sich auf Rücken und Bauch an die Spitzen der Dornfortsätze 
der Schwanzwirbel. Die elektrischen Organe bilden ein Sy- 
stem neben einander gelagerter, auf der Längsaxe des Thie- 
res senkrechter Lamellen und werden von den beschriebenen 


1) Kali bichrom. gr. 10. 
Ag. destill. unc. 1. 


648 R. Hartmann: 


Verlängerungen der Intermuseularligamente nicht durchsetzt, 
sondern diese liegen vielmehr äusserlich auf ihnen auf und 
hängen nur durch sehnige Fortsätze mit der ein jedes elek- 
trische Organ umhüllenden Bindegewebskapsel zusammen. 

Die über die elektrischen Organe laufenden Sehnenstreifen 
verlieren ihre Bedeutung als eigentliche Intermuscularbänder, 
sobald sie aus den Muskeln herausgetreten sind. Sie stellen 
vielmehr hier nur superficielle Verbindungsbänder zwischen 
den sehnigen Enden des Caudaltheiles der Seitenmuskeln und 
den Dornfortsätzen der Schwanzwirbel dar und mögen bei der 
seitlichen Krümmung des Schwanzes wirksam sein. . 

Am hintersten Ende der Wirbelsäule besitzen die Sehnen 
der Seitenmuskeln aponeurotische Ausbreitungen, von welchen 
die zu den Strahlen der Schwanzflosse sich begebenden fächer- 
förmigen Muskeln der letzteren entspringen. 

Fig.1 Taf. XVI. macht in einer Flächenansicht die Anord- 
nung der Muskeln, Ligamente und elektrischen Organe des 
Mormyrus dorsalis anschaulich. Bei den übrigen von mir un- 
tersuchten Mormyrus-Arten fand ich diese Verhältnisse ganz 
ähnlich.') 

Fig. 2 und 3 stellen Querdurchschnitte des Schwanzendes 
von Morm. macrolepidotus dar. Man sieht hier die Reduction 
der Seitenmuskeln auf blosse Sehnen und die Einlagerung der 
lamellösen elektrischen Organe. 

Was den Ursprung und die Verbreitung der die elektrischen 
Organe versorgenden Nerven anbetrifft, so liessen mich die 
hierauf untersuchten Weingeistpräparate nicht mehr erkennen, 
als was Ecker darüber veröffentlicht hat?). Einen an der 
Innenfläche der elektrischen Organe verlaufenden, die einzelnen 
Lamellen der letzteren mit Aesten versehenden Längsstamm 
vermochte ich an Hormyrus dorsalis ohne grosse Schwierigkeit 
zu präpariren. 

Die elektrischen Organe von Horm. oxyrhynchus sind, 
wie die aller anderen Species, aus zahlreichen, neben einander 
gelagerten Blättern zusammengesetzt, welche zur Längsaxe des 
Thieres eine senkrechte Stellung einnehmen. Jedes dieser 
Blätter besteht aus einer Sehnenhaut und aus einer an der 
Vorderfiäche der letzteren, d.h. nach dem Kopfende des Thie- 
‘res gelegenen?) sogenannten Nervenmsmbran oder elektri- 
schen Platte. Die Sehnenhaut ist ziemlich derb, aus vielen 
sich durchkreuzenden Bindegewebsfaseikeln gebildet und mit 
der das ganze Organ umhüllenden Bindegewebskapsel ver- 


1) Siehe auch Kölliker a. a. 0, Taf. I Fig. 1. 
2) Untersuchungen zur Ichthyologie, S. 30. 


3) Nach Ecker findet sich die Nervenmembran bei M. dorsalis | 
und M. anguilloides auf der hinteren Fläche der Sehnenhaut. S. Be- 
richte u.s.w. Bd. I, S. 472. 


Bemerkungen über die elektrischen Organe der Fische. 649 


bunden. Diese Sehnenhaut ist hin und wieder in zwei secun- 
däre Blätter getheilt, wie dies auch schon Kölliker an Horm. 
longipinnis beschrieben und abgebildet hat (a. a. 0.8.10, Taf. 
I, Fig. 2dd). Die elektrische Platte dagegen hängt mit dem 
bindegewebigen Theile des Blattes nur lose zusammen und 
lässt sich ohne Schwierigkeit von demselben abheben. .Die 
Räume zwischen den einzelnen Blättern eines jeden Organes 
sind mit einer gallertigen Masse erfüllt. 

Die Nerven, welche die elektrischen Organe versorgen, 
geben von hinten her an jedes Blatt einen Zweig ab, welcher, 
zwischen der Sehnenhaut und der elektrischen Platte verlau- 
fend, sich bald nach seinem Eintritte in das Blatt mehrf@ch 
theilt. Die einzelnen Aeste des Nerven lassen sich eine Zeit 
lang mit blossem Auge verfolgen, dann scheinen sie plötzlich 
stumpf zu endigen, und muss man, um das weitere Verhalten 
derselben kennen zu lernen, das Mikroskop zu Hülfe nehmen. 
Man bemerkt nunmehr, dass diese von einer dünnen Scheide 
umschlossenen Nervenzweige aus dunkelrandigen Primitivfasern 
zusammengesetzt sind, welche sich nicht selten einige Male 
dichotomisch theilen (s. Taf. XVI Fig. 4a‘). An der Bifurca- 
tion zweier Nervenäste sieht man die Primitivfasesn des Haupt- 
zweiges sich an der Theilungsstelie kreuzen oder man sieht 
auch wohl die Primitivfasern des einen Astes in den anderen 
umbiegen und sich alsdann erst theilen. Diese dunkelrandigen 
Fasern hören plötzlich auf und treten aus ihrer Mitte eigen- 
thümliche Fasern hervor, welche, mit blossen Augen kaum 
mehr erkennbar, ein ganz verschiedenes mikroskopisches Ver- 
halten zeigen. Dieselben haben ein granulirtes Aussehen 
und ragen mit einer stumpfspitzigen zapfenartigen Verlängerung 
in das einen Endast der Spinalnerven constituirende Bündel 
dunkelrandiger Primitivfasern hinein. Letztere treten nicht alle 
auf einmal, sondern hinter- und nacheinander an den Zapfen, 
ihre Markscheide hört an der Verbindungsstelle plötzlich auf 
und sie legen sich innig an jenen an. Der blasskörnige Inhalt 
des Zapfens scheint sich hier mit dem der dunkelrandigen Fa- 
sern zu vermischen. Aehnlich hat auch Bilharz dies Ver- 
halten bei frischen Exemplaren von Mormyrus ozyrhynchus 
gesehen!); von schlingenförmigen Umbiegungen der Primitiv- 
fasern, welche Markusen an den Zapfen beobachtet haben 
will, ist jedoch keine Rede. 

Die mit ihren zapfenförmigen Enden in die dunkelrandigen 
Nerven hineintretenden granulirten Fasern, welche von Kupfer 
und Keferstein „Terminalröhren“ genannt worden, sind mit 
einer ziemlich dieken Scheide von scheinbar fibrillärem Binde- 
gewebe umhüllt. Je mehr sich diese Fasern verästeln, je dün- 


R 1) S. Bilharz in: A. Ecker’s Untersuchungen zur Ichthyologie, 
. 50. 


> R. Hartmann: 


ner wird ihre Bindegewebsscheide. Dieselbe verliert allmählig 
ihr lockiges, üibrilläres Aussehen, wird mehr prall, homogen, 
obgleich man auch an feineren Aesten hier und da noch eine 
zarte Längsstreifung an ihr wahrnimmt. Auf Längsansichten 
der feinsten Zweige erscheint sie noch als doppelter Contour 
(s: Taf. XVI Fig. 4d). Ausser dieser dicken Scheide besitzen 
die in Rede stehenden Fasern noch eine sehr zarte, der Sub- 
stanz derselben innig anliegende, von ihr nicht mehr als beson- 
dere Membran lostrennbare Hüll- oder Grenzschicht, in welcher 
in unregelmässigen Abständen zahlreiche kernartige Körper- 
chen vorkommen. Diese Körperchen sind sphärisch, brechen 
da®*Licht nicht sehr stark und sind mit ein oder zwei, selten 
mit drei Kernkörperchen versehen. . Sie treten anfänglich am 
Zapfen der Fasern nur vereinzelt auf ‘und mehren sich , je 
weiter diese sich verästeln, so dass sie an den feinsten Zweigen 
derselben am dichtesten stehen (s. Taf. XVI Fig. 4ff). »ie 
liegen nur oberflächlich auf den Fasern auf, ragen mehr nach 
Aussen hervor, als nach Innen in die Substanz der Fasern 
hinein und überzeugt man sich namentlich bei Umknickungen 
der letzteren davon, dass die kernartigen Gebilde nicht in 
ihrem Inneren befindlich sind. Für die oberflächliche Lage 
dieser Körper sprechen auch die Beobachtungen von Ecker 
und Bilharz!), sowie die von Kupfer und Keferstein?). 

Was die Theilung der granulirten Fasern anbetrifit, so 
erfolgt diese zuweilen erst nach längerem Verlauf des in den 
Zapfen ausgehenden Hauptastes (s. Taf. XVI Fig. 4cec). In 
anderen Fällen findet eine zwei-, drei- und vierfache Theilung 
der Fasern bereits an derjenigen Stelle Statt, an welcher das 
zapfenförmige Ende noch von den dunkelrandigen Primitiv- 
fasern umgeben wird; alsdann begleiten einzelne der letzteren 
die aus der Theilung hervorgegangenen Aeste oft erst eine 
Strecke weit, bevor sie an denselben endigen (s. Taf. XVI, 
Fig. 5, 6 und 7). Da, wo eine Theilung der granulirten Fa- 
sern vorkommt, bemerkt man zuweilen eine verbreiterte Stelle 
derselben, welche beinahe wie ein Ganglienkörper aussieht 
(s. Taf. XVI, Fig. 4). 

Die granulirten Fasern selbst sind anfänglich nicht dreh- 
rund, sondern von einer etwas abgeplatteten Form, wie sich 
dies namentlich an Knickungen derselben wahrnehmen lässt 
(s. Taf. XVI, Fig. 4c'). Ihre inneren Zweige anastomosiren 
häufig untereinander, erhalten endlich eine vollkommen cy- 
lindrische Gestalt und gehen mit einer leichten Anschwellung 
in die Platte über. Dieser Uebergang der Fasern in die Platte 
ist auch von Kupfer und Keferstein, Ecker und Munk 
deutlich beobachtet worden. 


1) Untersuchungen zur Ichthyologie, S. 82, 4 us £. 
2) A. a. O. S. 35. 


Bemerkungen über die elektrischen Organe der Fische. 651 


Man bemerkt an den Insertionsstellen der Fasern in die 
Platte kreisförmige Contouren der ersteren. Diese Contouren 
erscheinen doppelt (s. Taf. XVI, Fig. 4ee), und sind als der 
optische Ausdruck des scheinbaren Querschnitts der den Endast 
der Faser umgebenden Bindegewebsscheide zu betrachten. 

Die granulirten Fasern sind sowohl an frischen, als auch 
an erhärteten Präparaten mit parallelen, ziemlich scharfen Con- 
touren versehen und bestehen aus einer körnigen Masse, deren 
zahlreiche, unregelmässige, äusserst feine Granula ihnen durch 
ihre in unterbrochenen Querreihen stattfindende Aneinanderla- 
gerung in der Flächenansicht ein zierliches, querstreifiges Aus- 
sehen verleihen, welches beinahe an die Querstreifen animäler 
Muskeln erinnern könnte. Von einer fibrillären Zusammen- 
setzung dieser granulirten Fasern, welche Bilharz an Chrom- 
säurepräparaten (bei Morm. o@yrhynchus) beobachtet'), habe 
ich an meinen, in Kali bichromicum erhärteten Organen durch- 
aus nichts wahrgenommen. Die granulirten Fasern der Letz- 
teren zeigen vielmehr beim Zerzupfen vermittelst der Präparir- 
nadel einen scharf begrenzten Querbruch, sowie hin und wieder 
unregelmässige Längsbrüche, ohne Ausfaserung der Bruchenden. 
Dasselbe Verhalten beobachtete ich an frischen Präparaten. Ob 
Aufbewahrung in Chromsäure diese Fasern zum Zerfallen in 
Fibrillen disponire, vermag ich nieht zu entscheiden, da mir 
keine auf solche Weise conservirten Präparate zur Verfügung 
standen. 

Die elektrische Platte besteht, ganz wie die sich in sie hin- 
einsenkenden granulirten Fasern, aus einer homogenen, pellu- 
eiden Grundsubstanz und vielen, in die letztere eingestreu- 
ten, unregelmässig, gestalteten Körnchen , welche das Licht 
ein wenig stärker brechen, als die homogene Grundsubstanz 
selbst. Während die elektrischen Platten der Zitterrochen und 
Zitterwelse sich durch ihre grosse Dünnheit auszeichnen, be- 
sitzt die Platte bei Mormyrus — wenigstens kann ich dies für 
vorliegende Species behaupten — eine grössere Dicke, als in 
jenen Fischen. Die in doppeltchromsaurem Kali erhärteten 
Platten lassen sich ohne Schwierigkeit in verschiedene Schich- 
ten zerlegen; bei frischen Präparaten ist dies aber nicht so 
leicht. Man beobachtet bei Ersteren auf der vorderen Fläche 
der Platten eine helle, zarte, mit spärlichen Granulis ver- 
sehene Schicht, welche leicht sehr feine Fältchen schlägt. 
Dies findet besonders bei den in der Zersetzung begriffenen 
Organen statt, wo dann die Körnchen der Platten in Molecu- 
larbewegung gerathen. Derartige Fältehen der äusseren Plat- 
tenschicht haben, wie ich vermuthe, Kupfer und Keferstein 
zur Annahme einer die vordere freie Fläche der Platten con- 
tinuirlich bekleidenden, feingestrichelten Substanz geführt?). Auf 


1) Untersuchungen u.s. w., S. 35, Taf. II, Fig. 7b). 
2) A.a.0. S. 353, Taf, VII, Fig. 13b. 


632 . OR. Hartmann: 


die genannte Schicht folgt nun eine mit vielen, dichtstehenden 
Körnehen durchsetzte centrale Schicht. An der hinteren Fläche 
der Platte, da wo sich die granulirten Fasern inseriren, findet 
sich ebenfalls eine zarte, mattgranulirte Schicht, welche bei 
stattfindender Zersetzung gleichfalls Fältchen wirft (s. T.XVI, 
Fig. 4gı, gu, grır). Diese ist es, in welcher kernartige Körperchen 
von ganz ähnlicher Beschaffenheit sich finden, wie dieselben in 
der Grenzschicht der granulirten Fasern vorkommen. Ob nun 
die äussere Schicht die Platte nach Art einer sehr zarten Hülle 
umgebe, wie es allerdings den Anschein hat, und ob man die- 
selbe als Fortsetzung der auch die Terminaläste der granulirten 
Fasern begleitenden bindegewebigen Scheide betrachten könne, 
wage ich nicht mit Bestimmtheit zu entscheiden. | 
Die mit der Platte innig zusammenhängenden granulirten 
Fasern treten den vom Rückenmark entspringenden, aus dun- 
kelrandigen Primitivfasern gebildeten Nervenfasern entgegen 
. und gehen mit diesen eine, wie es scheint,, sehr innige Ver- 
bindung ein. Ecker hat in der That die Ansicht aufgestellt, 
dass je eine granulirte Faser der Summe der Axencylinder der 
mit ihr verbundenen Primitivfasern entspreche'!). Auch Bil- 
harz, welcher sich auf die von ihm an Chromsäurepräparaten 
beobachtete fibrilläre Beschaffenheit der granulirten Fasern 
stützt, betrachtet die letzteren als Bündel zusammenge- 
backener Axeneylinder, und schien es ihm, als ob die 
Axencylinder der dunkelrandigen Fasern mit den die granu- 
lirten Fasern bildenden Fibrillen in Breite und Aussehen ganz 
übereinstimmten. Obwohl ich von einer fibrillären Beschaffen- 
heit der granulirten Fasern nichts gesehen habe, so glaube ich 
dennoch nicht, dass man es hier mit einer blossen Aneinander- 
lagerung der beiden ein so verschiedenartiges mikroskopisches 
Verhalten zeigenden Gebilde zu thun habe, indem ich, wie 
schon bemerkt, eine Vermischung des Inhaltes der granulirten 
und dunkelrandigen Fasern gesehen zu haben glaube, mich 
daher für einen directen Uebergang beider Faserarten in ein- 
ander entscheiden möchte. Betrachten wir nun die granulirte 
Faser als ein Compositum der Axeneylinder der dunkelrandi- 
sen Fasern, so erscheint uns die Platte als eine membranöse 
Ausbreitung der in sie hineintretenden granulirten Fasern. 
An der hinteren Fläche der Sehnenhaut, sowie zwischen 
dieser und der elektrischen Platte, verbreiten sich Capillarnetze. 
Die einzelnen Capillaren zeigen im frischen Thiere einen con- 
stanten Durchmesser ihrer feinsten Zweige und sind mit länglichen 
Kernen besetzt. Kupfer und Keferstein geben an, dass diese 
Capillaren wegen ihres ausserordentlich geringen Calibers nur 
als Vasa serosa betrachtet werden könnten (a. a. 0. 8. 354). 
An Fischen, welche in conservirenden Flüssigkeiten aufbewahrt 


1) S. Berichte u. s. w., Bd. 1, S. 477. 


Bemerkungen über die elektrischen Organe der Fische. 653 


werden, schrumpfen die in den Capillaren enthaltenen Blut- 
körperchen stark ein, die an sich sehr feinen Haargefässe colla- 
biren und verringert sich ihr Durchmesser dadurch noch be- 
deutend. Indessen habe ich bei den von mir angefertigten er- 
härteten Präparaten immer noch verschrumpfte Blutkörperchen 
selbst in solchen collabirten Capillaren gesehen, am deutlich- 
sten dann, wenn ich die Präparate durch verdünntes Glycerin 
aufbellte. Ich fühle mich dadurch veranlasst, alle diese Ge- 
fässe als blutführende Capillaren und nicht als Vasa serosa 
anzusehen. Die Existenz der letzteren ist bekanntlich über- 
haupt sehr problematisch. 


Hinsichtlich des feineren Baues der elektrischen Organe 
anderer Mormyrus-Arten muss ich auf die Arbeiten von Ecker 
verweisen, da die im Eingange dieses Aufsatzes erwähnten 
Weingeistexemplare zu einer mikroskopischen Untersuchung 
nicht mehr geeignet erschienen. Spirituspräparate sind über- 
haupt zu derartigen Forschungen nicht recht tauglich und 
sollte man dieselben höchstens zur Controle der im frischen 
Zustande beobachteten und in anderen Flüssigkeiten conser- 
virten Präparate benutzen. 

Bekanntlich hat man bis jetzt an den beschriebenen Orga- 
nen der Mormyriden keine elektromotorischen Erscheinungen 
wahrnehmen können und sind diese Apparate daher, ebenso 
wie ähnliche Organe von Gymnarchws und Raja, mit dem Na- 
men: „pseudoelektrische Organe“, im Gegensatz zu den wirk- 
lich elektrischen von Gymnotus, Halapterurus und Torpedo, 
bezeiehnet worden. Prof. Th. Bilharz in Oairo, sowie der 
Generalarzt des Ostsudan, Dr. Peney, und der österreichische 
Consul Dr. Natterer zu Chartum haben niemals elektromo- 
torische Erscheinungen an lebenden Mormyren bemerken kön- 
nen. Eingeborne Fischer gaben mir auf mein Befragen zur 
Antwort, dass der Qisweh (Morm. dorsalis Geoffr.) nicht so 
wirke, wie der „Ra’ad“ (Donner, d. i. Halapterurus electricus). 


2. Torpedo marmorata. 


Das elektrische Organ der Zitterrochen wurde von mir im 
Herbst des Jahres 1859 in Venedig an einem wenige Stunden 
vorher in der Nähe von Chioggia gefangenen Exemplare un- 
tersucht. Einige Tage später erhielt ich in Triest einen zwei 
Stunden zuvor gefischten, soeben erst abgestorbenen Torpedo, 
dessen Organe sofort mit Liquor sanguinis (desselben Thieres) 
unter das Mikroskop gebracht wurden. Zur Nachuntersuchung 
dienten mir zwei grosse Zitterrochen, welche mein verehrter 
Freund Dr. Baur in Weingeist aus Triest nach Berlin zu 
senden die Güte hatte, und welche, obwohl schon mehrere 
Tage alt, dennoch sehr gut erhalten waren; ‘auch stand mir 


654 R. Hartmann: 


zu diesem Behufe eine Reihe von in Chromsäure!) und Sub- 
limat?) erhärteten Präparaten zur Verfügung. 

Die elektrischen Organe des Zitterrochen sind aus einer 
Menge nebeneinander befindlicher, zur Längs- und Queraxe 
des Thieres senkrecht gelagerter, prismatischer Körper, den 
„Säulen“ oder „Prismen“ der Autoren, zusammengesetzt. Die 
einzelnen Prismen sind durch ein Fachwerk von scheinbar 
fibrillärem Bindegewebe, einer Fortsetzung der Tela conjun- 
ctiva subcutanea der Rücken- und Bauchhaut, von einander 
getrennt. Jedes der Prismen zerfällt in eine grosse Anzahl 
übereinander geschichteter, sehr feiner Lamellen, welche sich 
an gut erhärteten Präparaten leicht isoliren lassen. Je zwei 
solcher Lamellen schliessen einen engen Raum ein (das Fach, 
die Alveole Kölliker’s), dessen Seitenwände von dem zwi- 
schen den Prismen befindlichen Bindegewebe gebildet werden 
und welcher mit einer gallertartigen Masse erfüllt ist. In letz- 
terer Substanz verlaufen Nerven und Capillaren. Die Gefäss- 
wände sind mit rundlichen Kernen versehen. 

Die Nerven, von welchen die Prismen versorgt werden, 
verbreiten sich in ziemlich dicken Strängen in dem lockeren 
Bindegewebe des (die Prismen trennenden) Fachwerkes. Nach 
Rud. Wagner gehen aus diesen Nervensträngen ziemlich 
breite, mit dicker Scheide versehene Primitivfasern hervor und 
theilen sich an der Aussenseite der Prismen kronen- oder dol- 
denförmig in zahlreiche kleine Aeste, welche von oben und 
unten her in die Platten eintreten?). Ich habe beobachtet, dass 
die verschiedenen, einen Nervenstrang zusammen setzenden 
Primitivfasern einzeln oder auch wohl zu zweien und mehreren 
von der Peripherie her zwischen je zwei Platten eines Prisma 
hineintreten und sich hier entweder auf einmal, doldenförmig, 
wie es R. Wagner abbildet?), oder allmählich, hirschgeweih- 
artig, verästeln. So regelmässige doldenförmige Verzweigungen 
breiter Primitivfasern, wie R. Wagner dieselben in seiner in 
Göttingen erschienenen Arbeit Fig. I, IIB und X darstellt, 
habe ich allerdings nicht wahrnehmen können. Man sieht öf- 
ters mehrere Primitivfasern von gleicher Breite zwischen je 
zwei Platten hineingehen. Dann laufen zuweilen zwei, selten 
einmal drei dieser Primitivfasern in einer Alveole dicht neben 
einander her, biegen sich dann auseinander und treten, eine 


jede für sich, an die zugehörige Platte (s. Taf, XVI, Fig. 8d). 


1) Acid. chrom. gr. /a—1. Aq destill. une. 1. 

2) Hydr. bichl. cor. gr. 1—2. Ag. destill. unc. 1. 

3) Ueber den feineren Bau des elektrischeu Organes des Zitter- 
welses. Göttingen 1847 (Abhandlungen der Königl. Gesellschaft der 
Wissenschaften zu Göttingen, Bd. III), S. 16. 17, Fig. Ic, IIBe, II! Be, 
VIIIe, Xe. Ferner: Neue Untersuchungen über den Bau nnd die 
Endigung der Nerven etc. Leipzig 1847. Fig. III, 


Bemerkungen über die elektrischen Organe der Fische. 655 


Die zwischen den Prismen verlaufenden Nervenstränge be- 
sitzen eine dicke, anscheinend fibrilläre, mit Kernen besetzte 
Scheide. Wagner scheint mir übrigens die Scheiden der Pri- 
mitivfasern und ihrer Aeste etwas zu dick abgebildet zu 
haben'). Auch muss ich Pacini?’), Remak?°), Kölliker‘) 
und Schultze°) vollkommen Recht geben, wenn sie die Ner- 
ven nur von der Bauchseite her an die Platten hinantreten 
sehen. Die Aeste der einzelnen Primitivfasern theilen sich auf 
dieser Seite der Platten meist dichotomisch; seltener gehen die- 
selben an einer Stelle zugleich in drei Aestchen auseinander. 
Diese feinsten Zweige behalten ihre Primitivscheide, welche 
mit länglichen (an der Innenseite der Scheide befindlichen) Ker- 
nen versehen ist, sowie ihre Markscheide eine Zeit lang bei. 
Die Endästchen besitzen parallele Contouren und haben in 
ihrem Verlaufe weder varixartige Auftreibungen, noch sind mit 
ihnen zellenartige Körper verbunden. Allmählich scheinen nun 
die Primitivfasern , feiner und feiner werdend,, ihr Mark zu 
verlieren, auch lässt sich die Primitivscheide an den zartesten 
Verzweigungen derselben nicht mehr mit Sicherheit nach- 
weisen (s. Taf. XVI, Fig. öd'd'), Es macht ganz den Ein- 
druck, als habe man es hier mit reinen Axencylindern zu thun. 
Da, wo zwei terminale Nervenfasern sich dichotomisch theilen, 
erscheint die Nervensubstanz an der Theilungsstelle etwas ver- 
breitert (s. Fig. 8d’d'). Was nun den endlichen Uebergang 
der feinsten Nervenäste in die elektrische Platte selbst anbe- 
trifft, so gehört die Sicheistellung desselben zu den allerschwie- 
rigsten Fragen, welche die mikroskopische Anatomie zu ent- 
scheiden hat. R. Wagner lässt die feinsten Ramificationen 
der Nerven frei und offen in der Platte endigen und fügt 
hinzu, dass dieselben sich bei einem Durchmesser von 1/soo bis 
1/s000‘'' der weiteren Beobachtung entzögen. Sie bildeten kein 
Netzwerk, communieirten weder unter sich, noch mit den be- 
nachbarten Endzweigen und bleibe immer noch Raum genug 
frei, wo man blass feinkörniges Parenchym ohne Nerven- 
verästelungen wahrnehme‘). Nach Remak entsteht das kör- 
nige Aussehen der Platte durch knieförmige Umbiegungen der 
Enndfäserchen der von unten her in dieselbe eintretenden, fein- 


1) Ueber den feineren Bau u. s. w. Göttingen 1847. Fig. IIIBbb. 
Ferher indessen: Neue Untersuchungen über den Bau und die Endi- 
gung der Nerven etc. Leipzig 1847. Fig. III. 

2) Sulla struttura intima dell’ organo elettrico del Gimnoto e di 
altri pesci elettriei, Firenze 1852. p. 8. 

3) Müller’s Archiv. 1856. S. 469. 

4) Verhandlungen der physik.-medieinischen Gesellschaft in Würz- 
burg. 8. Bd, S. 8. 

5) Zur Kenntniss der elektrischen Organe der Fische. II. Torpedo. 
Separatabdruck aus dem 5. Bande der Abhandlungen d. naturforschenden 
Gesellschaft in Halle. 1859. S. 11. 

6) Ueber den feineren Bau u. s. w., 8. 21. 


656 R. Hartmann: 


sten Nervenäste, welche in senkrechter Richtung immer einer 
die glatte, obere Seite der Platte bildenden, glashellen Mem- 
bran zustreben (a. a. O. S. 470). dia 

Hierauf trat Kölliker mit der Ansicht hervor, dass die 
feinsten Nervenfäserchen unter fortgesetzten dichotomischen 
Verzweigungen ein die elektrische Platte constituirendes Netz- 
werk bildeten. Der scheinbare Durchschnitt der Platte sei 
deshalb von körnigem Ansehen, weil derselbe die Durchschnitte 
der Fäserchen des Netzes und dazwischen die nicht weiteren 
Lücken derselben zeigen müsse (a. a.O. S. 3—10, T. 1, Fig. 1). 
Diese Ansicht Kölliker’s ist neuerlich durch M. Schultze 
vertreten worden. „Das dichte Netz auastomosirender Nerven- 
fädchen*, so behauptet dieser letztere Forscher, „welches in 
ununterbrochener Schicht die Bauchseite der homogenen (oder, 
was dasselbe ist, der elektrischen) Platte bedecke und mit 
dieser innig verbunden sei, lasse sich wegen seiner leichten 
Zerstörbarkeit nur an frischen Präparaten zur Anschauung 
bringen und in keiner der gebräuchlicheren conservirenden 
Flüssigkeiten in voller Integrität aufbewahren“ (a. a. O. 8.13, 
14. Taf. I, Fig. 3 u. 5. 

Ich habe nun die isolirte elektrische Platte frischer Präpa- 
rate bei einer vortrefflichen Vergrösserung von etwa °7. sorg- 
fältig untersucht und mich von der Existenz eines solchen Netz- 
werkes nicht überzeugen können. Die Platte besteht nach 
meinem Dafürhalten im Wesentlichen. aus einer pelluciden 
Grundsubstanz und sehr zahlreichen, in dieselbe eingebetteten, 
unregelmässig gestalteten Körnchen von stärkerem Lichtbre- 
chungsvermögen als die Grundsubstanz selbst (Pacini’s: finis- 
sime granulazioni)!). Letztere sind im frischen Zustande in 
gewissen Längs- und Querzügen so nebeneinander gelagert, 
dass die blassen, von der Grundsubstanz der Platten gebildeten 
Zwischenräume der Körnchen zur Annahme eines sehr zarten 
Netzwerkes Veranlassung geben können. Ich gestehe, dass es 
verführerisch erscheint, eine solche Anschauung der Sache zu 
gewinnen; dennoch aber glaube ich, dass man sich bei einer 
wiederholten, durch kein Vorurtheil irgend einer Art beherrsch- 
ten Untersuchung der frischen Organe davon überzeugen werde, 
dass von einer netzförmigen Ausbreitung der an die Platte 
hinantretenden Nervenendäste Nichts mit Bestimmtheit gesagt 
werden könne.. Ich habe, wie Wagner, die feinsten Ner- 
venprimitivfasern nach ihrer Verästelung an der Platte aus den 
Augen verloren, die Endigung derselben jedoch nicht in der 
von Kölliker und Schultze beschriebenen Weise verfolgen 
können. 

Auch bei Mormyrus und Malapterurus erscheinen die Körn- 
chen der Platte im frischen Zustande ebenfalls so gelagert, 
1) Aehnliche Granulationen finden sich in den elektrischen Platten 
von Mormyrus und Malapterurus. 


Bemerkungen über die elektrischen Organe der Fische. 657 


dass man aus den zwischen ihnen befindlichen Partieen der 
homogenen Grundsubstanz willkürlich ein Netzwerk construi- 
ren kann. Zu ähnlichen Ansichten hat sich übrigens auch 
schon H. Munk bekannt; nach seiner Darstellung sind die 
„Nervennetze in der elektrischen Platte von Torpedo nichts 
Anderes, als die hellen, homogenen, schwach brechenden Strei- 
fen in der Grundsubstanz der Platte selbst, welehe durch die 
regelmässige Anordnung der in dieselbe eingelagerten Kügel- 
chen bedingt sind; die Lücken oder Maschen der Autoren 
sind die stark brechenden Kügelchen.“!) 

Bei nicht ganz frischen Exemplaren von Torpedo fahren 
die Granula der Platte auseinander, häufen sich in zerstreut 
liegenden Gruppen an, daher geht hier die beschriebene, mehr 
regelmässige Aneinanderlagerung der Körnchen,, welche zur 
Annahme von Nervennetzen Veranlassung gegeben hat, mehr 
und mehr verloren. 

Immerhin wird man jedoch selbst an bereits in der Zersetzung 
begriffenen, elektrischen Organen noch einzelne Regionen der 
Platten antreffen, in denen sich jene vorhin beschriebene Uon- 
figuration erkennen lässt, in deren Deutung ich eben von 
Kölliker und Schultze abweiche. Selbst an den schon 
mehrere Tage alten, von Dr. Baur aus Triest eingesandten 
Fischen vermochte ich mit Hülfe der Hartnack’schen Wasser- 
linse (Vergröss. cea. 1000) an solchen in ihrer Integrität erhal- 
tenen Stellen der Platte nur eine Bestätigung meiner hier dar- 
gelegten Ansicht zu finden. Bei eintretender Zersetzung ge- 
rathen die Körnchen der Platte in Moleceularbewegung. Munk 
hat übrigens meiner Meinung nach Recht, wenn er in der sehr 
dünnen elektrischen Platte von Torpedo nur eine einzige Schicht 
von: Körnchen annimmt (a. a. O. S. 7). 

Kölliker und Schultze bilden die feinen Endäste der 
Nerven ganz so ab, als wenn die Seitencontouren derselben 
während ihres Verlaufes in der Platte sich in zahlreiche feine, 
die Bestandtheile des von ihnen angenommenen Netzwerkes 
bildende Aestchen auflösten?). Dergleichen Seitenausläufer der 
Primitivfasern habe ich nicht sehen können. Die feinsten Aeste 
der letzteren schienen mir vielmehr bis an ihr vermuthliches Auf- 
hören in der Platte sowohl an frischen, als auch an erhärteten 
Präparaten ziemlich glatte Seitencontouren zu besitzen. Wur- 
den solche Endverästelungen der Nerven isolirt, so bemerkte 
man an denselben keine faserigen seitlichen Anhänge als Theil- 


. 1) Zur Anatomie und Physiologie der quergestreiften Muskelfaser 
der Wirbelthiere, mit Anschluss von Beobachtungen über die elektri- 
schen Organe der Fische, von H. Munk. Nachrichten von der G. A- 
Universität und der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göt- 
tingen, Nr. 1, 1858, S. 10. 

2) S. Kölliker a. a. O. Taf. I, Fig. 1, und Schultze Taf. 1, 
Fig. 3 und 5. 
Reichert's u, du Bois-Reymond’s Archiv. 1861. 43 


658 | R. Hartmann: 


chen eines mit diesen Nerven verbundenen Netzwerkes, son- 
dern diese Aestchen boten nur hier und da geringe, kaum 
merkliche Sinuositäten, als Folge einer leichten Schlängelung, 
dar, wie dies ja überhaupt bei sehr feinen, aus ihrer Conti- 
guität gerissenen Fasern leicht geschieht. 

Nach Kölliker sind die Prismen von einer zarten Binde- 
gewebshaut umkleidet, welche letztere von Ste le zu Stelle 
innere bindegewebige Scheidewände erzeugt (a. a. O0. S.7). 
Max Schultze betrachtet die in den Alveolen befindliche 
Substanz als gallertiges, von den fibrillären Bindegewebs- 
hüllen der Prismen abgehendes , die letzteren in Form von 
Querscheidewänden durchsetzendes Bindegewebe (a. a.0. 8.7.3). 
Nach meinen Erfahrungen sind die elektrischen Platten mit dem 
Bindegewebe der Prismenhüllen nicht vereinigt, sondern nur 
an dieselben angelagert, ohne dass ein Uebergang der Platten- 
substanz in das Bindegewebe stattfindet. An erhärteten Prä- 
paraten lassen sich die Platten ohne grosse Schwierigkeit aus 
den Prismen herauslösen ; man sieht alsdann, dass nur die 
Nerven und Gefässe den Zusammenhang der Platten mit dem 
Bindegewebe der Säulen herstellen. Die Gallertmasse der Al- 
veolen scheint mir, wie ich später erörtern werde, eine andere 
Bedeutung, als die ihr von Schultze zuertheilte, zu haben. 

In den Platten beobachtet man zahlreiche sphärische oder 
eiförmige, kernartige Gebilde mit je ein und zwei, seltener mit 
mehr als zwei Kernkörperchen. Sie liegen in ziemlich regel- 
mässigen Abständen von einander, variiren nur wenig in ihrer 
Grösse, sind an frischen Präparaten blass und scheinen von 
einer in feine Spalten ausgezogenen Höhle umgeben zu sein, 
so dass dieselben an Spindel- und selbst an Sternzellen erin- 
nern können. An erhärteten Organen bemerkt man dagegen 
einen hellen Hof um dieselben. Diesen Hof haben auch Re- 
mak, Kölliker und Schultze wahrgenommen. An den von 
Dr. Baur übersandten Exemplaren konnte man die beschrie- 
benen kernartigen Körper und die sie umgebenden, engen, 
länglichen Höhlen recht gut erkennen. Ich behandelte nun 
Stücke der elektrischen Organe dieser selben Fische mit Sub- 
limat- und Chromsäurelösung und sah während mehrmaliger, 
innerhalb eines Zeitraumes von 14 Tagen wiederholter Beob- 
achtung die länglichen Fortsetzungen der Höhle sich ausglei- 
chen und die vorhin erwähnten Höfe allmählig entstehen, wäh- 
rend die kernartigen Körper selbst dunkler granulirt hervor- 
traten, Anfänglich erschien die Demarcation des Hofes noch 
länglich, an zwei Enden etwas zugespitzt (kürbiskernartig), an 
älteren Präparaten näherte sich dieselbe jedoch mehr und mehr 
einer Kreislinie. In letzterer Weise erscheint der Hof an Prä- 
paraten, welche schon viele Monate lang in Chromsäure auf- 
bewahrt worden sind. Zuweilen habe ich an erhärteten Organen 
Stellen in der Platte angetroffen, an welchen der kernartige 
Körper allem Anschein nach aus der Platte herausgefallen ist. 


Bemerkungen über die elektrischen Organe der Fische, 659 


Man sieht nämlich in solchen Fällen eine helle, kreisförmig 
begrenzte Figur in der Platte, welche eine angeschnittene oder 
aufgeplatzte Höhle darzustellen scheint, aus welcher der Kern 
zufällig herausgetreten ist. Ich glaube den um das kernartige 
Gebilde befindlichen Hof als Ausdruck einer Höhle betrachten 
zu dürfen, in welcher je ein Kern eingebettet liegt und deren 
durch Imbibition hervorgerufene allmählige Erweiterung sich mit 
Genauigkeit verfolgen lässt. Die Wände der Höhle umgeben die 
kernärtigen Gebilde im frischen Zustande ziemlich genau und wei- 
chen, in Folge der Imbibition von Flüssigkeit, aus den zur Erhär- 
tung angewendeten Lösungen, auseinander; die Grundsubstanz 
der Platte wird dadurch in nächster Umgebung der Höhlen etwas 
zusammen gedrückt, so dass Carmindinte einen dunkleren Ring 
um dieselben Höhlen bildet. Ich wage nicht zu entscheiden, ob 
durch die genannten Körperchen Zellen .repräsentirt werden. 
Zwar glaube ich hier und da einen zweiten Contour innerhalb 
‚der Demarcationslinie der hellen Höfe bemerkt zu haben und 
ist es möglich, dass dieser innerste Contour der optische Aus- 
druck einer die Höhle auskleidenden Zellenmembran sei, indess 
war das Bild nicht deutlich genug, um eine sichere Erklärung 
desselben zu gestatten. 

Betrachtet man frische Präparate der Platten auf schein- 
baren Querschnitten'), so sieht man die kernartigen, nur wenig 
über die Plattensubstanz hervorragenden Körper in ihrer läng- 
lichen, engen Höhle liegen; verfertigt man sich dagegen schein- 
bare und wirkliche Querschnitte von erhärteten Präparaten, so 
beobachtet man Auftreibungen der Plattensubstanz durch die 
eingelagerten, nunmehr erweiterten Höhlen (s. T. XVI, F. Yh). 

*Kölliker unterscheidet an der elektrischen Platte eine 
homogene Bindegewebshaut und eine an der Unterseite der 
letzteren befindliche, mit ihr verklebte Nervenhaut. Die eben 
beschriebenen Körperchen liegen nach der Ansicht dieses For- 
schers in der Bindegewebshaut, an welcher sie bei Faltung der 
Platten leichte Verdickungen erzeugen. Da die „Kerne“ ferner 
nieht in einer Ebene mit den feinsten Nervenausbreitungen 
befindlich sind, so können dieselben auch nicht in der Nerven- 
haut liegen (a.a. O. S. 6). Ausser der homogenen, die Ober- 
fläche der elektrischen Platte bildenden Bindegewebshaut exi- 
stirt noch eine die Nervenäste vereinigende Bindesubstanz, 
welche letztere bei gänzlicher Zerstörung der Nervenenden 
noch als zarte, die feinsten Nervenbäumchen tragende Haut 
zurückbleibt. Schultze nimmt in der Platte eine homogene 
Membran an, welche eine weichere, ventrale, und eine härtere, 
dorsale Schicht, letztere an der dem Nervennetze abgekehrten 
freien Oberfläche liegend, zu besitzen scheine. Diese homogene 


1) Wirkliche Querschnitte lassen sich an frischen Präparaten nur 
sehr schwierig darstellen. Leichter ist dies an gut erhärteten‘Präparaten, 


43* 


660 R. Hartmann: 


Membran stehe mit den an ihrer Unterseite befindlichen Ner- 
veninsertionen in innigem Zusammenhange, lasse sich nicht 
von ihnen trennen und nur nach tagelanger Maceration und 
gänzlicher Zerstörung der sich ansetzenden Nerven isolirt er- 
halten. Gegen die bindegewebige Beschaffenheit dieser Mem- 
bran spreche deren Verhalten zu Reagentien. Sie sei vielmehr 
eiweissartiger Natur und. repräsentire die elektrische Platte 
nebst deren feinsten Nervenverästelungen. In ihr lägen die 
kernartigen Gebilde, letztere erzeugten in der homogenen Mem- 
bran an Falten frischer oder an Querschnitten erhärteter Prä- 
parate nach beiden Flächen der Platte, besonders aber nach 
der freien, dem Nervennetze nicht verbundenen, eine kleine, 
hügelförmige Hervorragung (a. a. ©. S. 15. 16). Ich selbst 
vermag mich gleichfalls nicht für das Vorhandensein einer ho- 
mogenen Bindegewebshaut in Kölliker’s Sinne zu entscheiden. 
Die elektrische Platte erhält bei beginnender Zersetzung an ihrer 
Oberfläche Falten, so dass es den Anschein gewinnt, als fände 
sich in der Platte eine derbere Grenzschicht und eine weichere, 
die Körnchen enthaltende Oentralschicht. Am deutlichsten 
schien mir das Faltenwerfen auf der glatten Oberseite der 
Platten stattzufinden, es machte nicht den Eindruck, als gingen 
diese Falten durch die ganze Dicke der Platten hindurch, son- 
dern als seien dieselben nur oberflächlich, einer äusseren Partie 
der Platte angehörend. Auf der unteren Seite der Platte, an 
welcher sich die Nerven inseriren, war die Faltung weniger 
in die Augen fallend, wenn auch immer noch sichtbar. Durch 
die scheinbaren und wirklichen Querschnitte dieser Falten an 
der Unterseite .der Platte werden höchst wahrscheinlich derartige 
Bilder vom Uebergange des Nervennetzes in die Bauchsäite 
der Platte erzeugt, wie Schultze ein solches auf Taf. I, F.5 
abbildet. Auch finden hierdurch die aufsteigenden Fasern Re- 
mak’s vielleicht ihre naturgemässe Erklärung. 

Die erwähnten kernartigen Körper mit ihrer Höhle denke 
ich mir in der Platte selbst und zwar in der Öentralschicht 
derselben liegen. Ich habe schon erwähnt, dass man bei Fal- 
ten und Querschnitten Auftreibungen sieht, welche an den 
Plattenoberflächen durch jene Körper hervorgerufen werden. 
Ich bemerke derartige Auftreibungen bei frischen Präparaten 
‚an der dorsalen und ventralen Oberfläche der Platte mit gleicher 
Häufigkeit. Bei erhärteten Präparaten scheinen die Auftrei- 
bungen auf der oberen Fläche der Platten häufig etwas stär- 
ker als auf der unteren zu sein; dies mag daher rühren, dass 
die an letzterer anliegenden Nerveninsertionen der ventralen 
Seite der Platten etwas mehr Resistenz gegen das Aufquellen 
der Höhlen der Kerne verleihen. 

Remak!), Kölliker und Sehultze°) erwähnen spindel- 
förmiger Bindegewebskörperchen (Saftzellen) mit langen Aus- 


1) A: a. 0. 8.471. 2) 8.12. 


Bemerkungen über die elektrischen Organe der Fische, 661 


läufern im Gallertgewebe der zwische: den elektrischen Plat- 
ten befindlichen Alveolen. Nach Kölliker liegen derartige 
Saftzellen vorzüglich, wo nicht ausschliesslich, längs der nahezu 
feinsten, noch nicht anastamosirenden Nervenästchen in der 
Nähe der Septa. Schultze giebt an, dass diese Zellen in 
dem gallertigen Bindegewebe der Alveolen mit ihren Ausläufern 
sich über grössere Flächen verbreiten, sich mit Nervenfasern 
kreuzen oder ihnen anliegen und wie in anastomotischer Ver- 
bindung mit ihnen zu stehen scheinen, Bei Wasserzusatz ver- 
lieren diese Zellen leicht ihre Sternform und werden rundlich. 
Ich habe weder an frischen noch an erhärteten Präparaten der- 
gleichen Saftzellen zu sehen bekommen. Einmal mögen die 
vorhin beschriebenen, kernartigen, in der elektrischen Platte 
gelegenen Gebilde, deren Höhle im frischen Zustande länglich, 
in Fortsätze ausgezogen und sogar sternförmig erscheint, zur 
Annahme soleher Zellen geführt haben; anderentheils sieht man 
in Folge der Präparation leicht feine Nervenästchen von der 
Platte abreissen; wenn nun solche zufällig losgetrennten Ner- 
venfädehen noch mit Kernen versehen sind, so kann man sich 
veranlasst fühlen, in diesen Kernen die Nuclei und in den an 
denselben haftenden Nervenrestchen die Sternfortsätze von Zellen 
zu sehen. Die vermeintlichen Sternzellen sitzen dann lose auf 
der Platte auf, lassen sich auf derselben verschieben und kreu- 
zen sich in der That leicht mit noch festsitzenden Nerven- 
fasern. 

Die obenerwähnte Gallertsubstanz (oder, wie ich mich lieber 
ausdrücken möchte, die zäh-flüssige Substanz) in den Alveolen, 
halte ich für eine indifferente Ausfüllungsmasse, wie eine ähn- 
liche auch in den elektrischen Organen von Hormyrus, Malap- 
terurus und Gymnolus vorkommt. Wenn man mit dem Messer 
in. die elektrischen Organe eines frischen Torpedo hineinschnei- 
det, so sieht man an der Klinge kleine Partieen einer dick- 
lichen Flüssigkeit, etwa von der Consistenz rohen Hühnerei- 
weisses, anhaften. Ueber die chemische Natur dieser Masse 
habe ich mir keine hinlängliche Klarheit verschaffen können. 


3. Malapterurus eleciricus. 


__. Unsere Kenntnisse des elektrischen Organes dieses Fisches 
sind in neuerer Zeit vorzüglich durch die Untersuchungen von 
Th. Bilharz?) und M. Schultze?) gefördert worden. Ich 
selbst gelangte im Februar 1860 in der Nähe der Insel Philae 
bei Assuan in Besitz eines Stückes von einem gegen zwei 
rheinländische Fuss langen. Malapterurus electricus , welcher 


1) Th. Bilharz: Das elektrische Organ des Zitterwelses, ana- 
tomisch beschrieben u. s. w. Leipzig 1857. 

2) M. Schultze: Zur Kenntniss der elektrischen Organe der 
Fische; 1. Abth. Malapterurus. Gymnotus. Abhandlungen der natur- 
forsch, Gesellschaft zu Halle, : 4. Bd. u, Separatabdruck, Halle 1858. 


662 R. Hartmann: 


leider von der arabischen Mannschaft unserer Barke bereits 
zerschnitten und in den Kochtopf gethan worden war. Dies 
Präparat wurde von mir an Ort und Stelle sofort untersucht. 
Zu späteren Beobachtungen haben mir in Chromsäure trefflich 
conservirte Fragmente des elektrischen Organes gedient. 

Ueber die gröbere Anatomie dieser Theile vermag ich nichts 
Neues zu berichten, da es mir an vollständigen, zur Zer- 
gliederung geeigneten Exemplaren des Zitterwelses gefehlt hat, 
und muss ich in dieser Hinsicht auf die Arbeiten von Bilharz 
verweisen. 

Das in Rede stehende Organ umhüllt den Fisch der Länge 
nach, ist mit der äusseren Haut innig verbunden und durch 
eine dorsale und ventrale Längsscheidewand in zwei symme- 
trische Seitenhälften getheilt. Zahlreiche, auf der Axe des 
Thieres senkrechte, sehnige Lamellen durchsetzen das Organ, 
sihd häufig mit benachbarten Blättern verwachsen und bilden 
ein bindegewebiges f'achwerk, in dessen „doppelpyramiden- 
oder linsenförmigen“ Alveolen die an der Vorderfläche der 
"Wände der letzteren befindlichen häutigen Ausbreitungen der 
elektrischen Nerven, die elektrischen Platten, sich finden. Für 
diese Platten giebt das eben beschriebene Fachwerk eine Stütze 
ab. Die Zwischenräume zwischen Sehnen- und Nervenmem- 
bran sind mit einer zähen, wahrscheinlich eiweisshaltigen Flüs- 
sigkeit angefüllt. Insoweit vermag ich Bilharz Angaben zu 
bestätigen. Nach der Beschreibung dieses Forschers entspringt 
nun auf jeder Körperseite des Fisches aus einem in der Nähe 
des ersten Intervertebralloches gelegenen, multipolaren Gan- 
glienkörper eine einzelne, sehr dicke Primitivfaser , welche 
sich fort und fort in Aeste theilt, die ihrerseits mit den elek- 
trischen Platten in Verbindung treten. Diese mit dunkelran- 
digen, markhaltigen Primitivfasern übereinstimmenden Nerven- 
äste sind mit einer dicken Bindegewebsscheide versehen, deren 
äusserste Schicht von zahlreichen Blutgefässen durchzogen und 
mit circulär oder spiralig laufenden Bindegewebsfasern um- 
sponnen ist. Die innerste Schichte der Scheide zeigt bei Essig- 
säurezusatz kleine, längliche Kerne. Schultze, welcher sich 
der hier mitgetheilten Ansicht von Bilharz über Ursprung 
und Verzweigung der das elektrische Organ versorgenden Ner- 
ven anschliesst, beschreibt die Bindegewebsscheiden der letz- 
teren als aus mehreren in einander geschobenen bindegewebigen 
Scheideneylindern gebildet, ähnlich wie die geschichteten Hül- 
len der Pacini’schen Körperchen. An den inneren Scheiden- 
schichten zeigten sich bei Zusatz von Reagentien Fasern, An- 
lagen von Ringfasern, welche die Neigung hätten, sich zu 
verästeln, Anastomosen zu bilden, selbst zu breiteren Platten 
und gefensterten Membranen zu verschmelzen und grosse Aehn- 
liehkeit. mit elastischen Fasern besässen, wenn sie sich auch 
von echtem elastischem Gewebe durch ihre Vergänglichkeit 
und eben erst eingeleitete Differenzirung unterschieden. Die- 


Bemerkungen über die elektrischen Organe der Fische. 663 


selben seien nur an Präparaten zu finden, welche eine Zeit 
lang in Sublimatlösung gelegen hätten.!) An frischen Präpa- 
raten kämen bei Zusatz von Essigsäure kleine stäbchenförmige 
Kerne zum Vorschein, welche an der inneren Oberfläche der 
die Scheide zusammensetzenden, dünnwandigen Röhren befind- 
lich seien und in die homogene, wasserklare Substanz hinein- 
ragten , welche die Zwischenräume zwischen je zwei Röhren 
ausfüllte (a. a. ©. 8. 303. 304). 

Von umspinnenden Fasern habe ich nun an den dicken, 
scheinbar fibrillären Bindegewebsscheiden der elektrischen Ner- 
ven Nichts bemerken können, ich vermochte nur jene an Binde- 
gewebsfaseikeln im Allgemeinen häufigen, optischen Truggebilde 
zu erkennen, welche durch Querfaltungen und Zerklüftungen 
der die bindegewebigen Scheidenbündel an ihren Grenzen um- 
gebenden, glashellen Schichten erzeugt und gegenwärtig noch 
immer von mancher Seite her als umspinnende Fasern gedeutet 
werden, entgegen den darüber aufgestellten Ansichten von 
Luschka, Reichert, Reissner, Leydig, Baur und Lie- 
berkühn.?2) Sehr schön zeigten sich diese Verhältnisse an 
frischen Präparaten, erschienen jedoch auch an in Chromsäure 
aufbewahrten, mit demselben Reagens behandelten Organen 
deutlich genug. Kerne habe ich, in der von Schultze ange- 
gebenen Weise an frischen Nerven (bei Essigsäurezusatz) auf- 
treten sehen. Die Nervenscheide, welche hier, wie bei Hormy- 
rus, in der That den Eindruck macht, als sei dieselbe aus in 
einander geschachtelten Lamellen zusammengesetzt, scheint, all- 
mählig dünner werdend, mit dem sehnigen Gewebe des Fach- 
werkes in Zusammenhang zu treten. Auch Bilharz nimmt 
dies an (a. a. ©. S. 35). Die Aeste, in welche sich die ein- 
zige den elektrischen Hauptnerven repräsentirende Primitivfaser 
auflöst, laufen nicht ganz selten zu zweien, hin und wieder 
auch wohl zu dreien, von einer gemeinsamen Scheide einge- 
schlossen, eine Strecke weit neben einander her und biegen 
sich dann, ein jeder mit seiner besonderen Scheide (als Fort- 
setzung der gemeinsamen) versehen, auseinander, um sich zu 
den entsprechenden elektrischen Platten zu begeben. 


1) Bei einigen längere Zeit hindurch in Sublimatlösung (3 Gr. 
auf 1 Unze Wasser) aufbewahrten Fragmenten elektrischer Organe 
von Torpedo zeigten sich an den Bindegewebsfascikeln des die Pris- 
men von einander trennenden Sehnengewebes querverlaufende, schon 
mit blossem Auge sichtbare, weisse Streifen, welche unter dem Deck- 
plättchen knirschten, bei durchfallendem Licht schwärzlich erschienen 
und grosse Resistenz gegen Säuren und Alkalien an den Tag legten. 
Diese Streifen schienen von einer ähnlichen Quecksilberverbindung ge- 
bildet zu werden, wie die oben von Schultze an den Scheiden von 
Malapterurus beschriebenen. Möglicherweise sind in letzterem 
Falle die Niederschläge in der Richtung der sog. Spiralfasern erfolgt. 

2) An solehen vermeintlichen, umspinnenden Fasern fehlte 
es auch nicht in den Scheiden der granulirten Fasern im pseudo-elek- 
trischen Organ des Mormyrus oxzyrhynchus (s. Fig. 4d). 


Dr 


664 R. Hartmann: 


Verfolgt man nun: einen der markhaltigen Nervenendäste 
bis. zu seinem Uebergange in die zugehörige elektrische Platte, 
so bemerkt man, dass derselbe allmählig seine Eigenschaften 
als dunkelrandige Primitivfaser verliert und nach und nach in 
eine granulirte Faser übergeht, welche letztere,, kurz vor. 
ihrem Eintritt in die Platte, keulenförmig anschwillt.. Ich 
wiederhole es, dass ich mich nur für einen allmähligen 
Uebergang der markhaltigen Faser in die granulirte Faser zu 
entscheiden vermag, dass ich also glaube, dass feinkörnige 
Substanz, wie sie sich in..der keulenförmigen Anschwellung 
vorfindet, nicht ganz plötzlich, sondern nach und nach die Stelle 
des scharf contourirten Nervenmarkes einnehme. Schultze 
glaubt, dass ein brüskes Aufhören des Nervenmarkes und ein 
ebenso plötzlicher Beginn der granulirten Masse stattfinde., 
Die dunkelrandige Faser ragt nämlich, seiner Ansicht zufolge, 
„eine Strecke weit in eine spindelförmige Anschwellung der 
granulirten Faser hinein, ist vom blassen Inhalt der letzteren 
umgeben, was die Deutung dieser körnigen Faser als eines 
einfach aus der markhaltigen hervorgegangenen Axencylinders 
erschwert. Die feinkörnige Substanz sei vielmehr etwas Selbst- 
ständiges neben der Nervenfaser.“ Das Mikroskop hat hier 
wiederum über einen Gegenstand zu entscheiden, dessen Schwie- 
rigkeit der dermalige Zustand unserer optischen Hülfsmittel 
und unsere zur Zeit in Anwendung gebrachten Untersuchungs- 
methoden meiner Meinung nach nicht völlig gewachsen sein 
dürften. Ich habe am ganz frischen Präparate kein plötzliches 
Aufhören des Nervenmarkes wahrgenommen; das Bild ver- 
wischt sich hier ein wenig, die stärker lichtbrechende Mark- 
scheide und: die feinen Granula der Endfaser fliessen gewisser- 
maassen in einander, es bleibt jedoch, wie bemerkt, sehr 
schwierig, ‚hier eine endgültige Entscheidung zu treffen. ’Es 
ist möglich, dass an den von Schultze benutzten, nicht mehr 
ganz frischen Präparaten eine stärkere Gerinnung des Nerven- 
markes zur Annahme eines so, plötzlichen Aufhörens desselben 
geführt habe.!) 

Obwohl ich aus der Markscheide der dunkelrandigen Pri- 
mitivfaser keinen centralen Strang hervortreten sehen konnte, 
welcher als Axeneylinder gedeutet werden durfte, so halte ich 
es trotzdem’ nicht für unwahrscheinlich, dass die granulirte 
Faser nebst ihrer Anschwellung eine directe Fortsetzung des 
Axencylinders der markhaltigen sei, welcher Vorstellung auch 
Bilharz (a.a. O. S. 35) und Schultze (a. a. O. S. 304) 
Raum gewähren. Man sieht nun in der keulenförmigen An- 


1) Die von Schultze benutzten Präparate waren, seiner eignen 
Aussage nach, weit älter als die meinigen, da dieselben erst von Berlin 
nach Halle gesendet werden mussten (s. a.a. O. S. 301). Chromsäure- 
präparate scheinen mir zur Untersuchung eines so ausserordentlich 
schwierigen Gegenstandes nicht ausreichend zu sein. 


Bemerkungen ‘über die elektrischen Organe der Fische. 665 


schwellung einzelne kleine, 'rundliche, kernartige Körperchen 
auftreten, welche das Licht etwas stärker brechen, als die 
feinkörnige Grundsubstanz, in welcher sie liegen. An der An- 
schwellung finden sich von den kernartigen Körperchen er- 
zeugte Ausbuchtungen der Grundsubstanz , in Form leichter 
hügeliger Unebenheiten (s. Taf. XVI, Fig. 10). Letztere 
sind es wohl, welche Bilharz für zellenartige, sphärische 
Körper vom Aussehen der Ganglienkörper erklärt hat (a. a.O. 
Seite 35). 

Die mit der keulenförmigen Anschwellung zusammenhän- 
gende elektrische Platte bildet eine Scheibe, welche mit ihrer 
dem Schwanzende des Fisches zugekehrten Fläche der derben 
Sehnenhaut eines Septum des bindegewebigen Fachwerkes!) 
lose anliegt und von demselben ohne Schwierigkeit abgenom- 
men werden kann. Eine Verbindung der Platte mit ihrem zu- 
gehörigen Septum findet höchstens an der Eintrittsstelle des 
Nerven statt, indem hier die Nervenscheide wahrscheinlich 
mit dem Septum zusammenhängt. 

Die keulenförmige Anschwellung tritt in. der Mitte der 
hinteren Fläche der Platte mit letzterer zusammen. Da, wo 
der Zusammenhang, beider stattfindet, bildet die Platte um die 
Eintrittsstelle des Nerven herum viele Falten und Ausbuchtun- 
gen, welche den Anschein gewähren, als fänden sich unregel- 
mässige, in kleinen Hügeln vorspringende, wallartige Ver- 
dickungen der Platte um die keulenförmige Anschwellung (8. 
Taf. XVI, Fig. 10er). Daher sagt Bilharz, der Nerv trete 
durch eine Einsenkung oder Höhle, deren Mündung durch un- 
regelmässige, warzenförmige Hervorragungen ringförmig ver- 
engt werde, in die Platte hinein (a. a. O. S. 34). Die granu- 
lirte Faser scheint nun mit ihrer keulenförmigen Anschwellung 
direct in die Platte überzugehen, so dass letztere nur als eine 
membranöse Ausbreitung der ersteren zu betrachten sein dürfte. 
Wendet man die Platte auf ihre Vorderfläche um, so bemerkt 
man hier, der Eintrittsstelle der granulirten Faser gegenüber, 
die von Bilharz beschriebene kraterförmige Vertiefung, welche 
sich eine Strecke weit in die keulenförmige Anschwellung 
hinein fortsetzt und blind endigt, so dass man sich diese als 
hohl, gewissermaassen als ein Rohr, vorzustellen hat. Diese 
kraterförmige Vertiefung ist ebenfalls mit vielen kleinen rund- 
lichen, inselförmigen, halbinselförmigen, länglichen und gewun- 
denen Ausbuchtungen der Platte umgeben. In ihrer Nähe 
bildet letztere aber grössere Falten, welche bald mit gewisser 
Regelmässigkeit strahlenförmig. vom Centrum zur Peripherie 


1) Ein solches sehniges Septum besteht aus vielen sich durch- 
kreuzenden Bindegewebsfascikeln von fibrillärem Aussehen, und ver- 
breiten sich an denselben Capillaren mit ovalen Kernen. Die Capil- 
laren scheinen besonders an der hinteren Fläche .des Septum vorzu- 
kommen, 


666 R. Hartmann: 


laufen!), bald unregelmässige Inseln, Halbinseln, Hufeisen und 
hin und her gewundene Figuren darstellen, welche unter ver- 
schiedenen Winkeln auf einander treffen. Derartige Falten 
finden sich auch an der Hinterseite der Platte. Sie sind an 
frischen Präparaten nie so deutlich, als an solchen, welche in 
Chromsäure aufbewahrt worden sind; ich habe sie jedoch an 
ersteren bei Zusatz von etwas verdünntem Glycerin alsbald 
mit Schärfe hervortreten sehen. Man kann durch Hin- und 
Herschieben des Deckgläschens, sowie mittelst der Präparir- 
nadel ohne Mühe Faltungen der Platte künstlich erzeugen, 
welche den beschriebenen täuschend ähnlich sind. Stellt man 
das Mikroskoprohr auf eine der Falten gehörig ein, so bemerkt 
man an den Rändern derselben doppelte, durch die Faltung 
der Plattensubstanz selbst hervorgerufene Contouren. Man 
beachte Fig. 11h auf Taf. XVI. Ich glaube daher, dass man 
es nur mit Faltungen, mit abwechselnden Ausbuchtungen und 
Vertiefungen einer sehr dünnen Scheibe, nicht aber mit Ver- 
dickungen der Substanz derselben zu thun habe. Zur Uhnter- 
suchung dieses Verhaltens halte ich scheinbare Querschnitte der 
Platten für besonders geeignet, indem man an solchen die Be- 
ziehungen der Platte zur granulirten Faser gut übersehen kann. 
Wirkliche Querschnitte dürften, bei dem geringen Dickendurch- 
messer der Platten, selten oder nie rein ausfallen. Schultze 
sah die Eintrittsstelle der keulenförmigen Anschwellung bei 
frischen Präparaten kreisförmig begrenzt (a.a. O. Taf.I, F.1); 
an erhärteten Präparaten schienen wulstige Höcker in der 
Nähe der Eintrittsstelle vorzuspringen (a.a.O. S. 310). Eine 
völlig kreisförmige Demarcation habe ich selbst an fri- 
schen Präparaten nicht bemerkt, sondern selbst hier zeigten 
sich Unebenheiten, wenn auch nicht so auffällig, wie an län- 
gere Zeit mit Chromsäure behandelten Organen. Die Platte 
besteht, wie die mit ihr zusammenhängende granulirte Faser, 
aus einer pelluciden, farblosen Grundsubstanz von schwachem 
Lichtbrechungsvermögen, in welcher zahlreiche, das Licht etwas 
stärker brechende Körnchen eingelagert sind. Wie bei Mor- 
myrus und Torpedo scheint diese Grundsubstanz von sehr zar- 
ter Beschaffenheit zu sein und lässt sich leicht in Fetzen aus- 
einander reissen. Auch die Platte von Malapterurus scheint 
nur eine einzige Körnchenlage zu besitzen (s. S. 657). 

Nach Schultze dringt das keulenförmige Insertionsende 
des Nerven in eine -vertiefte Stelle an der Hinterfläche der 
Platte ein und erzeugt an der entgegengesetzten Vorderfläche 
der letzteren eine Erhöhung mit strahlenförmigen Ausläufern. 
Jedoch sei dieser vorspringende Buckel nicht, wie Bilharz 
angebe, hervorgedrängte Substanz der Platte, sondern es sei 


1) Bilharz sagt daher mit Recht: „Diese Bildung erinnert leb- 
haft an eine centrale Hochebene mit strahlenförmig von ihr auslau- 
fenden Gebirgsketten“ (s. a. a. O. S, 34). 


Bemerkungen über die elektrischen Organe der Fische. 667 


der Nervenknopf selbst, welcher, nachdem er die elektrische 
Platte durchbohrt , hier frei zu Tage trete. Beim Umkehren 
der Platte erkenne man sogleich, dass die centrale Hervorra- 
gung der vorderen Fläche noch alle Eigenschaften des Nerven- 
knopfes besitze, auch vermöge man bei der Durchsichtigkeit 
des Gegenstandes bei unveränderter Lage des Präparates die 
Durchbrechung der Platte zu erkennen (a. a. O. S. 310, 311). 
Dieser Vorstellungsweise M. Schultze’s vermag ich mich, 
dem vorhin Gesagten zufolge, nicht anzuschliessen, indem ich 
die sehr dünne, vielfach gefaltete Platte als directe flächenhafte 
Ausbreitung der granulirten Faser. zu betrachten geneigt bin, 
wie letzteres schon Bilharz ausgesprochen hat. Die granu- 
lirte Faser tritt mit der dunkelrandigen zusammen und ist, wie 
oben erörtert wurde, muthmaasslich nur eine Fortsetzung des 
Axencylinders der letzteren. 

Die kernartigen Körper, welche wir in der Substanz der 
granulirten Faser kennen gelernt haben, finden sich auch in der 
Platte. Dieselben nehmen in der kraterförmigen Vertiefung 
allmählig an Grösse zu und treten dann, in ganz unregelmäs- 
sigen Abständen, auch in der Platte selbst auf. In den insel- 
förmigen Faltungen an der Mündung der kraterförmigen Ver- 
tiefung erscheinen diese Gebilde sehr zahlreich (s. Taf. XVI, 
Fig. 11k) und können hier zur Annahme von Zellen verleiten, 
obwohl von letzteren in der That Nichts zu existiren scheint, 
da man es keineswegs mit geschlossenen, kernhaltigen Bläs- 
chen, sondern nur mit rundlich begrenzten , mit kernartigen 
Körpern versehenen Unebenheiten der Platte zu thun hat 
(vergl. Bilharz S. 35). Die Mehrzahl der kernartigen Ge- 
bilde ist sphärisch und besitzen dieselben ein das Licht stärker 
brechendes Kernkörperchen; selten finden sich zwei bis drei 
der letzteren. Man bemerkt aber auch hier und da längliche, 
ja hin und wieder sogar an beiden Enden spindelförmig zuge- 
 spitzte Körperchen. An manchen der letzteren sieht man feine 
strahlige Linien von ziemlich scharfer Begrenzung, welche sich 
auch wohl theilen und den betreffenden Körperchen das Aus- 
sehen kleiner Sternzellen verleihen. Diese strahligen Ausläufer 
sind keine zufällig in einer Linie an einander gereihte Granula 
der Plattensubstanz, auch macht es nicht den Eindruck, als 
seien es optische Truggebilde, welche dadurch erzeugt werden, 
dass ein und das andere Körperchen zufällig am Rande einer 
Falte der Platte liegt, in welchem Falle dann die Contouren 
des Faltenrandes das Bild von Ausläufern des Körperchens 
gewähren. Diese scheinbaren Sternzellen liegen vielmehr häufig 
ganz isolirt an Stellen, an welchen von Falten gar keine Rede 
ist. Eher könnte man glauben, dass die zarte, anscheinend 
festweiche Plattensubstanz in der nächsten Umgebung der kern- 
artigen Gebilde, in Folge von Druck, strahlige Risse oder 
Sprünge erhalten habe, welche letztere dann den vermeintlichen 
Ausläufern entsprechen würden (s. Taf. XVI, Fig. 10 u. 11K’). 


668 .. 0 BR. Hartmann; 


Indessen wage ich in dieser Hinsicht kein endgültiges Urtheil 
zu fällen, wie ich andererseits diese strahligen Körper auch 
nicht ohne Weiteres als wirkliche Sternzellen ansprechen mag, 
Weder Bilharz noch Schultze erwähnen solcher Gebilde., 

Uebrigens gruppiren sich die Körperchen sowohl der gra- 
nulirten Faser als auch der Platte hauptsächlich dicht in der 
nächsten Umgebung der kernartigen Körper. Sie treten bei 
erhärteten Präparaten schärfer hervor, als bei frischen. An 
letzteren kann man dieselben durch Zusatz von Essigsäure und 
Jodtincetur deutlicher machen. Auch Behandlung mit. Carmin- 
dinte gewährt mancherlei Aufschlüsse. 

Die Platten der mittleren Fächer des Organes besitzen . 
einen nicht ganz regelmässig kreisförmig begrenzten Rand, wel- 
cher aber keineswegs, wie Bilharz a. a. O. S. 34 beschreibt, 
in seiner Substanz verdickt, sondern im Gegentheil mit der 
übrigen Platte von gleicher Stärke zu sein scheint. Indem sich 
die Platte an das ein wenig concave Septum eines. der linsen- 
förmigen Fächer anlegt, biegt sich der Rand etwas nach vorn 
um und wird nun beim Aufsetzen des. Deckplättchens leicht 
gänzlich umgeknickt. : Dann entgeht. der zarte Randcontour 
dem Blicke, und es gewinnt nunmehr den Anschein „als 
habe man es mit einer Verdickung der marginalen Plattensub- 
stanz zu thun. Häufig findet man Stellen, an welchen der 
umgebogene Rand allmählig seine normale Lage wieder ein- 
nimmt. Auch kann man den Umschlag bei seitlichen Ein- 
schnitten in die Platte durch Druck mit dem Deckplättchen 
und durch geeignete Manipulation mit der Präparirnadel. aus- 
gleichen, sowie es mir einmal gelungen ist, den umgeknickten 
Rand eine ‚Strecke weit von der Platte loszupräpariren, wo 
dann an der Stelle des erhaltenen Zusammenhanges des abge- 
trennten Stückes mit dem umgeschlagenen 'Fheil des Randes 
das ganze Verhältniss leicht zu übersehen war. 

Bilharz schreibt der elektrischen Platte ein feines, struc- 
turloses Häutchen zu, welches bei eintretender Zersetzung einen 
Sack bilde, und „unzählige feine Falten werfe, während die 
winzigen Körperchen des Inhaltes in lebhafter Molecularbewe- 
gung, begriffen seien“ (S. 34). Schultze bezweifelt die An- 
wesenheit einer solchen Membran, deren Darstellung als be- 
sondere Haut ihm an Chromsäurepräparaten nicht gelingen 
wollte, giebt jedoch die Existenz einer härteren Rindenschicht 
und einer weicheren Inhaltsmasse zu (a. a. ©. 8. 309)... Auch 
ich habe bei frischen ,„ bereits in Zersetzung übergehenden 
Präparaten die Faltung der Plattenoberfäche an; Vorder- und 
Hinterseite, sowie die Molecularbewegung gesehen (vergleiche 
S..660 das über Torpedo Gesagte) und glaube daher an das 
Vorhandensein einer homogenen Hülle oder doch: wenigstens 
einer etwas festeren Grenzschicht.. Dass sich letztere an Durch- 
schnitten nicht mit besonderer Schärfe, nicht durch doppelte 
Contouren begrenzt, zeige, erklärt sich wohl aus der. sehr zar- 


Bemerkungen über die elektrischen Organe der Fische. 669 


ten Beschaffenheit derselben, für welche an Querschnitten — 
wie auch Bilharz bemerkt — eben nur eine feine Linie als 
optischer Ausdruck gelten kann. 


Erklärung der Abbildungen: 


Fig. 1. Schwanzende von Mormyrus dorsalis Geoffr. Nat. Grösse. 
aa psendo-elektrische Organe, bb die sich zum Schwanzende begeben- 
den Sehnen der Seitenmuskeln, ec Ligamente, welche von letzteren 
über die pseudo-elektrischen Organe hinweg zu den Dornfortsätzen 
der Schwanzwirbel ‘gehen. 

Fig. 2. Querdurchschnitt des Schwanzendes von Mormyrus macro- 
lepidotus Pet. Vergr. 3. aa Querdurchschnitte der Seitenmuskeln, 
bb desgl. der Flossenmuskeln, cc pseudo-elektrische Organe. 

Fig. 3. Ein soleher Querschnitt, einen Zoll weiter nach hinten 
seführt. Vergr. 3. aa Querdurchschnitt der Sehnen der Seitenmuskeln. 
Sonst wie bei voriger Figur. 

Fig. 4. Flächenansicht eines Fragmentes vom pseudo-elektrischen 
Organ des Mormyrus oxyrhynchus Geoffr., bei etwa 320 mal. Vergr. 
(Dieser Figur ist ein frisches Präparat zu Grunde gelegt worden.) 
a Bündel dunkelrandiger Primitivfasern, a‘ eine einzelne derselben, 
von den übrigen abgetrennt, um ihre dichotomische Verzweigung dar- 
zustellen, b Zapfen der granulirten Faser, cce granulirte Fasern, ce‘ 
eine einzelne der letzteren aus ihrem Zusammenhange mit der elektri- 
schen Platte gelöst und umgeknickt, dd Scheide der granulirten Fasern 
mit sogenannten umspinnenden Fasern und Kernen, ee Insertio- 
nen der granulirten Fasern (an einigen dieser Fasern bemerkt man 
deutlich die doppelten Contourer an ihrer Verbindung mit der Platte), 
if kernartige Körper in den granulirten Fasern und in der Platte, 
gg die Substanz der letzteren, gr, gır, gm, Schichten derselben. 

Fig. 5, 6 und 7. Vergr. etwa 100. a dunkelrandige Primitiv- 
fasern, b Zapfen und ccc Verästelungen der mit ihnen in Zusammen- 
hang stehenden granulirten Fasern. 

Fig. 8. Flächenansicht eines Fragmentes des elektrischen Organs 
von Torpedo marmorata (Chromsäurepräparat). Vergröss. etwa 300. 
a Capillargefäss mit b verschrumpften farbigen und e farblosen Blut- 
körperchen; d zwei Nervenprimitivfasern, laufen neben einander her, 
biegen sich dann auseinander, und theilen sich in die feinen Aestchen 
d’d’d' (dieselben erscheinen in Folge der Behandlung mit Chromsäure 
etwas gestreckter als im frischen Zustande) ; e Kerne der Primitiv- 
scheiden der Nerven; f einzelne losgelöste Kerne mit daran haftenden 
Nervenfasern, liegen frei an der Oberfläche des Präparates; g Platten- 
substanz; h kernartige Körper mit ihren lichten Höfen; hı Höhle, aus 
welcher der kernartige Körper herausgefallen. 

Fig. 8a. Flächenansicht eines kleinen Stückchens der elektrischen 
Platte des Zitterrochen im frischen. Zustande. Vergr. etwa 750. 
a Platte mit ihren Körnchen, b Nervenendast, c kernartiger Körper 

Fig. 9 ist nach einem mit dem Rasirmesser angefertigten Quer- 
schnitte eines Prisma von Torpedo marmorata gezeichnet (Chromsäure- 
präparat). Bei’ der Dünnheit der elektrischen Platte ist der Querschnitt 
derselben an den meisten Stellen nur ein scheinbarer und gewährt 


670 | ‚B. Naunyn: 


daher nicht überall eine richtige Vorstellung von. dem Dickendurch- 
messer der Platte, welcher in der Figur hier und da zu stark er- 
scheint. Vergr. etwa 350. d Nervenfasern eines an der Peripherie 
des Prisma verlaufenden Stranges ; dı einzelne feine Aestchen der 
Primitivfasern, von der Platte losgetrennt; dır Nervenscheide; e Kerne 
der Nerven; g wirkliche und scheinbare Querschnitte der einzelnen 
Platten; h kernartige Körper mit ihrem lichten Hofe; k Alveolen 
zwischen den Platten, im frischen Zustande mit einer gallertigen 
Masse erfüllt. 

Fig. 10. Scheinbarer Querschnitt eines Stückes der elektrischen 
Platte von Malapterurus electricus. Vergr. etwa 350. (Dieser Figur 
ist ein frisches, mit verdünntem Glycerin behandeltes Präparat. zu 
Grunde gelegt worden.) a elektrischer Nerv ; b kernartige Körper 
desselben ; c Nervenscheide; d sogenannte umspinnende Fasern und 
dı Kerne der Scheide; e markhaltige Primitivfasern; eı granulirte 
Faser ; gg kraterförmige Vertiefung an der Vorderfläche der Platte, 
der Insertionsstelle der granulirten Faser gegenüber, ragt in die keu- 
lenförmige Anschwellung der letzteren hinein; h die gefaltete Platte; 
k kernartige Körperehen derselben ; k‘ dergleichen mit scheinbaren 
sternförmigen Ausläufern. 

Fig. 11. Flächenansicht eines Fragmentes der elektrischen Platte 
von Malapterurus electricus von der Vorderseite (Chromsäurepräparat) 
Vergr. etwa 350. Bezeichnung wie in Fig. 10. 


Die Hornborsten am Schwanze des Elephanten. 


Von 
B. Naunyn. 


Nachfolgende Untersuchung betrifft ein eigenthümliches 
Haargebilde, welches sich bei Elephas sowohl asiaticus als 
africanus findet.') 

Es treten diese Haare an dem seitlich zusammengedrückten 
Schwanze des Thieres auf dem oberen und unteren Rande aus 
Einsenkungen der Haut zu je 4+—5 heraus. Sie sind meist 
gegen das freie Ende des Schwanzes hin, die oberen nach 
unten, die unteren nach oben gebogen, und greifen mit den 
Spitzen übereinander. Ihre Länge beträgt ungefähr 1—2 Fuss, 
die Dicke /,—6'/,'". An ihrem Wurzelende zeigen sie eine 
leichte, kuppenförmige Vertiefung. Nach der Spitze zu werden 
sie etwas dünner, jedoch nur wenig im Verhältniss zu ihrer 
Länge. Ihre Oberfläche ist schwarzbraun, glatt und glänzend. 


1) Veranlassung wie Material zu dieser Arbeit wurde mir durch 
die Güte meines verehrten Lehrers, des Herrn Prof. Reichert. 


Die Hornborsten am Schwanze des Elephanten. 671 


Der Querschnitt hat die Form eines Kreises oder einer Ellipse, 
oder eines Kreis- oder Ellipsensegmentes. Von den Autoren 
Heusinger'), Eble?), Gurlt°), Erdl?), Reissner°), welche 
am vollständigsten über die Haare der Säugethiere handeln, 
thun nur die beiden Ersteren dieser Gebilde Erwähnung. Heu- 
singer, der sie am Ausführlichsten beschreibt (er nennt sie 
mit einem glücklich gewählten Ausdrucke „Hornborste“ oder 
„Hornhaar“), sagt‘): „Die einzelnen sind so dick wie starker 
Eisendraht, glänzend, schwarz, biegsam, elastisch, wie Horn“; 
ferner: „sie sind dicht und vollkommen glatt auf der Schnitt- 
fläche.“ 

Auf dem Querschnitt erscheinen sie dem unbewaffneten Auge 
(und hierfür gilt offenbar Heusinger’s Ausspruch) allerdings 
so, auf dem Längsschnitte dagegen erkennt man dieselben 
grauen, parallelen Streifen, die man am Fischbein, an der Huf- 
wand des Pferdes an Längsschnitten sieht. Dort entstehen 
dieselben, wie die Untersuchungen von Hehn’) und Ressel®) 
zeigen, dadurch, dass jene Gebilde aus vielen kleinen Horn- 
eylindern gebildet sind, welche durch eine dazwischen gelagerte 
Hornmasse verklebt und zu einem gemeinsamen (Granzen ver- 
bunden werden. In der Axe jeder dieser kleinen Hornröhren 
verlaufen Oanäle, welche die Reste der Papillen enthalten, um 
die die Hornröhren sich bilden, und welche auf dem Längs- 
schnitte als jene weisslichen Streifen erscheinen. 

Man könnte also schon nach dieser makroskopischen Aehn- 
lichkeit vermuthen, dass die vorliegende Hornborste vom 
Schwanze des Elephanten; mit jenen Gebilden in eine Classe, 
in die der zusammengesetzten Haargebilde gehört, welche Ver- 
muthung durch die mikroskopische Untersuchung bestätigt wird. 

Bei einer Vergrösserung von etwa 350 sieht man auf Quer- 
schnitten der Hornborste eine durch braunes Pigment stark 
gefärbte Substanz und in derselben Löcher, oder an deren Stelle 
weisse oder gelbliche Flecke von kreisrunder oder ovaler Form. 
Ausser ihnen bemerkt man in der braunen Masse, wie in der 
Rindensubstanz vieler Haare , stark lichtbrechende Punkte. 


1) System der Histologie, 2 Bände. Eisenach 1822. 
2) Die Lehre von den Haaren in der gesammten organischen 
Natur. Wien 1831. 

3) Müller’s Archiv für Anatomie und Physiologie etc. 1836. 

4) Verhandlungen der Münchener Akademie, 1832. 

5) Beiträge zur Kenntniss der Haare des Menschen und der Säuge- 
thiere. Breslau 1854, — und Nonnnlla de hominis mammaliumque 
pilis diss. pro ven. leg. Dorpati Livonor., 1851. 

6) ‚l..e. !Bd.E,0S+41 70; 

7) De textura et formatione barbae balaenae, diss. inaug. -Dor- 
pat. 1849. 

8) Beitrag zur patholog. Anatomie des Epithelialkrebses etc. in: 
Studien ‚des, physiologischen Instituts in Breslau, herausgegeben von 
C. B. Reichert. Leipzig 1858. 


672 Ä B. Naunyn: 


Lässt man Kalilauge auf den Querschnitt einwirken, so erkennt 
man, dass jeder dieser Punkte als Kern einer der dann deut- 
lich hervortretenden Hornzellen angehört. | 

Die Hauptmasse der Hornborste besteht nämlich, wie bei 
allen Horngebilden, aus dicht übereinander geschichteten Lagen 
verhornter Zellen, welche man schon am unversehrten Quer- 
schnitte, noch deutlicher nach der Behandlung mit Kalilauge, 
die auch die Kerne hervortreten lässt, erkennen kann. ° In 
dieser Hornmasse lassen sich Bezirke unterscheiden, die eine 
deutliche concentrische Schichtung um die vorerwähnien gelben 
oder weissen Flecke zeigen. Diese einzelnen Bezirke berühren 
einander meist nicht, oder nur an wenigen Punkten ihrer Pe- 
ripherie, so dass zwischen ihnen noch Bezirke der Hornsub- 
stanz übrig bleiben, welche von dieser Schichtung nichts er- 
kennen lassen. Noch deutlicher tritt dieser Unterschied wieder 
nach der Behandlung mit Kalilauge hervor. Man kann dann 
bei längerem Einwirken der Lauge und Anwendung eines ge- 
ringen Druckes ein deutliches, schichtweises Zerklüften jener 
ersten Bezirke wahrnehmen. ; 

Die erwähnten gelben oder weissen Flecke sind gegen die 
Hornsubstanz scharf abgegränzt. Sie sind gegen Kalilauge 
weit resistenter und lassen keine Zusammensetzung aus Horn- 
zellen nachweisen. Auch lufthaltige Zellen wurden in ihnen 
nie bemerkt, wohl aber Bilder wie von Zellen mit deutlicher 
Membran und deutlichen Kernen. Sie lagen gewöhnlich an 
den betreffenden Stellen zu 4—5 beisammen , getrennt durch 
Fortsätze, welche von der Hornsubstanz zwischen sie einzu- 
dringen schienen. Sie isolirt zur Ansicht zu bekommen, ge- 
lang nicht. 

Auf Längsschnitten erkennt man wieder eine dunkel pig- 
mentirte Hornsubstanz, und in ihr verlaufende Kanäle, entspre- 
chend den erwähnten Flecken des Querschnittes. Oft findet 
man in ihnen keinen Inhalt; oft sind sie erfüllt mit einer gel- 
ben Masse, in der sich keine Structur nachweisen lässt. Leicht 
konnte man bei fehlendem Inhalte Vorsprünge wahrnehmen, 
welche, das Lumen der Kanäle ringförmig verengend, von der 
Hornsubstanz in dieselben hereinragten. 

Will man sich nun aus den beschriebenen morphologischen 
Verhältnissen einen Rückschluss auf das Wachsen dieses Ge- 
bildes erlauben, so ist hierbei festzuhalten, dass die Hornsub- 
stanz jederzeit ein Abdruck der producirenden Matrix sein muss.') 

Während nun bei allen anderen Haaren eine in: der Axe 
verlaufende Papille?) gefunden wird, um welche die Hornzellen 


1) Ueber das Wachsen der Horngebilde cfr. Reiehert: „Structur, 
Textur und Wachsthum der Haare“ in Günsburg: Zeitschrift für 
klinische Mediein, 1855. 

2) Die Angabe Cuviers, dass in der Schweinsborste sich zwei 
Papillen fänden, kann ich nicht bestätigen. 


Die Hornborsten am Schwanze des Elephanten, 673 


schichtweise gelagert sind, so zeigt hier der Mangel einer sol- 
chen Schichtung concentrisch um die Axe der Hornborste, 
dass eine solche gemeinschaftliche Papille für dasselbe nicht 
existirt. Man findet aber im vorliegenden Haare Bezirke, welche 
concentrisch um die oft erwähnten gelben oder weissen Flecke, 
oder vielmehr um die diesen entsprechenden Längskanäle ge- 
schichtet sind ; diese wird man also als Hornröhren ansehen 
müssen, deren jede ein Product einer der in den Kanälen ent- 
haltenen Fortsätzen der Matrix (Papille) ist. Jeder dieser 
Fortsätze der Matrix, d. h. jede Papille, muss auf ihrer Ober- 
fläche Längsrinnen haben, wie man dies in grösserem Maass- 
stabe. bei den Stacheln des Igels sieht; darauf deuten die auf 
dem Querschnitt sichtbaren Fortsätze hin, welche von der Horn- 
substanz aus zwischen die in den gelben Flecken beieinander 
liegenden Zellen eindringen. 

Ferner ist, wie die Grube am Wurzelende der Hornborste 
zeigt, eine Hervorwölbung des Coriums vorhanden, auf welcher 
als auf der gemeinsamen Matrix die Papillen sich erheben. 
Während diese nun unter fortwährendem gleichzeitigem Ab- 
sterben an der Spitze und Nachwachsen von der Wurzel her 
die Hornröhren produciren, findet eine solche Production von 
Hornmassen auch auf den Stellen des Coriumzapfens statt, 
welche zwischen den einzelnen Papillen liegen (Interpapilläre 
Matrix). Die hier produeirten Hornmassen verkleben dann die 
einzelnen Hornröhren zu einem compacten Ganzen und erschei- 
nen auf dem Querschnitt der Hornborste als die nicht concen- 
trisch geschichteten Partieen. — Die Art und Weise der Rege- 
neration muss auch hier ganz analog dem Pferdehuf und dem 
Fisehbein unter fortdauernder Mitbetheiligung der Matrix er- 
folgen, da wir die Kanäle mit den sie erfüllenden Matrixresten 
bis in die äusserste Spitze des Haares verfolgen können. Doch 
wird das Absterben der Papille nicht fortdauernd gleichmässig 
vor sich gehen, sondern dasselbe wird in regelmässigen Ab- 
ständen früher und später auftreten, wodurch dann jene das 
Lumen der Kanäle ringförmig verengenden Vorsprünge ent- 
stehen, indem an diesen Stellen die Production der Hornzellen 
erst später durch das Absterben der Papille sistirt wird. 

_ Die Hornborste am Schwanze des Elephanten erscheint also 
als ein zusammengesetztes Haargebilde. Es besteht das Bil- 
dungspri.duct jedes einzelnen Fortsatzes der Matrix, d.h. jeder 
Papille, mit Ressel') „Hornröhre* genannt, ganz analog dem 
Fischbein und der Hufwand des Pferdes, aus vielen Hornröh- 
ren, welche durch eine auf der interpapillären Matrix gewu- 
cherten Hornmasse zu einem Hornhaare vereinigt werden. 

Eine etwa das ganze Gebilde überkleidende Epithelialschicht 
(Oberhäutchen) zu finden, gelang nie. 


1) 1.c. p. 141. 


674 B. Naunyn: Die Hornborsten am Schwanze des Elephanten. 


An den mir zur Untersuchung überlassenen Hornborsten 
fand ich eigenthümliche Erscheinungen , welche ich für das 
Product einer Pilzansiedelung halten möchte: Die Hornborsten 
hatten an einzelnen Stellen ihren schönen dunklen Glanz verloren 
und zeigten sich wie mit einer Schicht von Rost bedeckt. 
Diese Schicht ist sehr bröcklich, was besonders bei Versuchen, 
feine Querschnitte anzufertigen, hervortritt. Bei der mikrosko- 
pischen Untersuchung sieht man von der Oberfläche Aushöh- 
lungen in die Hornsubstanz hineingehen, welche in ihrer Form 
alle Uebergänge von den feinsten Tubulis bis zu ziemlich um- 
fangreichen Aeinis darstellen. Sie sind an ihrer Ausmündungs- 
stelle mit schwarzem Pigment ganz dunkel gefärbt und enthal- 
ten eine gelbe Masse, die wie grob gekörnt erscheint. Die 
Wandungen dieser acinösen Aushöhlungen zeigen sich nach 
Herausnahme des Inhaltes sinuös zernagt. Sehr feine Kanäle 
gehen von ihnen aus, die theils blind endigen, theils die ein- 
zelnen Höhlungen unter einander verbinden, theils zu den 
oben beschriebenen, der Längenachse der Hornborste parallel 
laufenden Kanälen führen. In ihnen ist ein Inhalt wahrzuneh- 
men, welcher in gleichen Abschnitten unbedeutende Einschnü- 
rungen erkennen lässt, und wie aus kleinen, hintereinander 
gelagerten Kügelchen gebildet scheint. 

Die grossen Längskanäle in den betreffenden Theilen des 
Haares sind in ziemlich gleichmässigen Abständen ampullen- 
förmig erweitert, so dass sie ein rosenkranzartiges oder vari- 
cöses Ansehen haben. Diese Erweiterungen sind oft ganz er- 
füllt mit einer Masse, welche wieder gelb und grobgekörnt 
erscheint. Häufig jedoch findet man die Erweiterungen leer, 
dann findet man nur von den Wänden aus Fäden in dieselben 
hinein ragen, welche eine deutliche Zusammensetzung aus 
kleinen Kügelchen zeigen. 


Ä Schmidt: Ueber d. Faserstoff u. d. Ursachen seiner Gerionung. 675 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner 
Gerinnung. 


Von 
Dr. ALEX. ScHMIDT zu Dorpat. 


(Fortsetzung und Schluss.) 


8. Die atmosphärische Luft. 


Bei alledem ist die alte Erfahrung, dass der Oontaet mit 
der atmosphärischen Luft die Gerinnung beschleunigt, gewiss 
richtig; in der Theorie muss ich dieses sogar allgemein für 
jedes Blut gelten lassen, obgleich praktisch die Beschleunigung 
bei normalem kräftigem Blut auf ein kaum bemerkbares Maass 
zusammenschrumpft ; aber die Hauptsache ist, dass man es 
eben nur mit einer Beschleunigung zu thun hat, und dass 
man überall, wo sie in hohem Grade hervortritt, den Grund 
dazu in einer besonderen Beschaffenheit des Blutes suchen 
muss und nicht in einer coagulirenden Einwirkung der Luft. 
Man wird namentlich auf die fibrinoplastische Energie solchen 
Blutes im Verhältniss zu seinem Kohlensäuregehalt seine Auf- 
merksamkeit richten müssen; die Kohlensäurevermehrung allein 
kann kein genügendes Motiv abgeben, da ihre stärkste An- 
häufung die Wirksamkeit des normalen kräftigen Blutes auch 
bei Luftabschluss nur wenig herabzusetzen vermag; aber es 
kann vorkommen, dass sich pathalogisch ein grosses Missver- 
hältniss zwischen beiden Factoren im Blute entwickelt hat. 
In solchen Fällen der fibrinoplastischen Erschöpfung bei gleich- 
zeitiger Kohlensäureanhäufung muss der Contact mit der atmo- 
sphärischen Luft, die Möglichkeit des Gasaustausches und die 
dadurch herbeigeführte Befreiung des Blutes von dem Ueber- 


maass an Kohlensäure die Gerinnung mehr oder weniger deut- 
Reichert's u, du Bois-Reymond’s Archiv. 1861, 44 


E76 A. Schmidt: 


lich beschleunigen. So ist es bekannt und ich habe es auch 
so gefunden, dass das von erstickten Thieren genommene Blut 
auch an der Luft sehr langsam gerinnt; es gerinnt aber, wie 
ich gesehen, mit normaler Schnelligkeit, wenn man es mit 
normalem Blute versetzt. Ich habe nun zwar keine directen 
Versuche darüber angestellt, ob das Blut erstickter Thiere bei 
Luftabschluss noch langsamer gerinnt, als bei Luftzutritt, ob- 
gleich ich es für sicher halte, aber ich kann mich hier auf die 
Erfahrungen berufen, welche Brücke an dem Blute von 
Schildkröten, Kröten und Fröschen gemacht hat, das er längere 
Zeit in unterbundenen, lebenden Herzen über Quecksilber oder 
Oel aufbewahrt hatte.) In Bezug auf den Mangel an respi- 
ratorischer Erneuerung entsprachen die Verhältnisse hier denen 
bei der Erstickung; das Blut wurde gleichfalls in hohem Grade 
venös, so dass das Roth ganz verschwand. Bei solchem Blute 
hat Brücke die langsamste Gerinnung beobachtet, und hier, 
namentlich bei Froschblut, hat er auch bisweilen gefunden, 
dass das aus dem zerquetschten Herzen unmittelbar über 
Quecksilber aufgefangene Blut sehr lange, selbst bis 24 Stun- 
den ganz oder theilweise flüssig blieb und dann erst bei Luft- 
zutritt gerann. Ich halte nun zwar Brücke’s Schluss, dass 
das Froschblut in diesen Fällen der atmosphärischen Luft 
bedurft?) hätte, um zu gerinnen, nicht für ganz sicher, inso- 
fern er die Beobachtung des über Quecksilber abgesperrten 
Froschblutes, wenn ich ihn richtig verstanden, höchstens auf 
25 Stunden ausgedehnt hat, ich aber zu oft Gelegenheit gehabt 
habe, zu sehen, wie die Gerinnungen bei mangelhafter fibrino- 
plastischer Einwirkung nicht blos erst nach 24 Stunden, son- 
dern häufig erst nach mehreren Tagen, selbst nach 8—12 Tagen 
eintraten (in einzelnen dieser Fälle hat Brücke ja auch über 
dem Quecksilber beginnende, in anderen bereits vollendete 
Gerinnung gefunden), aber ich sehe in solchen Fällen den si- 
cheren Beweis wenigstens dafür, dass der Contact mit der 
atmosphärischen Luft unter Umständen die Gerinnung des 


1) „Ueber die Ursachen der Gerinnung des Blutes“, on für 
pathol. Anatomie und Physiologie, 1857, S. 89. 
2) A. a. 0. S. 9. 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 677 


Blutes in hohem Grade befördert und zwar durch die ein- 
tretende Gasdiffusion. Immer ist es meiner Ueberzeugung nach 
nicht blos der Kohlensäurereichthum solchen Blutes, was den 
Erfolg der letzteren bedingt, sondern auch die gleichzeitig vor- 
handene fibrinoplastische Erschöpfung desselben. 

Am meisten für eine coagulirende Einwirkung der Luft 
spricht die namentlich von Virchow hervorgehobene That- 
sache, dass Chylus und Lymphe niemals innerhalb der Leiche 
gerinnen. Hierüber habe ich nur wenig Versuche aufzuweisen. 
Da es mir bei möglichst vollkommenem Luftabschluss nicht 
gelungen ist, die Gerinnung des Chylus zu verhindern, sondern 
sie nur verzögert wurde, so schliesse ich, dass für diese Flüs- 
sigkeiten dieselben Gesichtspunkte gelten müssen, wie für das 
geschwächte Blut, dass es sich, nach der Entfernung dieser 
Flüssigkeiten aus dem Körper, beim Contact mit der atmo- 
sphärischen Luft um eine bedeutende Beförderung der Gerin- 
nung handelt, aber eben nur um eine Beförderung; Chylus _ 
und Lymphe verhalten sich ja auch in fibrinoplastischer Be- 
ziehung dem geschwächten Blute ganz analog, Von grösserer 
Bedeutung als die Berührung mit der Luft scheint für die Ge- 
rinnung dieser Flüssigkeiten die Entfernung aus dem Körper 
zu sein!). Ich muss hier auf den Umstand Gewicht legen, dass 


1) Ich unterband bei einem Pferde, nachdem ich ihm mehrere 
Unzen Chylus abgenommen hatte, den Ductus thoracicus an der 
Schnittstelle, füllte ihn durch Pressen des Unterleibes von Neuem mit 
Chylus, vertheilte durch Drücken mit den Fingern die eingedrungene 
Luft möglichst in der ganzen Länge des Gefässes und unterband das- 
selbe in seiner Mitte. Hierauf spritzte ich defibrinirtes Blut von dem- 
selben Thiere in den vorderen Abschnitt. Nach 1 Stunde öffnete ich 
beide Abschnitte, ‘aus dem vorderen drangen dicke, geronnene Chylus- 
klumpen hervor, im hinteren war noch Alles flüssig. Hier war also 
Luft- mit Chylus in Berührung gekommen, ohne dass er bis dahin 
gerann. Andererseits beweist dieser Versuch, dass, wenigstens bei 
warmblütigen Thieren, die von den Wandungen der Chylusgefässe aus- 
gehenden Widerstände wohl den im Chylus herrschenden Gerinnungs- 
impuls zu paralysiren vermögeu, nicht aber den viel stärkeren des 
Blutes. Bei Schildkröten hat Brücke gefunden, dass das Blut in der 
grossen Lympheysterne nach 7 Stunden noch nicht geronnen war. 
Rear OS. 177: 


44* 


678 > 00&, Schmidt: 


Etwas Analoges ja auch beim Leichenblute vorkommt; es ist 
bekannt, dass man dasselbe nicht blos häufig unvollkommen 
geronnen, ja selbst ganz flüssig findet, dass es dann nachträg- 
lich an der Luft gerinnt; die Erfahrung lehrt auch, dass das 
flüssige Leichenblut nach seiner Entleerung aus dem Körper 
häufig nicht so gut gerinnt, wie das vom Lebenden genommene 
Blut, dass die Gerinnung um so langsamer verläuft, je später 
nach dem Tode das Blut aus dem Körper genommen wird, 
wie das namentlich bei dem fibrinoplastisch geschwächten Blute 
erstickter Thiere sich deutlich zeigt. All’ dieses deutet darauf 
hin, dass man es in der Leiche nicht blos mit Gerinnungs- 
widerständen zu thun hat, sondern dass zugleich das fibrino- 
plastische Princip des Blutes während seines Flüssigbleibens 
mehr oder weniger zerstört wird. Dasselbe kann nun auch 
für Chylus und Lymphe gelten; möglich, dass bei der ohnehin 
sehr geringen fibrinoplastischen Energie dieser Flüssigkeiten 
solche durch die Verhältnisse in der Leiche bedingten Ab- 
schwächungen derselben, verbunden mit den Gerinnungswider- 
ständen, wozu vor Allem wiederum die Kohlensäure zu zählen 
wäre, hinreichen, um ihre Gerinnung innerhalb des todten 
Körpers ganz zu hindern. Es wird häufig hervorgehoben, dass 
das Blut asphyktisch Gestorbener in der Leiche gar nicht ge- 
rinnt; was hier bei abnormem Blute vorkommt, kann ja für 
Chylus und Lymphe die Regel sein. 


9. Gerinnungsursachen. 


Wovon hängt nun die fibrinoplastische Energie der spontan 
gerinnenden Flüssigkeiten ab? Man muss sich doch die Kraft 
an einen Stoff, an eine eigenthümliche in ihnen enthaltene 
Substanz gebunden denken. Ihre gasförmige Natur wurde aus 
bereits angeführten Gründen unwahrscheinlich, es ist auch nicht 
denkbar, dass man es hier mit einem festen Körper zu thun 
hat; es handelte sich jedoch darum, die Flüssigkeit der Sub- 
stanz nicht blos durch Ausschliessung, sondern durch einen 
positiven Versuch zu constatiren ; ich führe diesen Versuch 
hier an, weil er zugleich beweist, dass auch das absolut zellen- 
freie Blutserum Gerinnung zu bewirken vermag. Ich stellte 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 679 


mir zu dem Zwecke künstliche Serumtranssudate dar; da die 
Nabelgefässe keine Ramificationen besitzen, so eignen sie sich 
am besten zu diesen Versuchen ; es kostet einige Mühe, sie 
unverletzt herauszupräpariren, aber es genügt auch ein Stück 
von 4--6 Zoll Länge. Ein solches 

Stück Nabelgefäss wurde über das 

Ende a der Glasröhre Fig. 53 ge- 1 
bunden, das untere Endg des Ge- 
fässes durch eine Schlinge fest zu- 
gezogen, dann Gefäss und Röhre 
bis etwa d mit Blutserum gefüllt 
und nun mittels eines Trichters mit 
langausgezogener Spitze (Quecksilber 
vorsichtig nachgefüllt; durch häufige 
Wiederholung des Nachfüllens sorgte 
ich für einendurehschnittlichenDruck 
von 8—12 Cem. Quecksilber. Das 
Nabelgefäss hing in ein Reagensglas 
hinein, welches die transsudirende 
Flüssigkeit aufnahm. War dasQueck- 
silber bis zum höchsten Punkte des Schenkels c gestiegen, so 
konnte es ausgegossen und die ganze Operation, wenn nöthig, 
wiederholt werden. Wegen der Ausdehnbarkeit des Gefässes 
muss man dafür sorgen, dass der Schenkel c der Röhre im 
Verhältniss zur Capacität des Gefässes gross genug ist, um 
so viel Flüssigkeit fassen zu können, als zur Erzeugung eines 
ausreichenden Seitendruckes nöthig ist. Das Transsudat war 
stets um 1—1!/, °/, ärmer an Eiweiss als die Mutterflüssigkeit. 
Es hatte seine fibrinoplastischeWirksamkeit beimDurchtritt durch 
dieGefässwandung nicht verloren, aber sie war meist sehr schwach 
geworden; bei Zimmertemperatur stellten sich die durch diese 
Transsudate bewirkten Gerinnungen gewöhnlich erst nach 3—24 
Stunden ein; dieses war jedoch nicht immer der Fall, zuweilen 
fand sich nur eine geringe zuweilen gar keine Differenz zwi- 
schen der Wirkung von Transsudat und ursprünglichem Serum. 
Der concentrirte Rückstand im Nabelgefäss besass immer ein 


Fig. 3. 


680. A. Schmidt: 


sehr geringes Vermögen, Gerinnungen zu erzeugen. Ich weiss 
keine genügende Erklärung für diese Thatsachen, nur darauf 
will ich aufmerksam machen, dass die schwache fibrinoplastische 
Wirksamkeit des künstlichen Serumtranssudates sich, ohne dass 
man gezwungen ist, zu anderen Hypothesen seine Zuflucht zu 
nehmen, aus dem innigen Contact mit der atmosphärischen 
Luft, welchem die Flüssigkeit beim Durchtritt durch die Ge- 
fässwandung unterworfen ist, erklären lässt. Der Transsuda- 
tionsprocess dauerte doch immer einige Stunden; liess ich Blut- 
serum ebenso lange und in derselben Temperatur in sehr dün- 
nen Schichten an der Luft liegen, so wirkte es gleichfalls sehr 
schwach. Die Hauptsache ist, dass die fibrinoplastische Sub- 
stanz transsudabel, also flüssig ist, und unabhängig von den 
Blutkörperchen vorkommen und wirken kann.!) 


1) Des Zusammenhanges wegen will ich hier eine andere That- 
sache erwähnen, auf deren Bedeutung: ich später zurückkommen werde. 
Ich spülte eine Nabelarterie äusserlich und innerlich so lange mit 
Wasser aus, bis dasselbe ganz klar und farblos ablief. Um nun auch 
das dem Gefäss ursprünglich angehörige und seine Wandungen trän- 
kende Blutserum auszuwaschen, liess ich dasselbe einige Stunden in 
destillirtem Wasser liegen unter zeitweiliger Erneuerung desselben, 
Darauf presste ich in derselbeu Weise, wie oben das Blutserum, de- 
stillirtes Wasser durch die Gefässwandung ; einige Tropfen von diesem 
Wassertranssudat zu 1 Ccm. Herzbeutelflüssigkeit gesetzt machten 
dieselbe in 1 Stunde gerinnen. Nach der vorangegangenen Behand- 
lung des Gefässes konnten seine Wandungen höchstens noch ver- 
schwindende Spuren von Serum enthalten haben, die Menge des 
Wassertranssudates betrug aber ungefähr das Doppelte des ganzen 
Gefässinhaltes; bei dieser kolossalen Verdünnung erschien es nicht gut 
möglich, die Wirkung des Wassertranssudats auf Serumbeimengung 
von Seiten der Gefässwandung zu beziehen; jedenfalls durfte man ver- 
muthen, dass nun der letzte Rest von Serum durch das Wasser mit 
fortgeschwemmt worden sei; das zweite Wassertranssudat verhielt 
sich aber wie das erste; bei siebenmaliger Wiederholung blieb das 
Resultat im Wesentlichen dasselbe, die letzten Transsudate wirkten 
zwar schwächer als die ersten, das siebente bedurfte, um Gerinnung 
hervorzurufen , bei einer Temperatur von 25° eines Zeitraumes von 
3 Stunden, aber eine Erschöpfung der fibrinoplastischen Quelle trat 
nicht ein. Versuche an Nabelvenen, sowie wiederholte Versuche an 
Nabelarterien ergaben immer dieselben Resultate. Diese wässerigen 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 681 


Trotz dieser möglichen Unabhängigkeit glaube ich doch 
in den zelligen Elementen der spontan gerinnenden Flüssig- 
keiten den letzten Grund ihrer Gerinnung sehen zu müssen, 
nicht blos, indem sie die fibrinoplastische Substanz überhaupt 
erzeugt und der Flüssigkeit abgegeben haben, sondern indem 
sie dieses auch speciell während jedes Gerinnungsactes thun; 
ob diese Erzeugung auch in der serösen Flüssigkeit fortgeht 
oder ob dieselbe zu dem Ende fibrinöser Natur sein muss, 
so dass die Wirksamkeit des Serums nur auf einen von der 
vorangegangenen Gerinnung herrührenden Ueberschuss an fibri- 
noplastischer Substanz zu beziehen ist, diese Frage zu ent- 
scheiden ist mir trotz mannichfacher Versuche nicht gelungen. 
In Nachstehendem will ich die Gründe, die mich zu der An- 
nahme einer specifischen Zellenwirkung bewegen, angeben. 

Zuerst erinnere ich daran, dass die Energie des Gerinnungs- 
vorganges in den Transsudaten abhing von der Grösse des 
Blutzusatzes, also von der Menge der einwirkenden fibrino- 
plastischen Substanz. Wegen der Fibrinarmuth der meisten 
Transsudate treten allerdings die Unterschiede meist nur dann 
deutlich hervor, wenn die Quantitäten Blutes, mit welchen man 
operirt, überhaupt klein sind. Wenn nun die Blutzellen gar 
keine Rolle bei der Gerinnung spielten und es nur auf die in 
der Blutflüssigkeit gelöst enthaltene fibrinoplastische Substanz 
ankäme, so müsste ein Tropfen Serum nicht blos nicht schwä- 


Transsudate, selbst die zweiten und dritten aus einem Gefäss, besas- 
sen eine stärkere fibrinoplastische Wirksamkeit, als die künstlichen 
Serumtranssudate. Wie wäre dies bei der enormen Verdünnung denk- 
bar, wenn der Grund davon in dem durch Auswaschen nicht entfern- 
ten Reste des die Gefässwandung durchdringenden Blutserums läge? 
Ich sehe keine andere Möglichkeit, als die Quelle des dem Wasser 
beigemengten fibrinoplastischen Prineips im Gewebe der letzteren selbst 
zu suchen. Ist dieses der Fall, so muss man annehmen, dass destillirtes 
Wasser das Gewebe besser auslaugt, als Blutserum, dessen Wirksam- 
keit in der weitaus grössten Zahl der Fälle sich nach der Transsuda- 
tion nicht nur nicht gesteigert, sondern geschwächt zeigt. Danach 
muss man schliessen, dass die fibrinoplastische Wirksamkeit einer 
Flüssigkeit in keiner Abhängigkeit von ihrem Gehalte an Serum- 
eiweiss steht. 


682 4A. Schmidt: 


cher, sondern stärker wirken, als ein Tropfen Blut, da dort 
diese Substanz offenbar in grösserer Menge vorhanden sein 
müsste, als hier, we ein grosser Raumtheil der Flüssigkeit von 
körperlichen, gegen den Gerinnungsvorgang sich indifferent 
verhaltenden Elementen absorbirt wäre. Es ist aber sehr leicht, 
sich von dem Gegentheil zu überzeugen ; vergleicht man Blut 
und Serum mit einander in Bezug auf ihr fibrinoplastisches 
Verhalten, so ergiebt sich auch in ganz frischem Zustande 
immer wenigstens eine 9 bis 20 Mal stärkere Wirkung des 
ersteren. 

Es kommt für die Schnelligkeit der Gerinnung sehr darauf 
an, ob.die Blutkörperchen überall in der Flüssigkeit vertheilt 
sind, oder ob man die Bedingungen so stellt, dass sie sich 
an einem Punkte, am Boden des Gefässes, ansammeln. 
Um dieses herbeizuführen, bringe ich an ein BReagensglas 
etwa zwei Cem. eines leicht gerinnenden Transsudates und 
nähere einen an einem Glasstabe hängenden Tropfen fri- 
schen Blutes vorsichtig der Oberfläche der Flüssigkeit; in 
dem Augenblicke, wo er dieselbe berührt , sinkt er auch 
bleiartig in ganzer Substanz zu Boden; die Flüssigkeit darf 
natürlich nicht sehr concentrirt sein; am Besten gelang 
mir das Experiment bei solchen Transsudaten, deren Gehalt 
an organischer Substanz nicht über 2—2!/,°/, hinausging. 
Brachte ich in einem anderen Reagensglase dieselben Quanti- 
täten Transsudat und Blut unter einmaligem Schütteln zusam- 
men, so erfolgte die Gerinnung in einigen Minuten, hier da- 
gegen dauerte es oft mehrere Stunden. Dabei lässt es sich sehr 
gut beobachten, wie die Gerinnung zuerst in der nächsten Um- 
gebung der Blutkörperchen eintritt; dieselben bilden anfangs 
eine leicht bewegliche, zusammenhangslose Schicht, die sich 
bei vorsichtigem Neigen des Gefässes parallel der Flüssigkeits- 
oberfläche bewegt, und sich bei jeder unsanften Bewegung 
leicht wieder in der Flüssigkeit vertheilt; bald verkleben jedoch 
die Blutkörperchen unter einander und die Schicht erscheint 
als eine starre, unbewegliche, an der Wandung mehr oder we- 
niger fest anheftende Masse, als eine feste Scheibe, während 
alles Uebrige noch vollkommen flüssig ist. Sieht man nun 
von Zeit zu Zeit zu, so findet man über kurz oder lang, dass 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 683 


die Scheibe von einer Gallertschicht eingehüllt ist, aber die 
Lichtbrechung dieser Gallerte ist keine andere als die der um- 
gebenden Flüssigkeit, man muss daher, um sie zu erkennen, 
das Glas fast ganz zur Horizontale neigen, um so die Flüssig- 
keit von der bereits ausgeschiedenen Masse zu entfernen. Da- 
durch stört man jedoch leicht den ganzen Vorgang ; häufig 
scheiden sich nämlich, bald nachdem der Klumpen am Boden 
entstanden ist, zarte, oft kaum sichtbare Fäden und Flöckchen 
in’der übrigen Flüssigkeit aus und zwar geschieht dieses um 
so leichter, je weniger vollkommen die Senkung des Bluts- 
tropfens gelang. Diese die Flüssigkeit meist von oben nach 
unten durchziehenden, einerseits mit dem Coagulum zusammen- 
hängenden, andererseits an der Gefässwand in der Peripherie 
der Flüssigkeitsoberfläche fest anhaftenden Ausscheidungen 
verlieren theilweise ihre Spannung bei der durch die Neigung 
des Gefässes bedingten Formveränderung der Flüssigkeitssäule, 
sie contrahiren sich oder verfilzen sich unter einander, so dass 
dass leichte Gerinnsel , wenn man das Gefäss wieder aufrecht 
hinstellt, unmittelbar unter der Oberfläche oder in der Mitte 
der Flüssigkeit hängen bleibt, leicht theilweise wieder zerfällt, 
und nun eine schnelle Gerinnung bewirkt. Gelingt es, diesem 
Uebelstande zu entgehen , so lässt sich weiter das allmählige 
Diekerwerden der die Blutkörperchen umhüllenden Gallert- 
schicht beobachten ; dieses geht fort bis zu einer gewissen 
Grenze, dann, gewöhnlich nach einigen Siunden, gerinnt die 
übrige Flüssigkeit, die entweder bis zum letzten Augenblicke 
klar und durchsichtig geblieben ist, oder nachdem bereits einige 
Zeit früher wolkige Trübungen,, fadenförmige und flockige 
Ausscheidungen, oft ganze Netzwerke in ihr aufgetreten waren, 
und zwar gerinnt sie meist ziemlich schnell. Verzichtet man 
auf die den Vorgang im flüssigen Theile doch immer störende 
Beobachtung des Gerinnsels am Boden, lässt man also die 
Flüssigkeit möglichst in Ruhe, so stellt sich, lange nachdem 
die Blutkörperchenschiceht ihre äusserlich schon bei sehr ge- 
ringer Bewegung des Gefässes leicht bemerkbare Starrheit er- 
halten eine gleichmässige Gelatinirung der ganzen Flüssigkeit 
ein, ohne dass das Auge die geringste Veränderung der letz- 


684 A, Schmidt: 


teren wahrzunehmen vermag; man kann glauben, es noch mit 
einem vollkommen flüssigen Körper zu thun zu haben, höch- 
stens erscheint er bei leichter Bewegung in geringem Grade 
schleimig; aber indem man eine oder ein Paar solcher Bewe- 
gungen macht, löst sich von den Wänden ein zartes, an Be- 
weglichkeit der Flüssigkeit kaum nachstehendes Gerinnsel ab, 
dessen Contouren nun erst sichtbar werden. Man hat es nun 
nicht mit einer netz-, sondern mit einer membranartigen Aus- 
scheidung zu thun, dieselbe löst sich von allen Punkten der 
Gefässwandung ab, nur in der Peripherie der Flüssigkeitsober- 
fläche bleibt sie fest an ihr kleben; indem sie sich allseitig 
contrahirt, hebt sie die Blutkörperchenscheibe, in deren Peri- 
pherie sie übergeht, vom Boden ab und das Ganze gewinnt 
so das Ansehen eines von der Oberfläche der Flüssigkeit her- 
abhangenden, in der Mitte zusammengeschnürten Beutelchens 
oder Säckchens mit einem rothen Bodeneinsatz. Ganz derselbe 
Process wiederholt sich nun nach einiger Zeit in der das Säck- 
chen umgebenden Flüssigkeit, es entstehen so mehrere einander 
einkapselnde immer durchsichtiger werdende Säckchen. Schö- 
ner und deutlicher sieht man diese Bildungen entstehen, wenn 
man statt frischen Blutes schon geschwächtes, etwa solches, 
das 24 Stunden bei 12—14° an der Luft gestanden, nimmt. 
Die Senkung der Blutkörperchen gelingt hier viel besser, indem 
auch der nicht sogleich niedersinkende Theil derselben Zeit 
gewinnt, dieses nachträglich zu thun. Aber was dort in eini- 
gen Stunden vor sich geht, dazu bedarf es hier einiger Tage. 
Mag man nun frisches oder älteres Blut zu diesen Versuchen 
gewählt haben, man kann, wenn man sich eine Reihe von sol- 
chen, in allen Beziehungen unter ganz gleichen Gerinnungsbe- 
dingungen gesetzten Beobachtungsobjeeten zubereitet hat, die 
dann in jedem Stadium auch die gleichen Erscheinungen dar- 
bieten, zu jeder beliebigen Zeit den Vorgang abändern und 
die der fibrinoplastischen Wirksamkeit des gewählten Blutes 
entsprechende schnelle Ausscheidung eines compacten Gerinn- 
sels herbeiführen, wenn man durch einmaliges kräftiges Schüt- 
teln der Flüssigkeit die zarten, in ihr bereits vorhandenen 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 685 


Fibrinbildungen zerstört und die Blutkörperchen in der Flüs- 
sigkeit vertheilt.') 

Häufig kommt es vor, dass nicht der ganze Blutstropfen 
zu Boden sinkt, sondern ein Theil desselben an den Wänden 
haften bleibt oder auf der Oberfläche der Flüssigkeit zurück- 
gehalten wird. Die. zurückgebliebenen Blutkörperchen rieseln 
dann in rothen Streifen entweder mitten durch die Flüssigkeit 
oder in den feinen Ritzen der Glaswandung zu Boden; man 
erkennt diese Bewegung deutlich an der sichtbaren Verminde- 
rung und dem endlichen Schwinden der oberen Ansammlung 
von Blutkörperchen, während die untere sich gleichzeitig ver- 
mehrt. Oft gerieth jedoch die Bewegung vor ihrem Ende in 
Stockung; sah ich dann genauer zu, so hatten sich die rothen 
Streifen in rothe Fäden verwandelt, deren unteres Ende sich 
bei geringem Hin- und Herschwenken des Glases leicht vom 
Coagulum am Boden ablöste und die dann in der noch ganz 
unveränderten Flüssigkeit flottirten. 

In diesen Versuchen fand jedoch stets eine Senkung des 
ganzen Blutstropfens, dessen Serum mit eingeschlossen, Statt; 
man. konnte danach das Resultat nicht für sicher halten, man 
konnte annehmen, es käme für die Gerinnung nicht auf die 
Vertheilung der Blutkörperchen, sondern vielmehr auf die des 
Serums in der Flüssigkeit an. Ich musste daher jetzt die Be- 


1) Die ausserordentliche Trägheit, mit welcher die Ausscheidungen 
auf einander folgten, wenn ich die zelligen Elemente in der sie um- 
schliessenden Fibrinmasse beliess, legte mir die Vermuthung nahe, 
es handele sich hier nicht blos um die auf ein Minimum reducirte 
Berührungsfläche zwischen Flüssigkeit und Zellen, es käme vielleicht 
ausserdem dem ausgeschiedenen Faserstoff eine isolirende, die weitere 
fibrinoplastische Einwirkung in gewissem Grade absperrende Wirkung 
zu. Folgender, einige Mal wiederholter Versuch spricht dafür, wenn 
ich ihn auch nicht als Beweis gelten lassen will. Ich zerstörte mit 
einem Glasstabe vorsichtig die oberflächliche Decke einiger der oben 
beschriebenen beutelförmigen Gerinnsel ; gewöhnlich zerrissen dabei 
auch gleichzeitig ihre Zusammenhänge .mit der Gefässwandung, wo 
sie sanft und ohne irgend eine Verletzung davon zu tragen, zu Boden 
sanken; jetzt erschienen die nachfolgenden Fibrinausscheidungen immer 
viel schneller, als in den Flüssigkeiten mit unverletztem primärem 
Gerinnsel. 


686 A. Schmidt: 


dingungen so stellen, dass eine möglichst innige Mischung der 
Flüssigkeitstheilchen vor Senkung der Blutkörperchen stattfin- 
den konnte. Pferdeblut eignet sich wegen der Schwere seiner 
Zellen und seiner langsamen Wirksamkeit am besten zu diesen 
Versuchen, obgleich sie auch mit Rinderblut häufig gelingen. 
Ich liess das Blut 25—30 Stunden an der Luft in Zimmertem- 
peratur abstehen und setzte davon 2—4 Tropfen zu einem Paar 
Cem. einer fibrinösen Flüssigkeit, schüttelte das ‚Gemenge, 
rührte es ein Paar Male mit einem Glasstabe um und liess es 
dann ruhig stehen. Meist nach einer Viertelstunde hatten 
sämmtliche Blutkörperchen sich gesenkt, die weiteren 'Erschei- 
nungen entsprachen dann den oben beschriebenen. Der grös- 
sere Blutzusatz überhaupt, sowie die Vertheilung des Serums 
in der Flüssigkeit bewirkten jedoch, dass der Process ‚meist 
schon in 3—6 Stunden beendet war. Sehr schön liess:'sich die 
am Boden des Gefässes um die Blutkörperchenschicht ‚nach 
und nach stattfindende Gerinnung verfolgen. Da ich bei diesen 
Versuchen meist grössere Blutmengen anwandte, so war das 
Gewicht des am Boden entstehenden Gerinnsels ‘gewöhnlich 
gross genug, um nicht ein gar zu ängstliches Verfahren bei 
seiner Beobachtung nöthig zu machen; bisweilen erreichte das- 
selbe, langsam in der Dicke zunehmend, die halbe Höhe der 
Flüssigkeitssäule, bevor die schnelle Gerinnung des Restes sich 
einstellte.e. Auch hier konnte ich den Process in hohem Grade 
beschleunigen, wenn ich die Flüssigkeit schüttelte, was bei 
wiederholtem Niedersinken der Blutkörperchen nöthigenfalls 
einige Male geschehen musste. 

Nicht selten bei ungünstigen Gerinnungsbedingungen,  na- 
mentlich bei fibrinarmen und doch concentrirten, oder bei schon 
in beginnender Zersetzung begriffenen Flüssigkeiten ist es mir 
bei diesen Versuchen mit gesehwächtem Blute vorgekommen, 
dass die anfangs gleichmässig gefärbte Flüssigkeit plötzlich ein 
dunkel punktirtes, gesprenkeltes Ansehen annahm. Unter dem 
Mikroskop erschienen diese dunklen Punkte als kolossale 
Haufen an einander geklebter Blutzellen, zwischen welchen 
sich gar keine oder nur sehr wenige vereinzelte freie Zellen 
befanden. Zuweilen stellte sich später eine gallertartige Aus- 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 687 


scheidung ein, welche jene dunklen Punkte einschloss, in an- 
deren Fällen war der Vorgang mit jener Häufchenbildung, 
wenn ich nicht frisches Blut zusetzte, geschlossen. Willkürlich 
konnte ich diese Erscheinungen, die ich gewissermaassen als 
mikroskopische Gerinnungen betrachten möchte, nicht herbei- 
führen, ich habe sie nur dem Zufalle zu verdanken. 

Alle diese Versuche sind nicht leicht anzustellen, sie miss- 
lingen häufig, in jedem Falle verlangen sie viel Geduld und 
häufige Wiederholung der Beobachtung, um die rechten Augen- 
blicke nicht zu versäumen , verbunden mit grosser Vorsicht, 
Es wäre zu weitläufig, alle Uebelstände und oft sehr klein- 
lichen störenden Momente, die die Ursache des Misslingens wer- 
den können, hier angeben zu wollen. Wer sich nicht mit ver- 
einzelten Versuchen begnügi, sondern eine grössere Reihe der- 
selben anstellt, dem wird es häufig gelingen, oft auch zufällig, 
das zu sehen, was ich hier beschrieben habe. 

Ich hatte bei zu anderen Zwecken angestellten Versuchen 
erfahren, dass man namentlich bei schwacher fibrinoplastischer 
Einwirkung den Gerinnungsvorgang dadurch sehr verlangsamen 
kann, dass man einen Kupfer- und Zinkstreifen in die Flüssig- 
keit bringt. Die albuminoiden Körperflüssigkeiten erleiden 
hierbei eine oft sehr schnelle Zersetzung, namentlich bedeckt 
sich der Zinkstreifen bald mit ockigen und klebrigen Nieder- 
schlägen; auf die weitere Beschreibung derselben will ich mich 
hier nicht einlassen, da ich noch keine Untersuchungen: dar- 
über angestellt, ob diese Zersetzung der Flüssigkeiten und die 
gleichzeitige Verzögerung ihrer Gerinnung‘ auf elektrische Strö- 
mungen oder auf die chemische Einwirkung etwaiger metalli- 
scher Auflösungen zu beziehen sind ; es genügt hier die That- 
sache, dass man auf diese Weise die Gerinnungswiderstände 
vermehren kann. Ich fing Pferdeblut aus der Vena jugularis 
in einem schmalen, in einer Kältemischung stehenden Oylinder- 
glase auf, in welches ich ein Paar solcher Metallstreifen, deren 
Breite dem Durchmesser des Glases fast gleichkam, gestellt 
hatte; nachdem sich die Blutkörperchen gesenkt hatten, hob 
ich das Gefäss aus der Kältemischung. Jetzt konnte ich beob- 
achten, dass die durch die Metallstreifen bedingten Gerinnungs- 


688 A. Schmidt: 


widerstände zuerst in dem unteren, die Blutkörperchen enthal- 
tenden Abschnitt der Flüssigkeit überwunden wurden. Nach 
einiger Zeit fand ich die untere Hälfte der Metallstreifen, wäh- 
rend das ganze Plasma noch flüssig erschien, mehr oder we- 
niger fest eingeklemmt; fasste ich beide zusammen und drehte 
sie um ihre Längsaxe, so machte der an ihnen anhaftende 
Klumpen die Bewegung mit; nach und nach ging nun auch 
der Gerinnungsvorgang, in der Richtung von unten nach oben 
fortschreitend, auf das Plasma über; neigte ich von Zeit zu 
Zeit das Gefäss, so erschien der bewegliche, flüssige Theil 
des Blutes von Mal zu Male geringer geworden, bis Alles 
feststand. Aber dieses Experiment gelang nicht immer; eine 
Verzögerung der Gerinnung fand zwar jedes Mal Statt, aber 
zuweilen gerann das Blut, nachdem es lange Zeit flüssig ge- 
blieben, so rasch in seiner ganzen Ausdehnung, dass ich mir 
über den Verlauf des Vorganges, auch wenn er der Beobach- 
tung nicht entgangen war, kein sicheres Urtheil bilden konnte. 
Es müssen hier innere Verschiedenheiten des Blutes maassge- 
bend sein; ein Mal, bei einem an sich langsam gerinnenden 
Pferdeblute habe ich sogar ganz ohne Anwendung der Kälte 
die Gerinnung in dieser durch die Metallstreifen bedingten 
Weise eintreten sehen. 

Die Beobachtung, dass Pferdeblutplasma, getrennt vom 
Cruor, langsamer gerinnt als dieses, muss ich vollkommen be- 
stätigen, aber ich fand die Differenz immer nur sehr gering; 
höchstens betrug sie 1—2 Minuten, häufig noch weniger. 
‘Wenn ich jedoch Pferdeblut durch das halbe Volum schwefel- 
saurer Magnesialösung flüssig erhielt, die Senkung der Blut- 
körperchen abwartete und nun gleiche Mengen vom filtrirten 
Plasma und vom ganzen Blute mit dem 2—4fachen Volum 
destillirten Wassers verdünnte, so gerann stets die zellenhaltige 
Flüssigkeit bedeutend schneller, als die zellenfreie. In letzterer 
blieb die Gerinnung bisweilen sogar ganz aus, bisweilen fand 
sie nur spurweise Statt; aber auch dort erfolgte sie meist 
langsam und konnte durch Zusatz frischen Blutes nach der 
Verdünnung bedeutend beschleunigt werden.!) 


1) Denis (Memoire sur le sang, 1859, p. 31) giebt an, dass, wenn 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 689 


Allein ich musste die Möglichkeit einer Täuschung auch 
noch nach einer anderen Rücksicht hin berücksichtigen. Es 
konnte der Gedanke auftauchen, dass der Unterschied in der 
fibrinoplastischen Energie von Blut und Serum nicht aus einer 
activen Betheiligung der Blutzellen am Gerinnungsvorgange 
zu erklären sei, insofern sie vielleicht nur mechanisch als kör- 
perliche Elemente, gewissermaassen als Krystallisationspunkte, 
die ohne ihre specifische Mitwirkung stattfindende Fibrinaus- 
scheidung, beförderten; auch der Blutkörperchenhaufen am 
Boden des Gefässes konnte als ein einziger grosser Krystalli- 
sationspunkt betrachtet werden. In diesem Falle müssten je- 
doch auch andere indifferente, in der Flüssigkeit fein vertheilte 
Körper denselben Effect hervorbringen, wie die Blutkörperchen; 
dieses trifft keineswegs zu. Ich habe es versucht, in Gemengen 
fibrinöser Flüssigkeiten mit zellenfreiem Blutserum die Blut- 
körperchen durch fein pulverisirte, unlösliche Körper zu er- 
setzen, wie Kieselsäure, Schwerspath, Kohle, aber niemals ist 
es mir gelungen, dem Serum dadurch auch nur annähernd die 
Wirksamkeit des Blutes zu geben; es wird vielmehr durch die 
Gegenwart dieser pulverförmigen Körper gar kein bemerkbarer 
Unterschied bedingt. Bei concentrirten und fibrinreichen Flüs- 
sigkeiten, gegen die sich das Serum ja überhaupt als schwacher 
Gerinnungserreger verhält, hat man Gelegenheit, dieses recht 
deutlich zu sehen. Bei einer Hydroceleflüssigkeit, mit welcher 
ich solche Versuche anstellte, stellte sich die Gerinnung in 
sämmtlichen pulverförmige Körper enthaltenden Gemengen, so 
gut wie in dem mit Serum allein versetzten, erst nach 21 
Stunden ein; das zu diesem Serum gehörige Blut wirkte in 
4 Minuten. Liquor pericardii gerann erst nach Blutzusatz in 
3 Minuten, nach Zusatz von Serum sowohl als von Serum + 
Kieselsäure in 25 Minuten. Der ausgeschiedene Faserstoff 


er mit der siebenfach geringeren Menge Salzlösung flüssig erhaltenes 
Menschenblut später mit dem zehnfachen Volum Wasser verdünnte, 
die Gerinnung in 10 Minuten erfolgte. Möglich, dass es hier auf diese 
Mischungsverhältnisse sehr ankommt ; das ändert jedoch an dem Re- 
sultate obiger Beobachtungen Nichts, da hier die Bedingungen überall 
die gleichen waren. 


690 A. Schmidt: 


umschliesst stets alle festen Partikeln; dadurch kann leicht eine 
Täuschung veranlasst werden. Indem nämlich die körperlichen 
Elemente gewissermaassen als-fester Kern eine höhere Consi- 
stenz des Coagulums, indem sie zugleich eine differente Fär- 
bung desselben bedingen und indem sie durch ihre Schwere 
seine Loslösung von der Gefässwandung befördern, ein Um- 
stand, der alle zarten Fibrinausscheidungen erst deutlich sicht- 
bar macht, gewinnt es zuweilen den Anschein, als ob hier be- 
reits eine Grerinnung eingetreten, zu einer Zeit, wo die blos 
mit Serum versetzte Flüssigkeit noch keine Veränderungen 
eingegangen ist; betrachtet man die letztere jedoch genauer, 
so wird man in den meisten Fällen finden, dass sie nur schein- 
bar noch flüssig ist; indess will ich es dahin gestellt sein las- 
sen, ob nicht doch bisweilen eine geringe Beschleunigung des 
Vorganges durch solche pulverförmige Körper bewirkt werden 
kann, aber es handelt sich dann immer nur um Augenblicke, 
und gerade deshalb ist ein sicheres Urtheil darüber nicht leicht 
zu gewinnen. Jedenfalls ist diese Beschleunigung eine ver- 
schwindende gegenüber der durch die Anwesenheit von Blut- 
körperchen in der Flüssigkeit bedingten. 

Ergänzend führe ich noch zwei Beobachtungen an, von 
denen ich die eine an Hundechylus, die andere an Pferdechylus 
gemacht habe. Ich hatte zur Controle bei meinen Versuchen 
'etwas Chylus, das eine Mal in einem Reagensgläschen, das 
andere Mal in einem Becherglase, bei Seite gestellt. Die Ge- 
rinnung trat so spät ein, dass die körperlichen Elemente voll- 
kommene Zeit gewannen, sich zu senken. Als ich nach einiger 
Zeit die Flüssigkeiten in ein anderes Gefäss bringen wollte, 
fand ich ihre untere Hälfte bereits geronnen. Ich liess sie 
nun ruhig stehen, nach einiger Zeit war auch der obere Theil 
fest geworden. 

Wenn es mit der Beobachtung seine Richtigkeit hat, dass 
Chylus und Lymphe erst nach ihrem Durchtritt durch die resp. 
“ Drüsen gerinnbar oder gerinnbarer werden, so müsste ich auch 
hierin eine Bestätigung meiner Ansehauung über die Gerin- 
nungsursachen sehen. 

Endlich erinnere ich an die von mir bereits angeführte 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 691 


Beobachtung, für welche ich freilich nur einen Fall anführen 
kann, dass ich die festeste Chylusgerinnung innerhalb meiner 
Spritze bei einem an Blutkörperchen reichen Chylus gefunden 
habe, bei dessen Entleerung Blutzutritt von aussen sicherlich 
nicht stattgefunden hatte. 

Ich habe hiermit die hauptsächlichsten Gründe angegeben, 
auf welche ich meine Ansicht, dass alle Gerinnungsphänomene 
in letzter Instanz auf die zelligen Elemente, welche in den 
spontan gerinnenden Flüssigkeiten vorkommen, zurückzuführen 
sind, stütze. Die Zahl der Gründe könnte vielleicht unschwer 
noch vermehrt werden, ich glaube jedoch genug angeführt zu 
haben, um meiner Ansicht wenigstens eine grössere Beachtung 
zu verschaffen. 

Wenn es aber einerseits die Zellen sind, von welcher der 
Impuls ausgeht, andererseits aber auch die absolut zellenfreie 
Flüssigkeit Gerinnungen zu erzeugen vermag, so kann sich 
der Gedanke nicht mit der Annahme einer blossen Contact- 
wirkung und dergl. befriedigen, es muss ein materielles Etwas 
beiden Wirkungen zu Grunde liegen, es muss eine fibrinbil- 
dende Substanz geben, die von den Zellen ausgeht und in die 
Flüssigkeit übergeht. 

Ist dieses richtig, so wird in Anbetracht der Blutzellen 
diese ihre Function abhängen müssen von der ungestörten 
Erfüllung sämmtlicher Bedingungen ihres normalen Seins. Da 
man als eine dieser Bedingungen den regen Verkehr mit der 
atmosphärischen Luft, die Sauerstoffaufnahme ansehen muss, 
so lässt sich denken, dass eine Störung in dieser Beziehung, 
wie sie bei entzündlichen, fieberhaften Affectionen, namentlich 
der Brustorgane und bei mit Athemnoth verbundenen Zustän- 
den vorkommt, nicht ohne Folgen für die Fähigkeit der Blut- 
zellen sein wird, die fibrinoplastische Substanz zu entwickeln; 
findet nun gleichzeitig eine Fibrinvermehrung in der Flüssigkeit 
Statt, so muss dies den Effect noch steigern. Die langsame 
Gerinnung des Blutes in solchen Zuständen ist bekannt. Ich 
habe leider nicht Gelegenheit gehabt, solches Blut zu unter- 
suchen, aber in der Hauptsache müssen die Verhältnisse bei 


der Erstickung dieselben sein. Ich tödtete ein Kaninchen, in- 
Reichert’s u. du Bois-Reymond Archiv 1861, 45 


692 A. Schmidt: 


dem ich ihm den Kopf unter Wasser hielt, und nahm gleich 
nach dem Tode Blut aus der Vena jugularis. Dasselbe ge- 
rann erst in 12 Minuten, aber eine andere Portion desselben 
Blutes, mit etwa dem dreifach geringeren Quantum frischen 
Rinderblutes versetzt, gerann innerhalb einer halben Minute, 
also 24 Mal schneller. Wiederum lag die langsame Gerinnung 
nicht an einer wesentlichen Veränderung der fibrinogenen Sub- 
stanz. Aber in solchem Blute findet immer eine bedeutende 
Kohlensäureanhäufung Statt, es ist fast schwarz davon. Um 
nun dieses Gases ledig zu sein, erstickte ich ein Kaninchen 
unter einer Glasglocke, in welcher ich die atmosphärische Luft 
durch Wasserstofigas verdrängte. Unmittelbar nach dem Tode 
nahm ich Blut aus der Vena jugularis, es gerann im Moment 
des Ausfliessens; hier lag der Schluss nahe, dass die langsame 
Gerinnung des Blutes Erstickter nur auf Rechnung des grös- 
seren Kohlensäuregehaltes zu setzen sei; eine so starke Ein- 
wirkung der Kohlensäure konnte ich aber nach allen meinen 
früheren Erfahrungen nicht annehmen. Ich sah jedoch bald, 
dass die langsame Gerinnung beim Blute Erstickter überhaupt 
nicht constant ist; vom nächsten unter Wasser erstickten Ka- 
ninchen erhielt ich gleichfalls momentan gerinnendes Blut. Was 
nun auch diesem verschiedenen Verhalten des Blutes Erstickter 
zu Grunde liegen mag, jedenfalls geht aus dem letzten Falle, 
da auch hier eine Kohlensäureanhäufung bis zur Schwarzfärbung 
des Blutes stattgefunden hatte, hervor, dass die langsame Blut- 
gerinnung bei Erstickten, wo sie vorkommt, nicht von der 
Vermehrung dieses Gases allein abzuleiten sei. | 


10. Gerinnungswiderstände. 


Das Blut, das ich etwa eine halbe Stunde nach dem Tode 
aus den Thieren erhielt, gerann jedes Mal viel langsamer, als 
das früher abgenommene. Dieser allmählig sich einstellende 
Verlust an spontaner Gerinnungsenergie ist wohl überhaupt 
die Regel bei Leichenblut, die jedoch besonders eclatant bei 
Erstickten hervortritt. Ebenso zeigen Brücke’s Untersuchun- 
gen, dass das in lebenden unterbundenen Herzen flüssig erhal- 
tene Blut, nach dem Herauslassen aus denselben um so lang- 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 693 


samer gerinnt, je länger es ihrer Einwirkung ausgesetzt ge- 
wesen ist. Dieses machte es mir wahrscheinlich, dass die 
fibrinoplastische Substanz des Blutes durch die Einwirkung der 
lebenden Gefässwandungen nach und nach zerstört werde; es 
schien mir weiter denkbar, dass die gerinnungshemmenden 
Wirkungen der Gefässwandungen überhaupt in dieser Zerstö- 
rung beruhten ; dann musste aber die Zerstörung in jedem 
Augenblicke eine totale sein, weil sonst der Ueberschuss zur 
Wirkung käme, und es musste andererseits ein, wenn auch 
allmählig abnehmender Wiederersatz stattfinden. Oder umge- 
kehrt: wenn die Blutkörperchen im normalen Körper die 
fibrinoplastische Substanz erzeugen, so muss man sich doch 
vorstellen, dass sie diese Function fortwährend erfüllen; wenn 
dabei keine Anhäufung in’s Unbegrenzte, der eine ebenso 
unbegrenzte Steigerung der Widerstände entsprechen müsste, 
stattfinden soll, so muss man entweder auf Vorrichtun- 
gen schliessen, durch welche der das Maass der normalen 
Widerstände übersteigende Ueberschuss zerstört wird, oder 
man muss annehmen, dass diese Widerstände selbst in einer 
stetigen Zerstörung der fibrinoplastischen Substanz in Statu 
nascenti bestehen. Ich versuchte es daher, diese Substanz 
der Einwirkung eines lebenden Schildkrötenherzens auszu- 
setzen; zum Gelingen des Experimentes mussten aber die 
Quellen des Wiederersatzes abgeschnitten werden, ich musste 
mich also an das Serum halten ; ich benutzte ganz frisches 
Rinderblutserum. Vom Rinderblut konnte ich keine sprechen- 
den Resultate erwarten. Aus einem vergleichenden Versuche 
ersah ich, dass die fibrinoplastische Energie des Schildkröten- 
blutes etwa 12 Mal geringer ist, als die des Rinderblutes; muss 
man nun annehmen, dass Wirkungen und Gegenwirkungen in 
jedem Thiere unter normalen Verhältnissen einander entsprechen, 
so könnte auch der zerstörende Einfluss der Wandung eines 
Schildkrötenherzens die fibrinoplastische Energie des Rinder- 
blutes nur wenig herabsetzen.!) Zudem ist es überhaupt frag- 


1) Ein Schildkrötenherz kann denn auch nicht das Blut warm- 
blütiger Thiere Hüssig erhalten. Brücke fand das Pferdeblut in dem- 
45* 


694 A. Schmidt: 


lich, ob die Zellen auch im serösen Blute die betreffende Sub- 
stanz erzeugen. — Das mir zu Gebote stehende Blutserum 
war leider nicht ganz frei von Blutkörperchen ; ich entleerte 
erst das Herz einer Testudo graeca seines Inhaltes, spülte es 
mit Blutserum möglichst aus, füllte es damit und unterband 
es; das Herz blieb im Körper, dessen Oeffnung mit dem Brust- 
schilde wieder geschlossen wurde. Hierauf füllte ich ein 
Fläschchen mit demselben Blutserum und zwar, weil etwas 
Luft mit in’s Herz gedrungen war, nur zur Hälfte, verschloss 
es und brachte beides in eine Temperatur, die zwischen 10° 
und 13° schwankte. Nach 16 Stunden pulsirte das Herz noch 
schwach; ich liess jetzt das Serum in ein Reagensglas abflies- 
sen; es zeigte sich, dass es auch noch eine kleine Beimengung 
von Schildkrötenblut aus dem Herzen erhalten hatte. Dieses 
Serum hatte seine fibrinoplastische Wirksamkeit fast ganz ver- 
loren. Ich setzte gleiche, tropfenweise abgemessene Mengen 
sowohl von diesem als vom anderen Serum zu je 2 Cem. ver- 
schiedener fibrinöser Flüssigkeiten; dieses geschah um 10 Uhr 
Vormittags. Nach 2 Stunden befanden sich in der ganzen 
einen Reihe von Flüssigkeiten Gerinnsel; die andere Reihe 
war noch am Abend ganz unverändert, erst am anderen Mor- 
gen hatten sie sich auch dort eingestellt. Eine totale Unwirk- 
samkeit war also jedenfalls nicht eingetreten, aber es lässt sich 
immer denken, dass die Beimengung von Blutkörperchen die 
Reinheit des Resultates getrübt hatte. Ich wiederholte dasselbe 
Experiment nun mit Rinderblut ; dasselbe war aus einem 30 
‘Stunden alten, aber kühl gehaltenen Kuchen gepresst, also 
noch sehr kräftig ; es rief in einer Pericardiumflüssigkeit in 
2 Minuten Gerinnung hervor. Ich verfuhr genau wie beim 
ersten Versuch; nach 20 Stunden öffnete ich das Herz. Das 
Blut aus dem Fläschchen wirkte in 7 Minuten, das andere in 
9, der Unterschied war also nicht gross; im Vergleich zu der 
Wirkung am Tage vorher zeigte sich in beiden eine ziemlich 
gleichmässige Schwächung. 


selben stets nach einigen Stunden geronnen; eine geringe Verzögerung 
der Gerinnung kann dabei doch immer stattgefunden haben, 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 695 


Manche Thatsachen würden mit der oben entwickelten An- 
sicht gut in Uebereinstimmung zu bringen sein. So müsste 
das aus dem gesunden Körper genommene Blut schnell gerin- 
nen, weil hier die freiwerdende fibrinoplastische Einwirkung 
stattfände mit der ganzen Energie des normalen Lebens; das 
in Leichen lange flüssig bleibende und gewiss schon durch die 
Zustände vor dem Tode fibrinoplastisch geschwächte Blut 
miisste mehr und mehr an spontaner Gerinnungsenergie ver- 
lieren, weil der Wiederersatz des Zerstörten in steter Abnahme 
begriffen ist, die Gerinnung müsste aber auch in der Leiche 
endlich doch eintreten , weil die specifische ‚Einwirkung der 
Zellen die Lebensthätigkeit der Gefässwandungen überdauert. 
— In dem Gesagten will ich übrigens nur eine Vermuthung 
gesehen wissen, die einer sichereren Stütze bedarf, als ihr durch 
zwei Experimente geboten werden kann. 

In Betreff des Blutes muss ich noch hervorheben, dass ich 
nur mit Pferde-, Rinder- und Schweineblut operirt habe. Blut 
aus der Carotis eines Hundes wirkte verhältnissmässig langsam, 
ebenso verhielt sich gesundes, durch einen Schröpfkopf ent- 
leertes Menschenblut. 


1l, Die Transsudate. 


Die Zahl der von mir in Bezug auf ihre Fibrinosität un- 
tersuchten Transsudate beläuft sich gegenwärtig auf 93. Es 
sind folgende: Hydroceleflüssigkeiten 12, Flüssigkeiten aus 
dem Pericardium 42, aus der Pleura 15, aus dem Peritoneum 
16, aus den Hirnhöhlen 1, aus dem verhärteten Zellgewebe 
eines Neugebornen 1, aus Versicatorblasen 3, aus einer hygro- 
matösen Cyste 1, aus Frostblasen 1, endlich Synovia aus einem 
entzündeten Kniegelenk 1. Nicht mitgezählt habe ich hier 3 
sehr wässerige hydropische Transsudate, sowie 2 Gehirnflüs- 
sigkeiten, von deren Fibrinosität ich zwar überzeugt bin, wo 
die Ausscheidungen aber so spurweise stattfanden oder bereits 
stattgefunden hatten, dass dem Zweifel hier immerhin Raum 
gegeben werden konnte. In allen übrigen Fällen, den oben 
angeführten, war die fibrinöse Beschaffenheit der Flüssigkeiten 


696 | | A. Schmidt: 


eine ganz unzweifelhafte.!) Unter diesen gelang es mir. bei 31 
durch Blutzusatz künstlich Gerinnung zu bewirken; nur in 11 
Fällen (Pericardium 1, Pleura 4, Peritoneum 4, Hydrocele 1, 
Zellgewebsflüssigkeit 1) war dieses nicht der Fall. Hier hat- 
ten: aber bereits im Körper erschöpfende, je nach dem Con- 
centrationsgrade der Transsudate mehr oder weniger massen- 
hafte Fibrinausscheidungen stattgefunden, sowohl in Form von 
faserstoffigen Beschlägen an den Wandungen, als in Form von 
in der Flüssigkeit schwimmenden Gerinnseln, Flocken und 
Flöckchen, oder es war wie bei der Hydrocele- und Zellge- 
websflüssigkeit Blut bei der Entleerung aus dem Körper hin- 
zugetreten und dadurch eine schnelle Gerinnung bewirkt wor- 
den. Auch diese Transsudate wird man also zu den ursprüng- 
lich fibrinösen zählen müssen, Die Mehrzahl dieser Ausnahme- 
fälle betraf keineswegs fibrinarme oder überhaupt eiweissarme 
Flüssigkeiten, es fand sich im Gegentheil bei ihnen meist eine 
erhöhte Concentration, aber sie stammten aus Organen, die vor 
dem Tode der Sitz entzündlicher Affeetionen gewesen waren. 
Andererseits habe ich in hydropischen Ergüssen deren Albu- 
mingehalt auf ungefähr 1°/, gesunken war, Fibrinausscheidun- 
gen, nicht selten ganz ohne Schwierigkeiten, zu Wege bringen 
können. 

Sehr häufig stellten sich in den aus Leichen stammenden 
Flüssigkeiten beim Stehen an der Luft spontane Gerinnungen 
ein, gewöhnlich als Fortsetzung von bereits im Körper begon- 
nenen Ausscheidungen, zuweilen aber auch ohne diese Vorläufer. 
Der Zeitpunkt ihres ersten Erscheinens ausserhalb des Körpers 
war grossen Schwankungen unterworfen. Früher als 1-11, 
Stunden nach der Entleerung habe ich sie nicht auftreten sehen, 
dagegen gab es Fälle, wo die ersten Spuren erst nach Verlauf 
von 8—10 Tagen sichtbar wurden. In allen diesen Fällen 


1) Als Ergänzung zu diesen Thatsachen führe ich an, dass Mar- 
chand, Simon und Virchow aus frischem, noch warmem Muskel- 
fleisch eine. gerinnbare Flüssigkeit erhielten. Natürlich musste dabei 
auch eine Blutbeimischung stattfinden, allein ich glaube nicht voreilig | 
zu urtheilen, wenn ich einen Theil des so erhaltenen Fibrins dem das 
Gewebe tränkenden Plasma zuschreibe. 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 697 


verlief der Ausscheidungsprocess immer sehr langsam; unter- 
brach ich ihn durch Filtriren, so zeigten sich im Filtrat nach 
einiger Zeit neue Ausscheidungen ; dies konnte sich mehrmals 
wiederholen, hörte aber dann endlich auf, ohne dass, ausser 
bei grosser Armuth an organischer Substanz, die Flüssigkeit 
die Fähigkeit verloren hätte, bei Blutzusatz zu gerinnen. Je 
später die spontanen Fibrinausscheidungen auftreten, desto un- 
bedeutender , verschwindender waren sie ihrer Menge nach, 
desto seltener wiederholte sich der Process nach ihrer Entfer- 
nung ; in dünnen Flüssigkeiten, erschienen sie meist früher als 
in concentrirten. 

Alle diese Erscheinungen lassen auf das Stattfinden einer 
sehr schwachen fibrinoplastischen Einwirkung im todten Kör- 
per schliessen; ich habe schon angedeutet, dass ich sie auf das 
durch die abgestorbenen Gefässwandungen dringende Blutserum 
beziehe. Aus den Verhältnissen in der Leiche, namentlich 
aus dem Aufhören des Herzdruckes, lässt sich entnehmen, dass 
diese Serumbeimengung immer nur eine unbedeutende sein 
wird, andererseits muss man schliessen, dass sie mehr oder we- 
niger überall vorkommt; was den letzteren Punkt, die Allge- 
meinheit des Vorkommens anbetrifft, so habe ich allerdings so 
eben nur gesagt, spontane Ausscheidungen kämen in den Lei- 
chenflüssigkeiten sehr häufig vor, allein ich habe dort auch 
nur von ganz unzweifelhaften Gerinnseln gesprochen. Nehme 
ich jedoch die in den Leichenflüssigkeiten vorkommenden fei- 
nen Flöckehen und trübenden Partikelchen als Trümmer aus- 
serordentlich zarter Gerinnsel mit in Rechnung, und ich glaube 
das thun zu dürfen, weil ich ganz dieselben Erscheinungen in 
filtrirten Flüssigkeiten durch Blut- oder Serumzusatz künstlich 
herbeiführen kann, so kann ich sagen, dass die spontanen Aus- 
scheidungen von Fibrin, wenigstens spurweise, in allen Lei- 
chenflüssigkeiten vorkommen. Ganz klare Transsudate habe 
ich aus Cadavern nur erhalten, wenn der Faserstoff in Form 
eines festen, nicht zerfallenden Klumpens im Körper ausge- 
schieden war. Anders sind die Verhältnisse beim Lebenden; 
hier habe ich oft Gelegenheit gehabt, vollkommen klare, un- 
getrübte, fibrinöse Flüssigkeiten zu beobachten, die bis zum 


698 A. Schmidt: 


Eintritt der Fäulniss von jeder Gerinnung, frei bleiben; hier 
habe ich ferner bei Albuminreichthum der Substanzen, also 
namentlich bei Hydroceleflüssigkeiten gesehen, dass selbst Blut, 
vorausgesetzt, dass es nur in sehr geringen Spuren in der 
Flüssigkeit vorhanden ist, nach einigen Stunden ganz dieselben 
Trübungen bewirkt, wie sie in den Leichenflüssigkeiten immer 
vorkommen, I 

Auch Brücke nimmt an, dass in den serösen Höhlen 
fibrinhaltige Flüssigkeiten von einer anderen Zusammensetzung 
als die Blutflüssigkeit vorkommen, die im Körper gelöst blei- 
ben, weil sie nicht mit der Luft in Berührung kommen'); er 
führt als Beispiel an, dass der Liquor pericardii häufig erst an 
der Luft gerinne ; ferner weist er auf die von Virchow ge- 
sammelten Fälle hin, über welche ich mich bereits ausgespro- 
chen habe. Aber dieser Effect der Luft ist nur ein schein- 
barer, niemals habe ich eine schnell nach der Berührung mit 
der Luft eintretende Gerinnung bei diesen Flüssigkeiten ge- 
sehen. Wo der Liquor pericardii oder irgend ein anderes sog. 
seröses Transsudat an der Luft gerinnt, da wäre ganz gewiss 
dasselbe beim längeren Verbleiben der Flüssigkeit im Körper 
auch dort eingetreten; ich habe ja auch häufig genug in der 
Leiche die vollkommensten Gerinnsel gefunden, und gar nicht 
selten war, wenn sich der Gerinnungsprocess nachträglich fort- 
. setzte, die unter dem Contact der atmosphärischen Luft auf- 
tretende Fibrinausscheidung sehr unbedeutend im Vergleich zu 
der, welche bereits im Körper stattgefunden hatte?). - Man 


DIAS OS 17% 

2) Aus dem früher über das Blut Gesagten wird hervorgehen, 
dass ich keineswegs der Möglichkeit einer durch den Contact mit der 
atmosphärischen Luft bewirkten Beschleunigung der Gerinnung dieser 
Flüssigkeiten entgegen bin. Einerseits liegt in meiner Ansicht ja zu- 
gleich die Annahme einer sehr schwachen fibrinoplastischen Einwir- 
kung auf diese Transsudate, andererseits ist das Vorkommen von 
Kohlensäure in denselben sehr wahrscheinlich und auch von Leh- 
mann, Vogel und Merklin angegeben worden. Ich: selbst habe in 
ein Paar Flüssigkeiten Gasbläschen in Perlenreihen wie in einem 
Champagnerglase aufsteigen sehen, und alsbald eine mangelhafte Ge- 
sinnbarkeit derselben beobachtet. 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 699 


hat keine Veranlassung mehr zur Erklärung dieser Erschei- 
nungen qualitativ verschiedene Faserstoffarten anzunehmen, 
oder, wie es auch geschehen ist, nach den Ursachen zu for- 
schen, durch welche Transsudate, die sich nach ihrer Entlee- 
rung als fibrinös erwiesen, im lebenden oder todten Körper 
flüssig erhalten wurden. Der wahre Grund dafür ist, dass es 
überhaupt keinen spontan gerinnenden Faserstoff giebt; die 
bisherige Definition fibrinöser Flüssigkeiten muss durchaus 
verlassen werden. Es handelt sich nur darum, zu wissen, was 
vorkommenden Falles zu den Transsudaten hinzugetreten ist, 
um sie gerinnen zu machen. Dieses äusserlich Hinzukommende 
ist meiner Ueberzeugung nach für die Leichenflüssigkeiten das 
durch die Gefässwandungen sickernde Blutserum, für die von 
Virchow als lymphatische Hydropen bezeichneten Ergüsse 
der durch die Operation selbst oder durch die Zustände im 
Körper bedingte Blutzutritt. 

In Bezug auf den letzten Punkt erinnere ich an den früher 
angeführten Versuch, aus welchem hervorging, dass das Ge- 
webe des Ductus thoracicus nicht den vom Blute ausgehenden 
Gerinnungsimpuls zu paralysiren vermoehte; gewiss vermag 
dasselbe jedoch bis zu einem gewissen Grade Widerstand zu 
leisten, ihn also zu schwächen und dadurch die Gerinnung zu 
verzögern, Bef zwei erstickten Kaninchen öffnete ich bald 
nach dem Tode den Thorax, stach das Herz an und liess das 
Blut in den Herzbeutel und dessen Umgebung fliessen; es blieb 
hier noch einige Zeit flüssig, kleine Portionen, die ich von 
Zeit zu Zeit herausnahm, gerannen alle früher als der zurück- 
bleibende Theil. Es scheint mir hieraus hervorzugehen, dass 
nicht blos die Gefässwandungen, sondern sämmtliche Gewebe 
der fibrinoplastischen Einwirkung einem an Intensität freilich 
sehr verschiedenen Widerstand entgegensetzen. Findet nun 
zu irgend einem transsudativen Erguss ein Blutzutritt Statt, 
wie das ja sehr leicht z. B. bei skorbutischen Zuständen vor- 
kommen kann, so müssen die Folgen sehr von der Grösse 
desselben abhängen. Es kann der Fall eintreten dass die Ge- 
rinnung durch die Einwirkung der umgebenden Gewebe nur 
mehr oder weniger verzögert wird, es kann aber auch bei 


700 A. Schmidt: 


sehr unbedeutender Blutbeimengung vorkommen, dass sie ganz 
behindert wird und dass die Flüssigkeit erst nach ihrer Ent- 
fernung aus dem Körper langsam gerinnt, ohne dass ein Blut- 
zutritt bei der Operation stattgefunden zu haben braucht. 
Aus den vergleichenden Versuchen ergab sich, dass die 
Menge und Consistenz der ausgeschiedenen Fibrinmassen: zu 
dem Albumingehalt der Flüssigkeit in der Regel in, gradem 
Verhältnisse stand; diese Regel kann aber nur in allgemeinem 
Sinne Geltung haben, der Parallelismus ist ausserdem nicht 
immer leicht nachzuweisen, weil man eben selten wahre Nor- 
malflüssigkeiten zu Gesichte bekommt, in welchem das ur- 
sprüngliche Verhältniss nicht bereits durch spontane Fibrin- 
ausscheidungen gestört worden ist!). Diese Erfahrung spricht 
nicht sehr für” die selbstständige Präexistenz des Faserstoffes. 
Fasst man jedoch, abgesehen davon, ob ein isomerer flüssiger 
Faserstoff existirt oder nicht, in dem Gerinnungsvorgange nur 
das auf, was factisch geschieht, eine durch bestimmte Einwir- 
kungen herbeigeführte Spaltung der in den fibrinösen Flüssig- 
keiten enthaltenen organischen Substanz in einen in Lösung 
bleibenden und einen unlöslichen Körper, so wird obiger Pa- 
rallelismus sehr leicht verständlich; dadurch wird nicht ausge- 
schlossen, dass die organische Substanz krankhaft dazu dis- 
ponirt werden kann, den unlöslichen Körper in grösserer oder 
geringerer Masse als gewöhnlich zu liefern. Concentrirte 
Transsudate müssen alsdann reichliche Fibrinmassen. liefern, 
wie ich das bei ausgesprochen entzündlichen Affectionen ge- 
sehen, aber man kann nicht erwarten, dass in Flüssigkeiten, 
deren Gehalt an organischer Substanz überhaupt ein verschwin- 
‚dender ist, wie im Liquor cerebri und in vielen hydropischen 


1) Es sind mir, indess 3 Fälle vorgekommen , wo concentrirte 
Flüssigkeiten aus der. Scheidenhaut des Hodens nur sehr wenig Fibrin 
lieferten, ohne dass spontane Ausscheidungen nachweisbar waren ; es 
ist aber immer denkbar, dass dieselben schon früher in der Scheiden- 
haut stattgefunden hatten; in zweien von diesen Fällen hatte die Hy- 
drocele schon lange Zeit bestanden. Andere 'Transsudate aus Leben- 
den sind mir zu selten vorgekommen, als dass ich weitere an 
über diesen Punkt hätte sammeln können. 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 701 


Ergüssen das feste Product dieser Spaltung anders als, im 
besten Falle, in blossen Spuren sichtbar wird. Dennoch kann 
die organische Substanz in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit in 
ihnen vorhanden sein und auch eine vollkommene Gerinnung 
stattgefunden haben. Ich bereitete mir künstlich hydropische 
Flüssigkeiten, indem ich gemessene Quantitäten fibrinöser Sub- 
stanzen von bekanntem Albumingehalt mit so viel destillirtem 
Wasser verdünnte, als zur Darstellung einer Flüssigkeit von. 
0,1—0,3°/, Alb. erforderlich war. Nach Zusatz von Serum 
entstanden in ihnen, wenn ich für vollkommene Ruhe sorgte, 
äusserst unbedeutende, nur durch ihre von den Gefässwandun- 
gen sich loslösenden Contouren sichtbar werdende, aber immer 
noch schwach zusammenhaltende Fibrinausscheidungen, die bei 
einmaligem Schütteln in feine Flöckchen und staubartig in der 
Flüssigkeit sich vertheilende Partikelchen zerfielen; so erhielt 
ich genau das Bild der meisten aus Leichen stammenden hydro- 
pischen Transsudate. Es ist ferner von Bedeutung, dass we- 
nigstens für den Anfang die Gerinnsel stets dem Volum der 
Flüssigkeit entsprechen, sie sind also um so zarter, um so leichter 
zerstörbar, je diluirter die letztere ist. Es ist ganz unmöglich, 
dass solche Fibrinausscheidungen, wenn sie ein Mal im Körper 
stattgefunden haben, nach der Entleerung der Flüssigkeiten 
aus demselben, anders als in ihren unbedeutenden Trümmern 
dem Beobachter zu Gesicht kommen können. Trotzdem kann 
die Fibrinosität der Flüssigkeiten dadurch ganz oder grossen- 
theils erschöpft worden sein und so die künstliche Erzeugung 
von Gerinnungen in ihnen unmöglich werden. Dennoch ist 
es mir bei einer Gehirnflüssigkeit (ich kann leider nicht ange- 
ben, aus welcher Höhle sie stammte), die freilich dem äusseren 
Ansehen nach eiweissreicher erschien, als dies gewöhnlich der 
Fall ist, gelungen durch einige Tropfen Blutserum eine gallert- 
artige Gerinnung herbeizuführen und aus einer filtrirten asci- 
tischen Flüssigkeit von nur 0,2°/, Alb. schied sich wenigstens 
ein sehr feiner Staub aus, der in einem anderen filtrirten Theile 
derselben Flüssigkeit nicht eintrat. | 

Der Menge der zu spaltenden organischen Substanz muss 
die Grösse des Blutzusatzes entsprechen, um in einer gegebenen 


1702 JE A. Schmidt: 


Zeit die vollständige Fibrinausscheidung herbeizuführen. Wie 
bei gleicher Concentration und bei gleichem Blutzusatze grös- 
sere (Quantitäten langsamer gerinnen, als kleinere, so fand ich 
die entsprechenden Verhältnisse bei gleichen Quantitäten un- 
gleich concentrirter Flüssigkeiten. Aber man kann hier wie 
dort den Unterschied ausgleichen durch eine verhältnissmässige 
Steigerung der fibrinoplastischen Einwirkung. Auch diese 
Thatsache lässt sich am Besten so feststellen, dass man die 
zum Versuch nöthigen Bedingungen künstlich herbeiführt. Ich 
engte zu dem Zwecke die zu untersuchenden. Flüssigkeiten im 
Vacuum über Schwefelsäure auf ?/, ihres ursprünglichen Vo- 
lums ein; jetzt musste ich die Menge des zuzusetzenden Blutes 
verdoppeln und selbst verdreifachen, um sie cet. par. ebenso 
schnell wie die ursprünglichen Substanzen zum Gerinnen zu 
bringen.!) 

Man kann also sagen, dass alle normalen fibrinösen Flüs- 
sigkeiten, wie gross auch ihr Gehalt an organischer Substanz 
sein mag, die gleiche Gerinnungsfähigkeit besitzen; diese Regel 
erleidet jedoch nach der einen Seite hin, bei steigender Ver- 
dünnung, eine Ausnahme. Man gelangt hier an eine Grenze, 
jenseits welcher die Gerinnung, man mag die Bedingungen 
dazu stellen, wie man will, nur sehr langsam von Statten 
geht. Bei hydropischen Transsudaten, deren Eiweissgehalt ca, 
1°/, betrug, fand ich gewöhnlich, dass die Gerinnung je nach 
dem Grade der Dünnflüssigkeit erst nach 6, 12, 24 Stunden 
und noch später sich einstellte. Um zu entscheiden, ob diese 
Erscheinung auf den grossen Wasserreichthum zu beziehen sei, 
stellte ich mir durch steigende Verdünnung von je. 1. Cem. 
Liquor pericardii von 2°/, Alb. eine Reihe von Flüssigkeiten 
dar, deren absoluter Eiweissgehalt überall derselbe war, wäh- 
rend ' der relative progressiv von 2°/, auf 1°, und dann fort 


1) Ich habe einmal Liquor pericardii im Vacuum vollkommen 
getrocknet, den Rückstand zu Pulver zerrieben und dasselbe in eine 
dem früheren Volum der Flüssigkeit entsprechende Quantität destillir- 
ten Wassers gebracht; das Pulver löste sich schnell und vollständig 
darin auf. Diese Lösung war ebenso gerinnungsfähig, wie die ur- 
sprüngliche Flüssigkeit. 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 703 


bis auf 0,1°/, (mit Auslassung weniger Decimalstellen) hinab- 
sank. Zu jeder dieser Flüssigkeiten setzte ich nun einen 
Tropfen Rinderblut. In allen stellte sich die Gerinnung gleich- 
zeitig ein, obwohl es in den höheren Graden der Verdünnung 
einer aufmerksamen Betrachtung bedurfte, um die Gleichzeitig- 
keit zu eonstatiren ; die anfangs schwer sichtbaren Ausschei- 
dungen wurden erst nach einiger Zeit durch eintretende Ver- 
diehtung deutlicher. Aber in den höchsten Graden der Albu- 
minarmuth, bei einem Gehalte von organischer Substanz, der 
sich in verschiedenen Versuchen als zwischen 0,1°/, und 0,3°/, 
schwankend erwies, veränderte sich die Flüssigkeit durchaus 
gar nicht; erst nach 6—-24 Stunden konnte ich, soweit wenig- 
stens das Auge hier zu entscheiden vermochte, die ersten Zei- 
chen der eintretenden Gerinnung wahrnehmen. Vielleicht han- 
delt es sich hier weniger um eine späte Ausscheidung, als um 
eine durch das verhältnissmässig kolossale Volum der Flüssig- 
keit mechanisch verzögerte Verdichtung. der ausgeschiedenen 
Fibrinmolecüle. — Diese langsame Gerinnung zeigt sich häufig 
bei hydropischen Flüssigkeiten, ohne dass ihre Albuminarmuth 
einen so hohen Grad erreicht, als in diesen künstlich darge- 
stellten Flüssigkeiten; es ist aber‘ zu berücksichtigen, dass die- 
selben Fibrinverluste im Körper erlitten haben. 

In meiner bereits angeführten Mittheilung an die Königl. 
Preuss. Akademie habe ich gesagt, die Schnelligkeit der Ge- 
rinnung entspreche dem Gehalt der fibrinösen Flüssigkeiten an 
organischer Substanz überhaupt; ich muss dieses im Sinne des 
eben Gesagten verbessern, nur in Rücksichtnahme auf jene 
Fälle grosser Dünnflüssigkeit ist jene Angabe richtig. 

Fast am schwierigsten ist es, Gerinnungen in solchen Flüs- 
sigkeiten zu bewirken, welche bei grossem Albumingehalt nur 
sehr wenig Fibrin liefern. Künstlich führte ich solche für die 
Gerinnung ungünstige Verhältnisse herbei, indem ich eine 
leicht gerinnende und dünne Herzbeutelflüssigkeit durch Zusatz 

“von etwas Hühnereiweiss verdichtete!). Es ist hier oft sehr 


1) Bei Gelegenheit: des Hühnereiweisses muss ich erwähnen, dass 
a - = e r 5 = RER Al aglas 
sich dasselbe weder wie eine seröse, noch wie eine fibrinöse Flässig- 


704 A. Schmidt: 


schwierig, zum Ziel zu gelangen. Serum- oder geringe Blut- 
beimengungen reichen meist nicht aus zur Ueberwindung der 
Gerinnungswiderstände, ein grosser Blutzusatz vermehrt die 
letzteren , vergrössert das Volum und macht die Flüssigkeit 
undurchsichtig. Bisweilen fand ich es am Besten, wenig Blut 
zuzusetzen und dabei eine höhere Temperatur anzuwenden, in 
anderen Fällen gab Blutserum bessere Resultate. Die Coagula 
sind immer fast flüssig, leicht zerreisslich, nirgend anhaftend, 
daher bei blutiger Färbung der Flüssigkeit schwer zu sehen. 
Neigte ich das Reagensglas, um die Flüssigkeit in der Fläche 
zu vertheilen, zur Horizontale, so hob sich bisweilen das Coa- 
gulum, wenn es consistent genug dazu war, etwas über das 
Niveau derselben empor. Sehr oft geschah das aber ‚auch 
nicht, das Coagulum erstreckte sich mit der den grössten Theil 
der Blutkörperchen enthaltenden Flüssigkeit in die Länge, zer- 
riss jedoch dann leicht; in solchem Falle gelang es gewöhnlich, 
die Existenz des Gerinnsels aus den Stücken zu ersehen , in- 
dem dieselben sich einigermaassen contrahirten und im durch- 
fallenden Lichte bei leichten Schwenkungen des horizontal ge- 
haltenen Glases sich in der Flüssigkeit schattenartig hin und 
her bewegten. 

Die Fäulnisserscheinungen stellten sich um so später ein, 
je concentrirter die Flüssigkeiten waren. Bei einer Temperatur 
von 8—12° habe ich sie demgemäss nach einigen Tagen und 
nach mehreren Wochen auftreten sehen. Bei gleicher Concen- 
tration erhielten sich die fibrinreichen Flüssigkeiten bedeutend 
länger als die fibrinarmen. Dasselbe fand ich bei einer und 
derselben Flüssigkeit, von welcher ich einen Theil in seiner 
ursprünglichen Beschaffenheit gelassen hatte, während ich den 
anderen durch etwas Blutserum defibrinirt hatte. Die Gerinn- 
barkeit dauert trotz der eintretenden Fäulniss noch kurze Zeit 
fort, aber die Gerinnung erfolgt langsam und unvollkommen. 
Bei Blutzusatz verändert sich die rothe Farbe alsdann sehr 


keit verhält. Ich operirte mit wässerigen Lösungen desselben. Weder 
durch diese Lösungen noch in ihnen konnte ich Gerinnungen be- 
wirken. 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 705 


schnell zu einem schmutzigen Grau; bald darauf gerinnen die 
Flüssigkeiten gar nicht mehr. 

Bei Anstellung künstlicher Gerinnungsversuche ist es durch- 
aus nöthig, gewisse Vorsichtsmaassregeln zu beobachten. Vor 
allen Dingen versichere man sich stets zuerst darüber, ob in 
den zur Untersuchung kommenden Flüssigkeiten nicht bereits 
spontane Gerinnungen stattgefunden haben. Ferner erwarte 
man nicht, bloss bei Anwendung von Blut jedes Mal zu einem 
erspriesslichen Resultat zu gelangen; in der Mehrzahl der 
Fälle wird man damit ausreichen und es viel bequemer finden, 
als das Operiren mit Blutserum. Aber es giebt Fibrinaus- 
scheidungen von so geringfügiger Beschaffenheit, dass es ganz 
unmöglich wird, sie in einer blutigen Flüssigkeit zu erkennen, 
sowohl wegen der Undurchsichtigkeit, als wegen der durch 
Blut bedingten heftigen Oontraction des Fibrins, man bleibt 
mindestens in Zweifel. In solchen Fällen erhält man durch 
Serumzusatz die schönsten Gerinnsel, entweder in Form von 
klaren Gallertklumpen , die häufig erst bei Bewegungen der 
Flüssigkeiten, beim Uebergiessen in ein anderes Gefäss be- 
merkbar werden, oder in Form der früher beschriebenen ein- 
ander einschliessenden Säckchen oder endlich in Form von 
durch die ganze Flüssigkeit sich ziehenden zusammengewebten 
Fäden und Flöckchen, die leicht zu einem am Boden liegenden 
Bausch eollabiren. Bei sehr diluirten Flüssigkeiten suche man, 
wenn man in Reagensgläsern, also mit kleinen Mengen arbeitet, 
den Serumzusatz auf ein so geringes Maass als möglich zu 
reduciren ; man hat hier immer viel eher eine zu starke, als 
eine zu schwache Einwirkung zu befürchten , insofern auch 
durch Blutserum die Ausscheidung des Fibrins in Gestalt klei- 
ner, namentlich bei ohnedies getrübten Flüssigkeiten leicht zu 
übersehenden Flöckchen bewirkt werden kann. Man verdünne 
daher nöthigenfalls das Serum, filtrire beide Flüssigkeiten, be- 
vor man sie zusammenbringt und bewahre einen Theil des fil- 
trirten Transsudates zur Controlle auf; zuweilen lässt sich 
eine sichere Ueberzeugung über die durch das Serum.bewirkte 
Veränderung nur durch den im durchfallenden Lichte anzu- 
stellenden Vergleich mit der ursprünglichen Flüssigkeit ge- 


706 A. Schmidt: 


winnen. Das Experimentiren mit Blutserum verlangt allerdings 
oft viel Geduld, und man ist nicht selten in der Lage, 1—2 
Tage auf das Resultat zu warten, aber man suche, da bei sehr 
diluirten Flüssigkeiten Alles darauf ankommt, nur eine mäs- 
sige Verdichtung der ausgeschiedenen Fibrinmolecüle zu ge- 
statten, den Process nicht durch Wärme zu befördern; in einer 
Temperatur von 10—14° erhielt ich in Fällen extremer Fibrin- 
armuth die besten Resultate. — Trotz aller dieser Regeln wird 
man im speciellen Falle doch oft genöthigt sein, den Versuch 
in der verschiedensten Weise unter möglichstem Wechsel der 
Gerinnungsbedingungen anzustellen; in der bei Weitem über- 
wiegenden Zahl der Fälle wird man dann schliesslich doch 
zum Ziele gelangen. | 

Die günstigsten Objecte zu diesen Versuchen bieten unter 
den Leichenflüssigkeiten die des Herzbeutels dar; sie sind hin- 
länglich eiweissreich um immer deutliche Ausscheidungen zu 
liefern und lassen sich am leichtesten rein aus dem Körper 
gewinnen, 


12. Transsudabilität des Faserstoffes. 


Wenn aus diesen Erfahrungen hervorging, dass das ganze 
Ernährungsfluidum, sowohl das in geschlossenen Röhren cur- 
sirende, als das durch die Röhrenwandungen nach Aussen ge- 
tretene, diese Eigenschaft der Gerinnbarkeit besitzt, dass aber 
diese Eigenschaft an und für sich nicht auch ihre Gerinnung 
bedingt, so kommen nun auch die Hauptgründe für die Lehre 
von der Intranssudabilität des Faserstoffes in Wegfall, abge- 
sehen davon, dass diese Lehre die Hypothese von der Prä- 
 existenz eines flüssigen isomeren Faserstoffes zur Voraussetzung 
hat. Doch mussten auch in dieser Beziehung directe Versuche 
von entscheidendem Werthe sein. Ich stellte mir daher in der 
schon früher beschriebenen Weise künstliche Transsudate aus 
fibrinösen Flüssigkeiten her. Dieselben erwiesen sich alle als 
gerinnbar, ‘sofern der Gehalt der Mutterflüssigkeit an organi- 
scher Substanz nicht unter eine gewisse Grenze gesunken war. 
Es wiederholte sich hier-in Betreff der Concentration annähernd 
das zwischen dem Blute und dessen Transsudaten herrschende 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 707 


Verhältniss. Die letzteren sind beträchtlich‘ albumin- und 
fibrinärmer ; da dieselben nun bei diesen künstlichen Transsu- 
dationsversuchen als Mutterflüssigkeiten dienten, so musste die 
durch den 'Transsudationsvorgang selbst: neuerdings herbeige- 
führte Verdünnung den Fibrinnachweis in der transsudirten 
Flüssigkeit sehr erschweren. Man muss daher, um' günstige 
Resultate zu erhalten, möglichst fibrinreiche Flüssigkeiten zu 
diesen Versuchen benutzen, man ist ferner in den meisten 
Fällen genöthigt, alle oben in Betreff des Nachweises der Fi- 
brinosität diluirter Flüssigkeiten angegebenen Vorsichtsmaass- 
regeln zu beobachten. In den Transsudaten der Nabelvenen 
erhielt ich deutlichere Fibrinausscheidungen, als in denen der 
Nabelarterien,, in einzelnen Fällen waren sie nur in ersteren 
nachweisbar; das ist nicht ohne Bedeutung, wenn man bedenkt, 
dass. die Transsudation im Körper hauptsächlich im Gebiete 
des Oapillarsystemes stattfindet. ‚Flüssigkeiten, die weniger als 
2°/, organischer Substanz enthielten, erwiesen sich bereits als 
unbrauchbar zu diesen Versuchen. 

Bei allen diesen Experimenten waren die Nabelgefässe vor- 
her sorgfältig. äusserlich._ und innerlich ausgespült worden, hat- 
ten dann ‚einige. Stunden in Wasser gelegen und wurden 
schliesslich, indem ich Wasser transsudiren liess, von dem das 
Gewebe tränkenden Serum möglichst befreit. In einem Ver- 
suche jedoch beschränkte ich mich blos auf.das oberflächliche 
Ausspülen einer Nabelvene und liess Herzbeutelflüssigkeit durch 
dieselbe transsudiren.. Nach 2 Stunden fand:ich die ausge- 
presste Flüssigkeit, etwa 3 Cem., spontan geronnen; dieses 
kennte,. da mir etwas Aehnliches bei keinem anderen künst- 
lichen Transsudat vorgekommen war, nur dem aus der Ge- 
fässwandung mit aufgenommenen Blutserum zugeschrieben wer- 
den. Es war also hier, trotz der ungünstigsten Bedingungen, 
eine fibrinöse Flüssigkeit durch die letztere getreten, ohne ihre 
fibrinöse Natur eingebüsst zu haben. Die weitere Vermuthung, 
dass hiermit zugleich alles Blutserum aus der Gefässwandung 
ausgewaschen worden, bestätigte sich dadurch, ‚dass keines von 
den folgenden Transsudaten derselben Flüssigkeit aus demsel- 


ben ‚Gefäss eine spontane. Fibrinausscheidung zeigte. Aber 
Reichert's u, du, Bois-Reymond’s Archiv. 1861. 46 


708 As Schmidt: 


das Wasser,. das ich zuletzt durchtreten liess, bewirkte in allen 
mir zu Gebote stehenden fibrinösen Flüssigkeiten Gerinnungen, 
ebenso die nachfolgenden Wassertranssudate. Es zeigte sich 
also auch hier,-dass Wasser mit grosser Leichtigkeit die fibri- 
noplastische Substanz aus dem Gewebe der Nabelgefässe auf- 
zunehmen vermag, während die albuminoiden Körperflüssig- 
keiten dieses Vermögen gar nicht, jedenfalls nur in äusserst 
geringem Grade besitzen. 

In Bezug auf die günstigen Resultate, welche ich mit durch 
schwefelsaure Magnesia flüssig erhaltenem Pferdeblutplasma bei 
der künstlichen Transsudation erhielt, verweise ich auf meine 
Mittheilung an die Königl. Akademie zu Berlin. In einer Be- 
ziehung; muss ich mich jedoch wiederum verbessern ; ich fand 
nämlich, dass solche künstliche Transsudate von Pferdeblut- 
plasma die Fähigkeit, nach Verdünnung mit Wasser spontan 
zu gerinnen, absolut verloren hatten, es musste stets auch noch 
ein Blutzusatz hinzukommen. Wenn ich nun auch den Schluss, 
dass das Gerinnungsprineip nicht mit in die Transsudate über- 
geht, an und für sich für einen richtigen, den normalen Ver- - 
hältnissen im Körper entsprechenden, halte, so will ich ihn 
doch nicht, wie es dort geschehen ist, auf diese T'hatsache ge- 
stützt wissen, weil ich eine solche Einwirkung der jedenfalls 
abgestorbenen Nabelgefässwandung nicht zugestehen kann und 
weil die künstlichen Serumtranssudate in fibrinoplastischer Be- 
ziehung sich wohl geschwächt, aber nicht unwirksam zeigten. 
Jedenfalls kommt hier der durch die Transsudation bedingte 
innige Contact mit der atmosphärischen Luft in Betracht, es 
kann dazu das Verhältniss zwischen Salz und organischer 
Substanz sich zu einem sehr ungünstigen gestaltet haben; auch 
die Mutterflüssigkeiten waren ja schwer zur spontanen Gerin- 
nung zu bringen. 

Man kann gegen diese Versuche allerdings einwenden, dass 
sie an todten Membranen angestellt worden sind und dass die 
Verhältnisse im Leben doch andere sein könnten. Ich weiss 
freilich nicht, wie ich diesen Einwand entkräften, aber ich 
weiss auch nicht, wie ich ihn stichhaltig machen soll. Man 
hat vor allen Disebi keinen Grund mehr, ihn zu erheben, 
weil es nicht richtig ist, dass der Heiigsudirte Faserstoff oder 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 709 


wenigstens gewisse Arten desselben ausserhalb der Gefässbahn 
gerinnen müssten. Diese Anschauung basirt im Cirkel ja wie- 
derum nur darauf, dass man den Faserstoff blos dort kannte 
und annahm, wo er factisch geronnen war. 

Es fragte sich jedoch nun, wodurch denn in gewissen 
Fällen die Gerinnung der Transsudate im Körper, also na- 
mentlich die Entstehung der entzündlichen, sog. fibrinösen Ex- 
sudate bedingt sei? Die Fibrinosität der Exsudate an und für 
sich hat keine ontologische Bedeutung für diese Zustände, es 
handelt sich nur um eine von der Concentration der Flüssig- 
keit abhängige Vermehrung oder Verminderung des normalen 
Fibringehaltes ; der seröse Hydrops und das entzündliche fibri- 
nöse Exsudat sind hierin als entgegengesetzte Extreme nur 
graduell von einander verschieden; es fehlt ja auch nicht an 
Mittelgliedern. Was die Massenhaftigkeit und die Concentration 
der Transsudate in entzündlichen Zuständen bedingen mag, 
soll hier nicht erörtert werden; das was sie eigentlich charak- 
terisirt, ist, dass sie gerinnen. Es muss also das Gerinnungs- 
prineip in sie hineingerathen sein, und wenn man sich dafür 
auch verschiedene Erklärungsweisen zurechtlegen kann, so will 
ich doch darauf hinweisen, was mir am besten und ungezwun- 
gensten das Factum aufzuhellen scheint, auf die mit der ent- 
zündlichen Affeetion verbundene Extravasation des Blutes. 
Dieselbe findet sich vorzugsweise bei der Entzündung ober- 
flächlicher Organe, und hier ist es auch, wo die am schnellsten 
gerinnenden Exsudate abgesetzt werden; ich erinnere z.B. an 
die eroupösen und diphtheritischen Exsudate und an die Nei- 
gung des jungen, zarten, in Folge vorangegangener Entzündung 
neugebildeten Gewebes zu wiederholten fibrinösen Exsuda- 
tionen. Wenn diese Gefässrupturen auch nicht immer die Ent- 
zündung begleiten, so ist es auch andererseits gewiss, dass es 
Entzündungen giebt mit „serösem“ Exsudat. — Wie verschie 
den kann die Menge und die Qualität der abgesetzten, das ge- 
rinnende Exsudat constituirenden Flüssigkeiten sein, wie ver- 
schieden das sie aufnehmende Gewebe, wie verschieden muss 
demnach die Beschaffenheit und die Bedeutung des un 
schen Productes sein. 


46* 


710 A. Schmidt: 


13. Versuche mit Bindegewebe. 


Nach allen meinen Erfahrungen konnte ich die Frage nicht 
zurückdrängen : Sollte die Fähigkeit der ganzen Ernährungs- 
flüssigkeit unter Einwirkung zelliger Elemente, in einer von 
der speeifischen Natur der letzteren abhängigen Weise, aus 
dem flüssigen Zustande theilweise in den festen überzugehen, 
denn nicht mehr sein, als eine blosse Caprice der Natur? 
sollte sie nicht die Grundlage abgeben für den Aufbau der 
Gewebe, insofern sie die unter der Initiative der Gewebszellen 
stattfindende Anbildung der Intercellularsubstanz ermöglichte ? 
Dann wäre die Gerinnung des Blutes gewissermaassen als ein 
Organisationsversuch desselben anzusehen und die Bildung der 
Gewebe als eine Art Gerinnung. Die alte Ansicht, dass der 
Faserstoff die eigentliche plastische Substanz sei, wäre dann 
richtig, freilich in einem anderen und beschränkteren Sinn. 
Die Zellen würden aus dem indifferenten Bildungsmaterial 
für die Intercellularsubstanz Das nehmen und soviel nehmen, 
als sie brauchten, und es in ihrer Weise und zu ihren Zwecken 
verarbeiten; was sie nicht zur Gewebsbildung verbrauchten, 
würde sich als fibrinöser Ueberschuss in den Flüssigkeiten der 
Körperhöhlen vorfinden. 

Ich musste hier vorzüglich an das Bindegewebe denken und 
es musste darauf ankommen, zu ermitteln, ob nicht auch die 
Elemente dieses Gewebes einen coagulirenden Einfluss auf 
fibrinöse Substanzen ausüben, Es war natürlich nöthig, zu den 
bezüglichen Versuchen nur solches Bindegewebe zu benutzen, 
das keine Blutgefässe enthielt. Die Erfahrungen, die ich an 
dem durch die Wandungen von Nabelgefässen transsudirten 
Wasser gemacht, habe ich bereits mitgetheilt. Die nächsten 
Versuche stellte ich mit der Hornhaut von Kalbsaugen an. 
Ich schnitt zuerst das Centrum der Cornea eines noch warmen 
Auges aus und warf dasselbe in etwa 2 Cem. Liquor pericardii; 
dieses geschah am Abend, am anderen Morgen fand ich die 
Flüssigkeit gallertartig geronnen; dieses Resultat wurde jedoch 
durch die Erfahrung beeinträchtigt, dass auch die Augen- 
kammerflüssigkeit Gerinnung bewirkte und zwar ausnahmslos, 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 711 


obgleich ich sie stets durch einen vorsichtigen Stich in die 
Mitte der Cornea entleerte; sie verhält sich darin ganz wie 
Blutserum, wirkt auch fast mit gleicher Stärke; ich habe aber 
nie eine spontane Gerinnung bei ihr bemerkt, noch auch künst- 
lich in ihr bewirken können; die Coagulation müsste stets fast 
unmittelbar nach dem Tode eintreten und wegen der Armuth 
des Humor aqueus an organischer Substanz, die kaum 0,5°/o 
beträgt, könnte der ausgeschiedene Faserstoff auch kaum sicht- 
bar werden. Um nun diese Fehlerquelle abzuschneiden, wusch 
ich beim nächsten Versuch die Cornea sorgfältig mit destillir- 
tem Wasser ab; sie wirkte wie die erste. Darauf schnitt ich 
das Centrum von 6 Hornhäuten aus spannte sie nach dem Ab- 
waschen mittelst Nadeln auf Korkstücken aus und liess sie in 
niedriger Temperatur trocknen. Nach einigen Tagen konnte 
ich mit einer Feile ein mässig feines Pulver von ihnen abrei- 
ben ; dieses Pulver, durch Schütteln in der Flüssigkeit ver- 
theilt, bewirkte schneller Gerinnung, als die frische, aber ganze 
Cornea;' ebenso verhielt sich der Wasserextract des Pulvers. 
Sollte nun dieses Verhalten der Cornea, das’sich bei wieder- 
holten Versuchen stets gleich blieb, auf eine jedes Mal trotz 
aller Vorsichtsmaassregeln stattgefundene Verunreinigung durch 
den Humor aqueus bezogen werden? Es konnte vielmehr die 
Gegenfrage aufgeworfen werden, woher die fibrinoplastische 
Wirksamkeit des letzteren stamme? Da der Humor aqueus eine 
sehr wässerige Flüssigkeit darstellt, scheint es mir möglich zu 
sein, dass hier etwas Aehnliches stattgefunden habe, wie bei 
dem die Wandungen eines Nabelgefässes durchdringenden Was- 
ser, dass also während des Lebens oder nach dem Tode das 
umgebende Gewebe in Bezug auf die fibrinoplastische Substanz 
von der Augenflüssigkeit ausgelaugt worden sei. 

Ein Versuch mit getrockneten und geraspelten Knorpel- 
schnitten ergab ein negatives Resultat, aber es war eben nur 
ein Versuch und die dazu benutzte fibrinöse Flüssigkeit eine 
‘sehr ungünstige , insofern sie auch bei Blutzusatz nur schwer 
und sehr unvollkommen gerann; dagegen ist mir von 8 Expe- 
rimenten mit der Hornhaut, die ich mit Umgehung aller mir 
ersichtlichen Fehlerquellen angestellt habe, kein einziges miss- 


12 = A. Schmidt: 


lungen. Wenn ich auch als die Hauptursache der spontanen 
Gerinnungen in Leichenflüssigkeiten das durchsickernde Blut- 
serum betrachte, so glaube ich doch auch an die Möglichkeit, 
dass ein weiterer Impuls’ dazu, namentlich bei sehr wasserrei- 
chen Transsudaten, von dem umgebenden Gewebe ausgehe, 
sowohl durch Beimengung von Gewebsabfällen zu den Flüssig- 
keiten, als auch durch Extraction der Gewebe. 

Ich beziehe mich ferner auf das morphologisch ähnliche 
Verhalten der Intercellularsubstanz des Bindegewebes und des 
Faserstoffes; bei beiden giebt es ein Stadium des Homogenen, 
dem ein Stadium des Fibrillären folgt.) Wenn ich durch 
Zusatz einer kleinen Blutquantität eine langsame Gerinnung 
bewirkte und von der Flüssigkeit einen Tropfen, mit einem 
Deckgläschen bedeckt, unter das Mikroskop brachte, so sah 
ich, dass die anfangs gleichmässig vertheilten Blutkörperchen 
sich allmählig zu getrennten Haufen gruppirten, die nach und 
nach eine langausgezogene Gestalt annahmen. — Die massen- 
haftesten entzündlich-fibrinösen: Ablagerungen sowohl, als die 
bedeutendsten Bindegewebs-Neubildunger und die stärksten 
schwieligen Verdickungen finden sich an den Wandungen der- 
jenigen serösen Höhlen, deren flüssiger Inhalt auch unter nor- 
malen Verhältnissen die grösste Concentration, also auch den 
grössten Fibringehalt aufweist.?) Hierher gehören auch die- 
jenigen bei Entzündungen seröser Häute auftretenden pseudo- 


1) Virchow, Cellularpathologie, S. 124 sq. — Gesammelte Ab- 
handlungen, S. 127, 137. 


2) Ich lasse hier eine Reihe von Bestimmungen des Albuminge- 
haltes der von mir untersuchten Transsudate folgen, die Herr Prof. 
Hoppe die Güte gehabt hat, mittelst des Polarisationsapparates aus- 
zuführen. Es sind 13 Flüssigkeiten aus dem Herzbeutel, 6 aus dem 
Bauchfell, 2 aus dem Brustfell und 7 aus der Scheidenhaut des Ho- 
dens ; ausserdem finden sich unter der Rubrik „Hydrocele II“ noch 
10 Albuminbestimmungen, die Herr Prof. Hoppe bereits früher aus- 
geführt und die er mir zur Benutzung bereitwilligst überlassen hat. 

100 Theile dieser Flüssigkeiten enthielten an organischer Substanz: 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 713 


membranösen Schichten, die nach Rokitanski!) in dem Aus- 
wachsen des Bindegewebssubstrates bestehen und von welchen 
Virchow?) sagt, dass das Exsudat nicht selten so continuirlich 
mit dem Bindegewebe zusammenhänge, dass es vollständig den 
Eindruck mache, als sei dasselbe eben nur umgewandelte In- 
tercellularsubstanz des Bindegewebes. 


Pleura Pericard. Hydrocele 
1,6 (Hydroth.) 1,4 I II 
4,2 (Plewritis) 1,9 | 
hl: 2,9 1,2 5,2 6,2 
UHRARRRNG " 1,0 Kan 
3,4 5,9 6,5 
Periton. 2.6 5,6 5,9 
1,4 2,0 4,7 7,6 
12 0,7 (Allg. Hydr.) 4,2 4,4 
2 1,3 ittelz.: 6,8 
0,2 (allg. Hydr.) 4.0 (Typhus) Mittelz.: 5,2 6 5 
Br 3,0 3,0 
„Oo 2,0 Mittelzahl: 5,9 


Mittelzahl: 1,3 2,3 

Mittelzahl: 2,0 
Die beiden Bestimmungen des Liquor pleuriticus habe ich nur deshalb 
hier aufgenommen, weil sie zwei in Bezug auf ihre Concentration ein- 
ander entgegengesetzte Extreme ‚betreffen und man gerade deshalb 
von der Mittelzahl annehmen kann, dass sie das normale Verhalten 
annähernd richtig angiebt. Dass unter den Transsudaten der Rumpf- 
höhlen die der Pleura den bedeutendsten Eiweissgehalt besitzen, hat 
übrigens auch ©. Schmidt gefunden (Charakteristik der epidemischen 
Cholera, S. 146). In den hydropischen Transsudaten des Leichnams 
eines Säufers fand Lehmann (Lehrb. der phys. Chemie, Bd. II, S. 309) 
aus der Pleura 1,852°%/0 Alb., aus dem Herzbeutel 1,064, aus dem Pe- 
ritoneum. 1,044. In Betreff der Cerebrospinalflüssigkeiten geht aus 
den Angaben von Hoppe (Archiv f. path. Anat.,, Bd. XVI, S. 391), 
von Schmidt (a.a. ©.) und von Lehmann (a2.a.0.) hervor, dass 
ihr Eiweissgehalt selten 0,5°/o erreicht ; aus der Zusammenstellung 
dieser Angaben, die im Ganzen 15 Fälle betreffen, resultirt als Mit- 
telzahl 0,3. 

Es lässt sich hinsichtlich des Eiweissgehaltes der sogen. serösen 
Transsudate folgende Reihenfolge in aufsteigender Ordnung feststellen: 
Hirnhöhlen,, Bauchfell, Herzbeutel, Brustfell und Scheidenhaut des 
Hodens. 


1) Rokitanski, Pathol. Anatomie, Bd. I, 1855, S. 141. 
2) Virchow, Gesammelte Abhandlungen, 8. 137. 


714 | A, Schmidt: 


‚Diese letztere Auffassung über das Zustandekommen einer 
entzündlichen Exsudatschicht steht nicht in Einklang mit der 
früher hierüber ausgesprochenen Ansicht. Allein es scheint 
mir nicht, dass die eine die andere ausschliesst; es kann ja 
beides vorkommen und vielleicht beides zusammen. Auf den 
Werth und die Bedeutung des pathologischen Productes scheint 
es mir hierbei anzukommen; giebt es nicht exsudative Processe, 
die blos mit einer Steigerung der Gewebsbildung einhergehen, 
und giebt es nicht Pseudomembranen, croupöse Ablagerungen 
und diphtheritische Schorfe? Stellt sich nicht bei längerem 
Aufenthalte hydropischer Ansammlungen mit der allmählig 
eintretenden Inspissation der Flüssigkeiten in der Regel eine 
Induration der Theile, eine Massenzunahme des Bindegewebes 
ein und zwar am häufigsten bei den ohnedies concentrirteren 
(lymphatischen) Hydropen? Entwickelt sich nicht aus länger 
dauernden Oedemen, namentlich bei Complication mit entzünd- 
lichen Störungen zuletzt die Elephantiasis? ') — Auch aus der 
Entwickelungsgeschichte der Geschwülste liesse sich manches 
hierher Gehörige anführen. 

Der Arzt ist so häufig in der Lage, reizende Einspritzun- 
gen zu machen, um durch Herbeiführung einer plastischen 
Entzündung dem Recidiv krankhafter Transsudationen vorzu- 
beugen; aber die Flüssigkeit, die er entleert, ist, wenigstens in 
vielen Fällen, der schönste plastische Stoff, den er sich wün- 
schen kann. Sollte es nun nicht des Versuches werth sein, 
in geeigneten Fällen das zu benutzen, was die Natur darbietet 
und Injectionen von Blut zu machen? 

Jeder wird es leicht sehen und ich läugne es auch nicht, 
dass ich mit vorgefassten Meinungen an diese Arbeit gegangen 
bin. Man kann annehmen, dass ich nach Objectivität gestrebt, 
soweit es mir möglich gewesen, um der Gefahr zu entgehen, 
solchen Meinungen zu Liebe die Thatsachen zu zwingen. Es 
ist aber immer schwer, sich selbst zu verlassen, und es mag 
Vieles in diese Arbeit gedrungen sein, was nur mir angehört 
und nicht der Sache; dieses wird ja von selbst zusammenfallen. 


1) Virchow, Handb..d. sp. Pathol. u, Ther, Bd. I, S. 218. 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 715 


Wenn aber die Grundthatsachen in der Wissenschaft Aufnahme 
finden sollten und ich’darin die Gewissheit erhielte, nicht um- 
sonst für 'sie gestrebt zu haben, so wird es mir an Lust und 
Liebe nicht fehlen, das Begonnene fortzuführen. 

Zum Schluss statte ich Herrn Prof. Hoppe meinen herz- 
lichsten’ Dank ab für die freundliche Theilnahme, den Rath 
und die Unterstützung, welche ich im Laufe dieser Untersu- 
chungen bei ihm gefunden. Möge Herr Prof. Hoppe glauben, 
dass dieser Dank Nichts mit der Convenienz zu thun hat. 


Nachtrag. 


Da ich mir die fibrinoplastische Substanz aus dem Inneren 
der Zellen stammend dachte, so musste der nächste Versuch 
bezwecken, das Verhalten des isolirten Zelleninhaltes selbst zu 
fibrinösen Flüssigkeiten zu bestimmen. Bekanntlich kann man 
den Zelleninhalt des Blutes wenigstens annähernd rein gewin- 
nen, indem’ man ihn in die Krystallform überführt; Meer- 
schweinchenblut eignete sich zu diesen Versuchen am besten, 
weil zur Darstellung von Krystallen aus demselben ein Zusatz 
von Alkohol oder Aether nicht nöthig ist. Ich setzte zu fri- 
schem, eben geronnenem Meerschweinchenblut etwa das gleiche 
Volum Wasser, wusch das Coagulum in dem letzteren mög- 
lichst vollständig aus und presste dann die Flüssigkeit durch 
ein Leinwandfßilter.: Nachdem ich einen Theil des gewässerten 
Blutes bei Seite gestellt hatte, leitete ich durch den Rest nach 
der bekannten Methode erst Sauerstoff, eine Stunde lang, und 
dann Kohlensäure. Sehr schnell bei der Behandlung mit Koh- 
iensäure stellte sich die durch die Krystallausscheidung be- 
dingte ziegelrothe Färbung der Flüssigkeit ein. Nach ein Paar 
Stunden hatte sich ein bedeutendes Krystallsediment abgesetzt; 
ich hob mit einer Pipette einen Theil der oben stehenden 
Flüssigkeit ab und filtrirte sie, dasselbe geschah mit dem bei 
Seite gestellten, nicht krystallisirten Blutee Beide Filtrate 
wurden nun zu Hydroceleflüssigkeit, von 6,2°/, Alb. gesetzt, 
aber es liess sich kein Unterschied in der Wirkung wahrneh- 


716 A. Schmidt: 


men; die Gerinnung trat in beiden Flüssigkeiten gleichzeitig 
ein und zwar ziemlich schnell, nach etwa 5 Minuten; danach 
schien es, dass die fibrinoplastische Energie des Blutes nicht 
von Hämatokrystallin abhange; allein es kam in Betracht, dass 
ich an einem sehr trüben, wolkigen Tage die Krystallausschei- 
dung herbeigeführt hatte; nach Lehmann’s Erfahrungen er- 
hält man aber unter Einwirkung des hellen Sonnenlichtes ‚oft 
doppelt so viel Krystallsubstanz, und selbst mehr noch, ‚als. bei 
bedecktem Himmel.!) Ich konnte also annehmen, .dass ein 
grosser Theil des Hämatokrystallins in Lösung geblieben war; 
zudem wirkt das Meerschweinchenblut überhaupt mit grosser 
Rapidität, schneller noch als Rinderblut, und ich hatte, des 
Erfolges zu gewiss, nicht die Vorsicht beobachtet, das Blut in 
‘ kleinen Quantitäten zuzusetzen; so verwischten sich die Unter- 
schiede. Durch dreimaliges Schlemmen mit Wasser suchte ich 
nun die Serumbestandtheile sowohl als die Blutkörperchenhüllen 
von den Krystallen möglichst zu entfernen. Darauf brachte 
ich die zum vierten Male mit Wasser angerührte Masse auf 
ein Filter; nachaem auf demselben das Volum der Flüssigkeit 
etwa um die Hälfte kleiner geworden war, mischte ich sie zu 
1 Theil mit zwei Theilen Hydroceleflüssigkeit; die Gerinnung 
erfolgte in weniger als einer Minute, schneller als sie ‘durch 
frisches und ungewässertes Meerschweinchenblut herbeigeführt 
wurde; das klare, dunkelrothe, keinerlei körperliche Elemente 
enthaltende Filtrat wirkte erst nach Verlauf von 2 Stunden; 
dasselbe enthielt jedenfalls noch Spuren von dem ursprünglich 
in Lösung gebliebenen Hämatokrystallin, ausserdem besitzt das 
Wasser ein geringes Lösungsvermögen für die Krystalle des 
Meerschweinchenblutes. Ich brachte einen Tropfen des Filter- 
rückstandes unter das Mikroskop; derselbe enthielt Blutkry- 
stalle in kolossaler Menge, ausserdem nur sehr vereinzelte 
Haufen zusammengebackener Zellenrudimente. Mischte ich auf 
einem Objeetträger Hydroceleflüssigkeit mit Blutkrystallen zu- 


1) Lehmann, Mittheilungen über die krystallisirvare Protein- 
substanz des Blutes. Berichte über die Verhandlungen der Königlich 
Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig. Mathematisch- 
physische Classe. Jahrg. 1853, 8. 101. 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 717 


sammen und brachte dieselbe schnell unter das Mikroskop, 
so: sah ich die Krystalle sich in kürzester Zeit vollkommen 
auflösen, während gleichzeitig die Gerinnung eintrat. Die 
Krystalle bleiben hierbei einige Zeit ganz unverändert, dann 
gerathen: sie plötzlich in eine vibrirende und rotirende Bewe- 
gung, werden dabei schnell kleiner und kleiner, zerfallen in 
kleine Körnchen und schwinden endlich ganz. Der ganze 
Vorgang währte höchstens 2—4 Minuten; indem ich die Spitze 
einer Nadel von Zeit zu Zeit in die unter dem Deckglase her- 
vorquellende Flüssigkeit tauchte, konnte ich ziemlich genau 
den Zeitpunkt wahrnehmen, wo die Gerinnung eintrat; wenn 
die Menge der zugesetzten Blutkrystalle nicht zu gering dazu 
war, so setzte sich ihre Auflösung noch fort, nachdem bereits das 
Ooagulum unter dem Deckgläschen sich gebildet hatte, d. h. 
also, die Blutkrystalle lösen sich auch im Serum. Bei reich- 
licher Beimengung von Blutkrystallen wurden zwar die Kry- 
stalle kleiner, schwanden aber nicht ganz, es blieb ein Ueber- 
schuss ungelöst. ‘Genau wie in fibrinösen Flüssigkeiten ver- 
halten sich die Blutkrystalle auch im Blutserum. Da die in 
gewässertem Blute ausgeschiedenen Krystalle sich in concen- 
trirten ‚albuminoiden Flüssigkeiten wieder auflösen, so geht 
hervor, dass das Wässern des Blutes nicht blos deshalb für 
die Darstellung der Blutkrystalle nothwendig ist, weil dadurch 
die endosmotischen Strömungen zwischen Blutzellen und Inter- 
cellularflüssigkeit verändert und ein massenhafter Uebertritt 
des Blutzelleninhaltes in die letztere herbeigeführt wird, son- 
dern dass zugleich das zugesetzte Wasser auch bei der Aus- 
scheidung des im Serum gelösten Hämatokrystallins eine Rolle 
spielt; ferner wird wahrscheinlich bei der gebräuchlichen Me- 
thode der Blutkrystalldarstellung nicht alles Hämatokrystallin 
ausgeschieden, indem ein Theil desselben durch das Serum- 
albumin wohl immer in: Lösung erhalten bleibt; dafür spricht 
auch die im Folgenden anzuführende Beobachtung: Nachdem 
ich 2 Theile Hydroceleflüssigkeit durch 1 Theil obigen Filter- 
rückstandes zum Gerinnen gebracht, presste ich das Coagulum 
aus; die (durch Filtriren von den Fibrintrümmern befreite Flüs- 
sigkeit, die nur noch sehr vereinzelte, unaufgelöste Krystalle 


718 A. Schmidt: 


enthielt, verhielt sich in hohem Grade fibrinoplastisch; "sie 
stellte also ein künstliches Serum dar, nur dass ihre Wirk- 
samkeit bedeutend grösser war, als ich sie je bei irgend einem 
Blutserum beobachtet. Ich verdünnte sie mit etwas mehr als 
dem gleichen Volum Wasser und behandelte sie dann: mit 
Sauerstoff und Kohlensäure ; die Flüssigkeit trübte sich nur 
sehr wenig dabei. Nach 14 Stunden fand ich ein ganz weis- 
ses Sediment am Boden des Gefässes. Ich hob die Flüssigkeit 
bis nahe zur Grenze des Sedimentes ab und filtrirte sie; den 
Rest, also zugleich die ganze Masse des Sedimentes, setzte ich 
zu dem doppelten Quantum Hydroceleflüssigkeit. Die durch 
das Sediment bedingte Trübung schwand sehr bald und die 
Gerinnung erfolgte in 7 Minuten, Die von dem Sedimente 
abgehobene und filtrirte Flüssigkeit besass fast gar keine Wirk- 
samkeit mehr, erst nach Verlauf von 26 Stunden hatte sie 
leichte flockige und wolkige Ausscheidungen herbeigeführt. 
Hier war also in eine Flüssigkeit, die ursprünglich das Ge- 
rinnungsprineip nicht in sich trug, dasselbe künstlich in Gestalt 
von Blutkrystallen hineingebracht und ebenso künstlich wieder 
ausgeschieden worden. Zugleich zeigte sich auch, dass trotz 
sehr lange andauernder Behandlung mit Sauerstoff und Koh- 
lensäure doch keine ganz vollkommene Ausscheidung herbei- 
geführt werden konnte. Ich muss erwähnen, dass das weisse 
Sediment unter dem Mikroskop sich als aus amorphen farb- 
losen Körnern und unregelmässigen, länglichen Plättchen be- 
stehend erwies. 

Ich stellte mir nach Lehmann’s Angabe eine reine Lösung 
von Hämatokrystallin dar, die weder durch salpetersaures Sil- 
beroxyd noch durch Quecksilberchlorid noch durch Zinnchlorür 
gefällt wurde, und trocknete dieselbe im Vacuum über Schwe- 
felsäure. Den Rückstand zerrieb ich zu Pulver und setzte 
eine Federmesserspitze voll davon zu ca. 3 Ccm. Hydrocele- 
flüssigkeit; das Pulver löste sich vollkommen auf und die Ge- 
rinnung erfolgte in 8 Minuten. ' Auch hier hängt es von der 
Menge des zugesetzten Pulvers ab, ob die Lösung vollständig - 
ist, oder ob ein Theil ungelöst bleibt. Das durch Verdunstung 
aus der wässerigen Lösung gewonnene amorphe Hämatokry- 


Ueber den Faserstoff und die Ursachen seiner Gerinnung. 719 


stallin löst sich aber nicht so schnell in concentrirteren, albu- 
minoiden Flüssigkeiten auf, wie die Hämatokrystallinkrystalle, 
daher auch die langsamere Wirkung. 

Hiernach halte ich es für erwiesen, dass die fibrinoplastische 
Substanz aus dem Inneren der Zellen selbst stammt. Für das 
Blut ist es das Hämatokrystallin, oder sofern dasselbe ein zu- 
sammengesetzter Körper ist, ein Bestandtheil desselben, welches 
auf chemischem Wege eine Fibrinausscheidung bewirkt; die 
Gerinnung stellt sich dar als die Folge des endosmotischen 
Verkehrs zwischen Zelleninhalt und Intercellularflüssigkeit. Um 
so mehr glaube ich in den schnellen Wandelungen, denen die 
Bestandtheile der eursirenden Säfte unterworfen sind, den 
Grund für das Nichtgerinnen im Körper sehen zu müssen. — 
Lehmann giebt an, dass, wenn er feingeschnittenen Blutku- 
chen von Meerschweinchen mehrfach mit dem gleichen Volum 
Wasser angerührt und ausgewaschen hatte, er auch aus den 
letzten Auswascheflüssigkeiten die schönsten Krystalle erhalten 
konnte und dass daher die Gegenwart von Serum ohne Ein- 
fluss auf die Bildung der Krystalle sei; ich habe bei früheren 
Versuchen Pferdespeckhaut bis zur vollkommenen Weisse aus- 
gewaschen und dieselbe dann zu wiederholten Malen mit 
Wasser extrahirt. Hier konnte nicht wohl von Serumbeimen- 
gung die Rede sein, aber die farblosen Wasserextracte bewirk- 
ten stets Gerinnungen ; auch hier wird die Wirkung auf die 
in der Speckhaut eingeschlossenen Zellen zu beziehen sein, 
deren Inhalt durch Einwirkung, des Wassers, wie beim gewäs- 
serten Blute, frei nach aussen getreten war. Ebenso verhält 
es sich wohl auch mit der Thatsache, dass der Wasserextract 
der Hornhaut und der Nabelgefässwandung so leicht Gerinnung 
zu erzeugen vermag; wenn aber der Inhalt der Bindegewebs- 
zellen ein fibrinoplastisches Vermögen besitzt und wir uns an- 
dererseits die Zellen bei der Gewebsbildung durch Endo- und 
Exosmose wirkend denken müssen, so liegt der Gedanke nahe, 
dass Fibrinausscheidung und Anbildung der Intercellularsub- 
stanz im Wesentlichen ein und derselbe Process ist. 

Ob die organische Substanz fibrinöser Flüssigkeiten ein- 
facher ‚oder zusammengesetzter Natur ist, wage ich nicht zu 


720 A.Schmidt: Veberd. Faserstoff u. d. Ursachen seiner Gerinnung. 


entscheiden , aber das scheint mir sicher zu sein, dass die 
wahren serösen Flüssigkeiten, weil jedes Serum Gerinnung zu 
bewirken vermag, ausser dem Serumalbumin auch noch Bei- 
mengungen einer anderen, aus den Zellen stammenden Protein- 
substanz in Lösung besitzen. Wenn man durch 'successives 
Auswaschen von Blutkrystallen auf einem Filter alle Serumbe- 
standtheile mehr und mehr entfernt, so bleibt die Wirksamkeit 
des Filterrückstandes dabei immer die gleiche, so lange als die 
Krystalle selbst nicht in Lösung übergehen, wozu sehr grosse 
Quantitäten Wasser nöthig sind, nach Lehmann 597 Theile 
Wasser auf 1 Theil trockener Krystallsubstanz vom Meer- 
schweinchen. 

Nach meinen neuesten Erfahrungen vermag auch der Mund- 
speichel Gerinnung zu erzeugen; es scheint, dass diese Wir- 
kung von den schleimigen Bestandtheilen des Speichels her- 
rührt; auch die Synovia, in welcher ich in einem Falle, wo 
sie aus einem entzündeten Gelenke stammte, eine schwache 
Gerinnung herbeiführen konnte, verhielt sich in allen übrigen 
Fällen wie Blutserum. Der Humor aqueus, den ich aus Rinds- 
augen 24 Stunden nach der Tödtung erhielt, war niemals 
wässerig wie die ganz frische Flüssigkeit, sondern stets schlei- 
mig, fadenziehend geworden ; solches Augenwasser wirkte 
schneller als das wässerige. 

Ich habe es dahingestellt sein lassen, ob fremde Körper 
den Gerinnungsvorgang mechanisch zu beschleunigen vermögen ; 
diese Versuche müssten, um ein sicheres Resultat zu geben, 
mit reinem , blutkörperchenfreiem Serum angestellt werden. 
Das haben mir jedoch wiederholte Versuche gelehrt, dass bei 
Gegenwart von Blutkörperchen in einer fibrinösen Flüssigkeit 
die fibrinoplastische Einwirkung durch fremde Körper gestei- 
gert wird. Die Bedingungen zum Gelingen des Experimentes 
sind: Das Blut muss frisch sein, die Gerinnung muss langsam 
verlaufen und das Resultat des Processes ein deutliches sein, 
man muss also kleine Quantitäten Blutes zu einer concentrirten 
und fibrinreichen Flüssigkeit setzen. ‘ Ich benutzte eine Hy- 
droceleflüssigkeit von 6,4°/, Alb. und setzte zu 3—4 Cem. der- 
selben einige Tropfen Blut; als fremden Körper wandte ich 


E. Reissner: Neurologische Studien. 7121 


pulverisirte Kohle an, sie darf jedoch nicht zu fein pulverisirt 
sein, weil sie sich dann zu Klumpen zusammenballt und sich 
nicht in der Flüssigkeit vertheilen lässt. Während es bei 
verschiedenen Versuchen durchschnittlich 25—30 Min. dauerte, 
ehe die Gerinnung eintrat, fand bei denjenigen Flüssigkeiten, 
welchen Kohle zugesetzt war, stets eine Beschleunigung des 
Vorganges um 3—6 Minuten Statt. Dieser Unterschied ist 
allerdings nicht gross, aber wenn es hierbei auf die Gegenwart 
von Blutkörperchen in der Flüssigkeit ankommt, so ist zu be- 
rücksichtigen, dass ich aus anderen Gründen genöthigt war, 
nur sehr wenig Blutkörperchen zuzusetzen, 


Neurologische Studien 
; von 


Professor Dr. E. REISSNER in Dorpat. 


II. Ueber den Nervus oculomotorıus des Menschen. 
(Hierzu Taf. XVIL) 


Die Erhärtung von Theilen des Nervensystemes durch 
Chromsäurelösungen ist nicht allein für die Histologie der 
Centralorgane des cerebrospinalen Systemes von Wichtigkeit, 
sondern vermag auch bei der Erforschung der Structur und 
Textur der peripherischen Nerven wesentliche Dienste zu lei- 
sten. In letzterer Beziehung ist im Ganzen bis jetzt nur wenig 
geschehen, und doch scheint es, als wenn auch hier zahlreiche 
Früchte der Ernte harren. Bei der überaus grossen Thätigkeit, 
welche gegenwärtig in der Mikroskopie herrscht, werden ge- 
wiss schon einige Belege hierfür, die ich in dem begonnenen 
und den folgenden ‚Capiteln zu geben beabsichtige, genügen, 
um auch für diesen Zweig der Forschung eine allgemeinere 
Theilnahme zu erregen. 

Unsere bisherige Kenntniss von der Histologie des Nervus 


7293 E. Reissner: 


oculomotorius besteht nach dem, was ich ermitteln konnte, in 
Folgendem. Rosenthal, der wohl zuerst Querschnitte er- 
härteter Nerven mikroskopisch untersucht hat, sagt über den 
Nervus oculomotorius des Rindes!): „Priusquam autem .de 
fibrillarum, quas enumeravi, copia referam, notare mihi liceat, 
dispersa inter singulas fibrillas, sed prope se jacentia, me in- 
 venisse corpuscula ovalia, numero XIX, magnitudine !/,so—!/s0 
L. V.“2), „colore denique flavido.. De natura horum. corpus- 
eulorum, quae initio vascula, nervum nostrum penetrantia, ha- 
bere volui, dubius, seeundum consilium Ill. Purkinje,.cui 
praeparatum ostendi, sectiones peregi longitudinales , quibus 
nobis persuasimus, ista corpuscula indolis esse gangliosae, quod 
eo magis mirandum est, quum ganglia ceteroquin nonnisi in 
nervis sensitivis in conspeetum veniant, nervo autem oculomo- 
torio, ab omnibus fere physiologis functiones tantum motoriae 
adseribantur.“ Ferner sagt er: „Deinde etiam aliis in prae- 
paratis ejusdem nervi et aliorum animalium et hominis ejusdem 
inveni ganglia, quorum tamen ambitus minorem praebuit dia- 
metrum, nempe !/,o—'/iss L. V.* 3) —  „Fibrillae  huzjus nervi 
primitivae aequali fere semper ambitu se ostendebant, in ho- 
mine 0,0050—60'', in ove 0,0070—76''', in bove 0,0066—80'''* 2), 
„nunquam autem observare potui fibrillas tenues, quod congruit 
cum plurimorum de hujus nervi functionibus sententia.* Ueber 
den Nervus oculomotorius des Schaafes sagt Rosenthal: 
„fibrilla singula majorem ostendebat ambitum.* Rosenthal 
fand demnach im Nervus oculomotorius des Menschen ,. des 
Rindes und des Schaafes Nervenfasern von nahezu gleichem, 
bedeutendem Durchmesser und Nervenzellen. Mit beiden An- 


- 


1) De numero atque mensura microscopica fibrillarum elementa-. 
rium systematis cerebro-spinalis symbolae. Vratislaviae, 1845, p. 13. 

2) Setzt man 1 Wiener Fuss = 316,102 mm., so ist Y/ıso Wiener 
Linie = 0,0137 mm. und !/so W.L. = 0,0244 mm. 

3) !/ıo W.L. = 0,0116 mm, !/ıazs W. L. = 0,0170 mm. 

4) 0,0050 Wien. Linien = 0,0110 mm., 0,0060 W.L. = 0,0132 mm., 
0,0070 W.L. = 0,0154 mm., 0,0076 W. L. = 0,0167 mm., 0,0066 W, L. 
= 0,0145 mm., 0,0080 W. L. = 0,0176 mm. nach A. Hannover’s Tableau 
micrometrigque. 


Neurologische Studien. 723 


gaben stehen Bidder’s und Volkmann’s Untersuchungen im 
Widerspruch. Bidder und Volkmann theilen nämlich Fol- 
gendes mit: ') 
„Il. Beobachtungen an der Katze. 
Nervus oculomotorius: kleinste, grösste, mittlere Dimensionen 
animaler Fasern: 
0,00044, 0,00080, 0,00055*?) 
„kleinste, grösste, mittlere Dimensionen sympathischer Fasern: 
0,00016, 0,00022, 0,00019? 3) 
„nicht vorkommende Dimensionen: 
0,00023—0,00043* *) 


„VI. Beobachtungen am Hecht. 
Nervus oculomotorius: kleinste, grösste, mittlere Dimensionen 

; animaler Fasern: 

0,00053, 0,00110, 0,00060*)* 5) 
„kleinste, grösste, mittlere Dimensionen sympathischer Fasern: 

0,00018, 0,00028, 0,00022* 6) 
„nicht vorkommende Dimensionen: 
0,00029—0,00032* 7) 

„") Die Fasern, welche sich in grösster Menge fanden, schwank- 
ten zwischen 0,00050 und 0,00070.“°) An einer anderen Stelle 
heisst es: „I. Die Nerven, welche sich in willkürli- 
chen Muskeln ausbreiten, enthalten überaus wenige 


1) Die Selbstständigkeit des sympathischen Nervensystems durch 
anatomische Untersuchungen nachgewiesen. Leipzig, 1842. S. 23. 24. 
Die Messungen sind nach dem Pariser Zoll angestellt. In den folgen- 
den Anmerkungen ist 1 P. Z. = 27,0699 mm. gesetzt. 

2) 0,00044 Pariser Zoll = 0,0119 mm., 0,00080 P. Z. = 0,0217 mm.,, 
0,00055 P. Z. = 0,0149 mm. 

3) 0,00016 Pariser Zoll = 0,0043 mm., 0,00022 P. Z. = 0,0060 mm., 
0,00019 P. Z. = 0,0051 mm. 

4) 0,00023 Pariser Zoll = 0,0062 mm, 0,00043 P. Z. = 0,0119 mm. 

5) 0,00033 Pariser Zoll = 0,0089 mm., 0,00110 P, Z. = 0,0298 mm., 
0,00060 P. Z. = 0,0162 mm. 

6) 0,00018 Pariser Zoll = 0,0049 mm., 0,00028 P. Z. = 0,0076 mm., 
0,00022 P. Z. = 0,0060 mm. 

7) 0,00029 Pariser Zoll = 0,0079 mm., 0,00032 P. Z. = 0,0087 mm. 

8) 0,00050 Pariser Zoll = 0,0135 mm., 0,00070 P. Z. = 0,0189 mm. 

Reichert’s u. du Bois-Reymond’'s Archiv, 1361. 47 


124 E. Reissner: 


dünne Fasern, im Durchschnitt gegen 10 pCt. — Von 
diesem Gesetz ist uns in allen 4 Classen der Wirbelthiere nie 
eine Ausnahme vorgekommen,“ ') Bidder und Volkmann 
haben nicht Querschnitte von Nerven untersucht, sondern ihre 
Messungen an zerfaserten Nerven vorgenommen. — Ueber den 
zweiten Punkt sagt Bidder:?) „Bei Durchmusterung des 
Oculomotorius vom Kalbe, Hund und der Katze im frischen 
Zustande, wobei namentlich das in der Schädelhöhle liegende 
Stück dieses Nerven Schritt vor Schritt bearbeitet wurde, habe 
ich trotz dem lebhaftesten Verlangen, Ganglienkugeln anzu- 
treffen, nie letztere finden können.“ — Henle bemerkt: „in 
den Augenmuskelnerven dagegen kommen fast nur stärkere 
Fasern vor.“*°) — Hiermit scheinen auch die Beobachtungen 
erschöpft zu sein; fragt man aber, ob sie eine kritische Wür- 
digung erfahren haben und im Lauf der Jahre nach der einen 
oder der anderen Seite als gesicherte Thatsachen in die Wis- 
senschaft aufgenommen sind, so kann die Antwort keine be- 
jahende sein. Bei Ludwig z. B. liest man:°) „Beim Men- 
schen führt der Nervenstamm 15000 und zwar nur breite Röh- 
ren.“ Zu dieser Angabe hat, wie auch aus der beigefügten 
Anmerkung geschlossen werden darf, Rosenthal allein Beach- 
tung gefunden; Bidder’s und Volkmann’s Mittheilungen 
haben dagegen, wahrscheinlich weil sie nicht im Speciellen den 
N. oculomotorius des Menschen erörtern, ganz und gar keine 
Berücksichtigung erfahren, obgleich die oben angeführten Zah- 
len wohl dazu hätten auffordern sollen ; aber auch Henle’s 
Bemerkung, die sich doch auf den Menschen bezieht und durch 
die unzweifelhaft gesagt wird, dass auch feinere Fasern in den 
Augenmuskelnerven nicht ganz fehlen, ist nicht weiter beachtet 
worden. Doch Ludwig hat ja nur ein Handbuch der Phy- 
siologie und nicht eines der Histologie geschrieben; man sollte 


1) A.a. ©. S. 66. 

2) Zur Lehre von dem Verhältniss der Ganglienkörper zu den 
 Nervenfasern. Leipzig, 1847. S.32, Anmerk. 

3) Allgemeine Anatomie. Leipzig, 1841. S. 617. 

4) Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Zweite, neu bear- 
beitete Auflage. Leipzig und Heidelberg, 1858. S. 19. 


Neurologische Studien. 7125 


aber erwarten, in den neueren histologischen Handbüchern ge- 
nauere Aufschlüsse zu erhalten. Die einzige, auf unseren Ge- 
genstand bezügliche Stelle finde ich bei Kölliker in den 
Worten: !) „Die motorischen Kopfnerven, das III, IV., VL, 
VII. und XII. Paar, verhalten sich sowohl in Bezug auf die 
Wurzeln als auch auf den Verlauf und die Ausbreitung, ganz 
wie die motorischen Wurzeln und Muskelzweige der Rücken- 
marksnerven, mit der einzigen Ausnahme, dass allen diesen 
Nerven durch Anastomosen mit sensiblen Nerven etwelche 
sensible Fasern für die Muskeln zugeführt werden. Berück- 
siehtigung verdient 1) dass nach Rosenthal und Purkyne 
im Stamm des Oculomotorius des Rindes Ganglienkugeln vor- 
kommen, welche jedoch Bidder (p. 52) nicht finden konnte.“ 
Wenngleich es hiernach scheinen könnte, als seien die „moto- 
rischen Kopfnerven“ oder wenigstens ihre Wurzeln in histolo- 
gischer Hinsicht bekannt, so ist dies doch eben nicht viel mehr 
als blos Schein. Uebrigens bemerkt Rosenthal, wie aus der 
mitgetheilten Stelle ersichtlich ist, ausdrücklich, dass er Ner- 
venzellen nicht blos beim Rinde , sondern auch bei anderen 
Thieren und beim Menschen im N. oculomotorius gefunden 
habe. — x. 

Ich gehe jetzt zur Mittheilung meiner Beobachtungen über. 
Durchschneidet man den Nervus oculomotorius des Menschen, 
nachdem er in Chromsäure erhärtet worden ist, in einer Ent- 
fernung von 10—15 mm. von dem Gehirn, so zeigt die Durch- 
schnittsfläche eine kreisförmige oder länglichrunde Begrenzung; 
in letzterem Falle differiren rechtwinklig sich schneidende 
Durchmesser nur wenig; näher dem Gehirn ist der Nerv stär- 
ker abgeplattet. Die Nervenscheide, Vagina nervi, wird an 
dem Theil des Nerven, welcher hier allein in Betracht gezogen 
werden soll, blos von der Pia mater?) gebildet. Von der Ner- 


2) Mikroskopische Anatomie oder Gewebelehre des Menschen. 
Zweiter Band, erste Hälfte. Leipzig, 1850. S. 519. — Handbuch 
der Gewebelehre des Menschen. Dritte Auflage. Leipzig, 1859. S. 335. 

1) Ich halte die Trennung der allgemeinen Hülle des Gehirnes 
und Rückenmarkes in zwei Häute, die Pia mater und Arachnoidea, 
nicht für nothwendig. 


47° 


726 | E. Reissner: 


venscheide gehen nach innen membranöse Scheidewände in 
nicht eben bedeutender Zahl ab, welche den Nerven in einige 
rundliche oder prismatische Bündel zerspalten; die Scheidewände 
sind im Allgemeinen, ausser wenn sie Gefässe führen, sehr 
dünn, so dass durch sie in das Innere des Nerven selbst nur 
wenig Bindegewebe geführt wird. DBlutgefässe sieht man in 
Querschnitten des Nerven meist nur im Durchschnitt und zwar 
gewöhnlich an solchen Stellen, an denen zwei oder mehrere 
Scheidewände zusammentreffen, bisweilen aber auch mitten in 
einem Nervenfaserbündel, viel seltener in ihrer Längsausdeh- 
nung ; sie verlaufen daher überwiegend der Länge des Nerven 
nach. — Die Nervenscheide, sowie deren in den Nerven hin- 
eindringenden Fortsätze und die Blutgefässwandungen werden 
von Carmin intensiv roth gefärbt. 

Die querdurchschnittenen Nervenfasern lassen an erhärteten, 
durch Carmin gefärbten und durch Terpentinöl geklärten Prä- 
paraten die roth gefärbte Primitivscheide, welche ich der Ueber- 
einstimmung mit dem Sarkolemna wegen Neurilemna nenne, 
den meist ebenso gefärbteu Axencylinder und zwischen beiden 
das in der Regel farblos bleibende, durchsichtige Nervenmark 
erkennen. Die Nervenfasern zeigen theils einen mehr oder we- 
niger kreisförmigen , theils einen regel- oder unregelmässig 
vieleckigen Umfang und liegen an den meisten Stellen so dicht, 
dass ihre Primitivscheiden unmittelbar an einander stossen; an 
anderen Stellen trifft man aber bisweilen auch eine geringe 
Menge einer Ausfüllungsmasse zwischen ihnen, besonders wenn 
mehrere Nervenfasern gegen einen Punkt hin sich zusammen- 
drängen. Die Ausfüllungsmasse ist gewöhnlich etwas lichter 
gefärbt als die Primitivscheiden. Ausserdem findet man zwi- 
schen den Nervenfasern zahlreiche, ganz besonders dunkelroth 
gefärbte und meist granulirt erscheinende Kerne von kreisför- 
migem oder länglichrundem Umfange. Sie zeigen an Quer- 
schnitten des Nerven eine Länge von 0,005—0,007 mm. und 
eine Breite von 0,0025 — 0,005 mm., an Längsschnitten eine 
Länge von 0,005—0,015 mm. und eine Breite von 0,004—0,010 
mm. An manchen Stellen sind sie reichlicher, an anderen 
spärlicher vorhanden (Fig. 1. 2,2) — In dem Nervenmark oder 


y.° 


x 
Neurologische Studien. 127 


der Markscheide sieht man, besonders an Durchsechnitten dicker 
Nervenfasern, concentrische Abschnitte von Kreislinien oder 
spirale Linien (Fig. 3), deren schon Lister und Turner!) 
Erwähnung gethan haben und die ohne Zweifel auch von Stil- 
ling?) und Jacubowitsch bemerkt worden sind. Lister’) 
glaubte die scheinbar faserige Beschaffenheit des Nervenmarkes, 
welche an Querschnitten eben jene Linien bedingen sollte, von 
einer baumartig verästelten Anhäufung nadelförmiger Fett- 
oder Margarinkrystalle, welche bei der Erhärtung entstünden, 
herleiten zu müssen. Stilling*) dagegen behauptet, das Ner- 
venmark bestehe aus theils quer-, theils der Länge nach verlau- 
fenden „Fasern oder Röhrchen“, welche „das ölige Nervenflui- 
dum in sich enthalten“ und durch welche eine Verbindung des 
Axencylinders mit der Hülle zu Stande komme. Jacubowitsch 
endlich hat die Ansicht aufgestellt’), dass die Axencylinder 
spirale Bindegewebshüllen besitzen, deren Zwischenräume von 
Nervenmark erfüllt seien und die von benachbarten‘ Nerven- 
fasern mit einander zusammenhängen. Kölliker giebt nun 
die Erklärung ab®), „dass er nicht im Stande war, die Ueber- 
zeugung zu gewinnen, dass die von Stilling gemeinten und 
abgebildeten Theile röhrige Elemente seien* und sagt weiter: 
„Ueberhaupt muss ich für einmal selbst gegen das Vorkommen 


m —— 


1) Some observations on the structure of Nerve-Fibres. Quarterly 
Journal of Microscopical science : including the transactions of the 
Microscopical society of London; edited by Edwin Lankester, M. D., 
F.R.S, F.L.S., and George Busk, F. R. C.S. E., F.R.S., F.L.S., 
No. XXIX, October 1859. London, 1859. — Journal of Microsco- 
pical science, p. 31.; Pl. II, Fig. 4. 6.7. 

2) Atlas mikroskopisch-anatomischer Abbildungen zu den neuen 
Untersuchungen über den Bau des Rückenmarks. Frankfurt a. M. 1856. 
Taf. XXIV, Fig. 14—21, 35. 

3) Supplementary observations. A.a.0O. p. 33. 

4) Ueber den Bau der Nervenprimitivfaser und der Nervenzelle. 
Beiträge zur Natur- und Heilkunde. Heft I.: Anatomische und mi- 
kroskopische Untersuchungen über den feineren Bau der Nervenpri- 
mitivfaser und der Nervenzelle. Frankfurt a. M., 1856. S, 6, 9. 

5) Kölliker, Handbuch der Gewebelehre. Dritte Aufl. S. 276. 

6) Handbuch der Gewebelehre. Dritte Auflage. 8. 277. 


128. E. Reissner: 


der fraglichen Bildungen als Theile der normalen Nervenfasern 
und Zellen mich aussprechen, ohne hiermit weiteren Untersu- 
chungen den Weg abschneiden zu wollen. Jacubowitsch’s 
Annahmen anlangend, so richten sich dieselben von selbst und 
scheint es mir nicht nöthig, weiter bei denselben zu verweilen.“ 
Hiergegen habe ich nur zu bemerken, dass Jacubowitsch für 
seine Deutung ebensowohl, als Lister und Stilling, eine 
an sich richtige Beobachtung zur Grundlage gehabt haben mag 
und dass Kölliker diese selbst unberücksichtigt gelassen hat. 
Uebrigens hat bereits Clarke!) Lister’s und Stilling’s An- 
sichten als irrthümlich erkannt, indem er die Entscheidung ab- 
giebt: „The appearances from which they“ (die scheinbaren 
Fasern der Markscheide) „have been inferred resulting solely 
from corrugations, ridges or folds produced in the white sub- 
stance by the action of the chromie acid.“ 

Wenn man die querdurchschnittenen Axencylinder genauer 
betrachtet, so erkennt man bald, dass sie nur selten eine kreis- 
förmige Begrenzung zeigen, häufiger nehmen sie sich sternför- 
mig aus (Fig. 5). Es mag dieses verschiedene Aussehen theils 
von der Erhärtung abhängig, theils blos scheinbar sein. — 
Die Axencylinder entsprechen in ihrer Dicke keineswegs immer 
dem Durchmesser der Nervenfasern; bisweilen sind sie überaus 
fein in _recht starken oder auch in feineren Nervenfasern und 
dann meist ungefärbt, stark lichtbrechend und glänzend. A 
priori wird man die Möglichkeit nicht in Abrede stellen wol- 
len, dass auch die Dicke der Axencylinder durch die Chrom- 
säure bedeutende Veränderungen erleiden könne. Soweit Mes- 
sungen des Durchmessers der Axeneylinder überhaupt mit Si- 
cherheit angestellt werden können, haben sich mir folgende 
Grössen ergeben: 0,0012—0,005 mm. 

Querschnitte des Nervus oculomotorius zeigen ganz un- 
zweifelhaft, dass seine Fasern durchaus nicht, wie Rosenthal 
und nach ihm Ludwig behaupten, alle von nahezu gleicher 
und bedeutender Stärke sind; die dicken Fasern herrschen zwar 


1) Quarterly Journal of Microscopical science, No. XXX. January 
1860. London 1860. ‘Journal of Microscopical science. $. 69. 


» > _ 


Neurologische Studien. 129 


entschieden vor, aber es finden sich auch feinere und sehr feine 
in nicht geringer Anzahl (Fig. 1.2). Die feinen Fasern liegen 
meist in Gruppen beisammen, namentlich an der Peripherie des 
Nerven und in deren Nähe, seltener an verschiedenen Stellen 
im Inneren, ebenso selten einzeln. Die dicksten Fasern haben 
Durchmesser von 0,02—0,025 mm., die feinsten von 0,0025— 
0,0075 mm. Es soll jedoch hiermit nicht gesagt sein, dass 
zwischen den dieken und feinen Fasern keine Uebergänge vor- 
kommen ; es finden sich vielmehr wohl Mittelgrössen ; derartige 
Fasern treten, wenn auch überhaupt nicht spärlich, doch meist 
vereinzelt, sowohl zwischen den dicken, als zwischen den feinen, 
wenn diese Gruppen bilden, auf. Die Unterscheidung von zwei 
Arten von Nervenfasern, wie sie Bidder und Volkmann 
durchzuführen versucht haben, lässt sich nach der Dicke der 
Fasern allein am Nervus oculomotorius des Menschen gewiss 
nicht demonstriren; auf das Bestimmteste muss ich vielmehr 
behaupten, dass die Mittelgrössen in diesem Nerven so häufig 
sind, dass einigermaassen sichere Grenzen zwischen starken 
und feinen Fasern nicht gezogen werden können. Dennoch 
erscheint das bündelweise Zusammenliegen der meisten: feinen 
Fasern auffallend und der Beachtung werth. 

Bei den Untersuchungen an Querschnitten des Nervus ocu- 
lomotorius fiel es mir unangenehm auf, dass ich trotz aller 
Mühe nicht dahin gelangen konnte, ein Präparat herzustellen, 
in dem blos querdurchschnittene Nervenfasern sich sehen lies- 
sen; vielmehr fanden sich immer auch solche , welche kür- 
zere oder längere Strecken in der Schnittfläche verliefen. In 
Uebereinstimmung hiermit zeigten Längsschnitte des Nerven 
theils vereinzelte, theils bündelweise zusammenliegende, quer- 
durchschnittene Nervenfasern (Fig. 4). Ausserdem überzeugt 
man sich auch an Längsschnitten, dass die Nervenfasern 
überhaupt keinen vollkommenen Parallelismus einhalten, son- 
dern überwiegend verschiedene schräge Richtungen verfolgen. 
Ohne Zweifel wird dieses zum Theil, aber wohl nicht ganz 
daraus erklärt werden können, dass der Nerv beim Durch- 
schneiden im frischen Zustande sich etwas contrahirt hat, — 
An der Länge nach vorliegenden Nervenfasern beobachtet man 


7130 E. Reissner: 


zahlreiche quere, glänzende Linien, die entweder. von dem 
Neurilemna oder dem Axeneylinder oder von beiden ausgehen 
und bisweilen ein lockeres Netzwerk bilden (Fig. 4,a); ich be- 
trachte sie alle als aus der Einwirkung der Chromsäure und 
des Terpentinöls hervorgegangen. Der Axencylinder erscheint 
auch hier nicht selten, trotz der Behandlung mit Carmin, ganz 
ungefärbt, glänzend, stark lichtbrechend, ist oft mit querabge- 
henden Aesten versehen und mitunter kaum wahrnehmbar. 
An Nervenfasern, die durch Zerlegen des Nerven vermittelst 
feiner Nadeln isolirt worden sind, fällt vor Allem auf, dass 
alle in ihren Primitivscheiden spindelförmige oder länglich- 
runde, durch Carmin dunkelroth gefärbte Kerne (Fig. 5) be- 
sitzen. An manchen Fasern, wie es mir schien, namentlich an 
dicken, sind sie spärlicher, an anderen, besonders feinen (aa), 
reichlicher vorhanden; an keiner, in einer längeren Strecke iso- 
lirten Faser fehlen sie. Es sind diese Kerne, in denen hin und 
wieder auch ein Kernkörperchen auftritt, offenbar dieselben, 
welche ich schon bei der Beschreibung des Querschnittes er- 
wähnt habe. Solche Kerne sind nun zwar auch von anderen 
Forschern und namentlich schon von Schwann!) an den Pri- 
mitivscheiden der Nervenfasern beobachtet, aber doch noch 
nicht als ein allgemeiner Charakter der Nervenfasern überhaupt 
angesehen worden, wofür ich sie nach zahlreichen Beobach- 
tungen an verschiedenen Nerven des Menschen und mehrerer 
Wirbelthiere halten muss. Wenn Kölliker?) angiebt, dass 
„bei manchen Nervenröhren an der Innenseite der structurlosen 
Scheide Zellenkerne* liegen, so muss ich dagegen anführen, 
dass mir häufig Fasern vorkamen, von deren Scheide die Kerne 
sich theilweise abgelöst hatten (b), ohne dass dadurch die Con- 
tinuität der Scheide unterbrochen war; diese Kerne konnten 
also nicht an der Innenseite der Scheide gelegen haben. Auch 
Schwann glaubte, dass die Kerne an der Innenseite der Scheide 
oder, wie er sich ausdrückte, „an der inneren Fläche der Zel- 


1) Mikroskopische Untersuchungen über die Uebereinstimmung in 
der Structur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen. Berlin, 
1839. 8. 175. Taf. IV, Fig. 9: 0,d. 

2) A.2.0. S. 274. 


Neurologische Studien. 731 


lenmembran“ der Nervenfaser liegen. Durch den Nachweis 
des eonstanten Vorkommens von Kernen in der Primitivscheide 
der Nervenfasern wird die Uebereinstimmung mit dem Sarko- 
lemma der quergestreiften Muskelfasern vollständig. — Die 
Beobachtung, dass feine Nervenfasern in der Regel zahlreichere 
Kerne besitzen, ist vielleicht weiterer Beachtung werth. 

Wie oben angeführt, fanden Purkinje und Rosenthal 
im Nervus oculomotorius Nervenzellen, während Bidder sie 
nicht nachweisen konnte. Ich habe nun allerdings auch Ner- 
venzellen angetroffen, aber doch im Ganzen sehr selten. Unter 
fünf und zwanzig Längsschnitten einer 10 mm. langen Wurzel 
konnte ich nur an vieren je eine Nervenzelle aufünden. Drei 
derselben hatten eine kugelige oder länglichrunde Gestalt und 
liessen keine Fortsätze erkennen; eine dagegen, von dreieckiger 
Form, zeigte wenigstens fünf deutliche Fortsätze (Fig. 4b). 
Bidder und Reichert haben meine Präparate gesehen und 
keinen Anstand genommen, die eben erwähnten Gebilde für 
Nervenzellen anzuerkennen; die ganz naturgetreue Abbildung 
einer derselben wird übrigens ebenfalls jeden etwaigen’Zweifel 
beseitigen. — Die Breite der Zellen beträgt 0,023—0,032 mm., 
ihre Länge 0,025—0,044 mm.; der Durchmesser des Kernes 
0,008—-0,014'mm., der des Kernkörperchens 0,003—0,0038 mm. 
Die Zellen waren durch Carmin lebhaft roth gefärbt, der Kern 
stärker und das Kernkörperchen am stärksten. Verbindungen 
der Zellenfortsätze mit. Nervenfasern konnten nicht nachge- 
gewiesen werden. Ri 


Erklärung der Abbildungen. 

Alle Figuren sind nach Präparaten gezeichnet, welche nach der 
im ersten Capitel meiner neurologischen Studien mitgetheilten Methode 
von dem Nervus oculomotorius des Menschen hergestellt waren. 

Fig. 1. Ein Theil eines Querschnittes, in dem die breiten Nerven- 
fasern überwiegen. 

Fig. 2. Ein Theil eines Querschnittes, in dem die schmalen Ner- 
' venfasern gruppenweise zwischen den breiten liegen. a ein Bindege- 
webskörperchen oder Kern; b ein querdurchschnittenes Blutgefäss. 

Fig. 3. Ein Theil eines Querschnittes, in dem das verschiedene 
Aussehen der querdurchschnittenen Axencylinder und der Marksubstanz 
darzustellen versucht ist. 


! 


132 | E. Reissner: 


Fig. 4 Ein Theil eines Längsschnittes, hauptsächlich aus der 
Länge nach verlaufenden Nervenfasern bestehend. Zwischen diesen 
eine kleine und eine grössere Gruppe querdurchschnittener Nervenfa- 
sern. a eine longitudinale Nervenfaser, in der das häufig sich darbie- 
tende Aussehen des Axencylinders u. der Marksubstanz dargestellt ist, 
b eine grosse Nervenzelle mit fünf oder vielleicht gar sechs Fortsätzen. 

Fig. 5. Isoliıte Nervenfasern. aa feine Nervenfasern mit zahl- 
reicheren Kernen; b ein zum Theil vom Neurilemma abgelöster Kern. 


III. Ueber den Nervus trochlearis des Menschen. 


Rosenthal sagt von diesem Nerven!): „Fibrillas tantum 
majoris ambitus videre potui, in homine !/„0—!/140", in ove“ 
(soll wohl heissen : in bove) „!/so— !/ıso‘' et in ove !/s0— 
so“ *2); Bidder und Volkmann?°): „beim Kalbe ferner 
enthielt der Nervus pathetieus Fasern von 0,00034—0,00056”', 
in der Mehrzahl von 0,00045‘' Dieke, und sympathische Fa- 
sern von 0,00015—.0,00022*®%); Ludwig’): „Der Stamm 
führt breite Röhren.“ Es sind also die Angaben der genann- 
ten Autoren im Allgemeinen dieselben wie über den N. oculo- 
motorius. 

In der Darlegung meiner Untersuchungen des N, trochlearis 
werde ich von allen den Verhältnissen absehen, welche mit 
dem N. oculomotorius übereinstimmen und die jeder Histolog 
ohne Weiteres als auch für den N. trochlearis gültig erkennen 
wird. Besonders hervorgehoben zu werden verdient Folgendes: 
Eine Zertheilung des auf dem Querschnitt von länglichrundem 
oder eiförmigem Umfange erscheinenden Nerven in einzelne 
Bündel durch von aussen eindringende Bindegewebsfortsätze 
findet nicht Statt; es treten solche Fortsätze wohl hin und wie- 
der auf, aber sie sind nur partiell und verbinden sich nicht 


1) A. 2.0. p. 14. 

2) 1/ıro W.L. = 0,0129 mm.; Yıso W.L. = 0,0157 mm.; 1/150 W.L. = 
0,0146 mm.; ?/ı20 W.L. = 0,0183 mm. 

3) A.2.0. 8.54. 

4) 0,00034 P. Z. = 0,0092 mm.; 0,00056 P.Z. = 0,0152 mm. ; 0,00045 
P.Z. = 0,0122 mm. ; 0,00015 P.Z. = 0,0041 mm. ; 0,00022 P.Z.=0,0060 mm. 

5) A.a.0. 8.198. 


Neurologische Studien. 733 


unter einander zur völligen Abgrenzung von Bündeln. Blut- 
gefässe und Bindegewebskörperchen sind verhältnissmässig 
ebenso häufig in diesem Nerven als in dem N. oculomotorius 
vorhanden. Die dieksten Nervenfasern haben einen Durch- 
messer von 0,024 mm.; die feinen, wenigstens 0,005—0,004 mm. 
im Durchmesser betragenden treten vereinzelt oder zu zweien, 
seltener , etwa nur in vier bis fünf Stellen, in Gruppen von 
6—10 Fasern auf. — Nervenzellen habe ich nicht gefunden. 


IV. Ueber den Nervus abducens des Menschen. 


Rosenthal bemerkt über diesen Nerv!): „Quibus* (dem 
über die Function des Nerven Gesagten) „quoque respondit 
qualitas singularum ejus fibrillarum primitivarum, quas in om- 
nibus a me observatis hujus nervi praeparatis ambitus inveni 
sat magni, aequalis et quidem in homine diametri 0,0050— 
0,0074'", in bove 0,0064—80'', in ove 0,0064—80'''*2), Bei 
Bidder und Volkmann fand ich keine Angabe über die 
Breite der Fasern des N. abducens. Ludwig sagt?): „Der 
Stamm enthält 2000-2500 breite Röhren.“ 

Der N. abducens erscheint auch in grösserer Entfernung 
vom Gehirn, d. h. immer noch bevor er die Dura mater er- 
reicht hat, abgeplattet und wird durch von aussen eindringende 
Fortsätze von Bindegewebe in mehrere Bündel zerspalten, 
Seine Fasern finde ich in geringer Menge etwas stärker als die 
des N. trochlearis und des N. oculomotorius, nämlich bis zu 
0,025 mm. im Durchmesser; feine Fasern von 0,007 — 0,008 mm. 
im Durchmesser sind häufig, aber nirgend gruppirt, sondern 
allenthalben zerstreut; nicht weniger häufig treten Fasern auf, 
welche in der Breite Uebergänge zwischen den genannten 
Grössen, darstellen. Fasern von 0,004 mm. im Durchmesser 
kommen überaus selten vor, noch feinere, wie sie in den bei- 


1) A.2. 0. p.16. | 

2) 0,0050 W. L. = 0,0110 mm. ; 0,0074 W.L. = 0,0163 mm. ; 0,0064 
W.L.= 0,0141 mm.; 0,0080 W.L. = 0,0176 mm. 

3) A 028193; 


g 


134 E. Reissner: 


den anderen Augenmuskelnerven angetroffen wurden, habe ich 
vermisst. Nervenzellen fehlen. 


Wie oben mitgetheilt ist, beträgt nach Rosenthal für den 
Menschen die Breite der Fasern des N. oculomotorius 0,0110 
—0,0132 mm., des N. trochlearis 0,0123— 0,0157 mm., des 
N. abducens 0,0110—0,0165 mm. Da diese Angaben hinter 
den höchsten von mir gefundenen Maassen (0,020—0,025 mm.) 
beträchtlich zurückbleiben, nämlich um 0,0037 — 0,0170 mm., 
und da Rosenthal in Betreff der Nervenzellen des N. ocu- 
lomotorius des Menschen (0,0116—0,0170 mm.) ebenfalls be- 
deutend von mir (0,025—0,044 mm.) abweicht, so musste ich 
wohl an eine Prüfung meiner Maassbestimmungen denken, und 
wählte zu dem Zwecke die gefärbten Körperchen eines dünn 
auf dem Objectträger aufgestrichenen, rasch getrockneten Tro- 
pfens meines Blutes; sie gaben einen Durchmesser von 0,0066 
—0,005 mm. Kölliker führt an!), dass „als allgemeine mitt- 
lere Grösse die genauesten Untersucher Harting (Recherch. 
mierometr.) nach Messungen frischer Blutkörperchen 0,0033’ 
(!/z00‘) Breite* — „und Schmidt in Folge der Bestimmung 
getrockneter Blutkügelchen 0,0035'' Breite angeben, während 
nach dem ersteren die mittlere Breite bei verschiedenen Indi- 
viduen 0,0028—0,0036‘‘, nach Sehmidt 0,0032—0,0035’'' be- 
trägt, mit welchen Zahlen auch die der andern bessern Beob- 
achter im Wesentlichen übereinstimmen.“ Da nun 0,0033‘ = 
0,0075 mm. (H.), 0,0035’ = 0,0079 mm. (Sch.) , 0,0028‘ = 
0,0063 mm., 0,0036’ = 0,0082 mm. (H.), 0,0032‘ = 0,0073 mm. 
(Sch.) betragen und nach Schmidt die Werthe überhaupt zwi- 
schen 0,0073—0,0079 mm., nach Harting zwischen 0,0063— 
0,0082 mm. schwanken, so darf ich mein Mikrometer und meine 
Messungen für nahezu richtig ansehen. 


1) Handbuch der Gewebelehre. Dritte Auflage. S. 598. 


J. Wagner: Notiz über einen theilweise dopp. Oentralkanal etc. 735 


Notiz über einen tkeilweise doppelten Centralkanal 
im Rückenmark des Menschen. 


Von 
Dr. JOHANN WAGNER in Dorpat. 


(Hierzu Taf. XVII B.) 


In der Absicht, durch eigene Anschauung zu einem be- 
stimmten Grad von Ueberzeugung über den Verlauf der Ner- 
venwurzelfasern innerhalb des Rückenmarkes zu kommen, un- 
tersuchte ich den Dorsaltheil eines menschlichen Rückenmarkes, 
doch zog ein seltsames Verhalten des Centralkanals alsbald die 
ganze Aufmerksamkeit auf sich. i 

Das untersuchte Rückenmark stammte von einem Menschen 
her, von dessen Antecedentien im Leben leider Nichts in Er- 
fahrung gebracht werden konnte. In Uhromsäure erhärtet, 
darauf mit Carmin imbibirt, alsdann in Spiritus einige Zeit 
aufbewahrt, wurden feine Querschnitte desselben durch Ter- 
pentinöl aufgeklärt und in Canadabalsam allendlich conservirt. 
Der verschiedene Grad in der Färbung durch das Carmin, den 
die das Rückenmark zusammensetzenden Bestandtheile einge- 
hen, bot ein treffliches Hülfsmittel für die Untersuchung des 
Centralkanals und seiner Umgebung dar. Am stärksten gefärbt 
erwiesen sich die Nervenzellen, stärkere Bindegewebsstränge, 
die von der Pia mater in das Rückenmark dringen, die Wan- 
dungen stärkerer Gefässe, die Axencylinder der Nerven und 
das Epithelium des Centralkanals, bei welchem der Kern am 
tiefsten geröthet erscheint, während die Zellmembran und der 
Zelleninhalt nicht diese Intensität der Färbung darbieten. Ge- 
rade die tiefere dunkle Tinction des Epitheliums gegenüber der- 
jenigen, der den Centralkanal umgebenden Massen leistete eine 


736 J. Wagner: 


wesentliche Unterstützung zur Unterscheidung desselben in der 
Umgebung. Beachtenswerth ist es, dass die Blutkörperchen, 
die in den Gefässen sich zeigen, durch das Carmin gar nicht 
verändert waren, sondern ihre gelbliche Tinction vollständig 
beibehalten hatten. Eine besondere Reihenfolge in der Inten- 
sität der Färbung jedoch, wie sie Goll!) aufstellt, konnte ich 
nicht bemerken. 

Der Centralkanal erscheint auf Querschnitten (vgl. Fgg.) bald 
einfach, bald doppelt, bald sieht man nur noch eine Andeutung 
von einem Lumen, bald verschwindet er gänzlich. Der Einwir- 
kung der Chromsäure auf das Rückenmark sind diese verschiede- 
nen Veränderungen nicht zuzuschreiben, da aufeinander folgende 
Schnitte schon ein anderes Bild aufweisen, es aber durchaus 
nicht plausibel erscheint, dass die Chromsäure in so nahe ge- 
legenen Punkten immer anders eingewirkt haben soll. 

Vor allen Dingen fällt es sofort in’s Auge, dass die Lage 
des Oentralkanals keine normale ist. Er liegt nämlich nicht 
in der Axe des Rückenmarks, die vom Suleus longitudinalis an- 
terior zur Fissura longitudinalis posterior geht, sondern 1/;—1 
Par. Linie nach links (unter dem Mikroskop also nach rechts), 
und zwar mit seinem rechten Rande, so dass die Mitte des 
Lumens noch um ein Weniges mehr abweicht. Diese grössere 
oder geringere Verschiebung hängt ab von Veränderungen der 
Umgebung , die später erörtert werden sollen. Es ist aber 
nicht zu verschweigen, dass bei diesem Rückenmarke auch der 
Suleus longitudinalis anterior zumeist verschoben ist. Weniger 
ist dies der Fall mit der Fissura longitudinalis posterior, die 
ich daher zur Bestimmung der Abweichung gebrauchte. In 
Bezug auf die Lage des Kanals zur Queraxe des Rückenmarks 
bemerkte ich keine Abweichung, 

Wo der Centralkanal wirklich einfach ist, nicht aber durch 
Verschwinden des einen Lumens des doppelten Kanals ent- 
standen, zeigt er meist eine querovale Form, indem der Brei- 
tendurchmesser denjenigen von vorn nach hinten bei Weitem 


1) Beiträge zur feineren Anatomie des menschlichen Rückenmarks. 
1860. S. 6. 


Notiz üb. einen theilw. dopp. Centralkanal im Rückenmark d, Mensch, 737 


übertrifft. Von dieser Form ausgehend, kommen die verschie- 
denen Modificationen vor. Der hintere Rand wird geradlinig 
(Fig. 1), oder mehr oder weniger concav; bald ist der eine 
Theil des Randes mehr nach vorn gedrängt, dort das Lumen 
verengert, so dass es eine flaschenförmige Gestalt annimmt; 
bald geht der hintere Rand in der Mitte in eine Spitze aus, 
indem die Seitentheile desselben stark eingebuchtet sind, dann 
tritt eine herzartige Form des Kanals vor, bald ist das Lumen 
nur noch eine feine querverlaufende Spalte (Fig. 6); endlich 
findet er sich von verschoben rhombischer Form oder ganz 
unregelmässig gebildet. Der vordere Rand variirt nicht in 
gleichem Maassstabe, vielmehr bleibt er zumeist einfach bogen- 
förmig. Je schmäler‘ der Durchmesser von vorn nach hinten 
wird, desto breiter der Querdurchmesser. 

Bei doppeltem Centralkanal (Fig. 2) sind die Lumen meist 
schön rund, seltener schwach queroval. Verschwindet nun eines 
dieser Lumen, so tritt ein einfach runder Kanal dem Auge ent- 
gegen; dieser aber entspricht nicht dem ursprünglich einfachen, 
wie solches aus der Reihenfolge der Schnitte hervorgeht, wo 
das eine Lumen immer kleiner wird, ehe es. gänzlich schwindet; 
es spricht ferner hierfür die Stellung der Epithelien und die 
Grössenverhältnisse des Lumens. | 

Das Lumen des einfachen querovalen Oentralkanals ist um- 
geben von einem vollständigen Epithelkranz, welcher ohne Un- 
terbrechung es umgiebt. Wo der Kanal Formveränderungen 
eingeht, findet sich stets diese Continuität aufgehoben; an beiden 
Seitenenden des Kanals (Fig. 1. 6) ist der Kranz unterbrochen; 
wo er rhombisch ist, sind es die beiden Seitenwinkel, an denen 
die Zellen sich von einander getrennt haben, Es macht den 
Eindruck, als ob einem Drucke in der Richtung von vorn nach 
hinten die Adhäsion der Epithelialzellen an einander nicht mehr 
Widerstand leisten konnte und daher an den beiden Enden die 
Zellen von einander gerissen wurden, sowie ein in einer Rich- 
tung zusammengedrückter Reifen an den dem stärksten Druck 
ausgesetzten Stellen platzt. In einzelnen Präparaten war ein 
Theil des Epithelialkranzes losgelöst und lag dann frei im 
Lumen, oder es fehlte ein Theil desselben gänzlich; ich glaube 


738 J. Wagner: 


dies meist der Einwirkung des Messers zuschreiben zu müssen. 
Bisweilen erscheint es allerdings, als ob die das Epithelium 
umgebende Masse in das Lumen des Kanals hineinwucherte 
und die Epithelialauskleidung an diesen Stellen lostrennte. — 
Viei interessanter ist das Verhalten des Epithels bei doppeltem 
Centralkanal; auch hier umgiebt es sauber und nett die Lumen 
vollständig, geht aber noch über dieselben hinaus, indem in 
der Mitte der äusseren Seite jedes Lumens noch Epithelialzellen 
(F) sich zeigen, die an einander gedrängt, in die Substanz der 
Umgebung eingebettet liegen; vom vorderen, inneren Theile 
eines Lumens geht das Epithelium bogenförmig zu dem ent- 
sprechenden Theile des andern ; an,der hinteren Partie des 
Lumen ist dies nicht so der Fall. Das Bild (Fig. 2), welches 
man so erhält, gleicht vollständig dem einer Brille, wo die 
beiden Lumen den Gläsern, die Epithelbekleidung der Einfas- 
sung, der vordere Bogen dem Nasenbogen, die an der äusseren 
Seite liegenden Zellen den Klammern, an welchen die Brillen- 
stangen befestigt sind, entsprechen. Nicht immer sind aber 
beide Lumen so wohl begrenzt, bisweilen findet sich nach innen 
zu der Kranz nicht vollkommen abgeschlossen. 

Sind jene die Lumen verbindenden und über sie hinausge- 
henden Zellen nun wirkliche Epithelialzellen? Es ist das un- 
bedingt zu bejahen. Man erkennt in vielen Fällen noch die 
ganzen Zellen in ihrer cylindrischen Form mit dem granulirten 
Kerne ganz deutlich; gewöhnlich ist nur der Kern deutlich 
hervortretend, die Zellenmembran dagegen nicht mehr zu un- 
terscheiden. Die Continuität ferner, in der sie mit den Cylin- 
derzellen, welche die Lumen umgeben, stehen, ist ein weiterer 
Beweis dafür. Wie schon früher bemerkt, ist es die dunkle 
Färbung der Epithelzellen, namentlich der Kerne derselben, 
welche uns hier ein gutes Mittel in die Hand giebt, sie, selbst 
in ihren Rudimenten in die umgebende Substanz eingelagert, 
noch zu erkennen. Den sichersten Beweis liefern aber auf- 
einander folgende Schnitte, in denen ein Lumen sich mehr und 
mehr verkleinert und endlich ganz schwindet, dann zeigt auf 
der anderen Seite das Lumen des zweiten Kanals auf derselben 
nur noch einen Haufen dunkel gefärbter Zellen, an denen bis- 


Notiz üb. einen theilw. dopp. Centralkanal im Rückenmark d. Mensch. 739 


weilen noch in einer Partie sich eine kreisförmige Stellung 
zeigt (Fig. 3Z). Ein gleiches Verhalten hat Prof. Reissner 
am Cerviealtheil desselben Rückenmarks beobachtet. Schwin- 
den beide Kanäle, so sieht man nur eine spindelförmige, dun- 
kel gefärbte Insel (Fig. #) aus der helleren Umgebung sich 
hervorheben, in der man noch zuerst leicht .die Epithelialkerne 
erkennt, bald aber auch diese nicht mehr genau begrenzt findet; 
dann zeigt sich nur eben noch eine dunkel gefärbte Masse in 
der Umgebung, die endlich auch vollständig schwindet. Auf 
ähnliche Weise verändert sich der ursprünglich einfache, quer- 
ovale Kanal; er wird mehr und mehr von vorn nach hinten ver- 
schmälert, während die Breitendimension zunimmt, so dass das 
Lumen zuletzt einen schmalen, querverlaufenden Spalt zwi- 
schen beiden Epithelialzellenreihen bildet (Fig. 6); letztere ver- 
einigen sich dann; man sieht beide Reihen ganz an. einander 
liegen, Weitere Schnitte von dieser Stelle aus zeigen bald 
keine Andeutung mehr davon. 

Einen eben so wichtigen Beweis, dass die beiden Kanäle 
aus dem einfachen Kanal hervorgegangen sind, liefern die 
Grössenverhältnisse. Der einfache Kanal varürt in der Dimen- 
sion von vorn nach hinten, von einer eben sichtbaren Linie 
zwischen den zwei Epitheliumreihen bis zu 0,16 mm., zumeist 
schwankend zwischen 0,05 — 0,09 mm. Der Querdurchmesser 
dagegen fällt zwischen 0,25>—0,55 mm., zumeist 0,285—0,325 mm. 

Bei dem doppelten Kanal finden sich folgende Verhältnisse. 
Es ist früher erwähnt, dass sich vom äussern Ende der Lumen 
die Epithelien noch eine Strecke weiter fortsetzen. Sind nun 
beide Kanäle aus einem entstanden, so müssen die Dimensionen 
beider Kanäle, der Zwischenraum zwischen ihnen und die dar- 
über hinausgehenden Epithelien der Breitendimension des ein- 
fachen Kanals entsprechen. 


Querdurchm. d.unt, Querdurchm. d.unt. Zwischenraum Ganz. Raum, 
d. Mikroskop rech- d.Mikroskop linken zwisch.d. beid. den d.Epith, 


ten Lumens. Lumens. Lumina einnehmen. 
0,09 2m 0,09% nm. 9 0,11 me. 044 min. 
MOTSH scannen 50,048, - artists, 1diesläre VO54E 
DEORS 7 ot 2.0... -0,138,.0.0% ..0,49 
OD RR ar OLE 0,45 
MU 2 an 1 0 lan. ns RN 01T 3054 


0,045 ® F} . . . 0,055 ° . e a 0,15 ° s * 0,5 
Reichert’s u. du Bois-Reymond’s Archiv. 1861, 48 


= 


740 J. Wagner: 


Nahezu gleichen Düichmesser hat dieser von Epithelien einge- 
nommene Raum, w« ein oder der andere Kanal verschwunden ist. 


Querdurchmesser d.unt.d. Querdurchm. d.unt.d. Ganz. Raum, den 
Mikroskop rechten Lumens. Mikrosk. linken Lumens. d re einnehm. 


OR OS Da 1 ee 11.) 25, 1.21 5 Tee 0,5 mm. 
BOBHTE . Ivan EEE on: ct N. Kramebe ne 0,55 
0,05: 7:05 2 800) oe. SL Cole ie 
SIE AD 005 mm PR EEDT 
nd Fe NR, arisser ne Scope Be 


Einen eben so grossen Raum endlich nimmt die Epithelieninsel 
ein, wo beide Kanäle verschwunden sind. Es stimmt also der 
ganze Raum, welchen die Epithelien inne haben, mit der Aus- 
dehnung des einfachen Centralkanals in der Quere überein, 
namentlich mit dem mehr spaltenförmigen einfachen Kanal. 

An einem Präparate (Fig. 5) konnte man die Bildung des 
doppelten Kanals deutlich sehen. An der hinteren Wand, ge- 
sen die Mitte zu, drängten sich die Epithelien in Form einer 
Spitze gegen die vordere Wand, so dass der Raum des einfa- 
chen Kanals in zwei Lumen zerfällt, von welchen das unter 
dem Mikroskop rechte 0,065 mm., das linke 0,19 mm., der 
Zwischenraum 0,02 mm. einnahm. Der ganze Raum inel. die 
Epithelien ist 0,36 mm. breit. — Nach allen diesen Gründen 
muss man den doppelten Kanal als aus dem einfachen hervor- 
gegangen betrachten. 

Zumeist ist das Lumen, resp. die beiden Lumina des Cen- 
tralkanals ganz leer. An einzelnen Schnitten sieht man eine 
lichte, etwas granulirte Masse an einem Theile des Epithelial- 
kranzes liegen; morphologische Elemente sind darin nicht auf- 
zufinden. Es ist diese Masse wohl als durch die Chromsäure 
geronnener Liquor cerebro-spinalis aufzufassen. An anderen 
Stellen zeigten sich häufig an den Epithelialzellen dicke, helle, 
' einzeln stehende Härchen (Fig. I). Ich möchte sie nicht für 
Flimmerhärchen der Zellen erklären, vielmehr auch in die Ge- 
rinnung des Liquor cerebro-spinalis ihre Entstehung setzen. 
An ganz grossen Partieen des Rückenmarks, namentlich wo 
zwei Lumina vorhanden sind, finden sich diese ganz vollge- 
stopft mit ovalen, granulirten, dunkel gefärbten Körperchen, 
in denen man mitunter ein kleines Bläschen bemerkt. Sie sind 
als Kerne der Epithelien zu nehmen, mit denen sie vollständig 


Notiz üb. einen theilw. dopp. Centralkanalim Rückenmark d. Mensch. 74] 


übereinstimmen. An einzelnen Präparaten, wo Epithelialzellen 
abgelöst im Lumen sich vorfanden, traf es sich, dass einzelne 
geplatzt waren und der Kern frei lag; sie gehörten zu demselben 
Gebilde. Eine sie umgebende Zellmembran konnte ich an sol- 
chen, die gepresst an einander lagen, nicht nachweisen, Von ge- 
schrumpften Blutkörperchen, mit welchen sie möglicher Weise 
zu verwechseln waren, unterscheiden sie sich schon durch ihre 
Färbung, da ich letztere in den Gefässen nie von Carmin ge- 
färbt, sondern stets in ihrer gelblichen Tincetion erhalten vor- 
fand ; auch in der Grösse sind die Blutkörperchen bedeutend 
nachstehend. 

In der Umgebung des einfachen Kanals liegt eine wenig 
gefärbte, leicht granulirte Substanz, in der dunkle Pünktchen 
und kleine, stärker gefärbte, unregelmässige Schollen wahrzu- 
nehmen sind. Besondere Formelemente konnte ich darin nicht 
erkennen. Diese Masse (Fig. IC) liegt zu beiden Seiten des 
Centralkanals am meisten angehäuft, nach hinten findet sie sich 
ebenfalls, wenn auch in geringerer Menge, vorn dagegen zeigen 
sich kaum einige Andeutungen von ihr. Ebenso ist es bei dop- 
peltem Lumen ; hier wird noch der Zwischenraum zwischen 
beiden von dieser Substanz ausgefüllt. Man sieht hier stets 
hinten an einer Stelle eine Continuitätsunterbrechung der Epi- 
thelzellen, so dass die umgebende Masse und die zwischen den 
Lumina liegende ununterbrochen in einander übergehen (Fig. 
2C). Je mehr Abweichungen der Centralkanal zeigt, desto 
geringer ist diese Masse; bei spaltförmigen Lumen sieht man 
an den beiden Enden noch Spuren von ihr. In gleicher ge- 
ringer Menge ist sie vorhanden, wo sich nur noch eine Epi- 
thelialinsel (Fig. 4C) zeigt, die, wie früher erwähnt, durch 
das Verschwinden der beiden Lumina entstanden ist. 

Im Gegensatze zu dieser Abnahme der erwähnten Masse 
findet sich das Bindegewebe um den Centralkanal in um so 
grösserer Menge entwickelt, je grössere Abweichungen derselbe 
zeigt. Es kennzeichnet sich aber das Bindegewebe (D) durch 
die Kerne der Bindegewebskörperchen (U), die man verfolgen 
kann von dem Bindegewebsstrang der Fissura longitudinalis 
posterior, einem unstreitig bindegewebigen Gebilde, in die hin- 

48* 


742 | J. Wagner: 


tere Commissur hinein. — Auch vor dem Centralkanal liegt 
ein Streifen Bindegewebe (U) hinter der Nervencommissur (Fig, 
1. 2. J). Bei einzelnen Präparaten traf es sich durch Zufall, 
dass der Centralkanal durch Druck auseinander gesprengt war, 
und von dem losgelösten Epithelium einige Bindegewebskör- 
perchen sich isolirt hatten, an denen man deutlich um den 
Kern die Zellenmembran, ihn eng umschliessend und nach bei- 
den Seiten spitz zulaufend erkannte, Sonst ist es mir nicht 
gelungen, die Zellmembran zu erkennen ; man sieht nur die 
dunkel gefärbten Kerne in einer fasrigen Masse liegend. Die 
Fasern laufen meist, wenn sie auch untereinander sich verfil- 
zen, von einer Seite zur anderen, so dass dadurch ein gestreif- 
tes Ansehen hervorgebracht wird. Am mächtigsten entwickelt 
zeigt sich dieses Bindegewebe an denjenigen Partieen des 
Rückenmarks, wo von einem Centralkanal nicht eine Spur mehr 
erkannt wird und von seinem Epithelium sich nur noch einige 
Kerne unterscheiden lassen (Fig. 7F). Hier ist nur eine 
verfilzt fasrige Masse zu sehen, von der nach vorn, an der 
Stelle, wo normal die vordere Nervencommissur liegt, ein gro- 
bes Netzwerk von Bindegewebe (Fig. 7P), in dem einzelne 
querdurchschnittene längslaufende Nervenfasern (K) sich zeigen. 
‚Dieses Netzwerk läuft nach vorn mit einem bindegewebigen 
Strang (M) zusammen, welcher der Fortsatz ist, den die Pia 
mater zum Sulcus longitudinalis anterior hineinschickt. Ein 
eigentlicher Sulcus longitudinalis anterior ist dann gar nicht 
vorhanden, sondern nur ein dicker Bindegewebsstreifen, der die 
beiden vorderen Nervenstränge von einander hält, in welche 
er dicke Bindegewebsstreifen hineinschickt. 

An allen, selbst den feinsten Schnitten sieht man, dass die 
Kerne im Epitheliumkranze nicht blos in einer Reihe liegen; 
mehr nach hinten von dem Kerne einer Zelle, und in dem Zwi- 
schenraum zwischen zwei Cylinderzellen sieht man immer noch 
Kerne auftreten, z. B. Fig. 5, so dass die Kerne eine Zick- 
zacklinie darstellen. Eigene Membranen um diese mehr nach 
hinten liegenden Kerne konnte ich durchaus nicht erkennen. 
Man erblickt oft drei, vier hintereinander liegende Kerne, so 
dass sich oft ein dicker Kranz um den Kanal vorfindet, an 


Notiz üb, einentheilw,dopp. Centralkanal im Rückenmark d. Mensch. 743 


einzelnen Zellen stärker, an anderen weniger auffällig. Ganze 
Partieen des Rückenmarks endlich zeigen das Lumen, resp, die 
Lumina vollgepfropft mit Kernen der Epithelien. 

Die Verschiedenheiten, die auch die anderen Theile des 
Rückenmarks auf Querschnitten zeigen, namentlich die Hörner 
der grauen Substanz, bedürfen eines eingehenderen Studiums, 
so das Fehlen der vorderen Nervencommissur, das theilweise 
Verschwinden der hinteren Hörner, die verschiedene Gestalt 
und Grösse der vorderen Hörner in einem (Querschnitt, die 
Menge grosser Gefässe an den verschiedenen Stellen des 
Marks. Sie liegen nicht so klar da, als es bei den Verände- 
rungen des Centralkanals der Fall ist, und ist es mir vorläufig 
unmöglich, ohne sorgfältige Vergleichung mit einem normalen 
Rückenmarke darüber genauere Data geben zu können. Jeden- 
falls steht soviel fest, dass hier im Innern des Rückenmarks 
pathologische Veränderungen vorgegangen sind, obgleich aus 
dem äusseren Ansehen nicht darauf zu schliessen war. Man 
darf daher nicht ohne Weiteres jedes Rückenmark, welches 
äusserlich keine pathologischen Veränderungen zeigt, für ein 
normales halten, und ich glaube nicht zu irren, wenn ich der 
Vernachlässigung dieses Umstandes viele Meinungsdifferenzen 
der Autoren über den feineren Bau des Rückenmarks zuschreibe, 

Wer Präparate aus den verschiedenen Gegenden der Pars 
dorsalis dieses Rückenmarks, ja wer nur zehn auf einander 
folgende Durchschnitte gesehen hat, dem wird sogleich der 
Einwurf, diese Veränderungen. könnten durch die Einwirkung 
der Chromsäure entstanden sein , als unhaltbar erscheinen. 
Er wird vielmehr alsbald die Ueberzeugung gewinnen, dass 
hier ein pathologischer Process stattgefunden hat. Es ist die 
übermässige Entwickelung des normal vorkommenden Binde- 
gewebes, dieses alten Sünders unter den Geweben, das hier, 
wie im Inneren anderer Organe, die Veränderungen und den 
Schwund der anderen Gewebe zu Wege gebracht hat. Die 
stärksten Veränderungen fallen mit der grössten Masse des 
Bindegewebes zusammen (Fig, 7). 

Weit schwieriger ist es zu beurtheilen, in welchem Ver- 
hältnisse die oben erwähnte granulirte Masse (C) und das 


TAA J. Wagner: 


Bindegewebe zu einander stehen. Evident ist, dass, je gerin- 
ger jene Masse sich zeigt, desto mehr Bindegewebe um den 
Centralkanal sich vorfinde. Man könnte versucht sein, aus 
diesem Wechselverhältnisse zu schliessen, dass das Eine aus 
dem Anderen sich hervorbilde. Indess finden sich in jener 
Masse durchaus keine morphologischen Elemente, wie sie in 
neu sich bildendem Bindegewebe zu sehen sind. Vielleicht 
könnte man diese granulirte Masse als eine durch die Einwir- 
kung der Chromsäure oder schon während des Lebens spontan 
geronnene Flüssigkeit, ein Exsudat, auffassen, das ebenso wie 
die Epithelien und die übrigen Bestandtheile des Rückenmarks 
durch Wucherung des Bindegewebes verdrängt wird. 

Vor und hinter dem Oentralkanal hat sich das Bindegewebe 
vermehrt, dadurch entsteht die querovale Gestalt des Kanals, 
der immer mehr im Querdurchmesser zunimmt, von vorn nach 
hinten dagegen so abnimmt, dass schliesslich die Epithelien auf 
einander liegen. Unschwer lässt sich daher auf einen Druck 
von vorn nach hinten schliessen, der diese Veränderung zu 
Wege gebracht hat. Für einen solchen Druck spricht noch, 
dass der Epithelkranz an den beiden Seitenenden geplatzt ist. 

Für die so sonderbare Erscheinung eines doppelten Kanals, 
glaube ich, reicht diese Erklärung nicht aus. Wir sehen hier 
‚stets am hinteren Rande und in dem Zwischenraum beider Lu- 
mina die granulirte Masse sich zeigen; vorn dagegen geht das 
Epithelium in einem geschlossenen Bogen von einem Lumen 
zum anderen. Nicht so hinten; dort ist stets an einer Stelle 
die Continuität der Epithelien unterbrochen und durch diese 
Unterbrechungsstelle geht die granulirte Substanz in den Zwi- 
schenraum der beiden Lumina hinein. Die granulirte Masse 
scheint hier die Epithelzellen nach vorn und aussen bis zur 
vorderen Wand gedrängt zu haben und so zur Bildung zweier 
Lumina die Veranlassung gegeben zu haben. Oefters ist die 
Umgränzung der Kanäle nicht vollständig; in diesem Falle ist 
die Lücke stets nach innen. — In Fig. 5 liegt in der Einbucht, 
die der hintere Rand des Epitheliums zeigt, diese granulirte 
Masse, die in der Figur nicht gezeichnet ist, am stärksten an- 
gehäuft; auch bei Einbuchtungen des Epithelkranzes, die der 


Notiz üb, einen theilw. dopp. Centralkanalim Rückenmark d, Mensch. 745 


einfache Kanal zeigt, liegt diese Masse in stärkerer Ver- 
breitung. 

Die Veränderungen des Oentralkanals und seiner Umgebung 
zeigen an verschiedenen Stellen nicht dieselbe Höhe. Von den 
leichtesten Formveränderungen des Kanals bis zum gänzlichen 
Schwund desselben zeigen sich die mannigfachsten Uebergänge. 
Wir sind gezwungen anzunehmen, dass der pathologische Pro- 
cess, entweder — wenn die Veränderungen gleich rasch vor sich 
gingen — an den verschiedenen Stellen des Rückenmarks nicht 
in gleicher Zeit angefangen hat, oder dass dieser Process an 
den einzelnen Stellen nicht mit gleicher Heftigkeit vor sich 
ging. Man wird immerhin auf eine gewisse Dauer des Pro- 
cesses schliessen können, indem plötzliche Veränderungen wohl 
kaum einen solchen Effect hervorgebracht haben konnten, wie 
die Bildung von zwei Centralkanälen und deren vollständige 
Umgrenzung durch einen Epithelkranz. Die Bedingungen zur 
Bildung eines doppelten Kanals waren ebenso im Halstheile 
vorhanden, wo Professor Reissner, wie schon erwähnt, eben- 
falls die zwei Lumina fand, von denen einer, immer kleiner 
werdend, gänzlich verschwand. 

Alle Beobachter führen in Bild und Wort an, dass der 
Centralkanal von einer einfachen Reihe Oylinderzellen ausge- 
kleidet ist. Das ist auch bei diesem Rückenmarke der Fall. 
Indess zeigt sich hier der sonderbare Umstand, dass die Zahl 
der Epithelialkerne die der Zellen bei Weitem übertrifft, indem 
hinter den Zellen sich noch Kerne deutlich markiren, oft nur 
an einzelnen Stellen, oft um den ganzen Epithelialkranz her- 
um; an ganzen Strecken ist, wie schon angeführt, das Lumen, 
resp. die Lumina ganz mit Epithelialkernen angefüllt, ohne dass 

man diese Kerne auf die Cylinderzellen reduciren könnte, die 

umher liegen, und jede ihren eigenen Kern besitzt. Ob diese 
Zellen alle zu Cylinderzellen gehört haben, lässt sich nicht be- 
urtheilen ; Zellenmembranen um sie herum sind nicht zu un- 
terscheiden; man ist aber gezwungen, eine a zus der 
Kerne anzunehmen. 

Es kann nicht gerechtfertigt erscheinen, aus diesen Befun- 
den an einem pathologisch entarteten Rückenmarke die An- 


TA6 & J. Wagner: 


gaben verschiedener Autoren ‘über den Bau des normalen 
Rückenmarks beurtheilen zu wollen. Indessen wirft es doch 
Streiflichter auf einzelne Angaben. So hat bekanntlich Köl- 
liker!) anfänglich behauptet, dass es beim Erwachsenen nor- 
mal keinen Kanal giebt, und Stilling?) hat versucht, einige 
Quartseiten hindurch diese Behauptung durch die Einwirkung 
der Chromsäure erklärlich zu machen. Sollte nicht Kölliker 
ein ähnliches Bild wie Fig. 4 vor Augen gehabt und die Epi- 
thelialzellen für Nervenzellen gehalten haben ! 

Einen doppelten Kanal haben schon Gall und Spurz- 
heim?) angegeben, doch fehlt der Nachweis, dass dieser der 
Centralkanal war, indem sie die Epithelialbekleidung desselben 
nicht kannten und so jede beliebige Lücke in der Gegend des 
Centralkanals für diesen nehmen konnten. An den Seiten und 
etwas nach vorn von ihm liegen noch in diesem Rückenmarke 
zwei Lücken, die den Centralkanal an Grösse weit übertreffen. 
Sie sind an Durchschnitten oft leer, indem die grossen, die 
Länge des Rückenmarks durchziehenden Gefässe herausgefallen 
sind, die man in anderen Durchschnitten noch darin findet. 
Diese Gefässe stehen von dem Rande der Lücken weit ab, 
was wohl nur bei erhärtetem Rückenmark vorkommen wird. 
Ich stimme der Meinung Lenhossek’s*) bei, dass diese Lücken 
von Gall und Spurzheim für einen doppelten Centralkanal 
gehalten worden sind. Calmeil soll, wie Lenhossek eben- 
daselbst angiebt, drei Centralkanäle gesehen haben. Ich habe 
diese drei Lumina an diesem Rückenmarke schon mit unbe- 
waffnetem Auge sehen können. Unter dem Mikroskop erwie- 
sen sich diese drei Lumina als der wirkliche, einfache Central- 
kanal und als die beiden oben erwähnten Gefässlücken. Ab- 
bildungen davon geben ausser Lenhossek, Clarke?) u. Goll)g 

1) Mikroskopische Anatomie. Band]. S. 411. 

2) Neue Untersuchungen über den Bau des Rückenmarks. S.11. 

3) Recherches sur le systeme nerveux en general et sur celui du 
cerveau en particulier. TomeI. p. 39. 

4) Neue Untersuchungen über den feineren Bau des centralen 
Nervensystems des Menschen. S. 22. 

5) Researches into the Structure of the spinal chord. Philosophical 
transactions. 1851. Plat. 25, Fig. 13. 


6) Beiträge zur feineren Anatomie des menschlichen Rückenmarks, 
Taf. III, Fig. 6. 


Notiz üb. einen theilw. dopp. Centralkanal im Rückenmark d. Mensch. 747 


Ein wirklicher doppelter Centralkanal muss in seinen bei- 

den Lumen von Epithelium ‚ausgekleidet sein, und es beruhen 
die Angaben früherer Autoren höchst wahrscheinlich auf einer 
Verwechselung mit jenen beiden Gefässlücken. Ein wirklicher 
doppelter Centralkanal ist ein Curiosum, das wohl noch nicht 
beobachtet worden ist und nicht so bald einem Beobachter vor 
die Augen kommen wird. Ich habe daher vorliegende Notiz 
veröffentlicht, indem ich glaube, dass eine solche Seltenheit 
wohl verdient, bekannt zu werden, anderseits um spätere For- 
scher möglicherweise davon abzuhalten, pathologische Erschei- 
nungen nicht ausser den Bereich der Beurtheilung zu stellen, 
wenn sie äusserlich auch das zu untersuchende Rückenmark 
intaet finden. 
Ob und welche Veränderungen in den Functionen des Rücken- 
marks während des Lebens stattfanden, lässt sich durchaus 
nicht beurtheilen; leider fehlt ja auch jede Nachricht über die 
Person während ihres Lebens. Der gänzliche Schwund der 
vorderen Nervencommissur lässt aber gewiss den Schluss auf 
Bewegungsstörungen in der Rumpfmusculatur zu. 


Erklärung der Abbildungen. 


Die Abbildungen sind möglichst genau nach den Präparaten ge- 
zeichnet. Sie zeigen nur den Centralkanal und seine Umgebung, Der 
Unterschied der Färbung durch Carmin ist versucht worden, durch den 
dunkleren und helleren Ton wiederzugeben, Vergr. 300. 

Fig. 1. Der einfache Centralkanal und seine Umgebung. A Lu- 
men des einfachen Kanals; B Epithelialauskleidung desselben ; C die 
granulirte Masse um den Centralkanal ; D hintere Commissur, aus 
Bindegewebe bestehend; E Spitze, in welche die hintere Commissur 
ausläuft (es ist die Fortsetzung des bindegewebigen Stranges, der, von 
der Pia mater ausgehend, die hinteren Stränge des Rückenmarks schei- 
det); G durchschnittenes Gefässlumen ; H Bindegewebszug vor dem 
Centralkanal ; I vordere Nervencommissur ; K durchschnittene längs- 
verlaufende Nervenfasern in der vorderen Commissur ; U Kerne der 
Bindegewebskörperchen. 

Fig. 2. Doppelter Centralkanal. C, D, H, I,K, U wie in Fig. 1. 
F Epithelialzellen und Epithelialzellenkerne, eingebettet in die umge- 
bende Substanz; L Lumen des linken (unter dem Mikroskop rechten) 
Kanals; R Lumen des rechten Kanals. 


7A8 N. Lieberkühn: 


Fig. 3. Einfacher Kanal, aus dem doppelten entstanden. C,D, 
G, H, U wie in Fig. 1. L, F wie in Fig. 2. Z Andeutung eines 
Lumens durch eine kreisförmige Anordnung der Epithelien. 

Fig. 4. Fehlen des Centralkanals. C,D,G, H, U wie in Fig. 1. 
F wie in Fig. 2. X lichte Stelle, an dem Ort, wo in Fig. 3 der 
linke Kanal (L) gelegen ist. 

Fig. 5. Sich bildender doppelter Kanal. L, R wie in Fig. 2. 

Fig. 6. Spaltförmiger einfacher Centralkanal. Bezeichnungen 
wie in Fig. 1. 

Fig. 7. Vollständiges Verschwinden des Centralkanals. E Spitze 
der hinteren Commissur wie in Fig. 1.; F Reste von Epithelzellen, 
ganz undeutlich zu erkennen; G grosses Gefässlumen, von Blutkörper- 
chen angefüllt; K Durchschnitte längsverlaufender Nervenfasern ; P Netz 
von Bindegewebe an Stelle der vorderen Nervencommissur, die gänz- 
lich verschwunden ist; M bindegewebiger Kranz, der zur Pia mater 
geht und die beiden Vorderstränge des Rückenmarks scheidet; Q@ ver- 
filztes Bindegewebe, welches den ganzen Verbindungstheil der Rücken- 
markshörner bildet; T Netzwerk von Bindegewebe in dem linken hin- 
teren Kranz; S bindegewebige Partie, die sich weiter nach vorn und 
innen mit der Fortsetzung von M verbindet; O querdurchschnittene 
Nervenfasern des hinteren Nervenstranges; N querdurchschnittene Fa- 
sern des vorderen Nervenstranges; U Bindegewebskörperchen. 


Ueber den Abfall der Geweihe und seine Aehn- 
lichkeit mıt dem carıösen Process. 


Von 
N. LIEBERKUEHN. 


(Hierzu Taf. XVIII u. XIX). 


Berthold giebt über den Vorgang des Abwerfens der Ge- 
weihe Folgendes an (Beiträge zur Anatomie, Zootomie und 
Physiologie: Ueber das Wachsthum, den Abfall und die Wie- 
dererzeugung der Hirschgeweihe, S. 39): Es unterliegt keinem 
Zweifel, dass dabei eine rege Aufsaugung von verbindender 
Knochenmasse entweder mittels der Blutgefässe oder durch be- 
sondere Lymphgefässe vor sich gehe. Der Process findet aber 
nicht in dem über dem Rosenstock nackt hervorstehenden Ge- 


Ueber den Abfall der Geweihe, 749 


weih, sondern im Rosenstock selbst Statt, was daraus erhellet, 
dass der Rosenstock mit dem Wechsel alljährlich sich verkürzt 
und an Umfang zunimmt. 

Die Kopf- und namentlich die Schläfengefässe sollen sich 
gegen die Zeit des Abfalles beträchtlich erweitern, und indem 
nun das Blut sowohl in den Rosenstock als auch in die den- 
selben umgebende Haut vermehrt eindringe, sollen beide etwas 
aufschwellen. 

In Folge des Knochenerweichungsprocesses bemerke man 
kurz vor der Abfallszeit zwischen dem oberen Ende des Ro- 
senstockes und dem Geweih eine erweichte blutige Scheibe, 
die nur noch an der einen oder an der anderen Stelle unvoll- 
kommen ist; in der Regel wird sie auch nicht ganz vollständig: 
denn ehe die yollkommene Erweichung der Grenze des alten 
Geweihes und des Rosenstocks erfolgen kann, fällt jenes schon 
früher wegen seiner eigenen Schwere ab. Deshalb erscheint 
auch die untere Fläche eines abgeworfenen Geweihes niemals 
ganz gleich, sondern hier und da bemerkt man einzelne vor- 
springende, wirklich abgebrochene Knochenstellen. 

Johannes Müller spricht sich in seinem Lehrbuch der 
Physiologie (I. Theil, S. 321) dahin aus über den in Rede 
stehenden Vorgang, dass die Trennung durch eine Art Erwei- 
chung der organisirten Knochensubstanz des Stirnbeinhöckers 
an der Grenze zwischen diesem und dem Geweihe geschehe. 

Die nachfolgenden Untersuchungen wurden an mehreren 
eben abgeworfenen Geweihen und den Stirnfortsätzen von Hir- 
schen und Rehen, an letzteren kurze Zeit nach dem Tode der 
Thiere, angestellt. 

Das dem Stirnbeinhöcker zugewandte Ende des abgewor- 
fenen Geweihes ist etwas convex und auf seiner ganzen Ober- 
fläche mit vielen ziemlich gleichmässigen kleinen Vertiefungen 
versehen, die sich nur an einzelnen Stellen etwas weiter in das 
Geweih hinauf erstrecken. Man nimmt dies wahr, wenn man 
mittels einer feinen Säge dünne Scheiben abschneidet; dieselben 
erscheinen auf der Schnittfläche nur hin und wieder mit Lö- 
chern versehen, und an dem Geweihe sieht man dem entspre- 
chend Kanäle noch etwas in die Knochensubstanz vordringen, 


50 | N. Lieberkühn: 


während dasselbe im vollständig verknöcherten Zustand sonst 
so grosse Kanäle nicht besitzt, dass man sie so leicht mit 
blossem Auge wahrnehmen könnte. Eine hinreichend fein ab- 
gesägte Scheibe zeigt von ihrer rauhen Seite her betrachtet 
Folgendes: Die Ausbuchtungen enthalten nirgends Knochen- 
substanz mit glatter Oberfläche, sondern sind wieder mit mi- 
kroskopischen Vertiefungen versehen, die mit grosser Regel- 
mässigkeit auftreten und nur in ihrem Umfange sich etwas 
unterscheiden, da manche wenig über den Durchmesser einer 
Knorpelzelle hinausgehen, während andere um ein Mehrfaches 
grösser sind. Im Grunde derselben ist die Knochensubstanz 
von gleicher Beschaffenheit wie am normalen Geweih; man 
erkennt die Knochenkörper mit ihren Ausstrahlungen und zu- 
‘weilen auch Spuren von Lamellen. Hin und wieder ist ein 
Knochenkörper nur noch zur Hälfte oder zu einem kleineren 
oder grösseren Theile vorhanden, ohne dass jedoch der Rest 
seiner Höhle gerade vergrössert erschiene. Auch die Ausstrah- 
lungen der Knochenkörper sind im Allgemeinen nicht volumi- 
nöser, als im normalen Zustande. 

Die Erhabenheiten, welche die Vertiefungen rings umgeben, 
sind mehr oder weniger zugeschärft und von wandelbarer Dicke; 
bisweilen liegt gerade in demfreien Rande der Rest eines Knochen- 
körpers, so dass seine Höhle nach der Oberfläche hin geöffnet 
erscheint ; auch hier bemerkt man Nichts von Erweiterung 
weder am Knochenkörper selbst noch an seinen Ausstrahlungen. 

Die Begrenzungen der mit blossem Auge sichtbaren Aus- 
buchtungen sind sehr unregelmässig; sie sind oft selbst wieder 
mit Spitzen und Höckern versehen; letztere zeigen öfters deut- 
liche Bruchflächen, andererseits sind sie aber auch mit den eben 
beschriebenen mikroskopischen Lacunen versehen. Wo dieBruch- 
flächen sich vorfinden, da ist die Continuität mit dem Stirnbein- 
fortsatz jedenfalls erst durch das Abwerfen des Geweihes selbst 
aufgehoben. 

Wie bereits angegeben wurde, dringen die Ausbuchtungen 
hier und da ungewöhnlich tief in das abgeworfene Geweih 
hinein vor. An den abgesägten Platten sieht man alsdann die 
Schnittfläche von Löchern durchbrochen, welche eine äusserst 


Ueber den Abfall der Geweihe, 751 


verschiedene Ausdehnung haben können, wie die Ausbuchtungen 
selbst, so dass man sie theils ohne Mikroskop wahrnimmt, theils 
nicht. Ihre Ränder sind rings von Einschnitten eingefasst, 
welche vollkommen den Lacunen entsprechen, die so eben von 
der Flächenansicht beschrieben sind. Vielfach sieht man an 
solchen Präparaten ganz normale Gefässkanäle von verschie- 
denen Lumen, andere aber unterliegen in ihren Wandungen 
bereits dem Resorptionsprocess und sind nicht glatt, sondern 
ausgebuchtet auf kleineren oder grösseren Strecken. 

An dem Stirnbeinende des eben abgeworfenen Geweihs fin- 
den sich Spuren von Gewebsbestandtheilen im getrockneten 
Zustande vor, welche die Zwischenräume zwischen den Gefäs- 
sen und den Knochenwandungen beim lebenden Thier ausfüllen; 
es ist dieselbe Gewebsform, welche beim verknöchernden Ge- 
weih die Gefässe rings umgiebt, nämlich junge Bindesubstanz, 
welche keine deutlichen Zellen grenzen, wohl aber Kerne, nament- 
lich auf Zusatz von Essigsäure vollkommen klar erkennen lässt. 

Ich habe mehrfach Stirnbeinhöcker zur Untersuchung er- 
halten, bei denen die Geweihe ganz kurz zuvor abgeworfen 
waren. Die Haut des Rosenstockes hatte noch nicht begonnen, 
die Bruchfläche zu überwachsen, sondern umgab nur ihre Pe- 
ripherie. Die Oberfläche des Höckers erscheint porös von 
zahlreichen, den Knochen in der Längsrichtung durchziehenden 
Kanälen, die nach oben ofien endigen. An wenigen Stellen 
nur sind tiefe unregelmässige Löcher vorhanden, die sich nicht 
in einen Kanal fortsetzen und offenbar Bruchflächen darstellen. 
Auf ihrem Grunde sind sie gewöhnlich von Blut roth gefärbt, 
Die die Kanäle rings umgebende Knochensubstanz bietet theil- 
weise das Aussehen yon Bruchflächen, theilweise enthält sie 
die mikroskopischen Lacunen. In die Kanäle hinein setzen 
sich die Lacunen fort. Zwischen ihnen und den Wänden der 
Gefässe, welche in den Kanälen verlaufen, befindet sich die- 
selbe Bindesubstanz, wie in den Gruben am unteren Ende des 
abgeworfenen Geweihes. Dasselbe Gewebe bildet unter den 
Stirnbeinhöckern bald eine continuirliche Lage unter der Haut, 
die allmählig von der Peripherie her die zuerst freiliegende 
Fläche des Höckers überwächst; erst später treten, entfernter 


152 N. Lieberkühn: 


yon der äusseren Haut und unmittelbar auf dem Knochen die 
entschiedenen Knorpelzellen hervor, an denen man die Zellen- 
grenzen und Kerne und auch die zwischen ihnen liegende In- 
tercellularsubstanz unterscheiden kann. Die Gefässkanäle sind 
zum grossen Theil um ein Vielfaches weiter, als zur Zeit, wo 
die Ossification im Geweih und Stirnhöcker vollständig been- 
digt ist. 

Es unterliegt keinem Zweifel, dass die in dem abgeworfenen 
Geweih mit blossem Auge sichtbaren Vertiefungen die blinden 
freilich bedeutend erweiterten Enden der im Rosenstocke aus- 
laufenden Gefässkanäle darstellen. In denjenigen Fällen, in 
welchen einzelne Ausbuchtungen sich ungewöhnlich tief in das 
Geweih hineinerstrecken, kann man Schliffe vom unteren Theil 
des letzteren herstellen, welehe mit denen vom obersten Theil 
des Rosenstocks entnommenen grosse Uebereinstimmung zeigen; 
es ist bei beiden der Knochen yon Lücken durchbrochen, 
welche einen ähnlichen Umfang haben und in ihrer Peripherie 
yon denselben mikroskopischen Einschnitten begrenzt werden. 

Die Erscheinungen, welche oben an dem abgeworfenen Ge- 
weih und dem Stirnfortsatz beschrieben wurden, hat man bis- 
her nicht an normalen Knochen beobachtet; sie sind nur bei 
Knochenkrankheiten bekannt. Denn es erhellt auf den ersten 
Blick, dass sie mit den bei cariösen Knochen vorkommenden 
die grösste Uebereinstimmung zeigen. An cariösen Knochen 
sieht man dieselben Ausbuchtungen wie hier; die Lacunen haben 
auch dieselbe Grösse und dieselbe Gestalt und auch bei Oaries 
kann: in den Lücken ausschliesslich junge Bindesubstanz liegen. 
Das des Periostes entbehrende und der Bluteirculation erman- 
gelnde Geweih war der Sequester, welcher durch den cariösen 
Process abgestossen wird. 

Wenn man jedoeh den Darstellungen des neuesten Bear- 
beiters dieses Krankheitsprocesses, Virchow, folgt, so finden 
sich auch wiederum bedeutende Abweichungen. 

Nach den Angaben dieses Forschers geht die Caries von 
den Knochenkörpern aus, und die zwischen ihnen befindliche 
Grundsubstanz wird yon ihnen allein bestimmt, in die Verän- 
derung einzugehen; es entstehen auf diese Weise die Lücken 


Ueber den Abfall der Geweihe. 753 


und Gruben, welche man an cariösen Knochen beobachtet. 
„Die ganze Caries beruht eben darin (Cellularpathologie S. 
373), dass der Knochen sich in seine Territorien auflöst, dass 
die einzelnen Elemente in neue Entwicklung gerathen, und dass 
die Reste von alter Grundsubstanz als kleine dünne Scheiben 
in der weichen Substanz liegen bleiben. Das sind die Vor- 
gänge, ohne die man die Geschichte der Caries gar nicht be- 
greifen kann. Das Gewebe, welches die entstehende Knochen- 
lücke erfüllt, kann je nach Umständen sehr verschieden sein, 
einmal eine fettig degenerirende zerfallende Masse, in einem 
anderen Falle eine zellenreiche Masse mit zahlreichen jungen 
Elementen; diese bildet sich, indem die Knochenkörper sich 
wieder theilen und wuchern, und die neu entstehende Substanz 
verhält sich wieder wie Mark.“ 

Der Unterschied zwischen dem Resorptionsvorgang beim 
Abwerfen der Geweihe und bei Caries würde sich hiernach 
auf die eine Beobachtung Virchow’s zurückführen lassen, dass 
bei Caries die Auflösung des Knochens stets mit Vergrösserung 
der Knochenkörper einhergeht, wovon wir beim Geweih keine 
Andeutung vorfanden. Ob die aus dieser Beobachtung gezo- 
genen Schlüsse, dass die Zellen in den Knochenkörpern die 
Ursache der Erscheinung sind, soll später erörtert werden. In 
dem Inhalte der Höhlen und Lacunen ist kein Unterschied, 
der wesentlich genannt werden könnte, denn Virchow giebt 
an, dass der Inhalt auch bei Caries mit jungem Mark voll- 
kommen übereinstimmen könne. Dass bei Caries die Gefässe 
weniger in Betracht kommen, als bei der Abstossung der Ge- 
weihe, geht aus den bisherigen Untersuchungen jedenfalls nicht 
hervor. j 

Es wäre jetzt zunächst die Frage, ob die grossen Knochen- 
körper eine constante Erscheinung bilden. 

Die von mir untersuchten, mit Caries behafteten Knochen 
vom Menschen hatten zum Theil grössere, zum Theil kleine 
Knochenkörper. In der Umgebung der Knochenlücken fanden 
sich die von Virchow beschriebenen Erscheinungen in sofern 
vor, als die umgrenzende Knochensubstanz auf ihrer Oberfläche 
mit grösseren und kleineren Lacunen versehen war; an den 


754 N. Lieberkühn: 


unmittelbar anstossenden Knochenkörpern war jedoch keine 
Vergrösserung wahrzunehmen, sie verhielten sich vielmehr wie 
die Knochenkörper normaler Knochen; auch die kleinen zum 
Theil mikroskopischen Splitter, die in der wuchernden jungen 
Bindesubstanz innerhalb der Höhlen isolirt umherlagen, zeigten 
wohl auf ihrer Oberfläche die Lacunen, aber in der Regel nir- 
sends in ihrem Inneren vergrösserte Knochenkörper mit er- 
weiterten Ausstrahlungen. 

Ich hatte durch die Sammlung des hiesigen anatomischen 
Museums auch mehrfach Gelegenheit, grössere nekrotische 
Knochenstücke zu beobachten. Aber weder an Schliffen noch 
an abgebrochenen Splittern derselben ist es mir gelungen, be- 
sonders grosse Knochenkörper wahrzunehmen. Ueberall ver- 
hielt sich der Knochen in seiner Textur normal, nur an den 
Abstossungsrändern zeigten sich die bekannten Lacunen. In 
einem Falle von Caries des Felsenbeins eines Kindes sah ich 
in der That in der Umgebung der von dem Krankheitsprocess 
erzeugten Höhlen die Knochenkörper ungewöhnlich gross, die- 
selben erstreckten sich aber so tief in den Knochen hinein, 
dass gar kein Grund vorlag, sie ohne Weiteres in Beziehung 
mit dem cariösen Vorgang zu bringen. Es ist vielmehr Grund 
anzunehmen, dass es sich hier gar nicht um Vergrösserung der 
ursprünglich kleinen Knochenkörper handelt, sondern dass die 
Knochenkörper von Anfang an nicht kleiner gewesen sind. 

Dass Knochenkörper mit ihren Ausstrahlungen nicht zu der 
gewöhnlichen Kleinheit sich entwickeln, davon giebt es Bei- 
spiele, sowohl bei denjenigen Knochen, die aus hyalinem, als 
auch bei solchen, die aus membranösem oder Fäserknorpel 
verknöchern. Für letztere sollte man dies allerdings nach der 
neuesten Darstellung der Entstehung der Knochenkörper kaum 
erwarten. Heinrich Müller (Ueber die Entwickelung der 
Knochensubstanz nebst Bemerkungen über den Bau rhachitischer 
Knochen. Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie, 9. Band, 
S. 165) giebt nämlich an,- dass die Knochenkörper von Anfang 
an sternförmig sind und nur nach und nach von der sclerosiren- 
den Grundsubstanz eingeschlossen werden und dass sie, sobald sie 
von der Grundsubstanz umgeben sind, bereits die eigenthümlich 


Ueber den Abfall der Geweihe. 755 


linsenförmige,.zum Theil ziemlich verlängerte Gestalt erhalten, 
die man von den Knochenkörpern kennt. Der Vorgang ist in 
dem Gewebe der Markräume derselbe, wie im Gewebe des 
Periost; nur soll in dem ersteren die Grundsubstanz sehr rasch 
nach ihrem Auftreten sclerosiren. Das Erste, was man bei 
Profilansichten sieht, ist eine Kerbung des freien Randes der 
Knochenlamelle, von welcher aus feine Streifen in diese hin- 
einziehen. Sobald eine feste Grundsubstanz an einer Seite 
einer Zelle wahrzunehmen ist, sind die zackigen Fortsätze auch 
bereits da, Ich beobachtete ossificirende Faserknorpel der 
Kopfknochen, wo diese Darstellung nicht ganz zutrifft. Die 
Seitenbeine einer neugebornen Spitzmaus, wo die in Rede ste- 
hende Erscheinung mir am auffallendsten vorgekommen ist, 
verhalten ‚sich ganz, als ob sie aus hyalinem Knorpel ossifieirt 
wären und im Stadium des spongiösen Knochengewebes sich 
befänden. | 

Löst man ein Seitenbein von dem Schädel ab, und bringt 
es ganz oder stückweise unter das Mikroskop, so findet man 
den Knochen mit den gewöhnlichen Knochenkörpern an vielen 
Stellen versehen, an anderen aber in eben solcher Ausdehnung 
äusserst grosse Knochenkörper ohne deutliche Ausstrahlung 
und immer durch dünne Wandungen von Zwischensubstanz 
getrennt, nicht nur an der Oberfläche, sondern auch in der 
Tiefe. In den grösseren Lücken der Oberfläche bemerkt man 
bisweilen noch Kerne, die nur einen kleinen Theil der Höhle 
einnehmen und von schwach lichtbrechender Zellensubstanz 
umgeben sind. Wo noch eine solche Höhle nach aussen ge- 
öffnet ist, nimmt man Nichts von sternförmigen Zellen wahr, 
die hier überhaupt nicht im unverknöcherten Gewebe beob- 
achtet werden konnten. 

Wir haben hier sonach den Fall, dass Knochen aus Faser- 
knorpel ungewöhnlich grosse Knochenkörper besitzen. Es 
würde sich nun darum handeln, ob Knochenkörper, wenigstens 
für einzelne Theile des Knochens, auf dieser Entwicklungsstufe 
stehen bleiben können. 

Auch das lässt sich beobachten: wenn man Stirnbeinfort- 


sätze von Hirschen einige Zeit nach der vollständigen Ent- 
Reichert’s u, du Bois-Reymond’s Archiv. 1861. 49 


756 N. Lieberkühn: 


wicklung der Geweihe untersucht, so bemerkt man nicht selten 
auf Querschnitten schon mit blossen Augen weisse Ringe um 
die Gefässkanäle. 

Oefters ist der Knochen um eine ganze Gruppe solcher 
Kanäle weisslich und setzt sich scharf gegen die Umgebung 
ab. Fertigt man von solchen Stellen Schliffe an, so erkennt 
man als Ursache dieser Erscheinung sehr grosse Knochenkörper 
mit grossen Ausstrahlungen. Es kann der Knochen selbst so 
von Lücken durchsetzt sein, dass die Knochenkörper ohne Rea- 
gentien gar nicht zu entdecken sind, da die Masse der unver- 
knöcherten Substanz das Licht eben so stark bricht, wie die 
in den Knochenkörpern. Erst nach Behandlung mit Säure 
setzt sich der Inhalt der Höhlen gegen die durchsichtig gewor- 
dene Umgebung ab. 

Der Einwurf, dass die besprochene Erscheinung Knc das 
Zersägen des Knochens entsteht,, lässt sich leicht dadurch zu- 
rückweisen, dass man nach Behandlung des ganzen Knochens 
mit Salzsäure an Schnitten ein gleiches wahrnimmt. Das Ge- 
webe ist nämlich nicht so gleichartig wie sonst, sondern viel- 
fach von einer Substanz durchsetzt, die ein ähnliches Lichtbre- 
chungsvermögen hat, wie die in den Knochenkörpern und deren 
Strahlen befindliche. Da diese Erscheinung an den Stirnhöckern 
nur dann beobachtet wird, wenn nach der Vollendung der Ge- 
weihe auch die durch Resorption entstandenen grossen Gefäss- 
kanäle sich wieder mit Knochenmasse ausgefüllt haben, so 
könnte man daran denken, dass man es hier mit dem Beginn 
der neuen Resorption zu thun hätte, welche der Absetzung des 
Greweihes vorausgeht. Davon kann aber nicht die Rede sein, 
weil ganz dieselben weissen Ringe auch in dem vollständig 
verknöcherten gefässlosen Geweihe gefunden werden, und zwar 
in solchen Entfernungen vom Rosenstock, dass bis dahin die 
Resorption auch beim Abwerfen der Geweihe nicht vordringt. 

Man findet dasselbe aber nicht bloss am Geweihe und am 
Rosenstocke, sondern auch an anderen Knochen. So wurde 
es, wenn auch nicht mit derselben Regelmässigkeit, an Schliffen 
von Stirnbeinen und Wirbeln gesehen. 

Würde nun in solchen Knochen Caries vorkommen, so läge 
der sichere Fall vor, dass sie in Begleitung von grossen Kno- 


Ueber den Abfall der Geweihe. 757 


chenkörpern auftritt, ohne dass sie die Ursache davon wäre. 
Dieser Fall ist bei den bisherigen Aussagen über Caries nicht 
vorgesehn, und es wäre sonach immer möglich, dass die nur 
hin und wieder so ungewöhnlich gross erscheinenden Knochen- 
körper bei Caries in der That nicht vergrösserte Knochenkörper 
sind, sondern dass sie niemals kleiner waren. ' 

Selbst wenn aber auch wirklich durchweg bei Caries die 
Knochenkörper grösser wären als gewöhnlich und die Ver- 
grösserung durch den Krankheitsprocess zu Stande gekommen 
wäre, so wäre doch damit keineswegs die Behauptung erwie- 
sen, dass die etwa in den Höhlen liegenden Zellen die Ursache 
der Vergrösserung der Knochenkörper seien. Es bleibt viel- 
mehr die andere Möglichkeit übrig, dass die gar nicht von den 
Knochenzellen ausgehende Resorption der Knochensubstanz in 
den bereits vorhandenen Lücken rascher fortschreitet, als in der 
Knochensubstarz zwischen den Lücken. 

Es ist diese Annahme aber nicht nur möglich, sondern sie 
ist nothwendig, wenn an Knochen ohne Knochenkörper 
die Erscheinungen der Caries vorkommen. Dass dies in 
Wirklichkeit der Fall ist, lehren folgende Beobachtungen. 

An dem Metacarpalknochen eines menschlichen Daumens 
war das obere und untere Ende hauptsächlich ‚Sitz der Caries. 

Die Resorption war von unten her gegen den Gelenkknorpel 
vorgedrungen. Unmittelbar unter demselben fehlte an ver- 
schiedenen Stellen die Knochensubstanz. An anderen war sie 
nur noch in dünner Lage vorhanden. Von letzteren liessen 
sich mit Leichtigkeit dünne Scherben ablösen. Diese bestanden 
nicht mehr aus Knochensubstanz mit Haversischen Kanälen und 
Knochenkörpern, sondern es waren Knorpelzellen in ziemlich 
weit von einander abstehenden Längsreihen gestellt, in denen 
die eine Zelle nur durch dünne Blättchen Zwischensubstanz 
von der anderen getrennt war. Dies lehrten auf die Längsaxe 
des mit Salzsäure extrahirten Knochens geführte Schnitte. Die 
noch mit Kalksalzen versehenen Knochensplitter zeigten von 
der cariös ergriffenen Fläche aus betrachtet genau dieselben 
Lacunen und Gruben wie der völlig ausgebildete Knochen. Es 
fehlte aber in der Grundsubstanz selbstverständlich jede Spur 

49* 


758 N. Lieberkühn: Ueber den Abfall der Geweihe. 


von Knochenkörperstrahlen. Da der Einschnitt hier nur von 
dem Querschnitte aus möglich war, so erscheinen hier und da 
gezackte Lücken, welche die Knorpelkörperreihen im Quer- 
schnitt darstellen. Der Inhalt derselben liess sich hier nicht 
mehr erkennen. Das ist aber sicher, dass von ihnen keine 
Spur von Ausstrahlungen ausging. 

In die Ausbuchtungen und Lacunen hinein erstreckte sich 
von dem übrigen Theile des cariösen Knochens her dieselbe 
junge Bindesubstanz wie sie sonst bei Caries vorkommt. Selbst- 
verständlich kann diese nicht aus dem sich theilenden Knochen- 
körper dieses Knochenstückes hervorgehen, da hier gar keine 
Knochenkörper existiren. Sie kann ebensowenig von den er- 
wähnten Knorpelzellen herrühren, da deren Höhlen nicht die 
geringste Veränderung zeigten. | 

Es ist aber überhaupt von Virchow nirgends ein Beweis 
für die Behauptung, dass Knochenkörper sich theilen, geführt 
worden. Es ist vielmehr hier wie bei dem Resorptionsprocesse 
des Stirnhöckers der Geweihe anzunehmen, dass das junge Ge- 
webe gerade so, wie anderswo, entsteht, d. h. aus älterem, 
was an allen den Stellen vorhanden ist, wo Caries überhaupt 
beobachtet wurde. 

Pathologisch würde an dem, cariösen Vorgange nur das 
sein, dass die Resorption an abnormen Stellen auftritt: denn 
nicht einmal die Erscheinung der Lacunenbildung ist an und 
für sich pathologisch, da sie normal auch im Knochen bei Ge- 
weihwechsel auftritt. 

Ueber die sonst bei Oaries auftretenden Vorgänge, als Eiter- 
bildung, Verknöcherung der wuchernden Bindesubstanz stehen 
mir keine neuen Beobachtungen zur Verfügung. 


Erklärung der Abbildungen. 


Fig. 1. Querschnitt vom Stirnfortsatzende eines abgeworfenen 
Geweihes vom Hirsch (cervus dama). In der mit mikroskopischen 
Lacunen versehenen Ausbuchtung münden Gefässkanäle mit unversehr- 


ten Wandungen aus. 
Fig. 2. Auch innerhalb der kleinen Gefässkanäle hat die Re- 


sorption begonnen. 


F.E.Schulze: Ueber d. Nervenendigung in d, Schleimkanälen etc. 759 


Fig. 3. Lacunen, mit junger Bindesubstanz erfüllt. 

Fig. 4. Bruchstück vom Seitenbein einer Spitzmaus mit den 
Eigenschaften des spongiösen Knochengewebes in Beziehung auf Ver- 
theilung von Zellen und Zwischensubstanz. 

Fig. 5. Querschliff von einem Stirnbeinhöcker des Edelhirsches, 
in welchem die schon mit blossem Auge sichtbaren, bei auffallendem 
Licht weiss erseheinenden Ringe um die Gefässkanäle auftreten; in 
Canadabalsam. Bei schwacher Vergrösserung gezeichnet. 

Fig. 6. Dasselbe Präparat bei starker Vergrösserung: In die 
Knochenkörperstrahlen ist der Canadabalsam eingedrungen, zum Theil 
auch in die Knochenkörper selbst, welche zumeist ungewöhnlich gross 
erscheinen. 

Fig. 7. Knochensplitter vom oberen Ende des Metacarpalknochens 
des Daumen vom Menschen mit Lacunen, die nicht von Knochenkör- 
pern ausgehen. Die fünf dunklen Stellen sind Qnuerschnitte von Höh- 
len, in denen Knorpelzellen lagen. 

Fig. 8. Längsschnitt von demselben Theil des Metacarpalknochens, 
wo die Knorpelzellen zu mehreren hinter einander liegen. Der Kno- 
chen war zuvor mit Salzsäure behandelt behufs Entfernung der Kno- 


chenerde. 


Ueber die Nervenendigung in den sogenannten 
Schleimkanälen der Fische und über entsprechende 
Organe der durch Kiemen athmenden Amphibien. 


Von 
FRANZ EILHARD SCHULZE aus Rostock. 


(Hierzu Taf. XX.) 


Im ÖOrganisationsplane ausschliesslich im Wasser lebender 
Wirbelthiere scheint der Besitz gewisser am Kopfe, an der 
Seite des Rumpfes und des Schwanzes vertheilter Organe zu 
liegen, welche bei den Fischen unter dem Namen des Seiten- 
oder Schleimkanalsystemes schon längst bekannt und vielfach 
untersucht, bei den durch Kiemenathmung zum beständigen 


760 F, E. Schulze: 


Aufenthalte im Wasser gezwungenen Amphibien!) theils noch 
gar nicht gekannt, theils ganz falsch gedeutet, bei den bestän- 
dig im Wasser lebenden Säugethieren (Cetaceen) endlich nur 
erst von einzelnen Forschern?) bemerkt sind. 

Die Bedeutung dieser eigenthümlichen Organe ist für die 
Fische zuerst durch die trefflichen Untersuchungen Leydig’s?) 
wenigstens im Allgemeinen festgestellt, 

Während man vor ihm dieselben fast durchgängig als einen 
die Hautoberfläche des Fisches mit Schleim überziehenden 
Drüsenapparat ansah, wies er ihre nervröse Beschaffenheit 
nach und erklärte sie für besondere, den Fischen eigenthüm- 
liche Sinnesorgane. 

Nicht so gut ging es den durch Kiemen athmenden Am- 
phibien. Bei ihnen werden noch bis heute die genannten Or- 
gane als absondernde Drüsen beschrieben.*) 

Bei den Cetaceen endlich begnügte man sich, ihre Aehn- 
lichkeit mit den Schleimkanälen der Fische anzudeuten. 

Was bei den Fischen zuerst zu der Erkenntniss einer tie- 
feren Beziehung des sog. Schleimkanalsystemes zum Nerven- 
system führte, war die in der That auffallende Menge der in 
jene Gebilde eindringenden Nerven. Ursprung und Verlauf 
derselben sind schon vor der oben erwähnten Arbeit Leydig’s 
und nach derselben noch genauer durch Stannius untersucht 
und beschrieben. 

Es ist nicht meine Absicht, hier die einzelnen Resultate 
jener Untersuchungen anzuführen; diese mögen in den betref- 
fenden Schriften?) selbst nachgesehen werden; nur will ich er- 
wähnen, dass die Nerven, welche zu den am Kopfe und zwar 


1) Es gehören hierher die Larven der Gymnophiona, Batrachia 
und Myctodera, die Derotremata und Perennibranchiata während des 
ganzen Lebens. 

2) Conf. Leydig: Lehrbuch der Histologie, S. 109. 

3) Leydig: Ueber die Schleimkanäle der Knochenfische. Müller’s 
Archiv, 1850, S. 170 £. 

4) Stannius, Handbuch der Zootomie Il. Aufl. Amphibien, S. 86. 

9) Stannius, das peripherische Nervensystem der Fische, 1849, 
und Stannius, Handbuch der Zootomie, Fische. II, Aufl, 1854. 


Ueber die Nervenendigung in den sog. Schleimkanälen d, Fische. 761 


reihenweise über und unter dem Auge, auf dem Kiemendeckel, 
in der Temporalgegend und auf dem Unterkiefer gelegenen 
Organen der genannten Art führen, aus der Bahn des N, tri- 
geminus, diejenigen, welche zu den an der Seite des Rumpfes 
und des Schwanzes liegenden sich vertheilen, aus der Bahn 
des N. vagus hergeleitet sind. 

Die nämlichen Verhältnisse finden sich auch bei den durch 
Kiemen athmenden Amphibien ; und zwar sind dieselben für 
Proteus und für die Larven der Batrachia und Myctodera schon 
im Jahre 1843 sehr genau in der ausgezeichneten Arbeit!) von 
J. G. Fischer beschrieben, auch für die Derotremata und 
Perennibranchiata grösstentheils schon seit lange bekannt. 

Die ersten genaueren, auch die Histologie berücksichtigen- 
den Untersuchungen über den Bau der sogenannten Schleim- 
kanäle selbst, gab Leydig?) für die Fische. Er schildert die 
gröberen Verhältnisse zunächst für den Kaulbarsch folgender- 
maassen: „Der Kaulbarsch zeichnet sich bekanntermaassen 
durch zahlreiche Vertiefungen am Kopfe aus, welche alle in 
der Richtung der Schleimkanäle liegen und dadurch entstehen, 
dass regelmässig die obere und vordere knöcherne Wand des 
Schleimkanales rundliche Löcher besitzt, über welche nur die 
äussere Haut eine Vertiefung bildend weggeht. Zieht man 
nun einem frischen Kaulbarsche die Haut z. B. des Unterkie- 
fers vorsichtig ab und betrachtet so mit der Lupe durch die 
freigelegten 4 Oeffnungen das Innere des Schleimkanales, so 
gewahrt man, dass von den längs des Unterkiefers verlaufen- 
den Nerven für je eine Oeffnung ein Nervenstämmchen in den 
Schleimkanal tritt, das sich etwas verbreitend mit einem knopf- 
förmigen, gelblichen, !/,“! grossen Körper endet.“ 

Diese „Nervenknöpfchen“ nun machen den wichtigsten Theil 
des ganzen Organes aus. In ihnen sind die Endapparate der 
zuführenden Nerven zu suchen. Nach Leydig bestehen sie 
aus einem bindegewebigen, mit einem engen Blutcapillarnetze - 


— 


1) J.@.Fischer: Amphibiorum nudorum neurologiae, Berolini1843, 
2) Leydig: Ueber die Schleimkanäle der Knochenfische (Müller’s 
Archiv, 1850, 8.175) und Leydig: Lehrb. d. Histologie, 1857, $. 184, 


762 F. E. Schulze: 


versehenen Stroma, in welchem sich die Nervenfasern, nachdem 
sie eine häufige Theilung erfahren haben, verzweigen und gegen 
die Peripherie des Organes ausstrahlen. Hier sollten sie früher 
in Schlingen; enden; nach wieder aufgenommenen Untersu- 
chungen will der Verfasser die Endung indessen so formuliren, 
dass die Fasern über die scheinbaren Schlingen hinausgehen 
und zuletzt, fein zugespitzt, mitunter scheint es ihm auch, wie 
mit einer kleinen zelligen Anschwellung, aufhören. 
Den ganzen Nervenknopf überzieht nach dem genannten For- 
scher eine Lage von auffallenden Zellen, welche blass, sehr 
lang und schmal sind, und die nach Aussehen und Gruppirung 
den Retinastäbchen ähneln. Zwischen ihnen scheinen ihm die 
Nervenfasern zu enden. 

Zu Untersuchungen über diesen Punkt, welche ich im Laufe 
dieses Sommers angestellt habe, benutzte ich dieselben jungen 
Barsche (Perca fluviatilis), welche ich schon als ein für das 
Studium der Gehörnervenendigung recht brauchbares Object 
kennen gelernt hatte und fand hier folgende, höchst interessante 
Verhältnisse. 

Bringt man ein 6—12 mm. oder etwas darüber langes Fisch- 
chen, ohne es, was wohl zu beachten, aus dem Wasser heraus- 
genommen zu haben!), durch den gelinden Druck eines grossen 
Deckplättchens von Oben und von der Seite etwas breitge- 
presst unter das Mikroskop, so sieht man an allen denjenigen 
Stellen, wo die sog. Schleimkanäle liegen, eigenthümliche, in 
Mitte mit einer Concavität versehene, zellige Hügel und aus 
dieser Concavität eine Menge starrer parallel stehender Haare 
in das umgebende ‚Wasser hinausragen, welche Haare mit den 
in den Ampullen des Gehörorganes beschriebenen ziemlich 
übereinstimmen. Am Schönsten sieht man sie von der Seite 
am Kopfe und zwar ist es besonders eine zwischen dem Auge 
und Gehörorgane liegende Stelle, an welcher sie sich leicht 
auffinden lassen. Hier habe ich ihre Länge bei einem etwa 


. 1) Am Besten hebt man das T'hierchen in einem grossen Wasser- 
tropfen etwa mit einer Glasröhre oder Pipette aus dem Behälter heraus 
und lässt den Tropfen sammtseinem Bewohner auf den Objectträger fallen. 


& 


Ueber die Nervenendigung in den sogen. Schleimkanälen etc. 763 


12 mm. langen Fischehen zu 0,012—0,0155 mm. bestimmt. An 
der Linea lateralis und auf der Schwanzflosse kann man sie 
natürlich nicht ganz im Profil zu sehen bekommen. Hier er- 
scheinen sie, im Falle man gerade von oben, also auf die 
Spitzen der Haare sieht, als je nach der Einstellung helle oder 
dunkle Pünktchen; sieht man etwas schräge auf sie, so kann 
man von den hell aufleuchtenden Punkten, den optischen Quer- 
schnitten der Haare dunkle oder helle Linien nach der Tiefe 
und nach Oben zu abgehen sehen. 

Bei der Ansicht gerade von Oben ist es nicht schwer, die 
Haare zu zählen, und man überzeugt sich, dass ihre Zahl sehr 
differiren kann. Bei 6—10 mm. langen Barschen habe ich ge- 
wöhnlich auf einem Hügel 30—50 gefunden. Bei der Profil- 
ansicht erkennt man, dass jeder dieser Haarbüschel von einer 
breiten, zarten, hyalinen Röhre, welche gewöhnlich 2—5 Mal 
länger als die Haare gemessen wird (bei 15—20 mm. langen 
Thieren fand ieh sie 0,06 mm. lang), eingeschlossen ist. 

Diese glashelle Röhre geht von dem äusseren scharfen 
Rande der Concavität des Hügels ab, steht senkrecht zur Ober- 
fläche des Fisches und scheint im frischen, ganz normalen Zu- 
stande überall gleich weit oder auch wohl am äusseren Theile 
etwas weiter als am medianen zu sein; wenigstens habe ich 
sie bei möglichst unversehrten Thieren meist parallelrandig, 
zuweilen auch nach Aussen etwas trichterförmig sich erweiternd 
gefunden. Bei Fischen, welche irgendwie unzarte Behandlung 
erfahren hatten, also etwa einige Zeit aus dem Wasser entfernt 
waren oder, wie.dies beim Tragen in Gläsern oder Flaschen 
leicht geschieht, stark geschüttelt waren, findet man dagegen 
diese, gegen chemische Einwirkungen ziemlich resistenten Röh- 
ren selten unversehrt. Sie sind dann entweder ganz abgerissen, 
ganz oder theilweise collabirt, gefaltet, gedreht u. s. w., so dass 
man die verschiedensten Bilder erhalten kann. Uebrigens über- 
zeugt man sich in solchen Fällen leicht davon, dass diese 
Röhren nicht etwa so starr wie die in ihrem Lumen stehenden 
Haare sind, indem man sie bei geringen Bewegungen des Was- 
sers sich biegen, hin und her flottiren sieht. Nach Aussen zu 
scheinen sie einen ziemlich scharfen Rand zu besitzen. In der 


764 F. E. Schulze: 


- 


Ansicht von Oben, also bei den Hügeln der Linea lateralis 
und besonders der Schwanzfiosse, tällt der optische Querschnitt 
dieser Röhren oder ihr Endrand als heiligenscheinartige, um 
die Haare oder deren gedachte Verlängerung herumlaufende 
Linie auf. | 

Was nun den unstreitig später zum sogenannten Nerven- 
knopf des Schleimkanales werdenden!) Hügel betrifft, so be- 
steht dessen oberste Schicht aus in früherer Zeit rundlichen, 
später eylinderförmigen Epithelialzellen. In den tieferen Schich- 
ten sehe ich rundliche, meist durch einen körnigen Inhalt etwas 
undurchsichtige Zellen , die ich für junge Bindegewebszellen 
halte. Zwischen diese letzten Zellen nun sieht man bei Fischen 
von gewissem Entwicklungsstadium (15 mm. und darüber) von 
den auf den Hügel zulaufenden Nerven scharf contourirte 
Nervenfasern eintreten und nachdem sie (nur etwas schmä- 
ler geworden) zwischen diesen Bindegewebs-, dann auch zwi- 
schen den Epithelzellen hindurch gegangen, mittelst einer 
konischen Verschmälerung in jene oben erwähnten 
Haare übergehen. Am Besten überzeugt man sich von die- 
sem Verhalten, wenn man an einem Hügel des Kopfes zunächst 
ein einziges Haar scharf fixirt und dann ganz allmählig dessen 
Fortsetzung nach Innen zu verfolgt. Dabei erkennt man als 


1) Diesen Vorgang habe ich später, während meines Aufenthaltes 
an der See, an jungen, 20—30 mm. langen Schollen ( Pleuronectes 
Platessa) beobachten können. Auf der Schwanzflosse dieser T'hiere 
stehen die jene Haare tragenden und auch mit einer hyalinen Röhre 
versehenen Hügel in einer Reihe zwischen den beiden mittelsten Knor- 
pelstrahlen. Durch allmähliges Dickenwachsthum der Strahlen und 
starke Wucherung der dicht an denselben liegenden Hautparthie 
wird aber bald in der Mitte zwischen den beiden Knorpelstrahlen eine 
Rinne gebildet. Indem nun die Ränder dieser Rinne sich noch mehr 
“erheben und darauf, sich lippenartig immer gerade über einen Hügel 
an einander legend, mit einander verwachsen, während stets in der 
Mitte zwischen zwei Hügeln eine Oeffnung nach Aussen übrig bleibt, 
entsteht das System der sogenannten Schleimkanäle. Durch die bei 
den ganz jungen Schollen hinreichend durchscheinende Decke eines 
solchen Kanales lässt sich nun noch sehr gut der mit seinen eigen- 
thümlichen, in das Lumen des Kanales hineinragenden Haaren besetzte 
Hügel, der Nervenknopf Leydig’s erkennen. 


L 
Ueber die Nervenendigung in den sog. Schleimkanälen etc. 765 


Basis des Haares zunächst einen konischen Höcker, der noch 
über die Epithelialoberfläche hinausragt und bei Ansichten von 
Oben als eine bei Veränderung der Einstellung stark aufleuch- 
tende Stelle erscheint, diesen kleinen Kegel aber wiederum als 
die Verschmälerung einer zwischen den Epithelzellen liegenden, 
meist recht gerade verlaufenden, stets sehr deutlich sichtbaren, 
scharf contourirten Nervenfaser. 

Am Schwierigsten hält es, die directe Fortsetzung diese 
zwischen die etwas undurchsichtigeren Bindegewebszellen ein- 
dringenden Fasern in die bis auf den Hügel zulaufenden Ner- 
venfasern zu sehen, indessen ist mir dies mehrmals sowohl am 
Kopfe als auf der Schwanzflosse besonders in der Nähe des 
Hügelrandes vollständig gelungen. Ausserdem ist auch gerade 
dieser Zusammenhang schon von Leydig bei erwachsenen Fi- 
schen gesehen und abgebildet.!) 

Ich deutete oben an, dass ich denjenigen Organen, welche 
bei den durch Kiemenathmung zum beständigen Aufenthalt im 
Wasser gezwungenen Amphibien an derselben Stelle, wo sich 
bei den Fischen die sog. Schleimkanäle finden, vorkommen, 
auch dieselbe Bedeutung vindicire, wie den ihnen correspon- 
direnden der Fische. Die Untersuchungen, durch welche ich 
zu dieser Annahms geführt bin, wurden hauptsächlich an Tri- 
tonen- und Batrachier-Larven, den mir hier in Bonn einzig 
lebend zu Gebote stehenden Repräsentanten der durch Kiemen 
athmenden Amphibien ausgeführt. Sie ergaben folgende Re- 
sultate: An den den Schleimkanälen der Fische entsprechenden 
Stellen zeigen sich bei; den Tritonenlarven dieselben zelligen 
Hügel, die wir dort kennen gelernt haben. Auch sie bestehen 
aus einer bindegewebigen Grundlage und einer dieselbe be- 
deckenden Schicht von in der frühesten Jugend rundlichen, 
später zu länglichen Cylindern werdenden Zellen, und zeigen 
an ihrer Spitze eine Concavität, aus welcher gleichfalls starre 


1) Leydig: Lehrbuch der Histologie, S. 57, Fig. 31. Die von 
Leydig allerdings als nicht ganz sicher gesehen bezeichneten zelligen 
Anschwellungen der Nervenfasern an der äusseren Grenze des Epithels 
habe ich niemals wahrnehmen können. 


766 F. E. Schulze: 


Haare, von der nämlichen zarten, ca. 0,06 mm. langen hya- 
linen Röhre umgeben, in’s Wasser hineinragen. 

Die Hügel sind besonders bei grösseren Larven von weiten, 
eine homogene, klare Flüssigkeit enthaltenden Hohlräumen 
umgeben, welche rings um den Hügel die Haut zu einem Walle 
auftreiben. 

Was nun zunächst die Haare betrifft, so zeigen sie durch- 
schnittlich dieselbe Länge, wie diejenigen der Fische. Ich fand 
sie im Durchschnitt 0,0100—0,0153 mm. lang. Ihre Zahl da- 
gegen ist stets eine weit geringere; ich habe meist nur 4—8 
auf jedem Hügel gesehen. Auch sie stehen parallel und schei- 
nen von derselben Starrheit zu sein, wie die der Fische. Die 
kleinen Kegel, in welche auch sie an ihrer Basis übergehen, 
stehen, wie man sich bei der Ansicht von Oben, etwa am 
Schwanze leicht überzeugen kann, stets zwischen den Epithel- 
zellen. 

Leider lässt sich nun wegen der grossen Undurchsichtigkeit 
jener den Hügel überkleidenden Epithelzellen, von den bei den 
Fischen durch den Hügel hindurch verfolgten Nervenfasern, 
welche hier ohnedies nicht scharf contourirt sind, durchaus 
nichts Genaues sehen, Ich suchte deshalb zunächst die Nerven 
beim Eintritt in die Hügel so weit als möglich zu verfolgen 
und fand, dass der Nerv!) stets bis in die Mitte des Hügels 
eiudringt, also stets den Haaren gerade gegenüber liegt, so dass 
meistens seine Axe mit derjenigen der mittleren Haare zusam- 
men fällt. 

Besonders schön lässt sich dies in Ansichten von Oben auf 
den Hügel erkennen, wie man sie am Klarsten bei $—13 mm. 
langen Larven an jenem Aste des Ramus lateralis vagi haben 
kann, der sich ungefähr in der Gegend der hinteren Extremi- 
tät abzweigt und als ein Rückenast nach Oben und Hinten 
verläuft. Verfolgt man hier eine einzelne Nervenfaser, so sieht 


1) Bei Triton-Larven dringt jedes Mal nur eine breite, aber in 
dem jugendlichen Zustande, den ich vor mir hatte, wenigstens nicht 
scharf contourirte Nervenfaser in den Hügel ein. Dieselbe zeigt von 
Zeit zu Zeit lange zellige kernhaltige Anschwellungen, die wohl als 
für die Genese der Nerven wichtige Elemente anzusehen sind. 


Ueber die Nervenendigung in den sog, Schleimkanälen etc. 767 


man sie ungefähr in derselben Ebene bis unter die Mitte eines 
Hügels verlaufen, wo man dann plötzlich gerade unter den 
lothreeht darüber stehenden Haaren den optischen Querschnitt 
des Nerven erkennt; es muss also der Nerv sich hier nach 
Oben umbiegen und in die Mitte des Hügels eindringen. Von 
dem zwischen dem letzten wabrnehmbaren Ende des Nerven 
und jenen beim Heben des Tubus stark aufleuchtenden Punk- 
ten, welche den optischen Querschnitt der Haare und besonders 
ihrer Basalparthie repräsentiren, kann man nun, wie gesagt, 
Nichts weiter sehen, als dass an dieser Stelle eben keine der 
bekannten Cylinderepithelzellen liegen. 

Wenden wir uns jetzt zu den Batrachiern. Ich habe zur 
genauen Untersuchung der hier in Rede stehenden Verhältnisse 
die recht durchsichtigen Larven von Bombinator igneus ge- 
wählt, und bei denselben trotz der immer noch weit stärkeren 
Pigmentirung dieser Thiere im Allgemeinen das Nämliche ge- 
funden wie bei den Tritonenlarven. Nur waren die aus den 
Hügeln hervorragenden Haare etwas länger. Am Kopfe eines 
12 mm. messenden Bomb. igneus fand ich sie 0,024 mm. lang. 

Als Repräsentant der während des ganzen Lebens mittelst 
Kiemen athmenden Amphibien diente mir ein in Spiritus auf- 
bewahrtes Exemplar von Menopoma alleghanense. Ich erhielt 
dasselbe zur Untersuchung durch die Güte des Herrn Prof. 
M. Schultze, dem ich für die grosse Freundlichkeit, mit wel- 
cher er mir nicht nur alle nöthigen Litteraturhülfsmittel zu Ge- 
bote stellte, sondern mich auch sonst überall mit Rath und 
That unterstützie, meinen herzlichen Dank zu sagen mich ver- 
pflichtet fühle, 

An Schnitten, welche senkrecht durch die schon bei ober- 
flächlicher Betrachtung sehr in die Augen fallenden, am Kopfe 
und an der Seite des Rumpfes bis auf den Schwanz gelegenen 
Hügel mit mittlerer Concavität geführt waren, zeigte sich im 
Grunde jener Aushöhlung wiederum eine kopfartige, mit Oy- 
linderepithelzellen bedeckte Erhabenheit, in welche ich Nerven 
eintreten sah!). Auch glaube ich, dass eigenthümliche , aus 

1) Ein ähnliches Bild sah M. Schultze bei Petromyzon an den 


eigenthümlichen Grübchen der Kopfhaut. Vergl. dıeses Archiv, 1861, 
Taf. V, Fig, 5. - 


7168 F. E. Schulze: 


feinen, neben einander liegenden Fasern gebildete Büschel, 
welche ich von der Oberfläche der Epithelialbekleidung frei in 
die umgebende Flüssigkeit hinaus ragen sah, nur als, durch 
die Einwirkung des Spiritus geronnene und theilweise ver- 
klebte Haare der oben beschriebenen Art gedeutet werden 
können. 

Ueber die bei den Cetaceen gefundenen, „den Schleimkanälen 
ähnlichen“ Organe etwas Sicheres zu ermitteln, fehlte mir leider 
jegliche Gelegenheit. 


Es ist also für die Fische ganz sicher, für die Tritonen 
und Batrachierlarven so gut wie gewiss, für die durch lebens- 
längliche Kiemenathmung zum Aufenthalte im Wasser bestimm- 
ten Amphibien wenigstens bis zur höchsten Wahrscheinlichkeit 
der Besitz von Organen erwiesen, welche sich durch ihren fei- 
neren Bau, ganz besonders durch die eigenthümliche Endigungs- 
weise der ihnen zukommenden Nerven als besondere Sin- 
nesorgane documentiren. 

Dasselbe hat für die Schleimkanäle der Fische schon Leydig 
behauptet; indessen sagt er selbst (nachdem er über die, mit 
den Schleimkanälen meiner Ansicht nach ziemlich identischen, 
becherförmigen Organe, die er als Tastwerkzeuge deutet, ge- 
sprochen), dass es höchst schwierig, wenn nicht vor der Hand 
geradezu unmöglich sei, über die Function des sogen. 
Schleimapparates eine bestimmte Vorstellung zu gewinnen. — 
Jetzt, nachdem wir den eigenthümlichen Bau der in demselben 
liegenden Nervenapparate kennen gelernt haben , dürfte es 
vielleicht möglich sein, eine mehr exacte Vorstellung über die 
Function jenes Organsystemes zu gewinnen. 


Erklärung der Abbildungen. 


Fig. I. Ein dem Nervenknopfe eines Schleimkanales entsprechen- 
der Hügel am Kopfe eines 12 mm. langen Barsches (Perca fluv). Die 
Vergrösserung ist eine 320fache. aa die zuführenden Nerven; bb die 
zwischen den Epithelzellen liegenden Nervenfaserenden, welche sich 
direct in die Haare fortsetzen; c die hyaline Röhre. 


Ueber die Nervenendigung in den sog. Schleimkanälen etc, , 769 


Fig. II. Eine dem Nervenknopfe eines Schleimkanales entspre- 
chende Stelle auf der Schwanzflosse eines 16 mm. langen Barsches 
(Perca fluv). Die Vergrösserung ist eine 320fache. a der unter dem 
Zellenhügel hinlaufende, theilweise in denselben eindringende Nerv; 
bb die Nervenfasern in ihrem Verlauf zwischen den Epithelzellen; 
ce optischer Durchschnitt der die Haare umgebenden hyalinen Röhre; 
dd Knorpelstrahlen der Schwanzflosse. 

Fig. III. Linke Hälfte des Kopfes, von einer 10,6 mm. langen, 
sehr durchsichtigen Triton taeniatus-Larve, von Oben gesehen. Die 
Vergrösserung ist eine etwa 90fache. a Auge; b Gehörorgan, und 
zwar «@« Ötolithenhaufen, %8% Hohlräume der Ampullen, yy Cristae 
acusticae mit Haaren; e Haufen von Ganglienzellen, wahrscheinlich 
das Ganglion trigemini, welches Fischer in seinem Amphibiorum 
nudorum neurologiaa (Tab. Il, Fig. 3) beschreibt; d ein supraorbital 
verlaufender, scheinbar aus dem Ganglion trigemini entspringender 
Nerv; e ein infraorbital verlaufender, sicher aus dem Ganglion trige- 
mini kommender Nerv; f ein in der Temporalgegend sich ausbreiten- 
der, aus dem Ganglion trigemiri kommender Nerv; 998 die aus f stam- 
menden, zu den einzelnen Hügeln (hhh) tretenden Nerven; k Kiemen. 

Fig. IV. Rechte Seite des Schwanzes von einer 15 mm. langen 
Triton taeniatus-Larve. Die Vergrösserung ist eine etwa 90 fache. 
a hinterer Extremitätenhöcker ; bb Ramus lateralis vagi, läuft bis x 
dicht unter der Haut, über den Muskeln, tritt von da an unter die 
obersten Muskelbündel; ce der Ramus dorsalis des lateralis vagi; ddd 
die eigenthümlichen Zellenhaufen, in welchen die Nerven, in jeden eine 
Nervenfaser, eintreten. | 

Fig. V. Vom Kopfe einer etwa 10 mm. langen Triton taeniatus- 
Larve. Die Vergrösserung ist eine etwa 400fache. a Auge; b einer 
jener zelligen Hügel, aus dessen äusserer Concavität die von einer 
durchsichtigen Röhre (c) umgebenen Haare hervorragen; d die in den 
Hügel eintretende Nervenfaser; ee die blasig aufgetriebenen Hohlräume 
um den Zellenhägel. 

Fig. VI. Ende des Ramus dorsalis nervi lateralis vagi von einer 
15 mm. langen Triton taenialus-Larve. Die Vergrösserung ist eine 
320fache. aa Nervenfasern mit den eigenthümlichen zelligen An- 
schwellungen bb; ec die Zellenhaufen ; dd die optischen Querschnitte 
der Haare und ihrer konischen Basaltheile. 

Fig. VII. Ende des Ramus dorsalis nervi lateralis vagi von einer 
12 mm. langen Triton taenialus-Larve. Die Vergrösserung ist eine 
320fache. a Nervenfaser; b Zellenhaufen bei gehobenem Tubus. 

Fig. VIII. Derselbe Zellenhaufen von Fig. VII, b, bei gesenktem 
Tubus. & optischer Querschnitt der in den Hügel eintretenden, sich 
in die Höhe biegenden Nervenfaser. 


770 J. Ravitsch: 


Ueber den Einfluss des Vagus auf die Magen- 
bewegung. 


Von 
J. RavitscH, Magister der Thierheilkunde. 


Wenige Gegenstände der Physiologie sind so vielfach be- 
sprochen und untersucht worden, wie die Frage über den Ein- 
fluss des Vagus auf die Verdauung. Dessenungeachtet ist man 
bis jetzt noch zu keinem endgültigen Resultat gelangt. Ueber- 
sieht man alle Versuche, welche seit langer Zeit zur Lösung 
dieser Frage ausgeführt worden sind, so ergiebt sich, dass man 
fast einstimmig die Secretion des Magensaftes von der Vagus- 
influenz emancipirt hat, während die Abhängigkeit der Magen- 
bewegung von diesem Nerven immer noch einen Streitpunkt 
in der Physiologie ausmacht. ; 

So haben J. Müller und Dieckhof bei ihren Versuchen 
schon bemerkt, dass nach der Trennung beider Vagi die Fort- 
bewegung der Futterstoffe aus dem Magen in’s Duodenum auf- 
höre, dass der Speisebrei dabei aber, wenn auch nicht so stark, 
wie bei gesunden Thieren , doch noch immer sauer reagire 
(Müller’s Physiologie, 1. Bd., S. 458). — Longet ging noch 
weiter und behauptete, dass die Secretion des Magensaftes nur 
indirect vom Vagus abhänge, dadurch nämlich, dass er die 
Magenbewegung hervorrufe, welche dieselbe begünstige (Lon- 
get Anat. du Syst. nerv., T. III, p. 346). Bernard hat 
ebenfalls aus seinen Versuchen die Paralyse des Oesophagus 
und des Magens nach Durchschneidung beider Vagi constatirt 
(Lecons sur le systeme nerveux, II, p. 415); während Edwards 
nur die Paralyse des ersteren gesehen hat. 

In neuerer Zeit hat Hartung bei seinen Versuchen an 
Schafen gesehen, dass Reizung des Vagus sehr starke Contrac- 
tionen des Magens hervorrufe. Reizt man diesen Nerven elek- 
trisch, so verkleinert sich die Haube bis auf !/, und noch we- 
niger, und zwar erfolgt diese Contraction eben so rasch, wie 
die Verkürzung quergestreifter Muskeln nach der Erregung 
ihrer Bewegungsnerven (Hartung: Ueber den Einfluss des 
Nervus vagus auf die Bewegungen des !Magens der Wieder- 
käuer, Giessen 1860). 

Andererseits aber hat schon Magendie die Abhängigkeit 
der Magenbewegung vom Vagus geläugnet. Später haben 


Ueber den Einduss des Vagus auf die Magenbewegung. 771 


Bidder und Schmidt behauptet, dass auch nach der Durch- 
schneidung beider Vagi die Speisen noch aus dem Magen in’s 
Duodenum übergeführt werden (Die Verdauung, S. 90). — In 
demselben Sinne behauptet auch Ludwig (Physiologie, 2, Bd., 
S. 396), dass die Musculatur des Magens die Anregung zur 
Bewegung nur theilweise vom Vagus empfange. Dieser aber 
beherrscht nicht alle Muskeln, da man auch nach Durchschnei- 
dung desselben noch Zusammenziehungen eintreten sieht. Nach 
Donders (Phys., 8. 305) hat Reizung des Vagus keine Con- 
tractionen des Oesophagus und Magens zur Folge. Nach 
Durchschneidung des Vagus erfahren die Bewegungen des Ma- 
gens keine Störungen; es gelangen aber auch keine Speisen 
in denselben, weil der untere Theil des Oesophagus gelähmt 
wurde. — Nach Kritzler (Dissertation über den Einfluss des 
Nervus vagus auf die Beschaffenheit der Secretion der Magen- 
drüsen ete, Giessen 1861) soll nach Durchschneidung beider 
Vagi am Foramen oesoph. schon nach 5 Stunden der Magen 
leer gefunden werden. Endlich hat Schiff in seiner letzten 
Arbeit über den Einfluss des Nervus vagus auf die Magen- 
thätigkeit (Bern 1860) auf das Bestimmteste behauptet, dass 
die Vagustrennung an beliebiger Stelle nie die Magenbewegung 
schwäche, wie man sich davon an Hunden mit Magenfisteln 
leicht überzeugen könne. 

Eine solche Controverse in Betreff einer Thatsache ist wohl 
schwer zu erklären und muss in jedem Forscher den Wunsch 
rege machen, durch eigene Experimente von der Richtigkeit die- 
ser oder jener Angabe sich zu überzeugen. Das war auch der 
Ausgangspunkt folgender Versuche, die seit zwei Jahren von mir 
an verschiedenen Orten (im Veterinär-Institute der St. Peters- 
burgischen medico-chirurgischen Akademie, wie in dem physio- 
logischen Laboratorium in Berlin und im pathologischen Insti- 
tute daselbst) ausgeführt worden sind. Die Veröffentlichung 
dieser Versuche geschieht aber nicht etwa in der Absicht, durch 
dieselben eine völlige Lösung der Frage zu bieten, sondern 
nur um den Weg zu einer solchen Lösung anzuzeigen. 

Ehe ich aber zur Darlegung der Versuche übergehe, muss 
ich zuerst bemerken, dass zur Bestimmung der Abhängigkeit 
der Magenbewegung vom Vagus ganz gleichgültig sei, wo die 
Trennung desselben vom Centrum unternommen wird. Denn 
wäre auch die Angabe von Pincus richtig, dass die Vagus- 
trennung am Foramen oesoph. ein ganz anderes Resultat gebe, als 
die Durchsehneidung dieses Nerven am Halse, was übrigens 
durch die Versuche von Schiff und Kritzler schon wider- 
legt worden ist; so bewiese diese Thatsache ja nur, dass der 
Vagus in der Brusthöhle sympathische Fasern aufnimmt. Die 
Funetion der eigenthümlichen Vagusfasern aber muss an jeder 
beliebigen Stelle des Verlaufes derselben sich gleich bleiben. 

Die Hauptfragen, welche durch folgende Versuche beant- 
wortet werden sollten, waren: 

. Reichert’s u. du Bois-Reymond's Archiv, 1861, 50 


172 | d. Ravitsch: 


1) Hängt die Bewegung des Magens vom Vagus ab oder 
nicht? 

2) Wird die Magenbewegung nur vom Vagus beherrscht, 
oder theilt derselbe diese Herrschaft noch mit einem an- 
deren Nerven? 


Diese Fragen konnten nun auf verschiedenen Wegen be- 
antwortet werden und zwar 1) durch Aufhebung der Vagus- 
innervation, also auf negativem Wege, 2) durch Reizung des 
Vagus, d. h. auf positivem Wege. 

Den ersten Weg haben die meisten früheren Physiologen 
eingeschlagen, der zweite ist nicht so häufig und am meisten 
in letzterer Zeit betreten worden. Will man dem Einen vor 
dem Anderen den Vorzug ertheilen, so glaube ich, müsste 
der Erstere denselben erhalten. Denn auch gegen die positiv- 
sten Resultate der Vagusreizung liesse sich noch immer ein- 
wenden, dass die durch dieselbe hervorgebrachte Bewegung des 
Magens so zu Stande komme, dass die Vagusäste den Reiz den 
sympathischen Nerven mittheilen und erst durch dieselben. die 
Contraction der Magenmusculatur hervorrufen. Dieser Einwurf 
konnte nur dadurch widerlegt werden, dass man, ehe die Va- 
gusreizung unternommen wurde, erst die Innervation des Sym- 
pathicus aufheben musste. Dieser Gegenbeweis ist aber noch 
wenig beachtet worden. 

Sicherer und jeden Zweifel verbannend sind dagegen die 
erhaltenen negativen Resultate nach Durchschneidung der Vagi. 
Denn hört dann die Magenbewegung auf, so wird Niemand 
wohl die alleinige Herrschaft des Vagus in diesem Gebiete be- 
zweifeln können. Es handelte sich nun darum, dieses Resultat 
zu constatiren, da es eben den Streitpunkt zwischen den ge- 
nannten Experimentatoren ausmacht. — Demzufolge habe ich 
folgende Versuche ausgeführt. 


1. Reihe. 


1. Versuch. Einem an chronischer Lungentubereulose 
leidenden Pferde wurden beide Vagi am Halse durchschnitten. 
Vor der Operation hatte das Thier 65 Pulse und 30 Respira- 
tionen in der Minute. Nach der Operation stieg die Zahl der 
Pulse bis auf 105, die. der Respirationen verminderte sich dage- 
gen bis auf 10 in der Minute. Das Thier bekam einen sehr 
starken Durst, konnte aber nicht viel auf einmal trinken, weil 
beim Verschlucken beträchtlicher Portionen Wassers starke 
asphyktische Anfälle sich einstellten. Sonst hat das Thier im 
Verlaufe des ersten und zweiten Tages nach der Vagustrennung 
seine frühere Futterration verzehrt. Die Darm- und Harn-Ex- 
eretionen boten auch nichts Abnormes dar. 

Am dritten Tage erhielt das Thier eine Solution von 19 
Gr. Sirychn. nitrie., aber ohne den mindesten Erfolg. Der 
Appetit war im Verlaufe des Tages etwas geschwächt worden. 


Ueber den Einfluss des Vagus auf die Magenbewegung. 113 


Die Respirationsbeschwerde wurde dagegen mehr und mehr in- 
tensiver. 

Am vierten Tage Morgens wurde das Thier durch den 
Nackenstich getödtet. 

Bei der Seetion fand sich, ausser der älteren Tuberculose 
der linken Lungenhälfte, noch eine starke Hyperaemia beider 
Lungen und beträchtliehe Oedeme derselben, welche der Va- 
gustrennung zugeschrieben werden mussten. Von den Ver- 
dauungsorganen war der Oesophagus ganz leer und von nor- 
malem Umfange. Der Magen enthielt eine sehr kleine Quan- 
tität eines diekflüssigen, grünlich-braunen Breies, in dessen 
Mitte einige ganze Haferkörner lagen. Der Inhalt reagirte 
stark sauer. 

Ich glaubte aus diesem Versuche schliessen zu dürfen, dass, 
bei Pferden wenigstens, die Magenbewegung wie die Secretion 
des Magensaftes unabhängig vom Vagus sei und auch nach der 
Trennung desselben vom Centrum noch fortbestehe. — Nur 
wusste ich nicht, wie ich das Ausbleiben der Strychnin-Wir- 
kung mir deuten solle. Dass das Gift nicht im Magen liegen 
geblieben war, bewies folgender Versuch. Ich liess nämlich 
2 Hunde den Magen nebst dem flüssigen Inhalt desselben ver- 
zehren; es traten aber bei beiden nicht die mindesten Zeichen 
der Strychninvergiftung ein. 

2. Versuch. 2 Hunde von mittlerem Alter wurden mit 
einer gleichen Quantität von Fleisch (1 Pfd.) und Brod (!/, Pf.) 
gefüttert; gleich darauf wurden bei einem derselben beide Vagi 
am Halse durchschnitten und der Oesophagus (um das Erbre- 
chen zu verhindern) unterbunden. Beide 'Thiere wurden nun 
24 Stunden ohne Futter und Getränk gelassen und am zweiten 
Tage getödte. Die Section ergab folgendes Resultat: Bei 
dem nicht operirten Thiere war der Magen fast leer und 
enthielt nur eine sehr kleine Menge einer sauren schleimigen 
Flüssigkeit. Beim operirten Hunde dagegen war derselbe voll 
von einer zähen, diekflüssigen, graulich-weissen Masse, in de- 
ren Mitte noch viele Stückchen unverdauten Fleisches und 
Brodes lagen. Der ganze Inhalt reagirte stark sauer. — Die 
Verdauung war also durch die Vagustrennung gestört, und zwar 
hörte die Bewegung des Magens auf, während die Secretion 
desselben, nach der sauren Reaction des Inhaltes zu urtheilen, 
noch fortbestand. 

3. Versuch. Derselbe Versuch wurde an 2 anderen Hun- 
den wiederholt, nur mit der Modification, dass ich dieselben, 
statt mit Fleisch und Brod, mit Milch und Kartoffeln gefüttert 
habe. Auch dieser Versuch hat dasselbe Resultat ergeben. 
Ich fand auch hier bei dem nicht operirten Thiere den Magen 
fast leer, während bei dem operirten in demselben noch Stücke 
unverdauter Kartoffeln “und geronnener Milch neben einer ziem- 
lich bedeutenden Menge einer sehr sauer riechenden, weissen, 
dieken Flüssigkeit sich fand. Der Inhalt reagirte sehr sauer. 


0* 


u J. Ravitsch: 


4. Versuch. Einer starken Katze wurden nach einer reich- 
lichen Fütterung mit Fleisch beide Vagi am Halse durch- 
schnitten und der Oesophagus (zur Verhinderung des Erbre- 
chens) unterbunden. Nach 24 Stunden wurde das Thier getödtet. 

Ich fand nur einen kleinen Theil des genossenen Fleisches 
verdaut und in einen dicken, graulich-weissen Brei verwandelt, 
welcher sehr stark sauer reagirte. Die übrige Masse war un- 
verändert. Also hat die Magenbewegung auch hier nach der 
Vagustrennung aufgehört; die Secretion des Magensaftes aber 
fortgedauert. 

5. Versuch. Bei 2 Kaninchen, mittlerer Grösse, wurden 
nach einer reichlichen Fütterung mit gekochten Kartoffeln und 
Rüben beide Vagi am Halse durcebschnitten. Die Thiere wur- 
den nach der Operation ohne Futter und Getränk bis zum 
Tode gelassen, welcher bei dem einen nach 20, bei dem ande- 
ren'nach 25 Stunden erfolgte. Der Magen war bei Beiden 
voll Futter, dessen äussere Schicht nur verdaut war. . Der 
ganze Inhalt reagirte aber stark sauer. Dieser Versuch hat 
demnach die Resultate des vorigen bestätigt. Derselbe Versuch 
wurde noch an 3 anderen Kaninchen wiederholt. Die Resul- 
tate waren dieselben. 

6. Versuch. 2 gleich grossen Fröschen wurde eine gleiche 
Zahl kleiner Stücke von Maikäfern in den Magen gebracht und 
dann einem derselben beide Vagi durchschnitten. Am folgenden 
Tage wurden beide Frösche getödtet und die Mägen untersucht. 
Bei dem ÖOperirten lagen noch alle eingebrachten Stücke im 
Magen, während bei dem Anderen der Magen ganz leer war. 

Dieser Versuch ist noch an vielen anderen Fröschen ausge- 
führt worden; einigen wurden Stücke von Goldkäfern, anderen 
Fleisch in den Magen gebracht und hernach beide Vagi durch- 
schnitten. Die Resultate waren immer dieselben. — Die Be- 
wegung des Magens hörte mit der Durchschneidung beider 
Nerven auf. 

Es entstand nun die Frage: warum die Vagustrennung beim 
Pferde ohne Erfolg blieb? Anatomisch liess sich dieselbe nicht 
beantworten. Die Annahme aber, dass beim Pferde die Fun- 
ction des Vagus etwa eine andere sei, entbehrte jedes Grundes. 

Ein Ausweg blieb zur Lösung dieser Frage übrig, die An- 
nahme nämlich, dass die fortdauernde Nahrungsaufnahme bei 
dem operirten Pferde den örtlichen Reiz des Vagus unterhalten 
habe, wodurch die Magenbewegung fortdauerte. Gegen diese 
Hypothese liess sich a priori Nichts einwenden. Nur musste 
dieselbe auf experimentalem Wege erst erwiesen werden. 

Ich stellte daher folgende Versuche an. 

7. Versuch. 2 kräftigen Hunden wurden beide Vagi am 
Halse durchschnitten. Die Thiere schienen nach der Operation 
sehr stark angegriffen, erholten sich aber nach einigen Stunden 
völlis.. Nun wurde einem derselben alle 3 Stunden ein Glas 
voll Milch in den Magen eingespritzt, im Ganzen 4 Glas. 


Ueber den Einfluss des Vagus auf die Magenbewegung. 775 


Dem anderen brachte ich durch eine Magenfistel kleine Stücke 
Fleisch und gekochte Eier in den Magen, worauf die Oeffnung 
zugenäht wurde. Nach 24 Stunden wurden beide Thiere ge- 
tödtet. Der Magen war bei Beiden fast leer und nur beim 
Zweiten fand ich noch ein paar Stückchen unverdauten Flei- 
sches. Hier hat also die Magenbewegung Statt gefunden und 
zwar in Folge des örtlichen Reizes durch die aufgenommene 
Nahrung. . 

8. Versuch. Mehreren Fröschen wurde nach Durchschnei- 
dung beider Vagi das peripherische Ende derselben gereizt. 
Diese Versuche haben immer positive Resultate ergeben, Jede 
galvanische, chemische oder mechanische Reizung, welche den 
Herzstillstand heryorbrachte, rief zugleich auch starke Contra- 
ctionen des Magens hervor. 

9, Versuch. Einem Hunde wurden beide Vagi durch- 
schnitten und der Oesophagus (zur Verhinderung des Erbre- 
chens) unterbunden. Nach einer Stunde wurde die Ligatur 
abgenommen. Es erfolgte kein Erbrechen. Ich gab nun dem 
Thiere eine Solution von 10 Gr. Tart. emet. ein und nach 
ein paar Minuten zeigte sich ein starkes und anhaltendes Er- 
brechen. 

10. Versuch. Damit aber das Letztere nicht etwa im 
Sinne Magendie’s nur als Folge der Oontractionen der Bauch-- 
muskeln und des Zwerchfells gedeutet werde, modifieirte ich 
den vorgehenden Versuch bei einem anderen Hunde dadurch, 
dass ich das Emeticum (Zineum sulph.) durch eine Oeffnung 
in den Magen brachte, den ich ganz aus der geöffneten Bauch- 
höhle herausgenommen habe. Dessenungeachtet trat auch hier 
ein starkes Erbrechen, wie im vorhergehenden Falle ein. 
Dasselbe Resultat erhielt ich noch bei 3 anderen Hunden. 

Es war also zur Evidenz gebracht worden, dass örtliche 
Reize der Magenschleimhaut die Bewegung des Magens auch 
nach der Trennung beider Vagi vom Centrum noch. hervor- 
rufen können. 

Folgende Versuche sollen aber diese Behauptung noch be- 
kräftigen. Lange schon habe ich bei Sectionen kranker Thiere 
bemerkt, dass der Magen bei den Herbivoren ungeachtet der 
lange erhaltenen völligen Inanition immer voll gefunden wird. 
Neulich wurde ich auf denselben Befund bei verhungerten Ka- 
ninchen vom Herrn Dr. W. Kühne aufmerksam gemacht. — 
Ich behauptete, dass dies Verbleiben des Futters im Magen 
dieser Thiere eine Folge der mangelnden Vagusinnervation sein 
müsse. Da aber diese Voraussetzung bezweifelt wurde, so 
suchte ich dieselbe durch folgende Versuche zu constatiren, 


2. Reihe. | 
1. Versuch. 2 Kaninchen wurden ohne Nahrung und 
Getränk 3 Tage gehalten. Am vierten Tage habe ich bei 
einem derselben den Vagus am Halse durchschnitten und mit 


‘ 


716 J. Ravitsch: 


einem mittelstarken galvanischen Strom etwa ?!/, Stunde’ lang 
mit Unterbrechungen gereizt. Dasselbe wurde auch am fol-' 
genden Tage wiederholt. Am sechsten Tage nach der letzten 
Fütterung wurden beide Thiere getödtet. Die Section bewies 
nun, dass bei dem operirten Thiere der Magen fast leer war; 
beim zweiten dagegen war derselbe voll von einer grünlich- 
gelben, dicken Masse (die Thiere waren mit Gras gefüttert), 
welche aber stark sauer reagirte.e Ein leicht angesäuerter, 
wässeriger Extract der Schleimhäute beider Magen löste Fi- 
brincoagula auf und verwandelte dieselben in Pepton. Au 

2. Versuch. Bei 2 anderen Kaninchen wurde der vorige 
Versuch mit der Modifiecation wiederholt, dass’ ich dieselben’ 
gleich nach der letzten Fütterung Glasperlen verschlucken liess. 
Das operirte Kaninchen starb am fünften Tage. Der Magen 
enthielt bei ihm eine sehr unbedeutende Quantität eines dick- 
lichen, sauer reagirenden Breies. Die Glasperlen waren in 
demselben nicht zu finden. Das nicht operirte starb am ach- 
ten Tage nach der letzten Fütterung, sein Magen war voll 
Futter, in welchem ich alle eingegebenen Perlen wiederfand. 
Der Inhalt reagirte ebenfalls sauer, enthielt aber nür eine 
schwache Spur von Pepton. Die Schleimhäute beider Mägen 
lieferten wie im vorigen Falle eine stark verdauende Flüs- 
sigkeit. 

Dieser Versuch ist noch an 4 anderen Kaninchen wiederholt 
worden. Die Resultate waren dieselben. Nur bei einem von 
denselben fand ich auch nach der Vagusreizung noch den Ma- 
gen voll Futter. Dasselbe wurde aber nur schwach und nur 
einmal gereizt. 

3. Versuch. Ein hungerndes Kaninchen liess ich täg- 
lich eine kleine Quantität von feuchtem Sande verschlucken. 
Es starb am siebenten Tage nach der letzten Fütterung. Bei 
der Section fand ich im Magen nur etwas Schleim mit einer 
kleinen Menge Sand. Der Inhalt reagirte stark sauer und aus 
der Schleimhaut liess sich eine stark verdauende Flüssigkeit 
erhalten. 

4. Versuch. Einem zweiten hungernden Kaninchen wurde 
täglich eine kleine Portion einer concentrirten Kochsalzlösung 
eingegeben. Das Thier starb schon am sechsten Tage. Der 
Magen war ganz leer und enthielt nur etwas Schleim, welcher 
aber eine starke alkalische Reaction zeigte. Die letztere er- 
folgte durch die Entwickelung von Ammoniak, da die Section, 
bei sehr hoher Temperatur, erst 14 Stunden nach dem Tode 
gemacht worden ist. — Uebrigens hat die Reaction mit Salz- 
säure diese Voraussetzung hinreichend bestätigt. 

Diese Versuche haben also ebenfalls bewiesen, dass Rei- 
zungen des peripherischen Endes der Vagusstämme, wie der 
Magenschleimhaut selbst, auch die schon sistirte Magenbewegung 
wieder hervorrufen und unterhalten können. Man kann also 
die Frage: ob der Vagus der motorische Nerv des Magens’'sei? 


Ueber den Einfluss des Vagus auf die Magenbewegung, 777 


mit Bestimmtheit bejahen. Dagegen könnte aber noch behauptet 
werden, dass die Bewegungen des Magens durch die örtliche 
Reizung seiner Schleimhaut den sympathischen Faseru zuge- 
schrieben werden können und dass also die motorische Function 
hier vom Vagus und Sympathicus getheilt werde. 

Diese Behauptung wird aber leicht widerlegt, wenn man 
die Resultate aller bisher angeführten Versuche genau würdigt. 
Diese haben nämlich gezeigt, dass die Magenbewegung nie 
Hand in Hand mit der Secretion des Magensaftes gehe, Im 
Gegentheil haben wir gesehen, dass die letztere auch nach 
Aufhören der ersten noch lange bestehe. So hatten die Con- 
tenta des Magens bei Durchschneidung beider Nerven immer 
eine saure Reaction. Ebenso fehlte dieselbe niemals auch bei 
den verhungerten Thieren. 

Ausser dieser Reaction, die man auch der einfachen che- 
mischen Gährung der Nahrungsstoffe ohne Intervention des 
Magensaftes zuschreiben kann, liess sich aber mit den Schleim- 
häuten der Magen dieser Thiere noch eine künstliche Verdauung 
anstellen, welche unleugbar auf die Anwesenheit vom secer- 
nirtem Pepsin in denselben hindeuteten. Die Secretion. hat 
also in allen diesen Fällen ohne Zweifel auch nach der Sisti- 
rung der Magenbewegung fortgedauert. Beide können daher 
unmöglich unter der Botmässigkeit eines und desselben Nerven 
stehen. Wenn also die Magensecretion, wie jetzt allgemein 
mit Recht angenommen wird, nur von der Innervation des 
Sympathicus abhängt, was auch keinem Zweifel unterliegen 
kann, da dieselbe auch nach der Trennung des Vagus vom 
Centrum noch fortbesteht, so kann gewiss die Bewegung des 
Magens von diesem Nerven nicht hervorgerufen werden. Sonst 
müsste ja dieselbe noch fortdauern, so lange die Secretion noch 
fortbesteht. — Uebt aber der Sympathicus keinen Einfluss auf 
die Magenbewegung aus, so müssen nothwendig die Bewegun- 
gen nach Reizung der Magenschleimhaut den Endzweigen des 
Vagus zugeschrieben werden, oder als idiomusceuläre Contrac- 
tionen ohne Nervenintervention gedeutet werden. Dass hier 
aber nur neuromusculäre Contraetionen waren, wurde durch 
folgenden Versuch bewiesen. 

9. Versuch. Einem mittelstarken Hunde wurden beide 
Vagi am Foramen oesoph. durchschnitten uud mit einem gal- 
vanischen Strom gereizt, worauf deutliche Contractionen und 
Einschnürungen des Magens auftraten. Nun wurde das Thier 
durch Einspritzung einer starken Dosis Curare in die V. jugul. 
vergiftet und die Respiration künstlich unterhalten.  Nach- 
dem wir uns überzeugt haben, dass galvanische Reizung der 
Vagi keine Contractionen des Magens mehr ‚hervorbringe, 
wurde durch eine Oeffnung im Magen eine concentrirte Solu- 
tion von Zine, sulph. in denselben gebracht; es erfolgte aber 
kein Erbrechen, was doch nicht der Fall sein konnte, wenn 
die früher beobachteten Magenbewegungen durch örtliche Reize 


778 J. Ravitsch. 


nur als idiomusculäre gedeutet werden sollten. — Die Herz- 
bewegungen dauerten bei dem vergifteten Hunde bei künstlicher 
Respiration noch eine lange Zeit fort. | 

Es unterliegt also keinem Zweifel mehr, dass die Contrac- 
tionen des Magens nach Reizung seiner Schleimhaut nur der 
Action der Vagusendzweige zugeschrieben werden müssen. Um- 
gekehrt ist man aber ebenfalls zum Schlusse berechtigt, dass 
das Verbleiben der Futterstoffe im Magen hungernder Kanin- 
chen eben dem Mangel des natürlichen Reizes dieser Nerven 
zuzuschreiben sei. Wie schon bemerkt worden ist, habe ich 
dasselbe auch bei anderen verstorbenen Herbivoren nach langer 
Inanition bemerkt, was natürlich denselben Grund haben muss. 
Dagegen findet man bei den Carnivoren den Magen nach an- 
haltender Inanition gewöhnlich leer. Zur Erklärung dieses 
Umstandes muss man zu der Hypothese Zuflucht nehmen, dass 
bei den Herbivoren der vollständigen Verdauung wegen die 
Speisen länger im Magen verbleiben müssen und erst durch 
die Reizung der Vagusendzweige vermittelst der neu aufgenom- 
menen Speisen aus demselben entfernt werden. Fehlt aber 
dieser Reiz (wie bei Inanition), so bleibt die Masse im Magen 
liegen. Wie wir gesehen haben, kann aber die Magenbewegung 
nicht nur durch neu aufgenommene Nahrungsmittel, sondern 
auch durch andere mechanische und chemische Reize der Ma- 
genschleimhaut wieder hervorgerufen werden. Es blieb nur 
noch die Lösung der Frage über den Einfluss des Vagus auf 
die Resorption im Magen übrig. Bei Untersuchung des Ma- 
geninhalts sowohl der verhungerten Thiere als nach der Durch- 
schneidung beider Vagi habe ich kaum Spuren von Pepton 
in denselben finden können. Ich habe nun diese Massen einer 
künstlichen Verdauung unterworfen, erhielt aber ebensowenig 
Peptone aus denselben. Diese Massen bestanden also nur aus 
solchen Stoffen, welche vom Magensaft unverdaut geblieben, 
während die löslichen Stoffe aufgesaugt worden sind. Die Re- 
sorption hat also auch nach der Vagustrennung nicht aufgehört. 
Es lag nun ob, zu bestimmen, ob dieselbe nicht eine Verän- 
derung in den Zeitverhältnissen erdulde. — Demzufolge sind 
folgende Versuche ausgeführt worden. 

6. Versuch. Zwei Fröschen, deren Einem beide Vagi 
durchschnitten wurden, brachte ich in den Magen 10 Tropfen 
einer Strychninlösung ein. Beim nicht operirten stellte sich 
der Tetanus schon nach 3 Minuten ein, während er beim ope- 
rirten erst nach 10 Minuten erfolgte. Derselbe Versuch: ist 
dann bei mehreren anderen Fröschen gemacht worden, das Re- 
sultat war immer dasselbe Die Vergiftung trat nach der 
Durchschneidung beider Vagi immer einige Minuten später als 
bei unverletztem Nerven ein. 

7. Versuch. Einem Kaninchen brachte ich nach Durchschnei- 
dung beider Vagi einige Tropfen Ferrocyankalium in den Magen 
ein. Nach 15 Minuten war dasselbe noch weder im Blute noch 


Ueber den Einfluss des Vagns auf die Magenbewegung. 779 


im Harne zu finden, während der Mageninhalt die bekannte 
Reaction auf Eisenchlorid gab. 

Bei einem zweiten Kaninchen war erst nach 20 Minuten 
das Ferrocyankalium aus dem Magen verschwunden und im 
Harne nachweisbar. 

Bei einem dritten endlich erst nach 25 Minuten, während 
bei unverletzten Nerven der Harn schon nach 2—3 Minuten 
dasselbe enthalten hat. 

Die Resorption im Magen hört also nach Durchschneidung 
beider Vagi nicht auf, wird aber sehr bedeutend verlangsamt, 
wie es Bernard schon hehauptet hat. Ich glaube, dass die 
Hauptursache dieser Verlangsamung der Resorption das Ver- 
bleiben der Futterstoffe im Magen sei. Erichsen nämlich 
(Lond. med. Gazette, Iune 1845) hat schon bemerkt , dass 
das. Blutlaugensalz und andere Substanzen nicht so schnell in 
den Harn übergehen, wenn kurz vorher Speisen aufgenommen 
waren. | 

Fasst man nun also die Resultate der angeführten Versuche 
zusammen, so glaube ich, kann man mit Recht folgende Schlüsse 
aufstellen: 

1) Der Vagus ist der einzige motorische Nerv des Magens. 

2) Die Durcehschneidung beider Vagi verursacht immer Sisti- 
rung der Magenbewegung. 

3) Reizung des peripherischen Endes des durchschnittenen 
Vagus bringt starke Oontractionen des Magens hervor. 

4) Reizungen der Magenschleimhaut können auch nach der 
Trennung beider Vagi die Magenbewegungen unterhalten. 

9) Die Aufhebung der Vagusinnervation hat keinen Einfluss 
auf die Magensecretion. 

6) Bei Herbivoren scheint normal die Ueberführung der Fut- 
terstoffe aus dem Magen in den Darm nur durch Reizung 
der Endzweige des Vagus vermittelst der von Neuem auf- 
genommenen Futterstoffe zu erfolgen. 

7) Die Resorption im Magen hört nach der Vagusdurch- 
schneidung: nicht auf, wird aber sehr verlangsamt, und zwar 
durch die Anhäufung der Futtermassen in demselben. 

8) Das Gefühl des Hungers und Durstes ist vom Vagus ganz 
unabhängig. 

9) Das Erbrechen kann durch die Contractionen des Magens 
auch ohne Beihülfe anderer Muskeln zu Stande kommen. 

Aus diesen Schlüssen stimmen nur der 5. und 8. mit den 
Angaben Schiffs überein, während die übrigen in Betreff der 
Vagusfunetion denselben widersprechen. 

Schiff behauptet, aus seinen Versuchen den Schluss fest- 
stellen zu können, dass die Vagustrennung in beliebiger Stelle 
die Magenbewegungen nicht schwäche, und beruft sich auf die 
Beobachtung derselben bei Hunden mit Magenfisteln. Diese 
Thatsache , die schon von vielen Physiologen constatirt wor- 
den und von mir selbst im 7. Versuche der ersten Reihe ge- 


> 


780 J. Ravitsch: Ueber den Einfluss des Vagus auf die Magenbew. 


sehen worden ist, beweist aber nur, dass der örtliche Reiz der 
Vagusendzweige noch Contractionen der Magenmuseulatur aus- 
lösen kann, wie es bei jedem motorischen Nerven der Fall 
ist. — Niemand wird doch behaupten wollen, dass der Ischia- 
dieus kein motorischer Nerv sei, desshalb weil nach Durch- 
schneidung desselben örtliche Reize am Schenkel noch Con- 
tractionen der Muskeln desselben hervorrufen. | 

Die selbständigen Bewegungen des Magens bei dem Er 
brechen, meint Schiff, werden durch die Vagusdurchschneidung 
nicht beeinträchtigt. Das Erbrechen gleich nach der Vagus- 
durchschneidung , welches übrigens nicht immer erfolgt, muss 
ohne Zweifel nur als Folge der Vagusreizung gedeutet wer- 
den und tritt ebenso auf, wie die Zuckung anderer Muskeln 
beim Durchschneiden ihrer motorischen Nerven. Später nach 
der Vagustrennung erfolgt kein spontanes Erbrechen, wenn 
kein Brechmittel in den Magen gebracht wird, oder wenn die 
Thiere nach der Operation kein Futter und Getränk erhalten. 
Tritt aber in einem oder dem anderen Falle Erbrechen ein, 
so muss es nur dem örtlichen Reize der intermusculären Vagus- 
zweige zugeschrieben werden. Denn wäre noch ein anderer 
motorischer Nerv im Magen, so müssten die Futterstoffe, welche 
vor der Durchscehneidung der Vagi in denselben gebracht wor- 
den sind, durch den Einfluss jenes Nerven auch nach der Ope- 
ration in den Darm übergeführt werden , was doch nicht der 
Fallist. Schiff erwiedert darauf, dass das längere Verweilen 
der Futterstoffe im Magen nach der Vagustrennung nur eine 
Folge der gestörten ‚Verdauung sei. Man kann dagegen, und 
zwar wie ich glaube, mit mehr Recht behaupten, dass im Ge- 
gentheil die gestörte Verdauung erst die Folge der aufgehobe- 
nen Magenbewegung sei. Denn hört die Magenbewegung und 
die Seeretion des Magensaftes nach Durchschneidung beider 
Vagi gar nicht auf, oder dauert die Sistirung derselben nur 
eine kurze Zeit, bis sich die Thiere von der Operation erholt 
haben, so wird man wohl schwerlich die Thatsache erklären 
können, warum man 24 Stunden nach der Operation noch 
immer den Mageninhalt im Magen und im Centrum nicht ver- 
daut findet? — Diese Frage wird aber leicht beantwortet wer- 
den, wenn man die Sistirung der Magenbewegnng nach der 
Operation zulässt, dann wird der centrale Theil der Nahrungs- 
stoffe im Magen dem Einfluss des Magensaftes gar nicht oder 
sehr wenig ausgesetzt sein und deshalb zum Theil auch unver- 
daut bleiben. 

Uebrigens haben die angeführten Versuche zur Genüge dar- 
gethan, dass die Magenbewegung gar nicht von der Verdauung 
abhänge. Wir haben gesehen, dass bei den verhungerten Ka- 
ninchen die Speisemassen 7—8 Tage im Magen liegen blieben, 
obwohl hier gewiss die Verdauung nicht gestört wurde. Das- 
selbe ist auch bei anderen Herbivoren der Fall. Ich habe 
Pferde gesehen, welche nach 12tägiger, völliger Inanition noch 


W.Wundt: Bemerkung zu dem Aufsatze des Herrn Dr. Munk. 781 


einen vollen Magen hatten, in welchem nur unverdaubare Stoffe 
noch lagen. Endlich haben die obigen Versuche, wie jene von 
Sehiff selbst und anderen Physiologen bewiesen, dass nach 
Durchschneidung der Vagi die Secretion des Magensaftes nicht 
aufhört. Die Theile der Speisen also, welche der Einwirkung 
desselben ausgesetzt sind, werden auch verdaut werden müssen. 
Man findet daher den peripherischen Theil des Mageninhaltes, 
mehr oder weniger verflüssigt und in Pepton verwandelt. Es 
unterliegt auch keinem Zweifel, dass diese verdauten Theile 
im Verlaufe der Zeit mehr und mehr aufgesaugt werden, wo- 
durch natürlich die centralen Theile des Contentums ebenfalls 
mehr mit dem Magensaft in Berührung kommen und ihrerseits 
wiederum verdaut und aufgesaugt werden. Würde also das 
Thier vor der Vagusdurchschneidung mit einer solchen Sub- 
stanz gefüttert, ‘welche ganz durch den Magensaft gelöst und 
aufsaugbar gemacht wird, so wird man wohl nach Verlauf 
einer Zeit den Magen auch leer finden müssen. Dieser Um- 
stand muss aber nicht fälschlich etwa für das Fortbestehen der 
Magenbewegung gedeutet werden, sondern er beweist nur die 
stattgefundene, vollständige Resorption der gelösten Nahrungs- 
stoffe. Füttert man aber das Thier vor der Vagusdurchschnei- 
dung: mit solchen Stoffen, welche nur zum Theil im Magen 
verdaut und aufsaugbar werden und wird die Magenbewegung 
nach der Operation nieht durch örtliche Reize der Magenschleim- 
haut unterhalten, so wird man gewiss einen Theil der Nahrung 
immer noch im Magen finden. Man muss daher bei der Lösung 
der Frage über den Einfluss des Vagus auf die Magenbewegung 
immer auf die Verdaulichkeit der vor der Operation aufgenom- 
menen Nahrungsstofie und auf die etwa stattgefundenen ört- 
lichen Reizungen der Magenschleimhaut Rücksicht nehmen. 

Was.nun die Verlangsamung der Resorption im Magen nach 
Durchschneidung beider Vagi betrifft, so kaun ich der Be- 
hauptung von Schiff und Corvisart leider nur die weni- 
gen oben angeführten Versuche entgegenstellen. 


Berlin, den 20, Juli 1861. 


Bemerkung zu dem Aufsatze des Herrn Dr. H. Munk: 
„Ueber die Leitung der Erregung im Nerven, II.“ 
(Dieses Archiv, 1861, Heft IV.) 

Von Dr. W. Wonpr. 


In einem Aufsatze „über secundäre Modification der Nerven“ )) 
habe ich eine, bis dahin nicht näher verfolgte Art der Modification 
durch elektrische Ströme beschrieben, die ich als secundäre Modification 
bezeichnete. Die Thatsache und ihr Zusammenhang mit der gewöhn- 
lichen elektrischen Modification, die ich die primäre genannt habe, 
lässt sich folgendermaassen ausdrücken. 


1) S. dieses Archiv, 1859, S. 537 #. 


782 W. Wundt: Bemerkung zu dem Aufsatze des Herrn Dr. Munk. 


Wenn man eine Nervenstrecke vom elektrischen Strom. durch- 
fliessen lässt, so ist nach Aufhebung des Stroms in der ganzen Länge 
des Nerven eine Nachwirkung vorhanden. Diese Nachwirkung besteht 
zuerst in einer Herabsetzung der Erregbarkeit für die modificirende 
Stromesrichtung (primäre, negative Modification), geht aber dann in 
eine Erhöhung der Erregbarkeit für diese Stromesrichtung über (secun- 
däre, positive Modification).. Das Stadium der primären Modification 
oder der herabgesetzten Erregbarkeit dauert um so länger, je länger 
der Strom einwirkte, und wenn die Dauer der Stromeseinwirkung eine 
gewisse Grenze überschreitet, so bleibt die secundäre Modification voll- 
ständig aus. Man beobachtet daher die secundäre Moedification am 
deutlichsten nach der Anwendung von Inductionsschlägen: das Stadium 
der herabgesetzten Erregbarkeit ist hier von verschwindender Dauer, 
und man beobachtet sogleich, wenn man eine oder wenige Secunden 
nach der Einwirkung des Inductionsschlages einen neuen Inductions- 
schlag von gleicher Richtung einwirken lässt, eine Erhöhung der Er- 
regbarkeit. Die Erregbarkeitszunahme, die man durch einen einzigen 
Inductionsschlag erhält, ist aber meistens gering; um eine beträchtliche 
secundäre Modification zu. erhalten, muss man daher die Wirkung der 
Inductionsschläge summiren, dadurch, dass man einen neuen Inductions- 
schlag durch die Nervenstrecke sendet, noch bevor die durch den vorange- 
gangenen Schlag bewirkte Erregbarkeitserhöhung ganz geschwunden ist. 

In der oben angeführten Abhandlung von Dr. H. Munk findet 
sich die Bemerkung, es sei von mir nicht der Beweis geliefert worden, 
dass die beobachtete Zunahme der Erregbarkeit wirklich eine Folge 
der Inductionsschläge und nicht vielmehr vom Absterben des Nerven 
abhängig sei. Ich bemerke hierauf, dass ich in meinem Aufsatze, wie 
leicht aus der ganzen Fassung desselben zu sehen ist, nur die Beob- 
achtungsthatsachen angeführt habe, ohne mich auf die ausführliche Be- 
weisführung einzulassen, die ich später im Zusammenhange mit ande- 
ren Untersuchungen veröffentlichen werde. Vorerst. beschränke ich 
mich, den Ausstellungen von Munk gegenüber, auf folgende Bemerkung. 

Die Erregbarkeitszunahme für sich würde, wie Munk richtig an- 
giebt, keine Modification beweisen, auch wenn sie unter dem Einflusse 
der Inductionsströme viel schneller erfolgte, da dann immer noch der 
Einwand offen bliebe, dieses schnellere Wachsthum der Erregbarkeit 
sei eine Folge des unter dem Einflusse der Ströme rascher ge- 
schehenden Absterbens. Die Modification ist aber bewiesen, wenn die 
Erregbarkeit nicht nur schneller, sondern auch zu einer bedeutenderen 
Höhe ansteigt, als dies ohne den Einfluss der Ströme geschehen würde. 
Dies ist in der That das wirkliche Verhalten, und es würde Herrn 
Munk leicht geglückt sein, dasselbe zu constatiren, wenn er seine 
Versuche mit Erregungspausen von einer oder einigen Minuten mit 
Versuchen verglichen hätte, in denen er nur eine oder einige Secunden 
als Erregungspausen wählte. Meine Angabe, dass es, um die Modifi- 
cationswirkung zu häufen, nöthig sei, in Zwischenräumen von wenigen 
Secunden die Inductionsstösse sich folgen zu lassen, hat Munk voll- 
ständig ignorirt, und da in seinen Versuchen, in denen als Minimum 
Erregungspausen von 1 Min., nur einmal ausnahmsweise solche von 
15 Sec. erwähnt sind, keine Modification bestimmt nachgewiesen ist, 
so schliesst er, dass es überhaupt keine secundäre Modification gebe. 
Ich habe gefunden, dass 10—15 Secunden nach Einwirkung des In- 
ductionsschlages die Modification sich nicht mehr merklich geltend 
macht und daher auch die Häufung der Modificationswirkung ausbleibt. 
Von der bei läugeren Erregungspausen noch zu beobachtenden gerin- 


A. Schneider; Einige Bemerk. zu OÖ. Schmidt’s „Untersuch. 783 


geren Zunahme der Erregbarkeit glaubte ich, weil sie sich von der 
Grösse der Pause im Allgemeinen unabhängig zeigte, dass sie nicht 
mehr auf Modifieation zu beziehen sei. Ich gab daher in meiner Mit- 
theilung an, die von mehreren Beobachtern gesehene Zunahme der Er- 
regbarkeit im Anfange des Absterbens sei wahrscheinlich theilweise 
durch seeundäre Modifieation bedingt, theilweise aber scheine sie da- 
von unabhängig und mit dem Absterben des Nerven zusammenzuhän- 
gen. Sonderbarer Weise legt es nun Munk mir ganz besonders zur 
Last, dass ich die Beobachtungen über die Erregbarkeitszunahme nach 
dem Tode gekannt und trotzdem nicht alsbald meine Versuche so ge- 
deutet habe, dass in ihnen das Wachsthum der Zuckungen unabhängig . 
sei von den elektrischen Reizen. In der secundären Modification glaubte 
ich ja gerade wenigstens eine Ursache für jene Beobachtungen ge- 
funden zu haben. Munk scheint zwar der Ansicht zu sein, die Modi- 
fieation müsse ganz unabhängig von der Erregbarkeit des Präparates 
und der Zeit seit der Trennung vom Thier eintreten, und er scheint 
deshalb zu glauben, da in jenen Beobachtungen nur im Anfange der 
Untersuchung die Erregbarkeitszunahme bewirkt worden sei, so sei 
damit die Modification sogleich ausgeschlossen, — ich sehe aber nicht 
ein, warum nicht ein frischer Muskel leichter zu modifieiren sein 'sollte, 
als ein halb abgestorbener. 

Auf derselben irrthümlichen Voraussetzung beruht es, wenn Munk 
äussert, der Einfluss der Modification sei nur dann bewiesen, sobald 
die Inductionsschläge noch dann modificirend wirkten, wenn die Er- 
regbarkeit schon im Sinken begriffen sei. Dies ist wirklich der Fall, 
und es liegt darin in der That ein Beweis für die Modification. Aber 
das Gegentheil würde nimmermehr ein Beweis gegen die Modiflcation 
sein. Trotzdem beruht auf dieser verkehrten Schlussfolgerung zum 
grössten Theil die Beweisführung in Munk’s eigenen Untersuchungen 
über die Veränderung des Zuckungsmaximum nach dem Tode; weil 
das Zuckungsmaximum eine Stunde nach dem Tode in den von ihm 
gewählten Erregungspausen nicht durch Inductionsschläge erhöht wird, 
so schliesst er, dass dies auch im Anfang der Untersuchung nicht der 
Fall gewesen sei. Wer versichert ihn aber, dass nicht beim frischen 
Nerven die Inductionsströme eine viel längere Nachwirkung zurück- 
liessen als beim absterbenden? Es scheint mir nach allen Beobach- 
tungen allerdings wahrscheinlich. dass kurze Zeit nach dem Tode die 
Erregbarkeit unabhängig von den Reizen sich vergrössert, aber ein 
strenger Beweis hierfür ist noch nicht vorhanden und namentlich auch 
durch die Versuche von Munk nicht geliefert worden. 

Heidelberg, im October 1861. 


Einige Bemerkungen zu 0. Schmidts „Untersuchungen 
über Turbellarien von Corfu und Cephalonia.“ 


Von Dr. A. Schseiper, Privatdocent an der Universität zu Berlin. 


In den angeführten Untersuchungen (Siebold u. Kölliker’s 
Zeitschrift, Bd. XI, S. 21) giebt Schmidt auch eine Beschreibung 
des Anoplodium parasita. Es heisst daselbst: „Den eigenthümlichen 
Schmarotzer der Holothuria tubulosa hatte ich vor 4 Jahren in Nizza 
oberflächlich kennen gelerut, darauf aufmerksam gemacht durch den 
eigentlichen Entdecker Dr. Krohn, auf dessen Veranlassung sich 
etwas später Schneider das Verdienst erworben, das Thier genauer 
untersucht und in das System eingeführt zu haben.“ Hätte ich wirk- 


784 bi M. Schultze; 


lich jenen Schmarotzer erst auf Herrn Dr. Krohn’s Veranlassung un- 
tersucht, so würde ich dies in meiner Abhandlung (dies. Archiv 1858, 
S. 324) deutlich und offen ausgesprochen haben. Ich habe es nicht 
gethan, weil ich völlig selbstständig darauf aufmerksam gemacht wor- 
den bin durch die eigenthümlichen Eier, welche ich in den bekannten 
planarienartigen Körperchen fand. Nachdem ich die Untersuchung 
über diesen Gegenstand in Neapel abgeschlossen hatte, ging ich nach 
Messina. Dort erst hatte ich das Vergnügen, Herrn Krohn kennen 
zn lernen, und erfuhr ich nun von ihm, dass er mein Anoplodium be- 
reits früher gekannt hatte. Herr Krohn wird diesen Sachverhalt 'ge- 
wiss Jedem, den es sonst interessirt, gern bestätigen. 

Meine Angaben über die Anatomie dieses Thieres werden von 
Schmidt vollständig bestätigt und in mehreren Punkten ergänzt. 
Eine Reihe von Gegenständen, welche von mir berücksichtigt sind, 
wird von ibm jedoch nicht erwähnt, z. B, die sogenannten Dotterstöcke 
und die Gestalt uud Lage der Hoden. 

Seine Ansieht über die Eibildung kann ich nicht theilen. Nach 
Schmidt entstehen in dem von mir als Eierstock, von ihm als Keim- 
stock bezeichneten Organe nur die Keimbläschen. Erst nach dem 
Uebertritt in das sogenannte Receptaculum seminis erhalten sie den 
Dotter. Ich habe diesem Punkte damals eine genaue Aufmerksamkeit 
gewidmet, und gesehen, auch in meiner Abbildung deutlich gezeichnet, 
dass die Keimbläschen beim Uebertritt in den Ausführungsgang meines 
Eierstocks von einer wohlbegränzten Masse heller Substanz — Dotter 
— umgeben sind, dass also das Ei schon jetzt eine vollständige Zelle, 
aus Zellsubstanz und Kern bestehend ist. Von der ähnlichen Substanz 
sind die Keimbläschen auch bereits im Eierstocke selbst umhüllt, sie 
sind niemals nackfe Kerne. 

Immerhin mögen in dem Receptaculum seminis noch Veränderun- 
gen im Ei vor sich gehen, einer Umlagerung mit Dotter bedarf es 
nicht mehr. 


Zur Kenntniss des gelben Fleckes und der Fovea centralis 
des Menschen und Affen-Auges,. 
Von Max SCHUL1ZE. 


(Aus d. Sitzungsbericht d. niederrhein. Ges. f. Natur- u. Heilkunde 
in Bonn; vom Verfasser mitgetheilt ) 


1) Der Querschnitt der percipirenden Elemente in der Fovea cen- 
tralis des Menschenauges ist bedeutend geringer, als der der Zapfen 
am gelben Fleck. Während der Zapfenkörper an letzterem Orte nach 
Kölliker 0,0045—0,0054, nach H. Müller nur 0,004 Mm. misst, 
mit welchen Maassen die meinigen beim Menschen und beim Affen 
(ein für alle Mal immer nur Macacus ceynomolgus) angestellten über- 
einstimmen, mit der Einschränkung, dass gegen die Fovea_ centralis 
hin der Durchmesser allmählig noch geringer wird, finde ich in der 
Fovea centralis des Menschen gleichmässig nur Elemente von 0,002— 
0,0025 Mm. Querschnitt an der Basis. Die Elemente sind nur sehr 
wenig dicker als die Stäbchen. Von der vollkommenen Regelmässig- 
keit des Mosaikes der natürlichen Querschnitte der in Rede stehenden 
Elemente überzeugte ich mich" am schlagendsten an der frischen Affen- 
Retina. Hier maass ich als Querdurchmesser der unmittelbar an ein- 
ander stossenden Basalenden der Stäbchen 0,0028 Mm,, als Durch- 
messer der oberen, . der Chorioidea anliegenden, sich nicht mehr un- 


Dr 


Zur Kenntniss des gelben Fleckes ete. 785 


mittelbar berührenden Enden 0,0023 Mm. Da die Maassbestimmungen 
an der menschlichen Retina an erhärteten Präparaten gemacht wur- 
den, an welchen die Elemente in der Dicke ein wenig einschrumpfen, 
so dürfte wahrscheinlich die bei M. eynomolgus im frischen Zustande 
gefundene Zahl 0,0028 auch auf den lebenden Menschen passen. Es 
wird durch diese Messungen den bisherigen Angaben gegenüber der 
Durchmesser der kleinsten empfindenden Elemente der Netzhaut unge- 
fähr um die Hälfte herabgesetzt. 

2) Die Betrachtung der frischen Affen-Retina von der Chorioideal- 
fläche hat die Ueberzeugung aufgedrängt, dass ein allmähliger Ueber- 
gang der Zapfen des gelben Fleckes in die entsprechenden Theile der 
Fovea centralis Statt findet. Danach müssten die empfindenden: Ele- 
mente der Foyea centralis sehr stark verschmälerte Zapfen ge- 
nannt werden, obgleich sie nach dem Durchmesser mehr den Stäb- 
.chen gleichen. Auch sonst spriebt Manches für die Zapfen-Natur 
der fraglichen Elemente, indem ihnen z. B. die Trennung in einen 
äusseren homogenen und einen inneren körnigen Theil, der den echten 
Stäbehen eigen ist, abgeht. Dennoch möchte ich sie anch nicht mit 
den eigentlichen Zapfen der mehr peripherischen Theile der Retina 
identificiren, indem ich von diesen und selbst von den Zapfen der äus- 
seren Partieen des gelben Fleckes des Menschen neuerdings mit 
scheinbar grosser Sicherheit beweisen konnte, dass sie mit bindege- 
webigen Elementen der Retina zusammenhangen, also nicht zu den 
pereipirenden Elementen der Retina gerechnet werden können. Es 
bleibt die definitive Entscheidung der Frage nach dem functionellen 
Unterschiede von Stäbehen und Zapfen demnach leider immer noch in 
suspenso. 

3) Beim Menschen wie beim Affen finde ich das Mengenverhältniss 
der Stäbehen und Zapfen von einem gewissen. den gelben Fleck in 
einer Entfernung von 4—5 Mm. umgebenden Kreise an bis zur Ora 
serrata vollkommen gleich. Die Zapfen, deren Durchmesser ich ander 
frischen Affen Retina zu 0,006 Mm. bestimmte, stehen hier überall etwa 
0,01 — 0,02 Mm. auseinander. Innerhalb dieses Kreises nimmt, wie 
bekannt, die Zahl der Zapfen gegen den gelben Fleck zu. An der 
Ora serrata glaube ich die Zapfen in die Zellen der Pars ciliaris-re- 
tinae verfolgen zu können. 

4) Seit Bergmann’s Angaben über die schiefe Faserung inner- 
halb der sogenannten Zwischenkörnerschicht am gelben Fleck sind: ge- 
nauere Angaben über diese physiologisch wichtige Faserung nicht be- 
kannt ‘geworden. Ich habe sie in der von Bergmann beschriebenen 
Weise an vielen, auch an mehreren ohne Plica centralis erhär- 
teten Augen immer in derseiben Form wieder gesehen. | Sie ist, was 
bezweifelt worden, als etwas ganz Constantes zu betrachten. .. Die 
Hauptmasse. der Fasern ist bindegewebiger Natur. Nach meinen Mes- 
sungen erstreckt sich die schiefe Faserung, welche am Rande der Fovea 
centralis begiont und nach allen Richtungen divergirt, im. Meridional- 
schnitt 2 Mm. nach aussen von der Fovea centralis, im Aequatorial- 
schnitt nur 1,5 Mm. weit. Uebrigens ist. die betreffende Schicht ‚der 
Retina nicht, wie allgemein bezeichnet wird, die Zwischenkörnerschicht 
(diese nimmt am gelben Fleck an Dicke gar nicht zu), sondern. die 
innere Partie der äusseren Körnerschicht. .. An der Retina 
ist die Verdickung dieser Schicht am gelben Fleck viel weniger aus- 
geprägt als beim Menschen. _Sonst ist in Betreff der Schichten des 
gelben Fleckes zwischen Menschen- und Affen-Retina kein Unterschied. 


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786 E. du Bois-Reymond: Ueber positive Schwankung etc. 


Ueber positive Schwankung des Nervenstromes beim 
Tetanisiren. 


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Von E. vu Boıs-Reymoxo. 


In einer Abhandlung im neuesten Hefte seiner Zeitschrift (Bd. VIII, 
S. 1—35) gelangt Hr. Moleschott zu dem Ergebniss, dass kurz vor- 
her starken beständigen Strömen ausgesetzte Nerven beim Tetanisiren 
mit starken Wechselströmen des Magnetelektromotors nicht selten po- 
sitive statt negativer Schwankung ihres Stromes geben, und schliesst _ 
daraus, dass der Bewegung vermittelnde Vorgang im Nerven auch 
von einer positiven Schwankung seines Stromes begleitet sein könne. . 

Ich habe bereits im 2. Bande meines Werkes, Abth. I, S. 470 £f;, 
darauf aufmerksam gemacht, dass man beim Tetanisiren wenig erreg- 
barer Nerven mit dem Inversor positive Schwankung erhalte Ich 
zeigte aber zugleich, dass dieselbe nicht von dem Bewegung vermit- 
telnden Vorgange, sondern davon herrübre, dass die positive Phase des 
Elektrotonus die stärkere sei (S. a. a. 0. S. 371 ff... Mit Induetions- 
strömen zwar ist mir aus diesem Grunde positive Schwankung nie vor- 
gekommen. Doch kann es, wie ich gleichfalls bereits darthat, für das 
Ueberwiegen der einen Phase beim Tetanisiren mit dem Magnetelektro- 
motor noch eine andere Ursache geben als die natürliche Ueberlegenheit 
der positiven Phase. Da nämlich der Zuwachs im Elektrotonus lang- 
samer wächst als die Stärke des erregenden Stromes, so überwiegt bei 
etwas grosser Windungsanzahl der primären Rolle und kleinem Rollen- 
abstande leicht die durch die langsamen und schwachen Schliessungs- 
schläge erzeugte Phase die von den schnellen und starken Oeffnungsschlä- 
gen stammende, und der Zufall kann es, wenn man nicht darauf achtet, 
fügen, dass dergestalt eine positive Schwankung vorgespiegelt werde (a. 
a. O. S. 416. 458). Man darf sich deshalb der Wechselströme zum 
Hervorrufen der negativen Schwankung nur bedienen, nachdem man 
sich überzeugt hat, dass unter den Umständen des Versuches die beiden 
Phasen einander hinreichend aufheben, wie überhaupt, dass keine an- 
dere Wirkung auf die Nadel stattfinden kann, als durch Schwankung 
des Nervenstromes selber. Um diesen Punkt dreht sich eine der ver- 
wickeltesten und ausgedehntesten Versuchsreihen in meinem Werke; 
und weil ich auch den so gehäuften Beweisen nicht völlig traute, legte 
ich solehen Werth darauf, die negative Schwankung des Nervenstromes 
auch beim nicht elektrischen Tetanus sichtbar zu machen (a.a. ©. S. 473). 

Hr. Moleschott scheint von diesen Schwierigkeiten keine Vor- 
stellung zu haben. Nirgends in seiner Abhandlung, in der er doch 
seine vollständigen Versuchsprotokolle mittheilt, erörtert er die ihm 
drohenden Fehlerquellen, oder erwähnt er auch nur, dass er vor der- 
gleichen 'Täuschungen auf der Hut gewesen sei. Bei näherer Be- 
trachtung wird er finden, dass namentlich der letzterwähnte Um- 
stand wohl geeignet sein würde, die angeblich neue Erscheinung lin 
ihren wesentlichen Zügen zu erklären. Hr. Moleschott gestattet 
mir daher vielleicht die Bitte, uns nachträglich zu sagen, ob er jene 
Fehlerquellen vermieden habe, anderenfalls aber seine Versuche mit 
Rücksicht darauf zu wiederholen. 


Berlin, Druck von Gebr, Unger, Königl. Hofbuchdrucker. 


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